Her durch Wände und geschlossene Türen Schwebt ein Spiel von leisen , weichen Händen , Oft so zart - ich weiß nicht : ist_es des Weltalls Tönend Schweigen , oder ist es Klingen ?
Ist es Klingen ?
Klang es nicht wie längst verwehtes Leben ?
Ja , es rief wie erste Kindertage , War wie alter Ahnen leises Rufen , Die noch wachen in vergessenen Gräbern , In vergessenen Gräbern .
Meinen Enkel einst umhaucht mein Leben , Wie ein fernes Spiel von leisen Händen - Hörbar kaum , wie Traum von einem Klange , Wird es klingen durch verschlossene Türen - Durch verschlossene Türen .
Erstes Buch. I. Kapitel Von Asmussens Umgang mit Barbierbecken , Maurern , Porzellanfrauen , Drehorgeln und Raketen , insonderheit aber mit seinem Vater .
Wenn Asmus Semper mit seinen Gedanken immer weiter in die Vergangenheit zurückging , immer weiter , immer weiter , dann kam er zuletzt an einen Augenblick , da er in einem weißen Kleidchen auf dem Treppenabsatz gesessen und seine Mutter über das Geländer der Treppe hinweg mit einer Nachbarin geplaudert hatte .
Darüber hinaus ging es nicht : es war seine früheste Erinnerung .
Das war im Grunde sehr wenig ; für Asmus Semper aber war es immerhin etwas .
Jenen Augenblick umgab für alle Zeiten ein silbernes , luftiges Licht der Frühe , wie wir es sehen , wenn durch fallenden Regen die Sonne bricht - es war der Tagesanbruch seiner Seele .
Das nächste große Ereignis , das seine Spuren für immer in sein Gedächtnis grub , war ein Barbierbecken .
Es hing über einer Tür an der Straße .
Es funkelte herrlich , wenn der Wind es bewegte , und war wohl das Schönste , was es auf der Welt gab .
Und eines Sonntags ging Ludwig Semper , der Vater , in das Haus mit dem herrlichen Becken hinein , und seinen Sohn Asmus trug er auf dem Arm .
Ein Mann , der immerfort redete , legte Asmus die Hand auf den Kopf , und dann wischte er dem Vater einen weißen Schaum ins Gesicht .
Wenn der Mann redete , sah ihn der Vater immer ganz ruhig mit seinen großen Augen an und sagte : hm !
Und dann faßte der Mann den Vater bei der Nase und kratzte den Schaum wieder ab .
Und als der Vater mit seinem Asmus wieder draußen war , kamen sie gleich auf einen Platz .
Da war es sehr schön , weil es so frei war .
Und da standen mehrere Männer in sauberen Röcken ; mit denen sprach der Vater .
Die Männer in sauberen Röcken waren auch schön , überhaupt war an dem Tage die ganze Welt wunderschön , weil überall Sonntag war .
Hierauf folgte in den Erinnerungen Asmussens ein großes schwarzes Loch , und dann sah er sich plötzlich auf einer Schubkarre sitzen , die sein Bruder Alfred vor sich herschob .
Und als die Fahrt zu Ende war , fand sich Asmus in einem anderen Hause .
Man war umgezogen .
In dieser Wohnung war es nun ganz herzlich .
Gegenüber erschienen nämlich Männer , und die fingen an , ein großes vierkantiges Loch zu graben .
Wagen mit lebendigen Pferden davor kamen und brachten die ausgegrabene Erde weg .
Die Pferde scharrten mit den Hufen , bissen einander in den Nacken und schüttelten dann die Köpfe , daß das ganze Geschirr klirrte .
Zu dieser Zeit faßte Asmus den festen Entschluß , Fuhrmann zu werden , wenn er groß wäre .
Hoch oben auf dem Wagen sitzen und immerfort auf die Pferde losschlagen , das dünkte ihn das Schönste auf der Welt .
Die Sache wurde aber noch viel hübscher .
Es kamen Wagen voll roter Steine ; wunderhübsch rot waren sie , und diese Steine wurden auseinandergepackt .
O , was für eine Menge Steine !
Das waren ja wohl tausend Stück oder vielleicht gar hundert !
Es kam aber noch immer besser .
Eines Tages kam ein Mann , schüttete weiße Steine in eine Grube , ließ kaltes Wasser darüber laufen , und alles fing an zu kochen !
Der kleine Asmus drückte mit seinem Näschen fast die Fensterscheibe ein , so genau sah er zu .
Und die Augen riß er auf - sperrangelweit .
Und als er zufällig den Mann ansah , der Steine kochen konnte , da stand der da und sah ihn auch an und riß auch die Augen auf und lachte dann und nickte ihm zu .
Asmus schämte sich und zog sich ins Zimmer zurück .
Als dann aber einer von jenen Frühlingstagen kam , die zu allem Mut machen , ging er hinaus und kam dem Bauwerk immer näher , und als der Steinkocher den Finger in den Mund steckte und dann einen Knall hervorbrachte , wie wenn ein dicker Pfropfen aus einer Flasche fliegt , da waren sie von Stunde an Freunde .
Asmus sagte " Onkel Steinemann " und der Maurer sagte " Meister " .
Der Maurer fragte : " Na , Meister , wo soll ich jetzt'n Stein hinlegen ? " und dann sagte Asmus " da " , und nach Hause kam Asmus nur noch zu den Hauptmahlzeiten .
" Nun bauen wir die Wohnstube ! " rief er dann , wenn er zur Tür hereinkam .
Es ist ein Glück und ein Unglück , daß die Häuser einmal fertig werden .
Für den Architekten und Baumeister Asmus Semper war es nur ein Unglück .
Eines Tages stand ein düsterer viereckiger Steinhaufen , wo ehemals freie Luft und flimmerndes Licht gewesen war , und der Freund , der hundert Mal am Tage sein Pfropfen-Kunststück gemacht hatte , war verschwunden und kam nicht wieder .
So klein das Herz des kleinen Asmus auch war - die Treulosigkeit des Maurers tat ihm doch weh .
Eigentlich war es aber nur Vergeltung für eigene Treulosigkeit .
Um des Maurers Willen hatte er seine alte Liebe schmählich verlassen .
Diese alte Liebe waren eine alte zarte kleine Witwe und ihre köstlich blaugeblümte Kaffeekanne , die immer dampfend auf dem Tische stand und von Porzellan war wie ihre Besitzerin .
Und nicht zu vergessen ein ganz feiner , friedlicher Aniskuchengeruch , der die ganze Wohnung durchdrang und in dem wir eigentlich das Band der Treue zu suchen haben , das Asmussens Herz in die Zauberkreise der Alten zurückzog .
Als er aber die abgebrochenen Beziehungen wieder aufnehmen wollte und höchst vergnügt in die Tür trat , wurde er sehr ungnädig empfangen .
Die alte kleine Frau war richtig eifersüchtig und putzte ihn gehörig herunter , weil er so lange nicht dagewesen wäre .
Nun brauche er überhaupt nicht wiederzukommen .
Asmus stand wie angedonnert .
Aber er war nicht der Mann , sich einen Schimpf antun zu lassen :
er brach in ein erschreckliches Gebrüll aus und rief : " Ich will wieder nach Hause - ich will wieder nach Hause ! "
Da holte die erschrockene Witwe eiligst zwei Aniskuchen herbei und drückte ihm in jede Hand einen .
Asmus fand die Satisfaktion hinreichend ; er bis hinein und aß die Kuchen mit den Tränen , die darauf fielen .
Dieser Nachbarin , die zur Linken wohnte , entsprach eine Nachbarin zur Rechten , eine große vierschrötige Maurersfrau mit einem Mannesgesicht , von der man mit größter Bestimmtheit erzählte , daß sie Tabak kaue .
Asmus mochte diese Frau nicht leiden ; er mußte immer nach der Backe sehen , hinter der der Tabak saß .
Und als er eines Tages ganz richtig und deutlich " Der Postiljong von Longschümoh " gesagt hatte , da sprach die Frau zu seiner Mutter : " Frau Semper , das Kind ist für sein Alter viel zu klug und das ist nicht gut ; Sie müssen ihm mehr Schläge geben . "
Asmus hörte das und konnte ihr darin nicht beistimmen ; auch erhöhte dieser hygienische Rat nicht seine Sympathien für die Maurerin .
Als sie ihn aber eines Tages mit in ihre Küche nahm und ihm einen großen Apfel schenkte , da lief er eiligst zu seiner Mutter und rief : " Mama , Frau Rheder ist doch ' ne süße Frau , sie hat mir 'n Apfel gegeben . "
Außer diesen Dingen und Menschen war aus dieser Zeit nur noch ein Ereignis am Leben geblieben , nämlich das , wie Ludwig Semper , der Vater , auf einem dunklen Vorplatz in eine offenstehende Kellerluke gestürzt war .
Der Vater war mit einer unbedenklichen Rippenschrammung davongekommen ; aber dem kleinen Asmus schien dies ein großes und schier unbegreifliches Unglück , und es drückte ihm schwer aufs Herz , wenn er den Vater Schmerzen leiden sah .
Unbegreiflich war es ihm , daß jemand seinem Vater ein Leid zufügen konnte , sei es nun ein Mensch oder eine Kellerluke .
Denn sein Vater war doch genau wie der liebe Gott , den er auf einem Bilde gesehen hatte .
Dieselbe breite Stirn mit einem herrlich vollen Kranz von grauen Haaren darum ( "er war schon mit 33 Jahren grau " sagte die Mutter ) , dieselbe kräftige Nase , derselbe große Bart , der den ganzen Mund sehen ließ , diesen Mund , von dem fast alles Gute und Schöne gekommen war , was Asmus bis jetzt erlebt hatte .
Von dem Mund und von den großen Augen kam_es .
Wenn die Augen lachten , dann gingen nach allen Seiten Strahlen von ihnen aus wie von den Kerzen am Tannenbaum .
Und wenn Asmus am Abend noch eine Stunde draußen bleiben wollte und die Mutter sagte : Frag ' Deinen Vater ! und er dann seinen Vater fragte , dann blickte der von seinem Tisch , an dem er Zigarren machte , auf und sah ihn erst ruhig an .
Und dann wurde des Vaters Gesicht immer heller , und dann kamen die Strahlen aus den Augen , und dann zog sich der milde Mund ein wenig nach der Seite , und dann wußte Asmus schon : jetzt sagt er gleich " Meine Twen " , und richtig , dann sagte er " Meine Twen " .
Dann schnellte der kleine Asmus wie eine befreite Sprungfeder in die Höhe und schrie :
" Vater sagt " Weine tnegen ! " und dann war er auch schon draußen .
Dann sagte die Mutter wahrscheinlich ( das wußte Asmus schon ) :
" Du läßt dem Jungen immer seinen Willen " ; aber der Vater sah nur stillschweigend nach seinem hopsenden Sohne Asmus hinaus und lachte still in sich hinein , daß seine breiten Schultern hüpften : das wußte Asmus auch schon .
Und einem solchen Vater wagte eine heimtückische Kellerluke aufzulauern .
Nach diesem Unfall hält die Erinnerung Asmussens wieder einen langen Schlaf , in dem nur einmal leise die Trommeln , Trompeten , Pfeifen und Drehorgeln eines Jahrmarktes von ferne hereinklingen und in dem sonst nur noch eine Rakete aufblitzt , die eines Abends am östlichen Himmel über dem Schützenhofe ins Dunkel emporstieg .
II. Kapitel Von kurzem Elend und langem Jammer , von Schnedes Esel und Diepenbrocks Mond , besonders aber von dem Semperischen Leichtsinn .
Und die Erinnerung erwacht erst wieder an einem kleinen , schmalen Dorfteiche ; vom Geschnatter der Enten und Gänse wacht sie auf .
Und wenn sie , im Grase liegend , die Augen aufschlägt , sieht sie zwischen den Stämmen von sieben Bäumen , die am Ufer stehen , drei kleine kümmerliche Häuser stehen , von denen jedes umfallen würde , wenn es der Nachbar nicht stützte .
Diese drei Häuschen hießen im Volksmunde das " kurze Elend " , weil die acht oder zehn Häuschen , die im rechten Winkel dazu standen , der " lange Jammer " hießen .
Mit dem kurzen Elend darf man es nicht wörtlich nehmen .
Die siebenköpfige Familie Semper , die später acht und neunköpfig wurde , hatte meistens Fleisch zu Mittag , und zwar ein halbes Pfund .
Das heißt : wenn der Vater Arbeit hatte .
Hatte er keine , so gab es zunächst , in der hoffnungsvolleren Zeit , Mehlklöße mit Pflaumen , später ging man zu Kaffee und Brot über , erst zu bezahltem Kaffee und Brot , dann zu geborgtem .
Wenn der letzte Kredit und das letzte Fett am Ausgehen waren , schnitt die erfinderische Mutter Kartoffelscheiben aufs trockene Brot , was eigentlich den Teufel durch Beelzebub austreiben heißt .
Das erstreckte sich so durch Asmussens ganze Kinderzeit .
Wenn man also nicht eigentlich von Elend sprechen kann , so kann man doch auch nicht von kurz reden .
Was die Kartoffeln anlangt , so wurden sie bei Herrn Schnede gekauft , der ganz weit drüben am anderen Ufer des fünfzig Schritte breiten Dorfteiches wohnte .
An diesen Herrn Schnede dachte der kleine Asmus nicht ohne Groll .
Als er sich eines Mittags an einer Kartoffel den Mund verbrannte und darüber klagte , daß immer die Kartoffeln so heiß wären , da sagte die Mutter : " Ja , das sind Schnedes Kartoffeln , die sind immer so heiß . "
Seit dem Tage blickte Asmus mit einer gewissen Scheu nach dem alten baufälligen Strohdachhause des Herrn Schnede hinüber .
Nur der Esel konnte den kleinen Semper wieder mit Herrn Schnede versöhnen , der Esel , der jeden Morgen , den Gott werden ließ , den Grünwarenkarren seines Herrn durch das Dorf zog , oder besser gesagt : ziehen sollte .
Denn dieser Esel stand immer nach drei Schritten still und war dann nur schwer wieder in Bewegung zu setzen , wie jeder Esel , der einen Gedanken hat .
Dergleichen macht einen Esel für zuschauende Kinder sehr interessant , und dieses Schauspiel war um so reizvoller , als Herr Schnede ununterbrochen zu rufen pflegte : Kantüffeln , hüh ! - groote Bohnen , hüh ! -
Kohl , witten Kohl , hüh !! "
Er war ein Phantast , dieser Herr Schnede : er zog den Karren mitsamt dem Esel , und es ist kein Wunder , daß er einen feinen Künstler erzeugte , der in späterer Zeit seinem Heimatsflecken Ehre erwarb .
Daneben liebte Asmus von ganzem Herzen Herrn Diepenbrock und seinen Mond .
Asmus hatte wiederholt bemerkt , daß der Mond über Diepenbrocks Hause heraufkam , und als er eines linden Abends wieder einmal an der Hand seines Vaters am Dorfteich spazierte , da fragte er :
" Vater , das ist doch Diepenbrocks Mond , nicht ? "
" Ja " , sagte der Vater , " das ist Diepenbrocks Mond . "
Dabei schütterten seine breiten Schultern wieder heftig auf und ab .
Es war ein sehr guter Mann .
Aber auch ein leichtsinniger Mann .
Das muß gesagt werden .
Jede Woche kam ein Mann daher mit einem Augenschirm und einer Drehorgel , und auf dieser spielte er jahraus , jahrein das Lied :
" Du hast mich niiiie geliebt , Das hat mich sehr betrübt " und fast jedesmal gab ihm Ludwig Semper einen Sechsling , selbst wenn die Uhr schon auf Kaffee und Brot stand .
Dabei war der Orgeldreher wahrscheinlich lange nicht so blind , wie er sich stellte ; aber das war dem leichtsinnigen Ludwig Semper ganz einerlei .
Und wenn es dabei noch geblieben wäre !
Nein : am Sonnabend , wenn Ludwig Semper seine Zigarren an den grimmigen Herrn Fabrikanten abgeliefert und Geld bekommen hatte , dann kaufte er ein halbes Pfund Käse und für vier Schillinge Rum .
Von dem Käse bekamen auch die Semperschen Kinder , und so kam es ihnen gar nicht zum Bewußtsein , daß sie einen sehr leichtsinnigen Vater hatten .
Am Abend machte dann Ludwig Semper ein stärkeres Glas Grog für sich und ein schwächeres für die Mutter , setzte sich ihr gegenüber , stützte beide Arme auf den Tisch und grübelte , schmunzelte , bis ingrimmig die Zähne aufeinander oder warf leuchtenden Blickes den Kopf empor und schwieg .
Das Schweigen war eine Lieblingsbeschäftigung derer vom Hause Semper .
Von Zeit zu Zeit hängten sie vor den Eingang ihrer Seele ein Schild , darauf stand : " Nicht zu Hause " .
Und dann zogen sie sich für Tage , mitunter für Wochen in ihr innerstes Gemach zurück , verkehrten allein mit den geheimsten Schätzen ihrer Seele und sprachen zu den Menschen nur mit den Lippen .
Wenn sie dann erquickt und beruhigt wieder in die Menschheit hinaustraten , waren sie munter und mitteilsam wie junge Vögel .
Schon Carsten Semper , Asmussens Großvater , hatte es geliebt , mit seinen siebzehn Napoleonbildern allein zu sein und mit dem stummen Helden , der die Brust mit gekreuzten Armen wie mit ehernen Klammern verdeckte , schweigend zu träumen von Lodi und Arcole , von Austerlitz und den Pyramiden .
Ludwig Semper , sein Sohn , hatte schon einen ausgedehnteren Geheimverkehr .
Sein Vater Carsten war ein kleiner Kaufmann in Schleswig gewesen und hatte ihn das Gymnasium besuchen lassen , damit er " auf den Pastor " studiere .
Die große Diele des Semperschen Ladens hatte Feierabends und Sonntags morgens die Honoratioren der Stadt gesehen ; sie hatten kräftiges Schwarzbrot und rosenrot und weißen Speck gegessen , alten Bommerlunder und Lütjenburger dazu getrunken , so viel sie mochten , und spottwenig dafür bezahlt , sehr wenig und noch weniger .
Vielleicht aus diesem Grunde , vielleicht auch , weil sich Napoleonbegeisterung und ein Handel mit Schwefelfaden schwer in einander finden , war Carsten Semper Geld und Geschäft zu Ende , als Ludwig Semper noch kaum mit dem Gymnasium zu Ende war .
Ludwig mußte in die Welt hinaus und suchen , wo er zu essen fände , so viel zu essen , daß womöglich für seine Eltern hin und wieder einige Speziestaler abfielen .
Er fand denn auch eine Stellung bei einem Küfer , wo er lernte , die Weine zu schönen und zu verschneiden .
Aber der gute Küfer hatte bei seinen Weinen kaum sein Brot und mußte den Gehilfen bald wieder entlassen .
Kämpfen und zähe sein war nun nicht Ludwig Semper Sache .
Er traf einen fidelen Gesellen , der zu ihm sagte : " Komme mit und lerne Zigarren machen ; es ist bald gelernt , du findest hier reichlich Arbeit , hast dein Brot und kannst bei der Arbeit nachdenken , soviel du willst . "
Ludwig Semper dachte :
Ich will es tun ; morgen oder übermorgen finde ' ich schon was Besseres .
Und dieses Morgen und Übermorgen währte bis an sein Ende - da fand er Besseres .
Nur einmal wurde diese glänzende Karriere unterbrochen .
Im Jahre 1848 mußte Ludwig Semper in den Krieg für die Befreiung Schleswig-Holsteins ziehen .
Er focht bei Kolding und Idstedt und kehrte im Jahre 50 an das Zigarrenbrett zurück .
Natürlich hatte er noch kurz vor Ausbruch des Krieges geheiratet ; denn , wie ein neuer Tacitus berichtet :
Die Deutschen heiraten sehr früh .
Die junge Frau Semper wußte zwar nichts von Vergil und Xenophon und hätte leichtlich fragen können , wo sie wohnten und welches Gewerbe sie betrieben ; dafür aber verstand sie sich vorzüglich auf die Krankenpflege .
Als Ludwig Semper verwundet nach Kiel gebracht worden war , war sie seine Pflegerin geworden , und er mochte sich sagen , daß man mit einer guten Krankenpflegerin nie ganz schlecht fahren könne .
Es ist aber keineswegs sicher , daß er sich das gesagt habe ; denn in Herzenssachen pflegte Ludwig Semper nicht erst nachzudenken , sondern schnell zu handeln .
So kam es , daß , als der Krieg begann , schon ein junger Semper zu erwarten stand .
Und als der Vater Flinte und Tschako ergreifen mußte , da besann sich die schnelle , muntere zwanzigjährige Mutter nicht lange und wurde wieder Krankenhüterin .
Acht Tage , nachdem sie einer kleinen Semperin das Leben gegeben hatte , stand sie auf , um des Tages zu nähen und nachts im Kinderhospital zu wachen .
Und dabei wachte sie so zuverlässig , daß die Ärzte ihr stets die schwierigsten Fälle überwiesen .
Wäre Ludwig Semper ein Streber gewesen , so hätte er nach dem Kriege vielleicht Gelegenheit gefunden , in eine höhere Gesellschaftssphäre hinaufzuglimmen ; da aber niemand kam und ihm etwas anbot und überdies infolge eines Urlaubs abermals eine kleine Schleswig-Holsteinerin angekommen war , so war er nur froh , alsbald wieder Zigarren machen und dabei grübeln zu können .
Der neue Tacitus sagt auch , daß die Deutschen gewöhnlich viele Kinder hätten .
Ludwig Semper und seine Frau Rebekka waren deutsch wie wenige ; sie bekamen im Laufe der Jahre gar manches Kind , und ungefähr das neunte oder zehnte nannten sie Asmus .
III. Kapitel .
Wie es nach Hafersuppe roch und die weißen Soldaten kamen und Asmus in Leonhards Zylinder promovierte und auf Erden nichts als Licht war .
Noch im " Kurzen Elend " war es , wie Asmus eines Morgens mit Verwunderung bemerkte , daß nicht seine Mutter , sondern sein Vater ihn auf den Schoß nahm und ihm die Stiefelchen anzog .
Im ganzen Hause roch es nach Hafersuppe .
Es währte auch nicht lange , da erklärte ihm sein Vater , daß er wieder einen kleinen Bruder bekommen habe .
Von nun an , wenn es im Hause nach Hafersuppe roch , dachte Asmus :
" Aha ! "
" Wo ist Mutter denn ? " fragte Asmus .
" Mutter liegt zu Bett . "
" Warum ? "
" Der Storch hat sie ins Bein gebissen . "
Asmus schwieg einen Augenblick .
Dann sprach er :
" Wenn der Storch uns jetzt wieder 'n Bruder bringt , dann soll er Mutter aber nicht ins Bein beißen . "
Ludwig Semper sagte nichts .
Er dachte nach über das Kunststück , den Lohn für die Wärterin und Hebamme zusammenzubringen .
" Darf ich den kleinen Bruder Mal sehen ? " fragte Asmus .
Er wurde in das wunderbare Zimmer geführt .
Die Mutter lächelte ihn besonders zärtlich an , weil sie sich nun wohl acht Tage lang nicht um ihn kümmern konnte , und hob die Bettdecke von einem warmen Wickelpüppchen , das wunderliche Gesichter schnitt .
" O , er hat schon Finger ! " rief Asmus begeistert .
Das alles geschah ungefähr um die Zeit , als eines Morgens von der Stelle her , wo mittags immer die Sonne stand , ein wunderherrliches Klingen kam .
Kaum war die erste Flocke dieses Klingens in das Sempersche Haus geweht , als auch schon Asmus vor der Tür stand .
Denn einem schönen Klange war er folgsamer als den Eltern .
Und das Klingen wurde immer heller und größer , und als es endlich um die Ecke kam , da war_es ein weißes , goldenes , silbernes , ein herrlich funkelnd Klingen .
" Die Österreicher kommen ! " schrie Asmus ins Haus , und dann war er wieder draußen .
Österreicher , das wußte er schon , sind weiße Soldaten .
Die Österreicher zogen damals fort aus Schleswig-Holstein .
Sie waren sehr vergnügt dabei und spielten den Marsch : " Schön ist mein Madl ; aber Geld hat sie nicht ; Was tue ich mit dem Gelde , wenn sie mich nur liebt ! " und bei " Schön " und " Geld " und " tu " und " sie " machte die große Trommel , die so groß war , daß man sieben Aschmusse aufrecht darin hätte verpacken können , " bumm - bumm - bumm - bumm ! "
Es waren viele , viele Soldaten ; aber schließlich kamen doch die letzten , und die Musik klang so fern , daß Asmus den Kopf auf die Seite neigte und doch nicht hören konnte , ob sie noch klinge oder nicht , und dann war alles vorbei und die tausend Soldaten waren nur noch eine weiße , goldene , klingende Erinnerung .
Dann ging er wieder ins Haus und an die Arbeit .
Ein Tischler hatte es Asmus angetan , und darum hatte er das Tischlerhandwerk ergriffen .
Er saß auf dem Fußboden und hatte einen alten Schemel vor sich , und in diesen Schemel schlug er mit einem Hammer seit vielen Tage alle Nägel hinein , deren er habhaft werden konnte .
Wenn einer sich krümmte und nicht hinein wollte , dann rief er :
" Nale patzig ! " was so viel bedeuten sollte wie " der Nagel ist widerspenstig und aufsässig . "
Eines Tages aber fiel Asmus Semper bei seiner Arbeit um , obwohl er doch auf dem Boden saß .
Er verfiel in Zuckungen , und als er wieder erwachte , da hörte er , wie seine Eltern immer wieder das Wort " Krämpfe " sagten .
Sein Vater lachte gar nicht mehr , und seine Mutter war sehr lieb mit ihm .
Und dann kam mit einem Mal ein Mann , den nannten sie immer " Doktor Krause " .
Der nahm den ausgezogenen Asmus auf die Knie , faßte seine Hand an , setzte ihm ein Blasrohr auf die Brust und auf den Rücken , sprach etwas mit einer trockenen , schnarrenden Stimme , schrieb etwas auf und ging .
Die " Krämpfe " kamen immer wieder , und eigentlich waren sie etwas sehr Schönes .
Denn weil er Krämpfe hatte , bekam Asmus immer in einem Teelöffel etwas ganz wundervoll Süßes , und hinterher gab es Selterswasser .
Das schmeckte nicht gerade schön , aber unterhaltend .
Es sprang wie wild im Glase umher , und wenn man davon trank , dann tanzte es auf der Zunge noch immer weiter .
Aber freilich : das Beste an den Krämpfen war der Doktor Krause .
Der trug immer den Kopf im Nacken und guckte in den Himmel .
Auf dem Kopfe hatte er einen Hut , der war so schwarz und lang und rund wie ein Ofenrohr , nur daß ein Ofenrohr nicht so rauh ist .
Auf dem Rücken hielt er einen Spazierstock , und auf die Krücke dieses Stockes legte er seinen Kopf .
Das war der Mann , der die Krankheiten wegmachte , und nun war Asmussens Entschluß gefaßt :
er wollte Doktor Krause werden .
Den Stock , der dazu gehörte , fand er bald ; in den Himmel gucken , das konnte er auch ; aber der Zylinder , der Zylinder !
Asmus bat seinen Vater , ihm einen Zylinder zu kaufen ; aber so leichtsinnig Ludwig Semper auch war , so weit ging doch seine Freigebigkeit und übrigens auch seine Kasse nicht .
Der junge Semper mußte also mit einem gedachten Zylinder promovieren , und es ging vorzüglich .
Wenn die Nachbarn an goldenen Sommertagen vor der Tür standen , trat Asmus genau in Haltung und Gang des Doktor Krause an sie heran und sagte mit der Stimme des Doktors , die er in seiner kindlichen Stimmlage überraschend nachahmte :
" Guten Tag .
Ich bin Doktor Krause .
Haben Sie Leibschmerzen ? " und bald erwarb er sich eine ausgedehnte Praxis mit auskömmlichen Honoraren an Äpfeln , Bonbons und Pfeffernüssen .
Sein einträglichster Patient aber war ein junges schönes Mädchen ; denn das empfing ihn stets mit einem Lächeln , das ihm tief ins Herz drang .
Er wußte nicht , daß Frauenlächeln anders ist als Manneslächeln ; aber er fühlte es , und sie war seine erste Liebe .
Fräulein Johanna pflegte den kleinen Arzt auf den Arm zu nehmen und ihn zu küssen , obwohl er für seine Verhältnisse einen etwas zu großen Kopf und obendrein ein wenig Excelsiornase hatte .
Es muß bei dieser Gelegenheit auch gesagt werden , daß der alte Semper , obwohl er hübschere Kinder hatte als den Asmus und obwohl er allen seinen Kindern ein milder Patriarch war , dennoch den Asmus so entschieden verzog , daß es der Junge selbst merkte .
Das vierjährige kleine Herz des Knaben erwiderte diese Zuneigung mit einer fast feurigen Dankbarkeit .
Es mußte vom Uranfang her zwischen diesen beiden Menschen eine Gemeinschaft bestehen , die noch stärker ist als das Blut und die nur höhere Geister kennen .
Wenn er aber von seinen Eltern und besonders von seinem Vater absah , der ja wie der liebe Gott war , dann gab es für Asmus nichts Schöneres auf der Welt als das schöne junge Mädchen , die große Roßkastanie vor dem Elternhause und den Dorfteich , wenn er zwischen den alten Weidenstämmen hindurchlugte .
Das Häßlichste und Schrecklichste auf der Welt aber waren Kunigunde von Turneck und Rudenz .
Das waren Überreste eines vergangenen Puppentheaters , die über dem Arbeitstische des Vaters an der Wand hingen .
Es waren Figuren mit schändlich verschmierten Gesichtern und niederträchtigen Federhüten .
Kleine Kinder entsetzen sich vor allem , was an der Erscheinung eines Menschen grotesk und tierisch aussieht ; darum schreien sie , wenn Männer mit großen Bärten oder Frauen mit Federhüten sie auf den Arm nehmen wollen .
Ludwig Semper brauchte nur eines dieser indianisch geschmückten Malefizgesichter vom Haken zu nehmen , und Asmus betrug sich so gesittet , wie man nur wünschen konnte .
Er konnte es später in der Schule den Römern so gut nachempfinden , daß sie sich vor den tierkopfgeschmückten Germanen entsetzten .
Rudenz und Kunigunde wirkten wie Teufel und Gespenster und viel stärker als der Kochlöffel und die Feuerzange der Mutter .
Frau Rebekka Semper war rasch zum Zorn ; sie erklärte dies nach einer unsicheren Physiologie damit , daß bei kleinen Menschen das Blut schneller in den Kopf steige als bei langen .
Und wenn ihr Blut wieder einmal oben war , dann schlug sie mit dem , was sie gerade in der Hand hatte , und sie schlug nicht nach dem Grade des Verbrechens , sondern nach dem ihres Blutes .
Da gab es für Asmus zuweilen Zeiten , trübe , bange Zeiten , da er seine Mutter nicht lieben konnte .
Kinder haben das feinste Gerechtigkeitsgefühl ; sie lieben auch den strengsten Zuchtmeister , wenn er gerecht ist .
Wenn man das Glück nur erwarten kann , so kommt es auch , und so kam denn auch für Asmus der Tag , da er als Doktor Krause in einem wirklichen und wahrhaftigen Zylinderhut ordinieren durfte .
Freilich mußte er seine Praxis auf das Haus beschränken ; denn der herrliche Hut war für vier Schillinge vom Hutmacher geliehen und mußte geschont werden .
Zu jener Zeit konnte man den in der Taufe mit Gott geschlossenen Bund nur in Zylinder und Gehrock befestigen .
Asmus riß vor Staunen und Ehrfurcht Mund und Augen auf , als sein ältester Bruder , ein kleiner , zarter und hübscher Bursche , in solcher Gewandung in die Tür trat .
Leonhard , das Sorgenkind der Familie Semper , war konfirmiert worden .
Außer dem blanken Hute und der Gestalt des Bruders blieb von diesem Tage nichts in Asmussens Erinnerung haften ; das Fest war offenbar aus allgemeinem Vermögensmangel nicht gefeiert worden , nicht durch Rosinenreis , nicht durch Käse und Grog .
An einem anderen Tage aber muß in dem kleinen Mittelhause des " Kurzen Elends " Springflut gewesen sein .
Wochen hindurch hatte der kleine Semper ein Wort durch alle Räume klingen hören , mit dem er unzwingbare Dämmerreste einer Vorstellung vergeblich zu verbinden strebte und das ihn doch mit wundersamer Hoffnung und feierlichem Entzücken rührte .
Die Geschwister taten heimlich gegen ihn und gegen einander ; Ludwig der Vater sah seinen Asmus noch öfter als sonst mit lächelndem Schweigen an und glänzte dann mit seinen Sonnenaugen durchs Fenster in die Ferne hinaus ; Mutter Rebekka blickte ihrem Zweitjüngsten mit vielversprechendem Zwinkern in die unschuldoffenen Augen , und eines Abends stand sie gar am Herde und buk , als wenn Feuer und Fett nichts kosteten , einen Kirchturm von Apfelkuchen .
Alle ihr Blut war wieder oben im Kopfe ; aber es tat nichts .
Und wie noch die Geschwister miteinander plauderten und das eine von ihnen gerade sang :
" Vom Himmel hoch , da komme ich her - " da ging ganz von selbst eine Tür auf und dann - dann war auf Erden nichts als Licht .
Noch in späten Jahren , wenn Asmus Semper in die Vergangenheit zurückblickte , war dieser Weihnachtsabend nur ein einsames , strahlenumkränztes Licht , das aus der Dämmerung eines tiefverlorenen , tiefvergessenen Tales emporschimmerte .
Im " Kurzen Elend " wohnte man zu ebener Erde ; die Roßkastanie streckte ihre Kerzen zum Fenster herein ; von der Kastanie bis zu den Weiden des Dorfteiches konnte eine Ente mit drei und einem halben Flügelschlage flattern , und mit dem blinkenden Bande des Teiches war dann die Welt des Asmus Semper zugebunden .
Nur wenn er sich bückte und unter den tiefen Kronen der Weiden hindurchsah , dann lag jenseits der Welt noch das Strohdachhaus des Herrn Schnede - dann war es ganz aus .
Und eines Morgens war die ganze Welt wie Rauch verflogen ; Asmus stand irgendwo hoch oben , und seine Augen gingen immer weiter , immer weiter über endlose Wiesen und durch endlose Himmelsbläue ; sie wandelten in einem Paradiese des Raumes , wo sie rot und weiße Wolkenschmetterlinge fangen konnten , ohne je ans Ende zu gelangen .
Semper waren wieder umgezogen , und nun wohnten sie im " Düstern langen Balken " .
IV. Kapitel .
Vom düstern langen Balken und von absonderlichen Augen , von einem sagenhaften Pferd und einem geheimnisvollen Vorhang .
Ob an der Stelle des " Düstern langen Balkens " einmal fröhliche Paare sich im Tanze geschwungen und Becher und Glas geklungen hatten und ob der Volksmund einem solchen Schenk- und Tanzboden den merkwürdigen Namen gegeben hatte ?
Wohl möglich ; denn die Leute der Gegend liebten es , ihren Belustigungsstätten seltsame Namen zu geben , wie :
" Zum langen Handtuch " , " Zum schmierigen Löffel " und " Zum verbrannten Pfannkuchen " .
Oder ob hier einst eine Richtstätte gewesen und die Bewohner der Stadt Altenberg an finsteren Abenden nach den düsteren langen Balken des Galgens hinübergeschaut hatten ?
Oder ob man ins Nordische zurückgehen muß , wo ein Wort balkr so viel bedeutete wie Gehege und Scheidelinie ?
Möchte schon sein ; denn der " Düstere lange Balken " lag dort , wo die Wohnungen der Altenberger Menschen aufhörten und Schaf und Rind und Pferd auf endlosen Weiden stille Tage lebten .
Woher aber auch der Name kommen mochte , jedenfalls war er da , und der lang gewundene , schmale , zwischen Hecken hinlaufende , an schönen Regentagen unendlich weiche Weg hieß wahrhaftig der " Düstere lange Balken " .
An diesem weltverlassenen Wege lag ein einziges , hohes und finsteres Haus , das zur Hälfte aus einer Zimmererwerkstatt bestand .
In dieser Werkstatt und auf dem Platze daneben meißelten jahraus , jahrein die Ratten und Mäuse , und nur ganz selten tauchten auch Menschen dort auf .
In dem übrigen Teile des Hauses konnten zwei Familien Platz finden , wenn sie wenig Platz , weniger Bequemlichkeit verlangten und sich mit den kahlschwänzigen Nagetieren zu stellen wußten .
Gleich am ersten Tage nach dem Einzug der Semper war Asmus verschwunden .
Man durchsuchte das ganze Haus und fand ihn endlich auf dem Boden .
Auf dem Boden war Platz !
Kammern und Gänge und Winkel und Ecken - er wußte nicht , wieviele !
Er spazierte umher und konnte sich nicht sattsehen an den leeren Räumen .
Jede Kammer , jeder Balken , jede Wand , jedes Fenster schaute ihn anders an .
Sie hatten alle Gesichter , nur andere als die Menschen .
Aber durchs Fenster über die Wiesen sehen - o ! o !
Da war ein Busch , der sich über die Wiese neigte , und unter dem Busch lag Schatten .
Wie schön war das !
An einer Stelle hob sich die Wiese zu einem Hügel - wie schön !
Und ganz weit hinten war eine breite Öffnung in der Hecke , und durch die Öffnung sah man auf eine andere Wiese .
Wie war das lieblich und gut !
Seine Geschwister hatten ihn einmal ausgelacht .
Sie waren alle mit dem Vater über Feld gegangen , und wenn die anderen gerufen hatten :
" Ein Hase ! "
" Ein Storch ! "
" Ein Kirchturm ! "
" Ein Drachen ! " -
dann hatte Asmus gerufen :
" Wo ?
Wo ? "
Immer hatte er nichts gesehen .
Aber als sie alle still gewesen waren . da hatte er plötzlich gerufen :
" Vater , hier sieht es gerade so aus wie Dein Geburtstag ! "
Und das hatte ein Gelächter gegeben !
Ein Kornfeld am Waldrand sollte aussehen wie Vaters Geburtstag !
Aber Ludwig Semper sagte zu den Kindern :
" Darüber braucht Ihr nicht zu lachen . "
In Zukunft sagte Asmus nur noch , wenn er mit seinem Vater allein spazieren ging :
" Du , Vater , hier sieht es so aus wie einmal Sonnabend ! " oder :
" Hier ist es so , wie bei Isaac , als Esau ihm das Wildbret brachte . "
Diese Geschichte hatte ihm sein Bruder Alfred aus der Schule mitgebracht .
Und Ludwig Semper sah dann seinem Söhnchen Asmus in die weit offenen Augen und sagte : " Hm . "
Eines Tages , als Asmus wieder am Fenster saß , bemerkte er , daß fern am Rande einer Wiese von Zeit zu Zeit goldene Punkte aufsprangen und wieder verschwanden .
Und gleich darauf hörte er Musik - aber es war keine schöne Musik .
Es waren die stammelnden Töne und Mißtöne signalübender Soldaten .
Sobald er hörte , daß es Soldaten seien , rutschte Asmus sachte vom Stuhl , klemmte sich bedächtig durch die Tür und stürmte die Treppen hinunter .
Aber die letzten zehn Stufen ging es schneller als er wollte ; der Kopf lief den Füßen voran und schlug unten auf die eisenbeschlagene Kannte eines Sandsteins .
Dort blieb Asmus liegen und sagte nichts .
Seine Mutter , vom Gepolter herbeigerufen , hob ihn auf und trug ihn jammernd nach oben .
An der Stirn klaffte eine breite und tiefe Wunde .
Als sie notdürftig verbunden war , eilte die Mutter mit ihm nach dem Altenberger Krankenhause ; denn dort wurden die Menschen zu gewissen Zeiten umsonst kuriert .
Sie mußten in einen großen , hohen Saal eintreten , wo es ringsherum von tausend blanken Messern und Scheren und Zangen und Stangen blitzte .
Asmus glaubte , daß alle für ihn bestimmt seien , und ihm wurde sehr beklommen und bang ums Herz .
Er wurde auf einen großen Tisch gelegt , und der Arzt nähte die klaffende Spalte zu .
Es tat sehr weh ; aber Asmus ließ nur ein ganz leises Stöhnen durch die zusammengebissenen Zähnchen hindurch .
Und endlich hob ihn der Arzt vom Tische herunter , klopfte ihm die Wangen und sagte : " Du bist 'n fixer Kerl ; hier hast du_ein Schilling , weil du nicht geweint hast ; laß deine Mama dir Bontjes dafür kaufen ! "
War das ein herrliches Krankenhaus !
Man bezahlte nichts und kriegte noch Geld für Bonbons dazu !
Was für liebe Männer waren die Ärzte !
Was für ein schöner Tag !
Aus dem Schmerzensmorgen war ein Freudentag geworden ; er fühlte keine Wunde mehr am Kopfe ; er fühlte nur einen Schilling in der Hand , einen ganzen , großen Schilling .
Und wenn das Glück einmal kommt , dann kommt es gleich in Haufen .
Was kam da die Straße herauf mit " Tsching und Bumm und Ratatsching ? "
Österreicher !
O , o , Oesterreicher !
Es waren aber inzwischen Preußen geworden .
Und das mußte man schon sagen : die Preußen waren noch viel schöner als die Österreicher .
Sie waren alle zu Pferde , hatten blaue Röcke mit silbernen Schnüren , und die Hüte hatten oben einen platten Deckel , von dem hingen ebenfalls Schnüre herab , und Säbel und Lanzen hatten sie , und oben an den Lanzen noch kleine Fähnlein !
Und einer von ihnen - wahrhaftig , es war kein Zweifel möglich - einer lachte ihm zu !
Asmus war zu Mute , als hätte der hohe Herrgott selber aus seinem Himmel ihm zugelächelt .
Sie zogen gar nicht weit vom Semperschen Hause vorüber , und als Asmus vernommen hatte , daß sie fast jeden Morgen diese Straße ritten , da hatte er eine Lebensaufgabe .
Und als er sie zwei oder drei Mal hatte Revue passieren lassen , da war sein Entschluß gefaßt .
Jeden Sonnabend lieferte sein Vater Zigarren ab , und dann hatte er zwei , drei Tage lang Geld , das wußte Asmus .
Gewöhnlich brachte der Vater dann auch ein paar Bonbons oder ein paar Äpfel mit .
Das nächste Mal sollte er ihm ein Pferd mitbringen !
Ja , ein Pferd !
" Vater ! " rief er , als er atemlos zur Tür hereinstürzte , " wenn du wieder ablieferst , dann bringe mir Mal keinen Apfel mit , bringe mir dafür lieber 'n Pferd mit ! "
Ludwig Semper fragte nicht erst verwundert :
" Ein Pferd ? " , denn er wußte , daß in einem kleinen Kinderherzen endlose Weidefluren sind ; er sagte ohne weiteres zu , und seine Schultern hüpften wieder auf und ab .
Jetzt sprach und träumte Asmus nichts anderes mehr als Roß und Reiten .
Obwohl noch gar kein Pferd vorhanden war , so war doch das Haus schon voll Gestampfes und Gewiehers .
Draußen auf der Wiese sollte das Pferd grasen , und oben auf dem Boden sollte es schlafen .
Am nächsten Sonnabend von neun bis zwölf Uhr stand Asmus unten am Wege und harrte des dachergaloppierenden Vaters .
" Wiebke Wiese ! " schrie er -
denn des Mitwohners Töchterchen und seine Spielkameradin hieß Wiebke Wiese - " Wiebke Wiese , gehe weg da ; sonst , wenn mein Vater kommt , reitet er dich über ! "
Und sie traten auf die Seite und ließen die Fahrstraße frei .
Aber um mittag kam Ludwig Semper ganz gewöhnlich auf seinen eigenen Beinen daher .
" Wo hast du das Pferd ? " rief Asmus .
" Die Knochen sind noch nicht fertig " , versetzte Ludwig Semper bedauernd .
Das befriedigte Asmus vollkommen .
Ein Pferd ohne Knochen , - das sah er ein - das wäre nichts Rechtes gewesen .
Und Ludwig Semper tat recht an dieser Antwort ; denn nun hatte sein Sohn noch eine ganze Woche voll Reitens und Jagens , voll Wieherns und Bäumens .
Den Sonnabend darauf stand Asmus wieder am Wege und rief : " Wiebke , nimm dich in acht ! "
Aber Semper der Vater kam wieder zu Fuße gegangen .
" Wo ist das Pferd ? " fragte der Sohn .
" Die Haut ist noch nicht fertig " , erwiderte der Vater ; " aber ich habe dir dafür was anderes mitgebracht . "
Und nun zog er einen Bilderbogen hervor , aus dem waren wohl zwanzig Pferde , und rote Husaren noch obendrauf .
Das übertraf freilich die kühnsten Erwartungen .
Im selben Augenblick war das lebendige Pferd tot für immer , und die zwanzig wurden lebendig .
Aber ein seltsamer Klang fiel eines Morgens in sein Soldatenspiel .
" Auf der Exerzierweide liegt ein Ulan " , hieß es , " der hat sich totgeschossen .
In den Kopf hat er sich geschossen , daß das ganze Gehirn herausgeschleudert wurde . "
Unbemerkt von den Eltern lief Asmus nach der Wiese an der großen Allee , und hier umstanden viele Leute den Toten .
Dieser aber war mit einem großen Laken zugedeckt worden , und Asmus sah durch die Decke nur die ungenauen Umrisse eines menschlichen Körpers .
Mit einem ungekannten Grauen blickte er darauf hin .
" Harr ich doch in mein Leben ni dachte , das 'n Mensch so 'n groten Brägen harr ! " sagte ein dicker Mann .
" So 'n Brägen harr 'e " , rief er lächelnd und zeigte , wie groß das Gehirn des Toten gewesen wäre .
Als der tote Ulan auf einem Wagen davongeführt worden war und die Zuschauer sich zerstreut hatten , ging Asmus auf seinen kleinen Beinen merkwürdig langsam nach Hause .
Warum hatte er sich totgeschossen ?
Er hatte doch ein Pferd und einen Säbel und eine Lanze und einen wunderhübschen Hut mit Schnüren daran !
Ob es wohl der Ulan war , der ihm einmal zugelacht hatte ?
Der Vorhang , der ihm das Leben verbarg , hatte sich bewegt , und durch einen schmalen Spalt hatte Asmus einen flüchtigen Blick getan , ohne zu wissen , was er sah .
Aber das ahnte ihm , daß es ein Vorhang war , was er bisher für die Grenzen der Welt gehalten hatte , und daß hinter diesem Vorhang noch etwas anderes wäre , als was er kannte .
V. Kapitel .
Von seriösen und komischen Opern und Sachen sowie von einem auffälligen Benehmen des Johannes .
An den Grenzen der Welt war es überhaupt am schönsten , am wunderbarsten .
Stundenlang konnte man am Fenster sitzen oder auf dem Wiesenhügel und nach den Grenzen der Welt hinblicken und sich ausdenken , was dort wohl wäre , was dort wohl jetzt geschähe , ob man wohl dort hinkommen könne .
Ganz weit hinten in der Ferne fuhr mehrmals am Tage eine Schlange vorüber , die stieß Rauch aus , und wenn der Wind herüberstand , dann konnte man sie kreischen hören .
Das nannten die Erwachsenen die Eisenbahn .
" Ob man die wohl auch aus der Nähe sehen kann ? " dachte Asmus .
" Dann möchte ich wohl damit spielen . "
An einem anderen Ende der Welt erschien aber eines Sommerabends noch ein ganz anderes Wunder !
Die Semper gingen mit alle ihren Kindern , den einjährigen Reinhold ausgenommen , zwischen den Hecken des " Düsteren langen Balkens " spazieren .
Auf einmal gab es einen großen Knall , und dann fuhr zischend eine ungeheure Feuerschlange in den Himmel .
Und als Asmus glaubte , das wäre das Schönste von der Welt , da spaltete sich der Kopf der Schlange und spie rote , blaue und grüne Sterne aus .
Auf dem " Schützenhof " war Feuerwerk .
Und als es eine ganze Weile gesprüht und geknattert hatte , da rief Ludwig Semper plötzlich " Scht " , und nun hörte man eine sanfte , wundersame Musik .
Asmus hatte seinen Vater wohl zuweilen sagen hören :
" Das ist aus " Fidelio " oder :
" Das ist aus den " Hugenotten " , ohne zu ahnen , was " Fidelio " und " Hugenotten " zu bedeuten habe .
" Ist das aus " Fidelio " ? " fragte er jetzt .
" Nein " , sagte Ludwig Semper , " das ist aus dem " Freischütz " .
Höre zu . "
Und Asmus hörte zu .
Und bei der nächsten Musik fragte er ganz leise :
" Vater , woraus ist das ? "
" Das ist aus dem " Barbier von Sevilla " . "
" Sevilla ? Sevilla ? "
Das klang dem Kleinen lieb und vertraut .
Eines wolkenlosen Sonntags war seine Mutter in ihrer munteren Weise durch Kammer und Küche hin und hergelaufen und hatte gesungen :
" Nach Sevilla , nach Sevilla !
Wo die letzten Häuser stehen , Sich die Nachbarn freundlich grüßen , Mädchen aus dem Fenster sehen , Ihre Blumen zu begießen , Ach , da sehnt mein Herz sich hin !
In Sevilla , in Sevilla Weiß ich wohl ein reines Stübchen , Helle Küche , stille Kammer , In dem Hause wohnt mein Liebchen , Und am Pförtchen glänzt ein Hammer .
Poch ich , macht die Jungfrau auf ! "
Seit jenem Tage war ihm " Sevilla " ein freier Platz mit Häusern , auf den eine unendlich goldene Sonne und ein unendlich helles , unendlich stummes Feiertagsglück herabschien .
In die Kindheit der Eltern waren noch die Klänge der Romantik gefallen ; der Nachhall der Kriegslieder von 1813 hatte sie noch durchweht , ja durch Ludwig Semper Vaterhaus waren noch die wehmutfeuchten Lieder eines Salis-Seewis und Matthison gezogen , und Ludwigs ältere Schwestern hatten mit heimlichen Tränen " Sigwart , eine Klostergeschichte " gelesen .
So verband ein klingender Strom die Kindheit Asmussens mit der Kindheit des 19. Jahrhunderts , und noch in späten Jahren , wenn er von den Befreiungskriegen las oder ihrer gedachte , dann hörte er durch die Sturmwolken des Krieges die Stimme seines Vaters : " Jenseits des Rheines lodern blutige Flammen ; Die deutschen Brüder ruft das Horn zusammen " oder seiner Mutter Stimme :
" Mädchen , bald wirst du den Sieger bekränzen , Schmücken mit Lorbeern sein teures Haupt . "
Im Semperschen Hause wurde viel gesungen ; Vater und Mutter und alle Kinder sangen ; nur wenn es Kartoffeln aufs Brot gegeben hatte , dann waren die Kehlen wohl eine Weile trocken ; aber eine Stunde später konnten sie schon wieder singen .
Und sobald irgendwo gesungen wurde , ließ Asmus seinen Hammer oder Peitsche oder Säbel ruhen , um die Ohren zu spitzen wie ein Häslein .
Von dorther , wo an manchen Abenden aus dem Schornstein einer Eisengießerei eine große Flammengarbe emporschlug , von dorther war eines Morgens der Herbst mit zerrissenen Wolkenfahnen gekommen und hatte Sommer , Sonnenschein und Blätter bis ans Weltende gejagt .
Und dann war der Winter gekommen und hatte während einer Nacht die ganze Erde mit weißem Zucker bestreut .
Ludwig Semper führte seinen Asmus ans Fenster und sagte : " Sieh Mal ; alles Zucker !
Lauter Zucker ! "
Dabei gingen wieder von seinen Augen nach allen Seiten Strahlen aus .
Asmus lächelte ; aber es war Zweifel in seinem Lächeln .
An so viel Zucker glaubte selbst er nicht mehr .
Aber bei nächster Gelegenheit ging er doch einmal hinunter und probierte .
Nein , der Schnee schmeckte nicht süß .
An Wintertagen , wenn der krummbeinige Zwergofen sich anstrengte , daß seine runden Backen knallrot wurden , saß Ludwig Semper am Arbeitstisch und machte Zigarren ; seine Söhne Leonhard und Johannes halfen ihm ; wenn die Mutter in Küche und Schlafkammer fertig war , half auch sie ; Reinhold , der Jüngste , lag in der Wiege ; Asmus spielte zwischen allen herum , und alles atmete Tabakgeruch und Tabakstaub .
Nur Alfred war in der Schule ; die Schwestern waren im Dienst bei fremden Leuten .
In der Tabakstube waren Arbeitszimmer , Wohnzimmer , Speisesaal , Empfangszimmer , Salon , Bibliothek und Kinderzimmer praktischer Weise vereinigt , und das alles war auf einem Raume von vier Metern in Läng und Breite erreicht .
An einem solchen Tage hatte Asmus als Soldat seine sämtlichen Angehörigen schon zu wiederholten Malen mit einem Spazierstock totgeschossen ; sie waren alle umgefallen , aber wieder aufgestanden ; da verwandelte sich plötzlich das Gewehr in eine Trompete ; Asmus trat an seinen Vater heran und sprach :
" Guten Tag .
Ich bin der Musikmacher .
Soll ich Ihnen was aus 'm " Freischütz " vorspielen ? "
" Ja , bitte ! " sagte Ludwig Semper und lachte .
Und Asmus blies auf dem Spazierstock klar und rein das Jubelmotiv : " Max hat den besten Schuß getan . "
Ludwig Semper und die anderen lachten nicht mehr , sondern sahen den kleinen Holzbläser ganz verdutzt an .
" Soll ich Ihnen jetzt den " Barbier von Sevilla " vorspielen ? " fragte Asmus .
" Bitte ! " rief Ludwig Semper .
Und Asmus blies so richtig , wie man_es nur verlangen konnte :
" Will Rosine mich betrügen , Muß sie schlau zu Werke gehe 'n . "
Als der kleine Musikant merkte , daß er Eindruck mache , da spielte er ein ganzes Programm .
" Nun kommt " Josef in Ägypten " ! " rief er .
" Was ist denn Ägypten ? " fragte Ludwig Semper .
" Ägypten ist eine Wiese " , antwortete Asmus mit Festigkeit .
Er hatte einmal gehört , die Störche zögen nach Ägypten , und er hatte einmal gesehen , daß viele Störche auf einer Wiese standen .
Daraus schloß er , daß Ägypten eine Wiese sei .
Und er blies :
Ich war Jüngling noch an Jahren , Vierzehn zählte kaum ich nur . "
" Er müßte ein Klavier haben oder eine Geige ! " rief Johannes begeistert .
" Ja , ja " , sagte Ludwig Semper und bückte sich mit heißem Eifer auf seine Arbeit .
An diesem Tage träumte er davon , seinem Asmus ein Klavier oder eine Geige zu erarbeiten .
Wenn Leonhard oder Johannes sich nach langen Wochen fünf Schillinge erspart hatten , dann gingen sie eines Abends auf die oberste Galerie des Stadttheaters .
Wenn sie fortgingen , blickte Asmus ihnen mit einer dunklen Sehnsucht lange nach .
Denn am anderen Tage konnten sie immer nicht aufhören , mit leuchtenden Augen und heißen Köpfen zu erzählen und zu singen .
Sie sprachen von wundervollen Landschaften , über die der Mond dahingezogen , von köstlichen Gewändern und herrlichen Gesängen , wie : " Rezia ist auf ewig dein . "
Oder sie sprachen von vielen Männern , die " auf der Bühne " gestanden und ihre Schwerter gezogen und gesungen hätten :
" Geheiligt sei die Rache Für unsere heilige Sache ! "
Ach , wie herrlich musste es dann sein , wenn der Graf Nevers sich empörte gegen den schändlichen Plan der Mörder .
Er ganz allein gegen alle die Mörder - wie mußte das schön sein !
Und Asmus schlich auf den Dachboden , und als er sich allein sah , zog er den Spazierstock und sang : " Nie habe ich mein Geschlecht Durch feigen Mord geschändet , Und wenn sich euer Blick umher Auf meine Ahnen wendet , Zähl ich der Krieger viel , Doch einen Mörder nicht ! "
Dann rief Asmus-Saint Bris dazwischen :
" Wie ?
du reihst dich nicht ein in die tapferen Scharen ? "
Und Asmus-Nevers erwiderte flammenden Blickes :
" Nein , meinen Degen will Vor Schande ich bewahren .
Sieh , hier hast du ihn !
Zum Mord brauche ich ihn nicht ! " und er schleuderte seinen Stockdegen dem unsichtbaren , aber schändlichen Saint-Bris vor die Füße , ganz so , wie es Leonhard beschrieben und gezeigt hatte .
O , Theater , Theater !
Ob er wohl auch einmal ins Theater käme ?
Es war im Dezember , als Johannes dem Asmus , der zur Tür hereintreten wollte , hastig zurief :
" Draußen bleiben !
Draußen bleiben ! " und eilig etwas unter den Tisch verbarg .
Was sollte das bedeuten ?
Als Asmus bald darauf eintreten durfte und Johannes hinausgegangen war , da fand er unter dem Stuhl , auf dem der Bruder gesessen , ein handgroßes Stück Pappe .
Aus der Pappe war ersichtlich etwas herausgeschnitten worden , und das Loch hatte die Form einer menschlichen Gestalt .
Was sollte das nur bedeuten ?
VI. Kapitel .
Warum Asmus den Milchtopf zerschlug , warum er keine Aussicht auf den Himmel hatte und warum er ein dummes Gesicht machte .
Inzwischen rückte die Weihnacht näher und näher .
Asmus hatte sich zwei Schillinge erspart , und für diese wollte er seiner Mutter einen Milchtopf schenken .
Mit dem Milchtopf in der Hand stand er harrend vor der Tür , die nach Weihnachten führt .
Sein Herz klopfte ; denn seltsame , ungreifbare Gerüchte , geflüsterte Warnungen und geraunte Andeutungen hatten seit Tagen die Luft durchschwirrt .
Man hatte ihn oft von der Seite angesehen und dabei gelacht .
Als nun langsam und leise knarrend die Tür aufging und ein Schimmer sichtbar wurde , setzte er sich in Sturmlauf .
" Da , Mutter , hast 'n - - Griff " , sagte er , denn mit dem Milchtopf war er gegen den Türpfosten gerannt , und nur noch den Griff hielt er in der Hand .
Und was für ein wundersamer Tag dies war , das konnte man daran sehen , daß die Mutter , als er ihr ängstlich ins Gesicht sah , nicht zürnte und schalt , sondern laut lachte ; alle lachten sie laut , alle .
Da stürmte er fröhlich weiter und fand nun auf dem Weihnachtstische - ein Puppentheater .
Er stand davor und wagte nicht zu fragen , wem es gehöre .
Anzunehmen , daß es ihm gehöre , schien ihm eine ungeheure Unbescheidenheit , und die Antwort , daß es nicht für ihn dahingestellt sei , mochte er nicht herausfordern .
Überhaupt begriff er nicht , wie diese Herrlichkeit in sein armes Elternhaus käme .
Endlich faßte er sich einen Mut und fragte :
" Von wem habt ihr das geliehen ? "
Da lachten wieder alle und riefen durcheinander , das habe sein Bruder Johannes für ihn gemacht und es gehöre ihm .
Nun konnte Asmus nur immer ganz kurz hervorstoßen : " O - o - o - " ; plötzlich suchte er seinen Bruder Johannes , stürzte auf ihn zu und drückte den Kopf ganz fest gegen dessen Leib , und dann kehrte er zum Theater zurück .
Eine Dekoration mit Bäumen war aufgestellt ; der Erbförster Kuno , Caspar , Max , der Bauer Kilian und mancherlei Volks standen auf der Bühne .
Die ganze Bühne bestand aus einem einzigen Brett , das die Welt bedeutete .
In diese Welt hatte man Löcher gebohrt , und in die Löcher wurden mittels Zapfen das Proszenium , die Kulissen und der Hintergrund gesteckt .
Das war die ganze Maschinerie , und doch hat sie größere , seligere Wunder bewegt als der raffinierteste Apparat vom Meister Lautenschläger !
Die Figuren waren in einer einzigen und meistens noch schnell vorübergehenden Situation festgehalten ; der Bauer Kilian schabte Max , dem Jägerburschen , Rübchen , solange er auf der Bühne stand ; die junge Gräfin vom Strahl hielt bei ihrer Vermählung krampfhaft das Bündel fest , das sie als Katchen aus dem Elternhause mitgenommen , und die Vertreter der drei Waldstätte schwuren mit einer beispiellosen Ausdauer .
Sie alle hatten Klötze an den Füßen und Drehte am Kopf ; aber für Asmus gingen und saßen , tanzten und schwebten sie wie lebendige Menschen und Götter .
Nur selten hatte der gute Johannes Zeit , eine Aufführung zu veranstalten ; wenn er es aber tat , so tat er es mit Feuer und großem Pathos .
Ein schönes Stück waren die " Hugenotten " ; denn darin wurde geschossen ; noch schöner war " Katchen von Heilbronn " ; denn darin brannte ein Schloß mit bengalischen Flammen nieder ; die Krone aller Stücke aber war der " Freischütz " ; denn darin gab es zwei Schüsse , einen Teufel und in der Wolfsschlucht ein Feuerrad .
Welch ein leichtsinniges Gesindel die ganze Sämerei war , das konnte man daran sehen , daß sie bei jeder " Freischütz "Vorstellung für zwei Schillinge , also nach heutigem Gelde für fünfzehn Pfennige Feuerwerk verpufften .
Ja , die meisten von diesen Semper wären imstande gewesen , aus einem guten Stück ihres Lebens eine Rakete zu machen und es in die Luft zu brennen , wenn es nur einen schönen , farbigen Funkenregen gab .
Asmus berauschte sich an den hoch- und wohltönenden Reden , die sein Bruder aus einem Buche las ; er starrte mit stiller Wonne in die Wälder und Kerker und Rittersäle der Bühne ; aber das Höchste in der Kunst war doch das Feuerrad in der Wolfsschlucht .
Ja , einmal in einer Galavorstellung unter Anwesenheit hoher Herrschaften wurde der " Freischütz " sogar mit zwei feurigen Rädern gegeben .
Aus dem Hause , in dem Asmussens Schwester Marianne diente , waren die Kinder zum Besuch gekommen .
Der Ruf der Festspiele im " Düstern langen Balken " war bis in die große Stadt Hamburg gedrungen .
Als die feingekleideten , schönen Mädchen im Semperschen Hause erschienen , war es Asmus , als ob ein süßer , feierlicher Klang durch seinen Körper rinne .
Die Ältere hatte ein gar feines Gesicht und trug eine große Haarlast von einem wahrhaft heiligen Hellblond ; die Jüngere hatte ein rundes Gesicht voll lieblicher Sanftmut .
Sie sprachen unendlich vornehm und sagten , wie man in Hamburg zu sagen pflegt , " fuichtbar " statt " furchtbar " und " Rchräder " statt " Räder " .
Und sie trugen Handschuhe .
Asmus konnte sie nur immerfort anschauen , und sein Anschauen war wie ein Gebet .
Und wenn sie gar freundlich zu ihm sprachen und ihm zulächelten , dann schien es ihm , als wären Engel herabgestiegen , um mit ihm zu spielen .
Nachdem sie gegangen waren , verzehrte er sich wochenlang vor Sehnsucht nach ihrer Nähe .
Er hatte einmal gehört , daß einige Menschen in den Himmel kämen , andere in die Hölle .
Jetzt begriff er das .
Solche Mädchen kommen in den Himmel , dachte er .
Und er sah an sich herunter und dachte :
Mit solchen Hosen und solchen Stiefeln kommst du nie hinein .
Zwischen den Festspielen pflegte er täglich seine Theaterpuppen und Requisiten hervorzunehmen und mit stiller Freude zu betrachten .
Jeder Pappfigur sah er minutenlang fest ins Gesicht , um zu sehen , was sie wohl in diesem Augenblicke denke .
Er stellte sie vor sich auf und betrachtete ihre Gewänder , Hüte und Waffen .
Das Schönste war und blieb doch der Graf Wetter vom Strahl in seinem ganz und gar goldenen Harnisch , seinem goldenen Helm und bunten Federbusch ; den liebte er wie einen leiblichen Menschen .
Dann nahm er die Dekorationen her und wandelte mit seinen Gedanken tief , tief hinein in die dunkelschattigen Wälder und in die sonnigen Gärten ; er ging staunend immer weiter und weiter durch die prangende Säulenhalle der Ritter und schlich schaudernd entlang an den Wänden des Kerkers mit seinem angefesselten Gerippe .
Er saß am Grunde der Wolfsschlucht und starrte dort hinauf , wo " Milch des Mondes " über gespenstische Trümmer rieselte , und seine Gefühle überschlugen sich vor unausdenkbarem Grauen , daß er die Augen schließen mußte .
Und langsam , aber stark und immer stärker erwuchs in ihm das Verlangen :
Lesen können !
Ach ja , lesen können - dann konnte er selbst all die schönen Stücke spielen ! und er bestürmte seinen Vater : " Vater , lehre mich lesen , man zu , Vater , lehre mich lesen ! "
" Ja , ja , du sollst lesen lernen " , sagte der Vater .
" Wollen wir jetzt anfangen ? " rief Asmus erregt .
" Nein , heute noch nicht .
Bald ! Nächstens ! "
Und er meinte das " Bald " sehr ehrlich , der gute Ludwig Semper ; er wollte seinen Liebling gern das Lesen lehren ; aber aus " Bald " und " Bald " wurden Wochen und Monate und er kam nicht dazu .
Da klammerte Asmus sich an seinen Bruder Alfred , und Alfred nannte ihm alle 25 Buchstaben des Alphabets auf einmal ; denn Alfred war kein Pestalozzi .
Er mußte die 25 noch einmal nennen , aber dann konnte sie Asmus .
Nun kann ich lesen , jubelte er bei sich .
Aber das dicke Ende kam nach .
" a-u-eff " , las er .
" Nein , das heißt " auf " , " rief Alfred .
" Was ?
Da steht aber "a-u-eff " ! "
" Ja , aber wenn man liest , heißt es " auf " . "
Das war ja seltsam .
Erst lernt man die Buchstaben , und wenn man liest , heißen sie nicht so ?
Aber er ließ nicht nach .
" Ha-a- es-e " , las er .
" Gott , wie bist du dumm ! " rief Alfred .
" Hase heißt das ! "
Aaaaah - jetzt dämmerte es Asmussen !
Wenn man liest , heißt es nicht " Ha " , sondern " H' " , nicht " es " , sondern " es " .
Und er nahm einen neuen Anlauf und las : " Heezke " .
Alfred wollte sich totlachen .
" Heezke , Heezke ! " rief er und sprang im Zimmer herum .
" Hecke !!
Hecke heißt es - Junge , bist du dumm ! "
Jetzt wurde aber Asmus kratzbürstig .
" Hier steht " Heezke " , " rief er , " du kannst ja selbst nicht lesen ! "
" So ? "
Das ging aber Alfreden über die Hutschnur .
" Du Döskopp , du weißt noch nicht Mal , daß das kurze " e "
- " e " heißt ! "
" "e " heißt " e " ? " fragte Asmus und starrte seinen Bruder wegen dieser neuen Inkonsequenz mit offenem Munde an .
" ja ! Wenn " e " kurz ist , heißt es " e " , und wenn " u " kurz ist , heißt es " u " , und wenn " a " kurz ist , heißt es " a " , und " i " heißt " i " und "o " heißt " o " ! "
Asmussens Augen wurden bei diesem Hexeneinmaleins immer größer ; es sah aus , als wolle er seinem Bruder die Worte von den Lippen saugen .
" Mensch , mache doch nicht so_ein dummes Gesicht ! " rief Alfred .
Wenn alle , alle Gedanken des Menschen hinausgetreten sind in die Welt , steht der Körper verlassen da , und die Augen sehen aus wie leere Fenster .
Die Menschen nennen das ein dummes Gesicht .
" Aber hier steht doch ein " ce " und das heißt doch wohl " z' " ! "
" Nein , " ck " heißt " k " , rief Alfred .
" Na ! "
Er lief davon ; er gab die Sache auf ; er hatte keine Lust mehr .
Aber Asmus gab die Sache nicht auf .
Er saß stundenlang über dem Lesebuch seines Bruders und bohrte seine aufgestützten Ellbogen fast in den Tisch hinein und suchte sich die Wörter heraus , die er lesen konnte .
Und am zweiten oder dritten Tage entzifferte er langsam : " Hans und Liese " .
O Gott , das war ja die köstliche Geschichte mit der Bratwurst unter der Nase , über die er so laut gelacht hatte !
Und jetzt bohrte er die Ellbogen noch tiefer in den Tisch ; seine Wangen glühten , seine Augen wurden immer größer , und er las - und las - und konnte lesen !
O Gott , er konnte lesen !
Wenn doch ein Wort kam , das ihm zu schwer war , dann riet er nach dem Zusammenhäng , wie es wohl heißen möge , und oft fand er_es ; wenn es aber gar zu schwer war , fragte er seinen Vater , wie es heiße , und wenn er_es gehört hatte , sagte er genau wie sein Vater " Hm " und las weiter .
Ein altes Lesebuch ohne Einband , woran die letzten Blätter fehlten , ließ er nun nicht mehr von sich .
Er hielt es beim Essen unter dem Arm ; es mußte des Nachts neben ihm schlafen ; wenn er hinunterging , um mit Wiebke Wiese zu spielen , nahm er es mit und las ihr daraus vor , bis sie davonlief .
Mit dem Buche unterm Arm sah er seinen Bruder Alfred an wie den Entbehrlichesten Menschen von der Welt ; nach vierzehn Tagen las er genau so gut wie sein erhaben-ungeduldiger Lehrer .
VII. Kapitel .
Ein Segler und Wolkenschieber taucht auf und hat Iphigenie , Medea , Münchhausen und Eulenspiegel an Bord .
Genau um diese Zeit war es , daß an einem Morgen ein langer , hagerer Jüngling zur Stube hereinsegelte , sogleich auf Leonhard und Johannes lossteuerte und mit rollenden Augen ausrief : " Ooh -
Menschenkinder !
Gestern die " Iphigenie " .
o !
Die Charlotte Wolter - ooh !
Guten Morgen !
Guten Morgen ! "
Man muß von " segeln " sprechen ; denn seine langen Rockschöße flatterten hinter ihm her wie Segel .
Er war ein siebzehnjähriger Jüngling ; aber er trug den ausgewachsenen Rock , den sein Vater abgesetzt hatte .
Aber trotz der reichlichen Gewandung sah man immer die Ecken seiner Ellbogen und Knie .
Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und seufzte :
" Wie sie das gesprochen hat , ihr wißt wohl :
" Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht - " und er schnellte wieder empor , warf die Augen gegen die tabakgebräunte Decke des Zimmers und rezitierte unerschrocken mit hallendem Pathos das ganze Parzenlied .
Dann sank er wieder auf den Stuhl , schob seine habsburgische Hängelippe vor und neigte den Kopf auf die Seite wie Friedrich Schiller .
" Heute gibt sie die " Medea " , " rief er dann und sprang wieder in die Höhe .
" Geht ihr mit ?
Ich gehe hin ! "
Aber Leonhard und Johannes hatten kein Geld .
Ein Platz kostete fünf Schillinge .
" Ich habe acht Schilling , drei kannst du kriegen ! " sagte der Segler zu Leonhard .
Johannes hatte zwei Schillinge ; die wollte er Leonhard dazu leihen ; dann konnte der mitgehen .
Leonhard hätte wohl gern mit Großmut abgelehnt ; aber er brachte es nicht fertig .
Johannes saß da mit dem Antlitz eines Edlen , der die Ohren hängen läßt .
Da taten sich Ludwig Semper große Augen auf und sprachen zugleich mit seinem Munde zu Johannes :
" Du kannst auch hingehen .
Ich bringe wohl noch so viel zusammen . "
Da war im Hause Semper eine solche Fröhlichkeit und Seligkeit , daß Asmus , der auf dem Fußboden saß , dachte :
Heute ist ein großer Festtag .
Am anderen Morgen wurden nicht besonders viele und nicht besonders gelungene Zigarren angefertigt .
Überall stand Medea im Wege , überall flimmerte das goldene Vlies , loderten die Flammen von Kreons Königsburg .
Die Hände hielten im Tabakrollen inne , und die Augen starrten auf die Leichen von Aeson und Absyrtus .
Und schon in beträchtlicher Frühe fuhr der Segler herein , legte bei und warf Anker .
" Na ?
Na ?
Was ?
Junge !
Mensch , wie sie ihren Mantel zerreißt - ratsch - von oben bis unten , was ?
Oo !
Und dann - du - . "
Der Segler warf seine rechte Hand weit von sich in die Luft - : " Zurück !
Wer wagt_es , Medeen zu berühren ?
Merke auf die Stunde meines Scheidens , König , Du sahst noch keine schlimmere , glaube mir .
Gebt Raum !
Ich gehe !
Die Rache nehme ich mit . "
" Ja " , rief Leonhard , und wie sie sagt : " Jason , ich weiß ein Lied ! oo ! "
" Ja " , rief Johannes , und wie sie die Leier zerbricht !
Ha ! "
Und so oohten und hatten die drei ohne Aufhören , und Ludwig Semper Augen versanken tief in den Brunnen der Erinnerung und stiegen lächelnd und feuchtglänzend wieder empor .
Die Ästhetik dieser Jünglinge bestand in " o " und " Ha " und " Großartig " und " Kolossal " , und seltsamerweise brannten dennoch ihre Herzen im wahrsten und heiligsten Feuer , das je die Kunst entzündet hat .
Heinrich Moldenhuber hieß der Segler und war der Sohn eines armen Arbeiters , der in einer Zuckerfabrik mit saurer Mühe kargen Lohn erwarb .
Leonhard und Johannes aber , die ihn in einer jämmerlichen Abendschule kennen gelernt hatten , nannten ihn mit plattdeutscher Volksetymologie nicht anders als " Wolkenschieber " .
Für Asmussens Entwicklung hatte der Wolkenschieber eine zweifache Bedeutung .
Erstens pflegte er , sobald er eingetreten war , Asmussen den Rücken zuzuwenden ; Asmus pflegte dann mit seinen kurzen Ärmchen in die Tasche des Rockschoßes hinabzufahren , wobei er sich schrecklich anstrengen mußte , um den Grund zu erreichen ; aber endlich pflegte er einen großen runden Apfel ans Licht zu bringen .
Zweitens führte der Wolkenschieber , ohne daß er es wußte , den kleinen Semper in die deutsche Literatur ein .
Mochten Ludwig Semper und die drei Jünglinge auch von Dingen sprechen , die er nicht verstand , er hörte ihnen zu , ohne daß sie es merkten ; sein kleines Herz stand weit offen , wie ein Kirchlein am Sommersonntagmorgen , und feierte einen sonnigen Gottesdienst .
Wenn er auch ihre Worte nicht begriff , das Strahlennetz , das sie alle umspann , umspann ihn mit ; er fühlte :
was sie jetzt reden und denken und meinen , das ist etwas Schönes , Herrliches , Festliches , man sieht es ihnen an .
Die Literaturgeschichte kam etwas bunt zu Platze ; dann war von Goethe die Rede und dann von Rabener , dann von Herder und dann von Lichtwer , jetzt von Shakespeare und jetzt von Musäus , nun von Hebbel und gleich darauf von Uz .
Fast jedesmal , wenn er erschien , brachte der Wolkenschieber Bücher mit , und mit denen , die die Semper besaßen , machte es eine stattliche kleine Bibliothek .
Auf der Karre am Spielmarkt konnte man ganze Dramen von Schiller und von Leisewitz , sämtliche Gedichte von Heine und von Hagedorn für einen Schilling kaufen .
Das seltene Taschengeld der drei wanderte auf die Karre oder ins Theater .
Wundervolle Bücher waren es , ganz alte , stockfleckige , mit Kupferstichen geschmückte Bücher , in die zuweilen ein Besitzer aus Urgroßvaters Tagen mit schöner Schnörkelschrift seinen Namen geschrieben hatte .
Wenn man nur hineinschaute , wurde es einem friedlich und sanft ums Herz .
Da war ein Exemplar des " Don Carlos " , in das jemand seinen Namen geschrieben hatte , als Schiller noch lebte !
Aus Goethes Lebenstagen waren viele darunter ; der hatte ja noch zu Ludwig Semper frühen Tagen gelebt !
Wie manches liebe Mal hatte Ludwig erzählt , er vergesse nie den Märzmorgen , an dem der Justizrat quer über die Straße dem Herrn Carsten Semper zugerufen habe :
" Wissen Sie schon ?
Goethe ist gestorben ! "
Der fünfjährige Knabe saß stundenlang am Tisch oder in einem Winkel auf dem Fußboden , wandte Blatt für Blatt dieser Bücher um , schaute still hinein und begann hin und wieder zu lesen .
Er schlug ein Buch auf : Julius von Tarent .
Von Johann Anton Leisewitz .
Er hatte gehört , daß darin ein Bruder den anderen umbringe .
Das mußte herrlich zu lesen sein !
Er fing damit an .
Aber es ging doch nicht .
Es war zu schwer .
Er nahm ein anderes Buch , von dem sie gesprochen hatten :
" Zimmermann , Über die Einsamkeit " .
Das wollte er lesen .
Aber das ging auch nicht .
Das war noch schwerer .
Da eines Tages kam Leonhard nach Hause gesprungen und schwang ein Buch in der Rechten .
" Münchhausen , Münchhausen ! " rief er .
Es hatte wohl seine Gründe , daß Münchhausen gerade ihm gefiel .
Asmus machte sich darüber her und das gefiel auch ihm .
Aber was ihn ergötzte , war nicht die Lügenkraft des Erzählers , sondern die Wunderbarkeit seiner Abenteuer .
Man hatte ihm gesagt , daß das alles Lügen seien ; aber Asmus glaubte dem köstlichen Baron und nicht seinen Brüdern .
Er liebte diesen Mann , der so Seltsam-Köstliches erfahren hatte , und er nahm ihn im stillen gegen den Vorwurf der Lüge in Schutz .
Er fand den Hirsch mit dem Kirschbaum auf dem Haupte sehr schön , und folglich glaubte er an ihn .
Und warum sollte der Baron nicht auf einer Kanonenkugel durch die Luft geritten sein ?
Es mußte ja herrlich sein , so über Felder und Wälder dahinzufliegen !
Freilich , die Sache mit dem am Monde befestigten Strick , der oben abgehauen und unten wieder angeknotet wurde , die machte ihm Kummer , die war verdächtig . . . . . . . Und eines Abends , als Asmus den gesetzmäßigen Apfel aus der tiefen Rocktasche herausgeholt hatte , rief der Wolkenschieber :
" Auch in die andere Tasche ! " und siehe da , aus der dunklen Tasche stieg lachend " Till Eulenspiegel " hervor .
Auch dieses Buch nahm Asmus von einer besonderen Seite .
Er fand einige Streiche Eulenspiegels sehr lustig und lachte über sie ; die meisten fand er dumm , und sie langweilten ihn .
Aber das Büchlein aus grobem , vergilbtem Papier war mit altertümlichen , groben Holzschnitten geschmückt , und die hielten ihn lange fest .
An einem Sonnabend Abend hatte er das Buch bekommen , und nun fand er es wunderschön , sich abends , wenn der letzte Tagesschein durchs Fenster fiel , tief in den Winkel neben dem Ofen zu drücken und die Bilder still zu betrachten ; am schönsten aber fand er es an Sonnabend-Abenden , wenn er dabei an den kommenden Sonntag dachte .
Er las jedes der Bilder Strich für Strich wie Buchstaben ; er sah hinter den Bergen und Mauern der Bilder Menschen und Dinge , die gar nicht darauf waren ; er verfolgte die Linien der Hügel und Bäche weit , weit über den Rahmen des Bildes hinaus , und ein tiefes , warmes Behagen schloß ihn so fest in die Arme , daß er den Kopf duckte wie ein gestreicheltes Kätzchen. VIII. Kapitel .
Von drei Spielkameraden des kleinen Asmus und noch einem und von schlechten Menschen , die nicht borgen wollen .
Aber die Herrschaft des krummbeinigen Zwerges mit den knallroten Rundbacken ging zu Ende , und Frühling , der entzauberte Königsjunge , sprang draußen über Hecken und Gräben , die Schuhe in der Hand .
An jedes Fenster drückte er das Näschen , schützte die Augen seitwärts mit den Händen , schaute wie ein dreister Schlingel hinein und hüpfte laut lachend zum nächsten .
Asmus sprang die Treppen hinunter ihm nach .
Die beiden musterten sich eine Zeitlang aus der Entfernung , wie zwei Jungen , die noch nicht wissen , ob sie miteinander spielen oder raufen möchten , und von denen keiner dem anderen das erste Wort geben will .
Aber der Frühling hatte einen Vogel in der Hand , und das überwand alle Scheu .
" Was ist das ? " fragte Asmus .
Der Königsjunge warf den Vogel in die Luft - der flog über die Wiese und schrie :
" Driiip - driiip . "
" Das ist eine Sprehe " , sagte der Frühling , und so kamen sie in ein Gespräch und ins Spiel .
Mit Wiebke Wiese spielte Asmus nur selten ; sie wollte immer mit Puppen spielen , und für Mädchenpuppen hatte Asmus nun gar nichts übrig .
Er ließ sich nie herab , eine Mädchenpuppe auch nur anzufassen .
Sein Bruder Alfred mußte zur Schule gehen , und nach der Schule mußte er Tabak streifen , und wenn er doch einmal zum Spielen herunterkam , dann huldigte er vorwiegend dem nervenaufregenden Sport der Ratten- und Mäusejagd .
Das Fangen und Töten der Tiere fand zwar Asmus auch famos ; aber wenn er den kahlen Schwanz der Tiere sah , dann lief ihm ein Schauder vom Wirbel her den ganzen Rücken hinunter , und angefaßt hätte er solch einen Schwanz nicht um tausend Äpfel oder um tausend Bonbons .
Oder Alfred wollte Marmor spielen und tüchtig dabei gewinnen .
Und Asmus verlor immer - immer , immer , immer .
Und Alfred , der schlechte Kerl , wollte ihm die verlorenen Marmor nicht wiedergeben .
So spielte er denn auf den weiten Wiesen fast nur mit dem Königssohne .
Sie nahmen die hohlen Stängel des Löwenzahns , kerbten sie an den Enden ein und warfen sie ins Wasser , und nach fünf Minuten fischten sie herrliche Kandelaber , gelockte Säulen und Marschallstäbe heraus .
Der Frühling sagte :
Wenn man sie auch in der Mitte einkerbt , werden sie noch bunter , - Asmus versucht es , und sie wurden wirklich noch bunter .
Und als der Löwenzahn Früchte trug , blies Asmus dem Frühling die Pappushaare ins Gesicht ; aber der , nicht faul , pustete zurück , daß die Haare dem Asmus auf den Kittel und ins Gesicht flogen .
" Jetzt will ich sehen , wie lange ich lebe " , sagte Asmus ; er blies auf die Haarkrone einer neuen Blume und blies nur wenige Fäden herunter .
Dann pustete ihm der Frühling über die Schulter , und alle Härchen flogen davon .
Der hatte den längeren Atem .
" Jetzt wollen wir einmal ganz , ganz dorthin laufen , wo es am Himmel so schön blau ist ! " rief der Frühling , und Asmus lief mit .
Als er sich aber nach mehreren hundert Schritten umwandte , da war sein Elternhaus viel kleiner geworden .
" Ich mag nicht mehr ! " sagte er schnaufend .
" Ach was " , rief der kleine König , " komme doch weiter !
Sieh Mal , wie blau , und mit weißen Streifen dazwischen ; es wird immer heller ! "
- " Nein " , sagte Asmus , " wir verlaufen uns . "
- " Haha ! Verlaufen ! " höhnte der Königsbengel , " du Bangbüx ! "
Asmus ärgerte sich , daß er " Bangbüx " sagte - er hörte es ganz deutlich , das Wort " Bangbüx " - aber er kehrte doch um .
Ein andermal pflückten sie Pilze .
" Die sind giftig " , sagte der Königssohn .
" Nein " , sagte Asmus , " das sind Champignons , die essen die reichen Leute , hat mein Vater gesagt . "
- " Das sind aber keine Champignons ! "
- " Das sind doch Champignons ! "
- " Das sind nicht Champignons ! "
- " Das sind doch Champignons ! " und Asmus wollte hineinbeißen - er ließ es aber doch lieber bleiben .
Und so trieben sie sich Tag für Tag herum , und Asmus merkte gar nicht , daß er ein immer größerer und auch dickerer Träumer wurde und daß aus dem Königssohn ein schöner , herrlicher Mann geworden war , der Sommer hieß und goldglühende Augen hatte , der ihn in seinen heißen Arm nahm und duftende Büsche über ihn bog , wenn er im Grase entschlummert war , und der , wenn er wieder erwacht war , nach dem Licht und den Wolken des Himmels zeigte und sagte : " Sieh einmal !
Da ist es gerade , wie eines Nachmittags in deiner früheren Wohnung ! " oder " Sieh einmal , dort hinter dem Hügel , da schwebt das Lied aus dem " Fidelio " :
" Komme Hoffnung , laß den letzten Stern , Den letzten Stern der Müden nicht erbleichen . " und sieh da - er ließ ihn durch eine kleine , kleine Öffnung der Hecke nach einem fernen Baume blicken - " sieh da , da ist es , wie es vor langer Zeit einmal war , als deine Mutter dich auf dem Arme wiegte und du gegen die Decke des Zimmers blicktest . "
Und Asmus träumte und spielte und merkte gar nicht , wie aus dem jungen , sonnenhellen Manne ein älterer Mann wurde mit breitem , braunem Bart , in einer Försterjoppe und mit Vogelfedern am Hut .
Der führte ihn zu den Bäumen am östlichen Wiesenrand und schüttelte sie , und es prasselten grüne Bälle herunter , die zerplatzten beim Aufschlagen , und es schauten aus weißen Lidern feuchtfunkelnde , tiefbraune Augen hervor .
Das waren Kastanien , und Asmus konnte nicht aufhören , aus den weißen Höhlen der grünen Früchte die glühend braunen Kerne hervorzuholen , die sich - ach - sobald sie ans Licht der Welt kamen , mit einem trüben Tau überzogen und dann trotz allen Reibens nie wieder so blank und schön wurden , wie sie im allerersten Augenblick gewesen .
Und Herbst , der freundliche Oheim , lehrte ihn , die Kastanien auf eine Schnur zu reihen und sie um den Hals zu hängen wie einen Königsschmuck .
Und führte ihn eines Morgens gar unter einen Eichbaum und zeigte ihm die Kelchnäpfchen der Eicheln , die mit ihren Stielchen zusammen aussahen wie richtige Tabakspfeifchen .
" Steck ' Mal eine in den Mund " , sagte der Herbst .
Asmus tat es .
" Siehst du ?
Genau wie eine Pfeife ! "
Asmus empfand einen tiefen Stolz ; er fühlte sich zum Manne gereift .
" Weißt du was ? " sagte er , " mein Vater hat ' ne ganze Menge Zigarren ; ich will Mal 'ne Zigarre rauchen . "
" Das tu nur " , sagte der Herbst , " das macht Spaß . "
Am anderen Morgen spazierte Asmus vor dem Hause auf und ab , eine Zigarre bald zwischen den Zähnen wälzend , bald zwischen den Fingern drehend und ihren Brand mit Kennermiene prüfend .
Sie brannte aber gar nicht ; denn er hatte sie gar nicht angezündet .
Es kam ihm nicht auf das Rauchen an ; er wollte nur einmal so tun ; es war ein reiner Darstellungsgenuß .
Es dauerte nicht lange , so tat sich oben ein Fenster auf und die Nachbarin schaute heraus .
Asmus legte die Hand mit der Zigarre auf den Rücken ; er hatte das dunkle Gefühl , daß dies das Richtigere wäre .
" Na , Asmus , gehst du spazieren ? " fragte die Nachbarin .
" Ja .
Das Wetter ist so schön . "
" Fühlst du dich denn ganz wohl ? "
" Ja .
Mir fehlt nichts . "
" So . "
Die Frau lächelte in einer ganz merkwürdigen Weise .
Und es dauerte wieder nicht lange , so erschienen an einem anderen Fenster Asmussens Eltern .
Asmus konnte ja nicht wissen , daß die Nachbarin zu seiner Mutter geeilt war und gerufen hatte : " Ach , Frau Semper , kommen Sie doch schnell Mal ans Fenster und sehen sich ihren Asmus an ; es ist zum Totlachen :
er spaziert unten auf und ab genau wie sein Vater und raucht ! "
Auch die Eltern begannen mit Asmussen ein ganz harmloses Geplauder über Sonnenschein und Wetter ; aber er behielt die Hand auf dem Rücken ; er hielt es für besser so .
Erst als die drei von den Fenstern verschwunden waren , nahm er seinen Spaziergang und den Genuß der Morgenzigarre wieder auf , von Zeit zu Zeit die duftende Rolle an die Nase führend oder sich den nicht vorhandenen Rauch mit der Linken zufächelnd wie ein raffinierter Qualitätenraucher und beeidigter Importenprüfer .
Sein unverdorbenes Gemüt konnte ja nicht ahnen , daß die droben hinter den Vorhängen standen und sich köstlich amüsierten . - -
Als nun der braune Bart des Herbstes immer mehr weiße Fäden bekam und seine Augen so klar blau und durchsichtig wurden wie Eis , da floh Asmus vor ihm ins Haus .
Die Schönheit und Güte des Winters verstand er noch nicht .
Es fehlte ihm auch zum rechten Verständnis an festen Schuhen , dicken Strümpfen und einem starken Winterrock .
Stiefel und Winterüberzieher sind eine teure Mode , und man hatte gerade genug zu tun , so viele Semper leidlich einzuhüllen , als hin und wieder unbedingt in die Winterkälte hinaus mußten .
Zudem ging in diesem Winter im Semperschen Hause eine merkwürdige Veränderung vor .
Der Vater und die Brüder waren fast den ganzen Tag außer dem Hause ; sie kamen gewöhnlich nur am Mittag und am Abend heim .
Es gab keinen Tabak mehr im Hause ; die Stube blieb von Morgen bis Abend sauber und fein , und Asmus konnte gehen und stehen , wo er wollte .
Das behagte ihm , und er fand dies Leben zur Abwechslung sehr hübsch .
Etwas anders wurde es nur , als auch die Mutter oft und öfter auf viele Stunden verschwand und er mit dem kleinen Reinhold ganz allein zu Hause sein mußte .
Er mußte den Kleinen stundenlang wiegen , und das fand er entsetzlich .
Sobald er zu wiegen aufhörte , schrie der gute Reinhold .
Endlich holte der Sechsjährige den Zweijährigen aus den Kissen hervor , setzte sich auf einen Schemel und hielt ihn auf dem Schoße .
Das gefiel dem Baby , und zehn Minuten lang gefiel es auch seinem Wärter .
Aber dann kriegte er eine schreckliche Lust , zu spielen , und er legte Reinholden wieder an seinen Platz zurück .
Reinhold war nicht gesonnen , sich das bieten zu lassen , er schrie wie ein gereizter Elefant .
Da mußte Asmus ihn wieder herausnehmen und ihn auf dem Schoße halten , halbe Stunden lang , ganze Stunden lang , mehrere Stunden lang , und Reinhold sprach kein brauchbares Wort außer " Dadadada " und " babababa " .
Da wurde das Herz des kleinen Asmus oft vor Verlangen so groß , daß es ihm wehtat .
Aber seltsam : allgemach strömte aus dem warmen Körperchen des kleinen Bruders ein Trost auf ihn hinüber ; es erwachte in ihm die Zärtlichkeit für das Brüderchen , das ihm bis dahin eigentlich nur ein uninteressantes Tierchen gewesen war .
Er fühlte mit Lust das weiche warme Wangchen an dem seinen , er betrachtete mit staunendem Vergnügen das zierliche Wunderwerk dieses unendlich kleinen und zarten Fingers ; er begann mit dem Baby zu spielen und war fast so glücklich wie eine Mutter , wenn Reinhold lachte oder gar jauchzte .
So weit war nun alles gut .
Aber es verschwanden nicht nur die Eltern und Brüder , es verschwand auch das Fleisch vom Mittagstisch und vom Brote die Butter .
Es gab Tag für Tag Klöße mit Pflaumen .
Es währte aber nicht allzu lange , so gab es nur noch Kaffee und Brot .
Jetzt ging Asmussen ein Licht auf .
Er hatte wohl schon vordem gehört , daß die Eltern und die Brüder Arbeit suchten ; aber er hatte es sich ganz lustig vorgestellt , jeden Tag auszugehen und Arbeit zu suchen .
Jetzt begriff er die Situation :
sie hatten kein Geld mehr , sie verdienten kein Geld mehr , und ohne Geld wollten ihnen die schlechten Menschen kein Brot und keine Butter geben .
Aber er sollte die Lage der Dinge noch klarer begreifen .
Täglich kam jetzt der Vater oder die Mutter oder einer der Brüder heim mit den Worten :
" Der Krämer will nichts mehr borgen " oder " der Schlächter will erst Geld haben " oder " der Bäcker will mir nichts mehr geben ; er will uns verklagen " .
Und doch sollte das Allerschlimmste noch kommen .
Wenn die Krippe leer ist , beißen sich die Pferde .
An einem Morgen sprachen die Eltern erregt und immer erregter miteinander ; sie gaben sich harte Worte , und endlich rief Ludwig Semper : " Tut , was Ihr wollt !
Ich weiß nicht mehr , wohin ! " und stürmte zur Tür hinaus .
IX. Kapitel .
Von einem Weihnachtsfeste und von einem traurigen Abschied .
Das hatte Asmus noch nicht erlebt .
Er wollte aufschreien , mit seinem Vater laufen , bei ihm bleiben ; aber er war starr ; er konnte nichts tun und nichts sagen .
Erst nach Stunden wagte er die Mutter anzureden : " Kommt Vater bald wieder ? "
" Ich weiß es nicht " , sagte die Mutter mit finsterem Gesicht .
" Kommt Vater überhaupt wieder ? " fragte Asmus zitternd .
" Ja , ja , er kommt wieder ! "
An diesem Tage gab es gar kein Mittagessen .
Aber in der Dämmerung kam der Vater nach Hause .
Asmus stürzte auf ihn zu und umklammerte sein Knie .
Und Brot und Kaffee brachte Ludwig Semper mit !
Arbeit hatte er nicht bekommen ; aber ein befreundeter Zigarrenmacher hatte ihm einen Taler geliehen .
Das war ein Glück !
Und Glück über Glück : die Eltern sprachen wieder freundliche Worte miteinander !
Als sie beim Essen waren - und bei dem 18jährigen Leonhard und dem 16jährigen Johannes durfte man gewiß von " Essen " reden - da fuhr der Wolkenschieber herein .
Er mußte mitessen und tat es gern ; denn auch er zählte 18 Jahre .
Es währte aber nur wenige Minuten , so rezitierte er die Zerstörung Trojas nach Schiller .
Und als er nicht mehr konnte , legte Ludwig Semper den Kopf in die Hand und sprach :
" Infandum , regina , iubes renovare dolorem ! " und er erzählte , wie der Dänenkönig Friedrich VII. einmal an einem sonnigen Morgen die Domschule zu Schleswig besuchte und wie Ludwig Semper vor dem König aus der Aeneis lesen und übersetzen mußte .
Seine Augen leuchteten im Erinnerungsglanze , und der Abend war schön und sanft wie der Friede .
Aber der geborgte Taler schmolz schnell dahin ; die Brüder verdienten wohl hier und da ein paar Schillinge ; Ludwig Semper fand wohl noch hin und wieder einen , der ihm borgte ; aber dauernde Arbeit fanden sie nicht , und eines Morgens kam der Bote vom Gericht mit der Klage des Bäckers .
Asmus hörte von Pfändung reden , und dieses Wort machte ihm schwere Angst .
Er hatte einmal in der " Gartenlaube " ein Bild gesehen :
" Die Pfändung " .
Gerichtsbeamte trugen die letzte Habe armer Leute hinaus ; der Vater saß , dumpf vor sich hinbrütend , da , die Mutter weinte in die Schürze ; die Kinder schauten dem Tun der fremden Männer mit starren Blicken zu .
Das also würde nun auch bei ihnen geschehen .
Ein Glück nur , dachte Asmus , daß bald Weihnachten ist , dann wird ja alles wieder anders .
Dann brennt ja wieder der Tannenbaum , und Zuckersachen hängen daran , dann backt die Mutter wieder Apfelkuchen und mittags gibt es Beefsteak !
Aber seltsam :
Weihnachten kam immer näher , und Asmus merkte nichts von heimlichem Tuscheln und Kichern , nichts von einem stillen Leuchten in den Mienen .
Die anderen schienen gar nicht zu wissen , daß Weihnachten komme .
Am Tage vor dem Feste faßte er sich endlich ein Herz und fragte seine Mutter :
" Hat der Ruppert den Tannenbaum schon gebracht ? "
" Ach Junge ! " rief die Mutter fast unwirsch , " was du wohl meinst .
Diesmal laß dir den Tannenbaum nur vergehen . "
Aber er glaubte ihr nicht .
Das kannte er schon , das hatte sie früher auch gesagt .
Freilich hatten sie es damals ganz anders gesagt , ganz anders . . . Als er mit seinem Vater allein war , nahm er die Gelegenheit wahr .
Er zwinkerte ihm zu und sagte : " Du , Mutter sagt , es gibt keinen Tannenbaum !
Gibt es doch , nicht ? "
Und Ludwig Semper sprang auf , strich dem Knaben hastig über den Kopf und sagte ebenso hastig : " Mal sehen - Mal sehen ! "
Und das Weihnachtsfest verlief auch diesmal nicht ohne Freude .
Vater , Mutter und Johannes fanden gerade am 24. Dezember ein wenig Beschäftigung .
Die übrigen saßen am Weihnachtsabend verlassen um einen ungedeckten Tisch .
Leonhard trieb seine Lieblingsbeschäftigung :
er zeichnete stolze Dreimastschiffe mit stramm gebauschten Segeln .
Ein Tannenbaum war nicht aus dem Dunkel hervorgewachsen ; aber auf dem Tische stand das große Schloß " El Escorial " .
Das hatte Johannes freilich schon vor langer Zeit aus Modellierkarton und Gummi arabicum errichtet ; heute aber hatte Alfred ein Lichtstümpfchen hineingesetzt , und alle Fenster des Schlosses strahlten in festlicher Beleuchtung von einem einzigen Talgstümpfchen .
Asmus starrte so tief in das Licht , daß er endlich die Ärmchen auf den Tisch legte und entschlief .
So kam er sanft über den Weihnachtsabend hinüber .
Am anderen Tage konnte Frau Rebekka doch wenigstens eine kräftige Suppe kochen , und als der Duft des Fleisches und des Krautes weihevoll die Zimmer durchzog , da erschien Heinrich der Seefahrer - denn auch so wurde Heinrich Moldenhuber wegen seiner windgeschwellten Rockschöße von Ludwig Semper genannt - und brachte zwei alte Hefte einer illustrierten Zeitschrift , die er für einen Schilling an der Karre erstanden hatte , dem Asmus Semper zum Geschenk .
Als dann gar noch von Mozarts " Don Juan " gesprochen wurde und Ludwig Semper mit seiner weichen Tenorstimme zu singen anhob :
" Tränen , vom Freunde getrocknet " da fehlte wohl noch wenig an einem Weihnachtsfest .
Es sollte aber noch viel schöner kommen .
Am zweiten Feiertage hüpfte ein kleiner dünner Mann mit einem lustig zwinkernden linken Auge herein und sagte mit einer Nasen und Schneiderstimme :
" Guten Tag " .
Auch er war ein Zigarrenmacher oder , wie es im plattdeutschen Zunftjargon hieß :
ein " Piependreiher " , und wie allen " Pfeifendrehern " ging es ihm im allgemeinen schlecht und zu manchen Zeiten sehr schlecht .
Aber wenn es ihm schlecht ging , machte er Witze , und wenn es besonders schlecht ging , machte er sogar gute Witze .
Er hieß Fritz Dorn und hatte den Sinn seines Lebens in Verse gebracht , die er zu Zeiten rezitierte :
" Gott schuf in seinem Zorn Den edlen Fritz von Dorn Und sprach : Du sollst auf Erden Ein Piependreiher werden ! "
Eines Tages kam er zu Ludwig Semper hereingesprungen und rief : " Du , jetzt bin ich fein heraus !
Mein Hauswirt ist Bäcker , jetzt nehme ich Brot für die Miete ! " und als er trotz dieses vorteilhaften Arrangements nach einiger Zeit , von einer Arbeitssuche heimkehrend , Weib und Kind und einen kleinen Rest seines Hausrats ausgesetzt und auf der Straße fand , da sagte er :
" Na ? Wohnen wir jetzt hier ? " und dann mit einem Blick nach dem Himmel :
" 'n bißchen hoch von Decke ! "
Dieser Treffliche nun kam am zweiten Weihnachtstage und rief : " Du !
Ich habe mit Waldheim gesprochen !
Er hat Arbeit für dich , so viel du willst ! "
Wie Asmus das hörte , war sein erster Gedanke : " O wie schön !
Nun kommt der Exekutor nicht ! "
So wurde das Weihnachtsfest am letzten Ende noch ein ganz herrliches Weihnachtsfest .
Der edle Fritz " von " Dorn aber sprach nach einem nachdenklichen Schweigen :
" Mensch , warum machst du eigentlich Zigarren ?
Das ist wohl für unser einen gut genug ; aber wer so viel gelernt hat wie du - "
Damit hatte er Frau Rebecken an die Zunge gerührt .
" Ja , Herr Dorn , das sagen Sie ihm nur !
Der Mann ist so gelehrt :
er kann Englisch und Französisch und Lateinisch und Griechisch und Hebräisch - "
" Na , na , na ! " rief Ludwig Semper .
" Aber meinen Sie , daß ich den Mann dazu kriegen kann , Mal was anderes zu versuchen ?
Wie oft habe ich zu ihm gesagt , wenn irgendwo 'ne Stelle frei war :
Gehe doch Mal hin !
Wissen Sie , was er mir zur Antwort gibt ?
Ach , warum soll ich da hingehen ? "
Ja , warum sollte Ludwig Semper hingehen ?
Er trieb ja beim Zigarrenmachen in stummen Gedanken die herrlichsten Dinge !
Wenn er heftig die Lippen bewegte oder sich auf die Unterlippe bis , wenn er die Augen gegen die Decke warf oder in jäher Bewegung ein Bein über das andere schlug , dann hielt er Predigten , die er gehalten hätte , wenn er Pastor gewesen wäre ; er spielte den Faust , wie er ihn gespielt hätte , wenn er Schauspieler geworden wäre ; er dirigierte die Leonorenouvertüre ; er hielt im Parlament eine flammende Rede gegen die Unterdrücker oder er sprach als Arzt zu einem hoffnungslosen Kranken :
Stehe auf und wandle !
Wer wußte , ob er mit einer anderen Beschäftigung all diese edlen Berufe hätte vereinigen können !
Er hatte sich wohl zwei- oder gar dreimal um eine Stellung bemüht ; er hatte keinen Erfolg gehabt und hatte es aufgegeben .
Und jetzt ?
Warum sollte er sich um etwas bemühen ?
Er hatte ja jetzt wieder Arbeit !
Er las noch am selben Weihnachtsabend den Seinen mit heller Munterkeit " Wallensteins Lager " vor : als er die Stelle las :
" Es ist ein elend und erbärmlich Leben - Möcht's doch nicht für ein anderes geben ! " -
da warf er den weißen , fünfundvierzigjährigen Kopf in Begeisterung empor , und Frau Rebekka hörte ihm mit andächtigem Stolze zu .
Aber es war auch hohe Zeit , daß Ludwig Semper endlich wieder Arbeit fand .
Da Reinhold allmählich immer gebildeter wurde und das Schreien immer mehr aufgab , so erschien bald ein anderer , neuer Schreier mit noch ganz jungen , unverbrauchten Kräften .
Er erhielt den Namen Adalbert , d. h. der durch Erbgut Glänzende , und war nun vorläufig der Jüngste .
Dem ältesten Sempersohne war die Ruhe nicht gut bekommen .
Er hatte entdeckt , daß das Spazierengehen in freier frischer Luft erquicklicher ist als das Zigarrenmachen .
Er entschloß sich jeden Morgen später , sich ans Zigarrenbrett zu setzen , und bald entschloß er sich ganze Montage und Dienstage überhaupt nicht dazu .
Die Mutter machte ihm Vorstellungen genug , vielleicht sogar zu viel , jedenfalls verschlugen sie nichts .
Ludwig Semper sagte nichts .
Als aber Frau Rebekka nun mit gutem Rechte ihrem Gatten zusetzte , da entschloß sich dieser zu einer Tat .
Er nahm Leonhards einzigen Rock , verschloß ihn im Schrank und steckte den Schlüssel zu sich .
Nun sollte Leonhard nur spazieren gehen .
Und Leonhard tat es .
Er warf heimlich den Rock seines Bruders Johannes zum Fenster hinaus , ging offen und ehrlich in Hemdärmeln hinaus und hinunter , zog unten den Rock an und wanderte fürbass .
Das war nun auch dem Vater zu viel .
Als der leichte Sohn wieder ans Haus kam , gab es eine Szene , an deren Schlusse Ludwig Semper sagte , wenn er nicht arbeiten wolle , solle er machen , daß er zum Hause hinaus komme .
Leonhard schwieg ; aber am Abend ging er fort , und in der Nacht kam er nicht heim .
Auch den folgenden Tag blieb er fort , auch die folgende Nacht .
Die Mutter weinte , der Vater bewegte bei der Arbeit ununterbrochen die Lippen , und Asmus wagte nicht zu singen und nicht zu spielen .
Wenn er die Mutter weinen sah , schlug sein Herz mit einem tiefen , dunklen Klange , wie wenn man zupfend die tiefste Saite einer Viola anschlägt .
Endlich , am vierten Tage , erschien der Wolkenschieber und brachte Nachricht .
Leonhard hatte bei einem anderen Zigarrenmacher Arbeit genommen .
Moldenhuber hatte ihn abends in einer Gastwirtschaft gesehen , war hineingegangen und hatte ihn begrüßt .
Er war sehr vergnügt gewesen , hatte Billard gespielt und mit seinen Witzen bei den Anwesenden großen Beifall gefunden .
Er war ein witziger Bursche , hatte eine hübsche Stimme und konnte mit der lebemännischen Eleganz des Herzogs von Mantua singen : " Ha , wie so trügerisch Sind Weiberherzen . . . "
Alles sei entzückt von ihm gewesen , berichtete der Seefahrer ; es sei in einem_Fort gegangen :
Semper hier und Semper da .
" Das war ja schon immer so : alle Leute mochten ihn leiden " , sagte Frau Rebekka , und sie lächelte fast glücklich dazu .
Aber ein Platz im Hause war leer und blieb leer .
Und man mochte reden und denken , was man wollte : auf dem leeren Platz saß ein Gespenst .
Leonhard Semper hatte seine traurige Laufbahn begonnen .
X. Kapitel .
Wie Asmus in der Ebene eine Talwiese fand , sich zweimal hintereinander verliebte und von Johannes getauft wurde .
Wohin die Semper aus dem " Düstern langen Balken " zogen , da war wieder Oldensund und da hieß es " Am Rain " .
Am Rain , am Rain , da wuchsen keine Reben , da wuchsen nur alte , niedrige , schmutzige Häuschen , die sich menschliche Wohnungen nannten , und neue , hohe , weißgetünchte Klötze , die sich ebenfalls menschliche Wohnungen nannten und noch viel häßlicher waren .
In einem dieser neuen Häuser wohnten die Semperischen .
Aber erfahrene Leute wie Asmus Semper pflegen in solchen Gegenden um die Ecke zu gehen , und wenn man um die Ecke der Straße unter dem Tunnel des ersten Eisenbahndammes hindurchging , dann fand man nicht nur weite , unbebaute Strecken , man fand sogar Berg und Tal .
Irgendwo da herum ging es sieben Ellen tief hinab , und für ein Kind der Ebene sind sieben Ellen Höhe und sieben Ellen Tiefe eine Traumumhange Gebirgswelt .
In diesem Grunde lag eine kleine Wiese , auf der das Schweigen in hohen Halmen wuchs und mit großen , verwunderten Augen emporblickte , wenn ein einsamer Besucher zu ihm herabstieg .
Diese versunkene Wiese fand er an einem Sonntagnachmittag , und sie wurde nun seine innigste Freundin .
Und seltsam : Draußen mochte Dienstag oder Mittwoch oder Freitag sein - wenn er in seine Talwiese hinabstieg , so war dort Sonntag , heiliger Sonntag .
Und je öfter er kam , desto weniger verwunderten sich die Blumen , ja , wenn er sich zwischen ihnen niedergelassen hatte , dann rückten sie flüsternd an ihn heran und erzählten ihm Märchen von Bienensaug und Wasserjungfer .
Die Blumen und Gräser oben am Rande der Höhen aber wuchsen stracks in den Himmel hinein , und wenn die Gedanken die steile Bergwand hinaufstiegen und den höchsten Halm des Rispengrases erklettert hatten , dann kamen sie in den Himmel und konnten auf der Himmelswiese weiter spazieren .
Es war so schön auf dieser stillen Flur , daß er einmal sieben Straßenkameraden mit dorthin nehmen mußte ; er konnte sein Glück nicht mehr für sich behalten .
" O , dahin müßt Ihr einmal mitkommen , da ist es fein ! "
Aber , o Wunder , als die lärmende Schar den Abhang hinunterstürmte , da war auf der Wiese nicht mehr Sonntag , sondern ganz gewöhnlicher Mittwoch .
" Ja , hier ist es fein , hier ist es fein ! " schrien die anderen .
Aber Asmus wurde immer einsilbiger , und zuletzt verstummte er ganz .
Seine Wiese sah ihn zornig und traurig an .
Er hatte ein Paradies verloren .
Ein anderes , ein ganz anderes Knabenparadies lag zwischen den alten , kleinen Häusern gegenüber der Semperschen Wohnung .
Hier war nämlich ein geräumiger , ebener Platz , und in diesem Platze befanden sich wohl ein halbes Dutzend kleiner Gruben , die mit dem Stiefelabsatz hineingebohrt und dann mit den Mützen - oft recht guten und neuen Mützen - ausgeputzt und glatt gemacht wurden .
Dies waren " Marmelkuhlen " , und der Platz war das Monte Carlo von Oldensund .
In schulfreien Stunden versammelte sich hier die marmelbesitzende Jugend des Dorfes , und auch Asmus vertraute einige Male sein Glück der rollenden Kugel , freilich ohne allen Erfolg .
Die Habitues dieser Spielbank wußten ihren Marmeln durch eine Drehung der Hand etwas mitzugeben , was die Billardspieler " Effet " nennen , oder sie ließen , wenn sie sich über gewisse Skrupel hinweggesetzt hatten , den Daumen so geschickt die fortune korrigieren , daß immer eine gerade Zahl in die Grube rollte und Leute wie Asmus , die in die Grube starrten , statt nach den Händen zu sehen , nach wenigen Minuten ruiniert und verzweifelnd den Schauplatz verließen .
Asmussens Bruder Alfred sammelte indessen Reichtümer ; er gewann fast immer und entwickelte sich zu einem Marmel-Rothschild ; er hatte ganze Büchsen und Kasten voll des steinernen Mammons .
Wenn er aber gar zu andauernd gewann , so fielen die Verlierer über ihn her , um ihn zu prügeln .
Asmus konnte nicht sehen , daß man seinen Bruder schlug , und er bat ihn oft , das gefährliche Terrain zu verlassen .
Das wies aber Alfred schroff zurück , und so mied Asmus die " Marmelkuhlen " endlich ganz .
Indessen : Das Leben läßt kein Menschenherz ohne allen Trost seinen Weg wandeln , und wer Unglück im Spiel hat , der hat Glück in der Liebe .
Diesmal waren es gleich zwei Mädchen , mit denen Asmus einen Herzensbund schloß .
Es waren zwei Schwestern von zehn und sieben Jahren , und sie hießen Mathilde und Fanny .
Mit der siebenjährigen Fanny spielte er lieber ; aber Mathilde mochte er lieber ansehen .
Wenn er sie ansah , dann sagte er immer bei sich " Mathilde " - " Mathilde " - das klang so milde und fromm , so sanft und fein .
Er mochte sie anblicken , wann er wollte ; was er fühlte , das klang immer wie " Mathilde " .
Diese Mädchen waren den ganzen Tag und alle Tage allein ; denn die Mutter ging aus zum Waschen .
Einmal sah Asmus auch sie , und sogleich dachte er : die heißt gewiß auch Mathilde .
Einen Vater hatte Asmus in diesem Hause nie gesehen .
Er saß still dabei , wenn die Mädchen ihre Schularbeiten machten , und es tat ihm wahrhaft weh , daß er noch immer nicht in die Schule gehen durfte .
Er hatte seinen Vater schon oft gebeten , ihn doch zur Schule zu schicken ; aber der sagte immer nur : " Ja , ja , bald , bald " .
Er hörte , wie Fanny die Geschichte vom dummen Hänschen las , und wurde schmerzlich ergriffen von den Schlußzeilen des Gedichtes : Hänschen ist nun Hans geworden , Und er sitzt voll Sorgen , Hungert , bettelt , weint und klaget Abends und am Morgen : Ach , warum nicht war ich Dummer In der Jugend fleißig ?
Was ich immer auch beginne , Dummer Hans nur heiß ich .
Ach , nun glaube ich selbst daran , Daß aus mir nichts werden kann . "
Asmus hörte das ; er stützte traurig seine runde Wange in sein fleischiges Händchen und blickte in eine trostlose Zukunft .
Es war nur ein Glück , daß gleich darauf die Geschichte vom Kätzchen kam , das mit der Pfote ins Tintenfaß geriet und dem über seinem Schreibhefte eingeschlafenen Hans die Aufgabe machte .
Da war die Zukunft vergessen und all Drei freuten sich laut lachend der Gegenwart .
Plötzlich schrie Mathilde laut auf .
" Papa ! " rief sie .
Alle blickten nach der Tür .
Am Pfosten lehnte lallend und stieren Blickes , mit verwirrtem Haar und aufgerissenem Hemd ein großer , starker Mann in Zimmermannstracht .
Der Rest der Zigarre hing ihm schief im Munde , während er vor sich hingrunzte .
" Vernunft is Unsinn ! " schrie er plötzlich , " Wohltun - is Plage !
Vom Rechte , das mit uns geboren is , verdammig noch 'n Mal !
Juuuh - Röschen hatte einen Piepmatz " sang er , und dann mit fürchterlicher Stimme , " das ist der Unverstand der Massen " ; aber seine Kraft reichte nur bis zur Mitte der Zeile , den Rest murmelte er erschlafft vor sich hin .
Dann wurde er Asmus gewahr und rief : " Hähä , was ist denn das vorn kleinen Jungen !
Hab 'n wir 'n kleinen Jungen gekriegt , wo ich gar nix von weiß ?
Wie heißt du denn , mein Sohn ? "
Er schritt wankend auf Asmus zu , der entsetzt zur Seite sprang .
" Na , du Affe ! " schalt der Betrunkene .
" Du Dickkopp ! "
Er wollte wieder auf Asmus zu ; der aber hatte sich langsam der Türe genähert und eilte , am ganzen Leibe zitternd , hinaus .
Als er draußen war , befiel ihn eine heftige Furcht für seine Freundinnen .
" Du bist schon wieder bange gewesen " , dachte er bei sich .
" Du hättest Mathilde beistehen müssen ! "
Aber dann sagte er sich doch auch , daß er gegen einen so großen Zimmermann wohl nicht aufkommen könne .
Er lief zu seinem Vater .
" Vater ! " rief er mit fliegendem Atem , " der Vater von Fanny und Mathilde ist da , ich glaube , er will ihnen was tun ; er ist ganz duhn ( betrunken ) ! "
" So ? " sagte Ludwig Semper , stand langsam von seiner Arbeit auf und ging langsam hinunter .
Er tat , als wenn er seinen Asmus suche , ließ sich mit dem Zimmermann in ein Gespräch ein , schenkte ihm Zigarren und gab dem Schwatzenden so andauernd recht , daß er bald auf seinem Sofa entschlief .
Dann nahm Ludwig Semper die beiden Kinder leise und behutsam mit in seine Wohnung .
Erst nach Wochen , als die Schwestern eifrigst versicherten , daß ihr Papa längst wieder weg sei und sich alle halbe Jahre nur einmal sehen lasse , getraute sich Asmus wieder in die Wohnung des Erdgeschosses .
Inzwischen aber war er in die Netze einer Balletteuse geraten .
Das war eine ganz magere , geschmeidige Dirne von neun oder zehn Jahren .
Sehr junge Männer verlieben sich leicht in etwas ältere Damen , namentlich vom Ballett .
Dabei war sie gar nicht hübsch ; aber für Asmus umfloß sie ein ewiger Strahlenmantel .
Sie hatte im Stadttheater zu Hamburg in einer Weihnachtskomödie mitgewirkt , mitgetanzt hatte sie , auf der Bühne hatte sie getanzt !
Sie war dort gewesen , ja dort hatte sie mitgespielt , wohin er wohl nie in seinem Leben auch nur zum Zuschauen gelangen würde !
Wenn sie erzählt hätte , sie sei im Himmel gewesen und habe die ewige Seligkeit gesehen , sie wäre ihm gewiß nicht wundersamer erschienen .
Er betrachtete sie nur mit ehrfürchtiger Bewunderung und tat alles , was sie wollte ; sie hatte ihn vollständig " im Strick " , wie nur eine neunjährige Ballettdame überhaupt einen unerfahrenen siebenjährigen jungen Mann im Strick haben kann .
Er schaukelte sie , ohne jemals zu erwarten , daß sie ihn wiederschaukle ; er lief als Pferd vor ihrem Wagen Schritt , Trab und Galopp , bis er Stiche bekam , und als die Künstlerin einmal Milch geholt und die Hälfte aufs Pflaster geschüttet hatte und ihn fragte , ob sie nicht sagen dürfe , daß er sie gestoßen habe , da sagte er ohne weiteres " Ja " .
Als er ihr eine Zeitlang treu gedient hatte , trat sie eines Tages mit mehreren Gespielinnen auf ihn zu und sagte , jetzt wolle sie ihn belohnen .
Sie wolle ihm " ganz etwas Schönes " schenken .
Sie gab ihm ein zusammengelegtes Papier , damit solle er bis zu einem gewissen Hause in der Behrendorferstraße gehen .
Wenn er dort sei , dürfe er es öffnen , eher nicht !
Glückselig lief Asmus mit dem Päckchen eine Viertelstunde weit nach dem bezeichneten Hause ; zitternd öffnete er das Papier und fand darin - ein Stück Lehm .
Da fühlte er sich tief ins Herz getroffen .
Nun war er fertig mit dem Ballett .
Als die Mädchen ihn wiedersahen , lächelten und kicherten sie ; aber sie waren Luft für ihn .
Der Mann , einer Schlange nachzulaufen , der Mann war Asmus Semper nun nicht !
Dazu hatte er doch einen zu dicken Kopf .
Er konnte zwar nicht nachtragen , und nach drei Tagen spielte er schon wieder mit ihr ; aber der magische Bann war gebrochen ; und als sie ihn wieder vor ihren Wagen spannen wollte , sagte er ohne alle Ritterlichkeit .
" Zieh du dich man selbst " .
Er war sonst gegen Neckereien durchaus nicht empfindlich : im Gegenteil .
Wenn seine Eltern oder seine Geschwister oder gute Gefährten ihn neckten , dann wurde ihm warm und behaglich ums Herz und er fühlte dann ganz klar und deutlich :
sie haben mich gern .
Ja er wünschte zuweilen ihre Neckerei ; er forderte sie absichtlich heraus , wenn er gern einmal wieder fühlen wollte , daß sie ihn liebten .
Und gerade in dieser Zeit erfuhr er eine rechte Freude .
In Plattdeutschland sagt man statt " rollen " auch " trudeln " , und weil der kleine Asmus mehr und mehr so rundlich gedieh , daß man ihn ohne Anstoß durch die ganze Stube hätte rollen können , so sagte Johannes eines Tages " Trudel " zu ihm .
" Trudel " - das war ein köstlicher Name , und Asmus nahm ihn sofort mit glücklichem Lachen an .
Und von nun an nannten ihn seine Geschwister und seine Mutter mit Vorliebe " Trudel " .
Nur der Vater nannte ihn merkwürdigerweise nie mit diesem Namen .
Der kleine Asmus konnte nicht ahnen , daß dieser Name für ihn ein Schicksal war , und kein sanftes .
XI. Kapitel .
Wie Asmus ins Wunderland kam und dann in einen Schafstall .
Als am Rain das Pflaster aufgerissen und ein gewaltiges Siel gebaut wurde , machte Asmus täglich Forschungsreisen durch schwarze Erde , Sand und Lehm .
Er fand es wunderhübsch , so ganz , ganz tief unten in der dunklen Erde sitzen und arbeiten zu dürfen , und als er eines Morgens mit weit ausgerecktem Halse zusah , wie Mörtel und Steine an langen Seilen zu den Mauernden hinuntergelassen wurden , da kam es ihm recht ungelegen , daß seine Mutter ihn von dieser interessanten Besichtigung hineinrief .
Was sollte er nur ?
Er dachte nach , ob er irgend etwas ausgefressen habe ; aber er wußte nichts .
Als er in die Stube trat , waren aller Augen auf ihn gerichtet .
O weh , dachte er , habe ich doch etwas verübt ?
Dann sagte Ludwig Semper ganz langsam :
" Was meinst du wohl , wenn du heute abend mit Johannes und Alfred ins Theater kämest ? "
Asmus sah seinen Vater , seine Mutter , seinen Bruder Johannes an und konnte wieder nur ein dreifaches kurzes "o - o - o " hervorstoßen ; als er aber an der lachenden Miene seines Vaters sah , daß es Ernst damit wäre , da heulte er ein langes " oooooh ! " sprang wie toll im Zimmer umher , sprang dann seinem Vater an den Hals und küßte ihn , dann seiner Mutter und küßte sie , dann seinem Bruder und küßte ihn .
Seine Mutter gab ihm bald darauf ein Stück Brot , ein mit Butter bestrichenes ; er bis einmal hinein und gab es ihr dann zurück .
" Ich mag nicht " , sagte er .
So gegen Mittag sagte die Mutter :
" Es gibt Regen , da ist es wohl besser , ihr geht ein andermal ins Theater " .
Asmus blickte so tief unglücklich seinen Vater an , daß der ihm schnell mit den Augen zuzwinkerte :
Glaube es nicht , es ist nur Spaß .
Beim Mittagessen schob er seinen Teller zurück .
Die Freude hatte ihm allen Appetit verschlagen .
Und er fragte so viel , wie es im Theater sei , was man da tun müsse , ob man da auch sprechen dürfe , ob dort ebensolche Puppen wären , wie in seinem Theater , ob man dort auch hinausgehen könne , wenn man Mal hinausmüsse usw. usw. , daß die Mutter endlich rief :
" Junge , nun höre auf vom Theater , sonst kommst du überhaupt nicht hin ! "
Das half .
Er schwieg mäuschenstill .
Um sieben Uhr sollte das Theater beginnen ; um vier Uhr machten sich die Brüder auf den Weg .
Sie kamen nach der großen Stadt Hamburg .
Ach , das war ja schon Erlebnis genug !
Der kleine Semper wäre wohl zehnmal gefallen und überfahren worden , hätte ihn Johannes nicht festgehalten mit treuer Hand .
Denn seine Augen gingen ganz andere Wege als seine Füße .
Sie gingen bald hoch an den ragenden Häusermauern entlang , krochen bald heimlich in schwarzgähnende Kellergewölbe hinein ; sie schlüpften in halberhellte Seitengassen und verträumten sich dort unter einer einsamen Laterne ; sie sprangen schnell in schimmernde Läden hinein und hingen noch festgesogen an einem riesigen Apfel oder an einem bunten Spielzeug , wenn die Füße schon sieben Schritte voraus waren ; sie glitten scheu an einem furchtbaren Riesengespenst empor , das durch Nebel und Dunkel näher kam und das seine Brüder den Michaelisturm nannten , und als er stolperte , da fuhr er zusammen ; es war ihm , als wäre er oben vom Turm herabgestürzt .
In allen Straßen eilten zahllose Menschen hin und her .
Sie sind alle vergnügt , dachte Asmus , sie wollen ins Theater .
Überall war Licht auf den Straßen und in den Häusern .
" Weil heute Theater ist " , dachte Asmus .
Auf einem freien Platze standen Straßenmusikanten und spielten einen Walzer .
Ja , heute ist ja Festtag , dachte Asmus , heute gehen die Leute ins Theater .
Nach einer Stunde erreichten sie einen mächtigen , säulengeschmückten , von Gasflammen umflackerten Bau .
Durch eine große , düstere Seitentür traten sie ein , und nun ging es unzählige Stufen hinauf .
Endlich , vor einer verschlossenen Tür blieben sie stehen .
Hier standen wartend schon eine Anzahl Leute , Männer , Frauen und Kinder .
Eine Stunde hatten sie hier zu stehen .
Der kleine Semper hatte noch keine rechte Vorstellung von einer Stunde , besonders nicht von einer Wartestunde ; daher dachte er wohl hundertmal :
Jetzt - jetzt wird aufgemacht !
Aber immer war es ein trügerisches Geräusch gewesen , oder gar eins , das gar nicht stattgefunden hatte , als höchstens in seiner erregten Einbildung .
Immer mehr Menschen stellten sich hinter ihnen auf ; jetzt war es schon eine wimmelnde Menge .
Die Wartenden unterhielten sich von diesem und jenem ; derjenige , der der Tür am nächsten stand , ließ aber die Klinke nicht aus der Hand .
Besonders Schlaue schoben sich ganz langsam , ganz behutsam , ganz unmerklich vor , bis ein günstiger Augenblick gekommen war , wo sie den Ellbogen einsetzten und einen Vordermann hinter sich bringen konnten .
Die Zurückgedrängten protestierten ; man stritt und zankte , eine hohe Frauenstimme schalt , und von unten antwortete ihr Spott und Gelächter .
Asmus blickte die ganze Stunde gegen den feuchten Überzieher eines großen Mannes ; die Luft war so schlecht , daß ihm fast übel wurde .
Da - da - ein Riegel wurde fortgeschoben - noch einer - ein Krachen . ein heller Spalt wurde sichtbar , und hinein stürmte die Menge wie losgelassene Panther , einer den anderen zurückstoßend , am Rockschoß zurückreißend , ihm den Ellbogen auf die Brust setzend .
Alfred und Johannes hatten den Kleinen in die Mitte genommen , und wie im Sturmwind ging es zur Kasse .
Als die Karten gelöst waren , ging es in Sprüngen weiter hinauf .
Die drei fanden Platz auf der vordersten Bank der Galerie , unmittelbar an der Brüstung - das war der Lohn .
Hier hatten sie abermals eine Stunde zu warten .
Aber hier war es keine Kunst , zu warten .
Was es hier zu sehen gab , das war ja schon allein die dritthalb Schilling wert , die ein Kind zu zahlen hatte , und was nachher auf der Bühne geschah , war eigentlich Zugabe !
Eine Viertelstunde lang hatte man ja allein an dem Vorhang und am Proszenium zu schauen und an dem geheimnisvollen Platze vor dem Vorhang , wo vier Baßgeigen und zwei Pauken sich ausruhten , und eine weitere Viertelstunde an der riesigen halbrunden Rotunde des Zuschauerraums , in die Asmus mit schwindelndem Staunen hinabsah , und eine Viertelstunde und ach !
noch viel länger an dem Kronleuchter und an den Deckengemälden , die so wunderbar schöne , schwebende Gestalten darstellten , daß man wirklich wie im Himmel war .
Und so lange ging Asmus im Himmel spazieren , daß ihm endlich der Nacken schmerzte .
Er war noch lange nicht mit dem Schauen fertig , als es im Parkett und in den Rängen lebendig wurde .
Wahrhaftig , diese Menschen da unten setzten sich auf die rotsamtenen Stühle und in die goldenen Logen , als wenn sie zum Sitzen gemacht wären und zu nichts anderem !
So wie man sich bei ihm zu Hause auf einen Holzstuhl setzte , so setzten sie sich in die kostbaren Sessel , so mir nichts dir nichts , ohne sie anzugucken , ohne etwas unterzulegen !
Er dachte nach , welch eine Unmenge Geld wohl dazu gehören müsse , um da unten zu sitzen , und alle , die dort unten saßen und gingen und miteinander plauderten , als wäre_es gar nichts , sie schienen ihm wie Könige und Königinnen .
Da - da rauschte Musik empor ; Asmus sah seinen Bruder Johannes mit einem Gesicht an , als wenn er sagen wollte :
Wie ist es nur möglich !
Wie kann es nur so etwas geben !
Es mußte ein ganz besonderer , seltsamer Blick gewesen sein ; denn Johannes legte den Arm um Asmus und zog ihn an sich .
Dann ging der Vorhang auf .
Was da alles vor sich ging , das konnte Asmus nicht auf einmal bewältigen .
Er hörte oft nichts von den Worten , weil er mit den Augen an einem besonnten Baumwipfel oder an einer blauen Wolkenferne hängen blieb ; er sah oft nicht , was vorging , weil er mit allen Sinnen am Munde eines Sprechenden hing .
Alle Zuschauer ringsherum hätten fortgehen können , er würde es nicht bemerkt haben ; denn sein Sinn und seine Sinne hatten nur ein Ziel .
Noch als Erwachsener sah Asmus Semper mit greifbarer Lebendigkeit , wie der Jäger ( seltsamerweise vor dem Vorhang ! ) das zitternde Schneewittchen mit dem Hirschfänger bedrohte und wie er sie endlich auf ihr inständiges Flehen , das dem kleinen Semper zwei große Tränen entlockte , frei gab , wie die sieben Zwerge in possierlich abgestufter Reihe mit einem drolligen Gesange auftraten , wie das arme vergiftete Königskind tot hinstürzte , wie es mitten in einem Kranze dunklen Waldesgrüns in gläsernem Sarge lag und wie die Zwerge Wache hielten im schweigenden Abendrot .
In einem Zwischenakte fragte er seinen Bruder mit leiser , unterdrückter Stimme , ob die Menschen dort auf der Bühne nun wirklich Menschen wären oder was sie sonst wären , und jedesmal , wenn das Schneewittchen leblos hingefallen war , fragte er dringend und bange , ob sie nun wirklich tot sei .
Nach der Weihnachtskomödie gab es noch eine ganze Oper , nämlich " Maurer und Schlosser " von Auber .
Davon verstand er zwar nicht viel ; aber er hielt bis zum Ende aus , weil es Musik war , und am anderen Morgen fragte er seinen Vater :
" Soll ich Mal was aus " Maurer und Schlosser " singen ? "
" Ja " , sagte Ludwig Semper .
Und Asmus sang : " Plaget dich die Langeweile , Arbeit verlanget , daß man sie Teile ; Wackere Gefährten sind dir nah .
Darfst nur wagen , nicht verzagen ; Wackere Freunde sind dir nah ! "
Und der Spazierstockbläser und Cigarrenkistenleiermann Asmus Semper nahm den Maurer und den Schlosser in sein Repertoire auf .
Langsam , langsam verebbend floß durch viele Wochen die goldene Welle fort , die dieses Ereignis in des kleinen Semper Seele erregt hatte .
Dann begegnete ihr eine andere Welle , aber keine goldene .
Wenn ein Zigarrenfabrikant einem Hausarbeiter die Beschäftigung nahm , sei es , weil ihn dessen Leistungen nicht befriedigten , sei es , weil er Überfluß an Fabrikaten hatte , so hieß das in der Sprache der Zunft " rausschmeißen " .
Eines Sonnabends kam Ludwig Semper mit Kisten und Seronen nach Hause wie gewöhnlich ; aber es war kein Tabak darin .
" Na ? " fragte Rebekka Semper bestürzt .
" Er hat mich rausgeschmissen " , sagte Ludwig .
Da lief Asmus ängstlich herbei , untersuchte den Rock des Vaters von allen Seiten und fragte : " Hast du dir denn auch wehgetan ? "
Er faßte das Hinausschmeißen körperlich auf .
Und Ludwig und Rebekka Semper mußten trotz ihres Kummers lachen .
Asmus aber faßte einen tiefen Groll gegen die Fabrikanten , die er von nun an für sehr schlechte Menschen hielt .
Das Lachen der beiden Eltern war auch nur kurz und schwächlich .
Die Forderungen der Steuerkasse standen schon so lange an , daß die Behörde sich nicht mehr gedulden wollte und die Pfändung verhängte .
Asmus schwebte wieder in großer Angst ; denn unter dem Exekutor dachte er sich einen Mann , der alles wegnehmen und die Eltern schelten , ja , wohl gar mißhandeln würde .
Es kam aber ein netter , höflicher Mann , der an einen Tisch , ein paar Stühle und ein Schränkchen runde Zettel klebte und eine Zigarre , die Ludwig ihm freundlich anbot , freundlich dankend annahm .
Nach einigen Tagen wurden dann der Tisch , die Stühle und das Schränkchen weggetragen und weggefahren .
Mehr konnte man den Semper beim besten Willen nicht nehmen .
Asmus freute sich , daß die Sache so glimpflich abgelaufen war , und da die Stube nun viel geräumiger war und ein anderes als das gewohnte Gesicht zeigte , so fand er die Begebenheit eigentlich ganz interessant .
Und seine Augen ergingen sich mit munterer Neugier in den leeren Winkeln , wo die Blicke seines Vaters mit Sorgen und die Blicke seiner Mutter mit Tränen des Schmerzes und des Grolles verweilten .
Als der Hauswirt von der Pfändung vernahm , kündigte er schleunigst den Semper die Wohnung .
Aber da er Vertrauen in Ludwig Semper Ehrlichkeit setzte , ihm übrigens auch nach geltendem Rechte nichts mehr nehmen konnte , so ließ er ihn , obwohl der letzte Mietzins nicht bezahlt worden war , in Frieden ziehen .
Hatten die Semper bis dahin eine Etage bewohnt , so bezogen sie jetzt ein ganzes Haus .
Freilich hatte die Etage drei richtige Stuben und eine wirkliche Küche gehabt , während das Haus im ganzen zwei Kämmerchen und einen dunklen Bodenraum umfaßte .
Es war ein Haus , das , von außen gesehen , auch für einen Schafstall gelten konnte , und die Familie Semper hatte die größte Mühe , alle ihre ungepfändeten Sachen darin unterzubringen .
Und doch war diese Wohnung größer , schöner , herrlicher als die drei richtigen Stuben " am Rain " ; denn zu dieser Wohnung gehörten endlose Wiesen , die der Horizont umsäumte , breite Heckenwege , die sich ins Abendrot verliefen , und ein schwarzer Teich , den noch kein Mensch ergründet hatte .
Es war eben eine Wohnung im " Holstenloch " .
XII. Kapitel .
Wie Asmus bei der Sibylle Adolfine lernte und wie der große Pan ihn erschreckte .
Wie der " Düstere lange Balken " an einem Ende der Kultur lag , so lag das " Holstenloch " am anderen Ende .
Auf Wiesen und Wegen ringsum sagten sich Fuchs und Hase gute Nacht , und eines Morgens hatte der Gastwirt , der hundert Schritte weit entfernt wohnte und bei dem die Kultur anfing , ein Füchslein im Käfig , das in kalter Nacht in die Falle gegangen war , und die Kinder standen herum und schauten mit weisen Reden zu , wie der Gefangene mit zweifelhafter Lustigkeit hin- und wiedersprang .
Übrigens standen die Semper nicht allein auf dem Vorposten ; es wohnten wohl noch drei oder vier Familien in der Wildnis , unter diesen auch die des Hauswirts Moses .
Vor dem Semperschen Hause , am eigentlichen Wege , lag ein Haus , das für einen besseren Schafstall gelten konnte , und in diesem wohnte der Grundeigentümer Moses .
Moses war so häßlich , daß man unmöglich erkennen konnte , ob er arisch oder semitisch aussehe ; höchstwahrscheinlich war er auch schon in Vaters- oder Großvaterslenden getauft worden , und sein einziges Kind Adolfine wurde christlich unterrichtet und konfirmiert .
Als der kleine , bucklige und krumme Herr Moses im Semperschen Hause erschien , um den fanatisch rauchenden Ofen zu reparieren , da starrte Asmus ihn mit Furcht und Grauen an .
Er begriff gar nicht , warum dieser Mann ihn bei seiner Töpferarbeit immer mit einem seitwärts drohenden Auge anblickte .
Dann erhob jener gar die lehmbeschmierte Faust , schüttelte sie gegen Asmus , rief :
" Warte , du ! " und blickte dabei schrecklich böse zum Fenster hinaus .
Asmus sah nach dem Fenster ; aber da war niemand zu sehen .
Erst als sein Vater ihn lächelnd ansah , begriff er , daß die Drohung ihm gelte und daß Herr Moses mit ihm scherze .
Und als er ihm gar einen Schilling schenkte , da war Asmus fest davon überzeugt , daß Herr Moses , obwohl er über alle Maßen schielte , ein prächtiger Mann sei .
Der kleine eiserne Ofen rauchte charaktervoll weiter ; aber wenn man mit dem Mietzins im Rückstande ist , so kann man nicht viel sagen , besonders nicht , wenn der Hauswirt so ausdauernd geduldig ist wie Herr Moses .
Übrigens sah Asmus den Mann niemals wieder ; es wußte eigentlich niemand , wo Herr Moses sich aufhalte und was er treibe .
Nach einigen sollte es auch eine Frau Moses geben und man wollte sie einige Male gesehen haben ; andere behaupteten , eine Frau Moses existiere überhaupt nicht .
Nur die dreizehnjährige Adolfine , die vermuten ließ , daß auch die Mutter keine Schönheit gewesen , sah man gelegentlich aus- und eingehen , hörte man hin und wieder im Hause wirtschaften .
In der Schule tauchte sie nur in großen Zwischenräumen und flüchtig auf ; ihre Neigung und ihre Begabung zogen sie nicht dorthin .
Man sah sie nie mit anderen Kindern spielen ; nur mit Asmus Semper gab sie sich gern ab und behandelte ihn wie eine mütterliche Freundin .
An milden Abenden saß er mit ihr vor ihrer Tür auf der Schwelle , und sie erzählte ihm , dort drüben , wo die verlassene Färberei liege , auf dem schwarzen Teiche , der ganz unergründlich sei und bis an die andere Seite der Erde reiche , da sehe man des Abends Lichter tanzen .
Da habe sich der Schneider Jensen mit seinem Sohne ertränkt , weil seine Frau alles versoffen habe .
Wenn es draußen stürmte und schneite , dann saß er bei ihr in der Küche , die wohl seit Menschengedenken nicht aufgeräumt und so voll gepfropft und verstaubt und verräuchert war , wie das Laboratorium eines Alchimisten .
Am Herde hockend wie eine Sibylle , beim schwelenden Docht eines Petroleumlämpchens , erzählte sie ihm , daß es in der Nacht vor dem Tode ihres Bruders dreimal ans Fenster geklopft habe und daß es zuweilen auch jetzt noch klopfe .
Sie glaube , es sei ihr Bruder ; aber sie habe eine schreckliche Angst , hinauszugehen .
Sie erzählte auch , in der Sylvesternacht könnten die Pferde und Kühe sprechen , und dann sagten sie , wer im nächsten Jahre sterben müsse .
Zuweilen wurde ihr Spuk- und Aberglaube selbst dem kleinen Asmus zu dick , und dann sagte er , das Kinn auf beide Fäuste gestützt :
" Das glaube ich nicht . "
Dann wurde sie giftig , riß keifend ihren großen Mund auf und setzte ihn vor die Tür .
Wenn er ihr aber glaubte , dann teilte sie ihre täglichen Buchweizenklöße mit ihm .
Er aß sie mit besonderem Eifer , obwohl seine Mutter sie unvergleichlich besser bereitete , und glaubte , etwas absonderlich Leckeres zu speisen ; denn Kindern schmeckt fremdes Gekoche , wenn es auch weder gesalzen noch geschmalzen ist , immer besser als das heimische .
Das hatte Asmus sich sogleich vorgenommen : die verlassene Färberei und den unergründlichen Teich wollte er einmal aufsuchen .
Wenn nur nicht der Winter ein so kalter , harter , böser Mann wäre , der einem in die Zehe sticht , in die Finger schneidet , die Ohren zwickt und die Nase kneift , daß man glaubt , die Nase wäre überhaupt verschwunden .
Aber seine Schwester Adelheid hatte von den Herrschaften , bei denen sie diente , einen dicken Rock und ein paar Knabenstiefel geschenkt bekommen , und die brachte sie im Triumph ins Elternhaus .
Frau Rebekka Semper war eine unübertroffene Künstlerin mit Nadel und Schere ; sie hatte sich einmal aus einem Regenschirm eine seidene Bluse gemacht , und sie machte aus dem allzu langen Rock einen passenden für Asmus .
Eines Nachmittags , als Asmus in diesem Staatsrock und in seinen mehr als hinreichend großen Stiefeln vor der Tür spielte und einen Stall für den Fuchs zimmerte , den er fangen wollte , da dachte er : Du sollst doch einmal nach der Färberei gehen .
Er setzte langsam ein Bein vors andere , und siehe da , es ging immer besser .
Der Winter war gar kein kalter und böser Mann , nein ein warmer , stiller , freundlicher , milder Mann war er .
Er hatte dicke , weiche Decken auf den Weg gelegt und die Heckenwände ringsumher so dicht mit weißem Pelz umhüllt , daß man wie in einem heimlichen Gemach geborgen war in der stummen Winterwelt .
Der Weg zu Asmussens Füßen rief lockend :
Komme , komme !- und rief lockender und weicher , je weiter er ging ; die silberne Blütenpracht der bereiften Birken rief : Komme , komme ! und ließ lautlos fallende , weiße Dolden herabsinken ; die feuerrote Sonne sah durchs funkelnde Gewirr eines Gebüsches und lockte :
Komme , komme !
Gar nicht mehr kalt war der Winter , nein , im Gegenteil :
da drinnen in der kleinen Kammer , wo das Herz pochte , da war es so warm und wohl wie noch in keinem Sommer .
Er kam an den Färberteich , näherte sich behutsam dem Rande , schaute furchtsam hinein und dachte : Unergründlich - unergründlich !
Dabei durchlief ein Schauer seine Seele ; denn in einem unergründlichen Teiche ertrinken , das schien ihm besonders schaurig .
Niemals kam man wieder heraus , niemals !
Und er starrte minutenlang hinein , als müßte er dennoch den Schneider und seinen Sohn im Dunkel der Tiefe erkennen können ; aber er erkannte nichts .
Dann lief er weiter ; der Winter lockte ihn weiter .
Ja , selbst das Schweigen lockte nun , das wegeweite , felderbreite Schweigen , und sprach zu ihm mit einer Stimme , die so leise war , wie wenn zwei Schneeflocken zusammenschmelzen :
Komme nur , komme !
Und nun war er der Sonne so nahe , daß er nur noch über ein einziges Feld zu gehen brauchte , um bei ihr zu sein .
Er blickte träumend hinein in ihre rote , wogende Glut .
Da - da war es - da überfiel ihn das tückische Schweigen von hinten und griff mit kalten , langen Fingern um seinen Hals .
Er fuhr zusammen ; er drehte sich hastig um und sah nun , daß er ganz allein auf der Welt war .
Nach Hause ! dachte er .
Und er kehrte um .
Aber da waren zwei Wege , welchen sollte er gehen ?
Er entschied sich schnell und ging links .
Aber er ging und ging , und sein Elternhaus wollte sich nicht zeigen .
Da ging er schneller , und endlich lief er in stummer Angst ohne Wahl des Weges dahin .
Er lief so hastig , daß er stolperte und fiel ; er stand wieder auf , klopfte sich den Schnee von den Kleidern und lief weiter .
Aber der Schnee , der sich beim Fallen an seine Finger gesetzt hatte , schmolz , und die Fingerchen wurden starr und begannen zu kribbeln und zu schmerzen .
Jetzt stand er wieder vor einer Gabelung des Weges .
Da sah er sich um und dann brach er los mit einem schrecklichen Geheul .
Und heulend lief er jetzt rechts dahin , immer trapp trapp trapp trapp trapp trapp - ^ - ^ - ^ und dabei unausgesetzt heulend Hu -- u -- u -- u -- u -- u -- u -- u - ^ - ^ - ^ - ^ da - da sprang ein Tier über den Weg , ein ganz dünnes , schlankes ; es war ein Wiesel ; aber er kannte es nicht ; er stand plötzlich still und schaute ihm stumm , mit weit aufgerissenen Augen nach .
Dann hob er wieder an zu laufen mit Hu -- u -- u -- u -- u -- u -- u -- u - ^ - ^ - ^ - ^ und Asmus Semper und diese seine Geschichte hätte vielleicht ein vorzeitiges Ende im Schnee gefunden , wenn nicht plötzlich , wie mitunter die Rettung um die Ecke in unseren Weg einbiegt , genau so plötzlich um die Ecke in den Weg eine lange Gestalt mit fliegenden Rockschößen eingebogen wäre .
Die Gestalt rief und fuchtelte mit den Armen ; aber da ihr Gesicht dem spärlichen Lichte abgewandt war , so sah sie aus wie ein schwarzer Mann , und Asmus dachte :
Das ist der tote Bruder von Adolfine Moses ! er machte schleunigst Kehrt und lief wie rasend davon .
Aber jetzt hörte er seinen Namen : " Asmus !
Asmus ! " rief es - und die Stimme kannte er auch - er blieb stehen und sah sich um , und in langen Sätzen flatterte der Wolkenschieber auf ihn zu .
" Asmus , Junge , verdrehter Kerl , was machst du denn ?
Wo bist du denn gewesen ? "
" Ich weiß nicht " , sagte Asmus .
" Was willst du denn mit dem Hammer ? "
" Hammer ? " fragte Asmus , und die dicken Tränen hingen ihm noch an den Backen .
Richtig : den Hammer , mit dem er den Fuchsstall machen wollte , hatte er mitgenommen und auf der ganzen Reise krampfhaft festgehalten .
Der Wolkenschieber erzählte ihm , daß die ganze Familie ausgegangen sei , ihn zu suchen .
" Ist Mutter tüchtig böse ? " fragte Asmus .
" Nein , das glaube ich nicht " , beruhigte ihn sein Freund .
" Gehe man mit hinein " , sagte Asmus , " dann tut sie mir nichts ; wenn Besuch da ist , kriege ich keine Schläge . "
Heinrich der Seefahrer versprach es ihm ; aber es hatte dessen nicht Not : Rebekka Semper schalt zwar ; aber sie schalt sehr mangelhaft , weil sie gleichzeitig vor Freude lachen mußte .
Ludwig Semper sah seinen Sohn nur immer mit einem ruhigen Lächeln an und sagte nichts .
Er sah aus , als wenn er sich gar nicht beunruhigt hätte ; er schien eine Gewißheit zu fühlen , daß er und sein Asmus so früh nicht von einander getrennt würden . XIII. Kapitel .
Asmus bekommt ein Rittergut und der Seefahrer ladet einen eleganten Passagier aus .
Wie der Wolkenschieber immer etwas mitbrachte , so hatte er auch diesmal etwas mitgebracht :
ein neues Ideal .
Heinrich der Seefahrer wollte jetzt wirklich ein Seemann werden .
Die Tropen befahren - den brasilianischen Urwald sehen - das Gangesdelta - ha !
Oder im Polareis überwintern und Eisbären jagen - ha !
Er hatte in der letzten Zeit ein paar große Reisen gemacht : das Buch sein Fahrzeug , die Blätter darin seine Segel , die Phantasie sein Meer !
Und so betrachtete er den Beruf des Seemanns vorwiegend vom Standpunkte des Entdeckungs- und Vergnügungsreisenden .
Seine Gründe hatten für Johannes etwas unbedingt Überzeugendes , und vorbehaltlich der elterlichen Zustimmung , die man bald zu erlangen hoffte , wurde beschlossen , bei nächster Gelegenheit anzuheuern und als Schiffsjungen in See zu stechen .
Der Zufall wollte es , daß Johannes Semper um diese Zeit herum einmal eine Segelfahrt mitmachte , bei der es auf der einen Seite des Fahrzeugs immer hoch herging und bei der ihm so schwermütig und erleichterungssehnsüchtig ums Herz wurde , und daß Heinrich Moldenhuber in der Zeitung eine Gerichtsverhandlung fand , aus welcher ersichtlich wurde , wie man auf einem Segelschiff einen Schiffsjungen durch barbarische Behandlung in den Tod getrieben hatte , und was so im allgemeinen die Arbeit , der Tageslauf und das Leben eines Schiffsjungen sei .
Es soll nicht behauptet werden , daß der Seefahrermut der beiden Jünglinge vor diesen Erfahrungen erblichen wäre ; aber ihr Ideal erfuhr etwas , was man als Abkühlung bezeichnen kann , und siebzehn , achtzehnjährige Jugend ist so reich an feurigen Idealen , daß sie sich mit einem abgekühlten nicht 24 Stunden lang herumschleppt .
Ja , der Wolkenschieber brachte immer etwas mit ; aber zum diesmaligen Weihnachtsfeste brachte er den Semper etwas ganz Besonderes ins Haus .
Das Fest hatte sich sonst nicht besonders huldvoll bewiesen ; Ludwig Semper hatte zwar wieder Arbeit gefunden , aber sie war nicht eben lohnend ; es war freilich ein Bäumchen mit ein paar goldenen Nüssen entzündet worden ; aber es stand auf dem schmalen Tischchen , das man gegen die Wand stellen mußte , damit es nicht umfalle .
Um die Geschenke war es vollends nicht glänzend bestellt , und Asmus hätte sich mit einer Lebensgeschichte Garibaldis , die er schrecklich langweilig fand , begnügen müssen , wenn nicht eine Nachbarsfrau , die mit Spielwaren hausierte , ein Rittergut unverkauft im Korbe behalten und dieses schöne Besitztum mit modernen Gebäuden und Stallungen , großem Viehstand , fünf Leibeigenen und so viel Acker und Weideland , wie man sich denken wollte , für sechs Schillinge dem Ludwig Semper überlassen hätte .
Für die sechs Schillinge und den Preis des Tannenbaumes hätte Ludwig Semper den wackligen Tisch reparieren lassen können ; aber das war ein sittlicher Defekt dieses Mannes und aller derer , die von seinem Geiste angeweht waren , daß sie nämlich auch im Mangel und in der Not den Schmuck des Lebens nicht entbehren wollten .
Sie forderten Brot vom Schicksal ; aber sie forderten auch Poesie von ihm , und wenn es die nicht gewähren wollte , dann mochte es auch sein Brot behalten .
Das Rittergut war so groß , daß es am heiligen Abend die Herzen der ganzen Semperschaft ernährte ; alle spielten sie mit , alle freuten sich , wenn die Hühner auf die Nase fielen , als wenn sie picken wollten , alle lachten über den Gutsherrn , dessen Kopf einem großen Mehlkloß glich , in dem die Nase und die Augen wie große Rosinen steckten .
Wenn das Ganze aufgestellt war , nahm es den ganzen Tisch ein und sah wirklich aus wie ein Erdenwinkel voll farbigen Glücks und sonnigen Behagens .
" Beatus ille " rezitierte Ludwig Semper :
" Beatus ille , qui procul negotiis Ut prisca gens mortalium Paterna rura bobus exercet suis Solutus omni fenore ! "
" Was heißt das ? " fragte Asmus begierig , und der Vater übersetzte es ihm in die Sprache der Kinder und in die Sprache seiner eigenen Jugend .
Auch wurde an diesem Abend ein wenig Punsch gemacht ; Asmus durfte einen kleinen Schluck nippen , Alfred durfte einen großen Schluck nippen ; Johannes bekam ein ganzes Glas für sich .
Der , der auch ein ganzes Glas bekommen hätte : Leonhard , er war nicht da .
Aber den größten Weihnachtstrumpf , wie gesagt , den spielte doch am Nachmittag des ersten Weihnachtstages der Wolkenschieber aus .
Die ganze Familie war versammelt ; auch die Mädchen waren da :
die immer lachende Marianne , die von zehn zu zehn Minuten vor Vergnügen kreischte , und die etwas schnippische Adelheid , die partout keinen Mann haben wollte .
Auch der durch Erbgut glänzende Adalbert war leiblich und geistig zugegen ; er lag in der Wiege , ließ die Augen aufmerksam umhergehen , und sagte nichts , weil er am Kopfe eines hölzernen Elefanten lutschte , und Reinhold begleitete das Ganze auf einer Trommel .
Da tat sich plötzlich die Tür auf - und herein fuhr der Segler und führte an der Steuerbordseite einen hübschen , so zu sagen eleganten jungen Herrn mit sich , und der elegante junge Herr war Leonhard Semper .
Leonhard Semper hatte Karriere gemacht .
Begabt , wie er in tausend Dingen war , hatte er es im Zigarrenmachen zu einer gewissen künstlerischen Höhe gebracht .
Er hatte es im Gefühl der Hand , die Zigarre nicht um ein halbes Gramm schwerer oder leichter zu machen , als sie sein sollte , und er konnte ihr eine Spitze drehen , daß sie aussah , wie von der Bank des Drechslers gekommen .
Er konnte die feinste Arbeit machen , war deshalb gesucht und verdiente in mancher Woche , wenn er nicht einen oder zwei oder drei Tage " blau machte " , dreißig Kurantmark und mehr .
Nun war in Leonhard ein ehrgeiziger Plan erwacht :
er wollte einmal elegant auftreten !
Er kaufte sich also einen Zylinder , einen ganz modernen , kokett geschwungenen Zylinder , dann ließ er sich ein Paar Stiefel anmessen , die seinem kleinen Fuß wie angegossen saßen , dann bestellte er einen schwarzen Anzug mit einer weißen Piquetweste , dazu ein gesticktes Oberhemd mit weit ausgeschnittenem Kragen und Manschetten , die so modern waren , daß sie über die ganze Hand fielen .
Dazu kam dann noch ein Regenschirm , den man so knapp aufwickeln konnte , daß er beinahe so schlank wurde wie ein Stoßdegen , und der Elegant war fertig .
Er sah gar nicht mehr aus wie ein Zigarrenmacher , sondern wie ein lyrischer Tenor aus Magdeburg oder Posen , und so erschien er nun im Holstenloch .
Mutter Rebekka hatte auf den verlorenen Sohn am heftigsten und häufigsten gescholten ; aber so wie sie ihn sah , schmolz ihr Herz in einem Strom von Zärtlichkeit dahin .
Sie küßte ihn , klopfte ihm die Wangen und betastete mit scheuer Bewunderung den Zylinder und die Piquetweste .
Vater Ludwig war wohl freundlich und ließ kein bitteres Wort vernehmen ; aber die Brücke zwischen seinem gütigen Herzen und dem seines Sohnes war in der Mitte durchgebrochen , und ob auch von beiden Seiten schüchtern daran gearbeitet wurde , sie wurde doch nicht wieder ganz .
Das mußte man dem Leonhard lassen , er blieb während des ganzen Besuches in der Rolle des Grandseigneurs .
Er schenkte Asmus zwei Schillinge und Alfred vier , und er lud seine Schwestern , seinen Bruder Johannes und den Wolkenschieber ein , mit ihm nach Hamburg ins Konzert zu gehen ; er bezahle alles .
Das wurde mit Jubel angenommen ; als er aber auch die Eltern einlud , winkte Ludwig Semper lächelnd ab und Frau Rebekka desgleichen .
Sie dachten wohl beide gleichzeitig an ihren Garderobenvorrat , der sich in festlicher Umgebung nicht sehen lassen konnte ; aber die Entsagung wurde ihnen nicht schwer .
Sechs glückliche Kinder - mehr verlangten sie von einem Tage wahrhaftig nicht !
" Ja , dann müssen wir wohl gehen " , sagte Leonhard und zog die Uhr .
" Er hat eine Uhr , er hat eine Uhr ! " schrie Asmus , und nun versammelten sich alle Geschwister , die Mutter und der Wolkenschieber um den reichen Gast , um das Wunder aus glänzendem Tombak anzustaunen .
Er mußte es öffnen , mußte Asmus den Schlag hören lassen und ihm zeigen , wie es mit dem Schlüssel aufgezogen werde .
Endlich machte sich die junge Schar unter munterem Lärm auf den Weg ; die Alten sahen ihnen lange nach , und Alfred und Asmus dachten an die unermeßlichen Seligkeiten , denen die Glücklichen nun entgegengingen .
Frau Rebekka aber hatte ihren ältesten Sohn zuvor noch auf die Seite genommen und ihn gebeten , doch recht oft wiederzukommen und doch ja immer ordentlich , solide und fleißig zu sein .
Leonhard hatte alles versprochen , als wären es Kleinigkeiten , und sich dann aufatmend den anderen angeschlossen .
" Er ist doch 'n seelensguter Junge " , sagte sie zu ihrem Manne .
" Er gibt noch immer gern ab . "
" Hm " , sagte Ludwig .
" Er ist ja leichtsinnig " , sagte die Mutter ; " aber sein Herz ist so gut ! "
" Ja , ja - hm " , sagte Ludwig .
XIV. Kapitel .
Von einem schweren Anfang und einem leichten , von Faulheit und Sonnenschein und von stillen Gesellschaften .
Bald nach Weihnachten gelang es Asmussen , seinem Vater wenigstens etwas Bildung abzuringen .
Er wollte schreiben lernen , und Ludwig Semper verstand sich wirklich dazu , seinen Sohn zu unterrichten !
Ein Schreibheft , Federn und Tinte wurden herbeigeschafft .
Asmus zitterte vor freudiger Erregung .
Aber auch sein Vater hatte nicht auf den Diesterweg studiert , und weil das Alphabet mit A anfängt , so eröffnete Ludwig den Schreibunterricht mit A , und noch dazu mit dem großen .
Wenn nun schon aller Anfang schwer ist , so ist es der des Alphabets noch besonders , und das große A ist ein ganz hinterlistiges Institut !
Ludwig Semper schrieb obendrein ein Schleswiger A aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts , das fing mit einer Art von Schneckenhaus an , in dem sich Augen und Fingerchen des kleinen Schülers wie in einem Labyrinth verirrten .
Dabei empfand er es als eine besondere Niedertracht von der Stahlfeder , daß sie sich immer nur nach einer Seite bog und nicht nach allen Seiten wie ein Pinsel , und die Tinte kroch heimtückisch immer höher an seinen Fingern hinauf .
Die ersten Reihen nahmen sich aus wie eine stattliche Menagerie von seltsamen Ungeheuren .
Asmus forderte schüchtern das Urteil seines Lehrers ; der schüttelte langsam und andauernd den Kopf und schrieb seinem Sohne nochmals ein schönes großes A vor .
Aber daran , daß Ludwig Semper schreiben könne , war ja gar nicht zu zweifeln ; die Sache war die , daß sein Sohn es darum noch immer nicht konnte .
Asmus packte jetzt den Federhalter mit inbrünstiger Kraft , als wäre er ein eherner Griffel und das Schreibheft von Granit ; die Feder fauchte und schrie und spuckte vor Wut nach allen Seiten schwarze Galle , und schließlich dachte sie :
" So , nun mache ich gar nichts mehr ! " , sagte mit so einem recht impertinenten Ton " knacks ! " und brach ab .
Asmus erschrak nicht schlecht ; denn so eine Feder kostete zwei Pfennige .
Er nahm ganz heimlich eine neue , kniff die Feder mit ängstlicher Gewalt , daß sie sanft übers Papier fahre , und brachte denn auch endlich etwas zustande , was wie ein A dreinschaute .
Alfred freilich machte sich lustig und rief : " Haken un Staken Kann ich will maken , Ulen und Krei'n Kann ich will Clay 'n " . - aber Ludwig Semper sagte lächelnd :
" Na ! " und ging zum großen B über .
Das kam nicht leicht vor , daß Ludwig Semper , wenn er A gesagt hatte , auch noch B sagte ; so viel vermochte nur sein Sohn Asmus über ihn , und C sagte er auch in diesem Falle nicht .
Er hatte auch gar zu viel andere Sorgen .
Er mußte jetzt jeden Sonnabend seine Zigarren anderthalb Stunden weit tragen , und wenn er mit etwas Fleisch und Mehl und Kaffee und einem Bilderbogen für Asmus nach Hause kam , dann hatte er nicht viel Bares mehr zu schleppen .
Gleichwohl machte er dann ein heiteres Gesicht ; er sang und las abends im " Faust " , weil er für die nächsten drei Tage ohne Sorgen war ; aber am Dienstag oder Mittwoch ging seine heitere , hoffnungshelle Miene allmählich in ein schwermütiges Sorgengesicht über .
Und eines Tages fiel das schicksalsschwere Wort :
" Asmus muß mit heran . "
Die Mutter hatte schon oft gescholten :
Warum eigentlich der dicke , gesunde Junge nicht auch mitarbeiten solle ; die anderen Kinder hätten viel früher daranmüssen .
Sie wisse gar nicht , was ihr Mann in dem Bengel sehe ; er tue gerade , als wäre er 'n goldener Apfel .
Und Ludwig setzte endlich auch seinen Asmus an den Tabakstisch .
Man konnte ihm ansehen , wie bitter schwer ihm das wurde .
Wenn es möglich gewesen wäre , hätte er lieber noch so viel mehr gearbeitet , als die Hilfe des Kleinen ausmachte ; aber es ging nicht .
Der Graf Nevers und Wetter vom Strahl , Musikmacher und Spielkamerad des Frühlings , er mußte heran .
Und natürlich ging er mit Vergnügen an die neue Unterhaltung .
Er mußte die untere Hülle der Zigarre zurichten , d. h. er mußte die Mittelrippe der Tabakblätter in der Mitte mit dem Fingernagel durchschneiden , dann die untere Hälfte der Rippe herausziehen und die so präparierten Blätter sorgfältig aufeinanderbreiten .
Das war in drei Minuten gelernt , und Asmus war nicht wenig stolz darauf , arbeiten zu dürfen , mit den Großen zusammen am Tisch sitzen zu dürfen und damit endgültig in die Reihe der Erwachsenen und Vernünftigen aufgenommen zu sein .
Seltsam : hier war der Anfang so leicht , so kinderleicht , und der Fortgang - so schwer , ach , so schwer !
Ein langer und bitterer Kampf hatte begonnen .
Das Tabakzurichten war sicherlich ein hübsches Vergnügen , wenn man es nicht übertrieb , wenn man vielleicht sieben Rippen herauszog , aber nicht siebenhundert , und " Arbeiter " sein war erst recht etwas Schönes , aber für einen Tag , doch nicht für alle Tage !
Das Schlimmste bei der ganzen Sache war , daß die Stube Fenster hatte .
Durch diese Fenster sah man dickbeschneite Büsche , und die Büsche standen so stillglücklich da in ihrem lieblichen Schmuck ; sie rührten kein Zweiglein und keine Nadel , damit sie nur ja nichts von der kostbaren Last verlören , und Asmussens Augen schauten stille zu , wie sie stille standen , und seine Hände standen gerade so still wie die Büsche .
Dann fuhr er plötzlich zusammen , weil die Mutter gerufen hatte :
" Junge , rühr dich ! " und entrippte wieder mehrere Blätter , sechs , sieben oder gar acht .
Dann sah er wieder durchs Fenster , über die Wipfel der Büsche hinweg , nach einer Stelle im leeren Raum , wo die Buben von Oldensund Schlittschuh liefen oder auf kleinen Schlitten , die sie Kreeken nannten , einen Abhang mit Geschrei hinuntersausten , daß ihnen der Dampf aus Mund und Nase stieg .
Ach , er hatte keine Schlittschuhe ; die waren märchenhaft teuer , er hatte nicht einmal eine Kreeke , die man doch aus drei Brettern zusammenschlagen konnte - wenn man Bretter hatte .
Und er schaute dann so lange durchs Fenster nach Schlittschuhen aus , bis sein Vater sagte : " Gehe ' nur zu ! "
Und wenn Asmus noch so tief versunken war , diese Worte hörte er sofort , und wenn er sie gehört hatte , war er auch schon draußen .
Ja , als er erkannt hatte , daß der Mensch durch Faulheit zur Freiheit gelange , da war er nichtswürdig genug , den Prozeß noch durch Trägheit zu beschleunigen .
Durch einförmige Handarbeit konnte man Asmus Sempern überhaupt die Stimmung gründlich verderben .
Stiefel wichsen , Kartoffeln schälen , Messer und Gabeln putzen : gegen dergleichen hatte er eine angeborene Aversion .
Nur beim Erbsenpalen , Heidelbeerenauslesen , Abstreifen der Johannisbeeren und ähnlichen Dingen machte er eine Ausnahme , wenn er sie ohne kränkende Beaufsichtigung ausführen konnte .
Wenn ihn nun aber gar noch jemand beim Messerputzen reizte , so konnte er schrecklich werden .
Als Alfred es sich in solch einer kritischen Stunde einfallen ließ , ihn andauernd zu foppen , da stieg ihm nach der Theorie seiner Mutter das Blut ohne weiteres in den Kopf , und er schleuderte die Gabel , die er in der Hand hatte , nach seinem Bruder .
Sie sollte ihn natürlich mit dem Stiele treffen ; die Gabel verstand es aber anders und blieb mit den Zinken im Oberarm des Gegners hängen .
Auf diese Zwangsimpfung antwortete Alfred , indem er einen eisernen Marmor nach seinem Bruder warf und ihm dadurch eine ansehnliche Schwellung an der Stirn beibrachte .
Aber am Abend desselben Tages spielten sie schon wieder " Schwarzer Peter " miteinander .
Die wahre Natur des Tabakzurichtens sollte Asmus freilich erst erkennen , als der Sonnenstrom wieder frei wurde aus Wintersbanden und Tag für Tag am kleinen Fenster der Arbeitsstube vorbeirauschte .
Sonnenschein , Frühlingssonnenschein !
Dem Reichen ist er Vergoldung seines Goldes , dem Armen ist er all sein Gold ; dem Glücklichen ist er Verklärung seines Glückes , dem Glücklosen ist er Glück .
Die Reichen und die Glücklichen wissen eigentlich nicht , was der Sonnenschein ist ; sie wissen nicht , daß er Nahrung , Kleidung und Wohnung ist , wenn er auch dem Hungernden keine Krume Brots gibt , daß er Freundschaft und Liebe ist .
Der Sonnenschein legt sich warm um Nacken und Wange des Lebensmüden und spricht zu ihm :
" Du bist nicht vergessen :
Der Weltgeist kennt auch dich ! "
" Sonnenschein , verschwiegener Erbarmer , Großer Weltumarmer !
Du , ja du kamst mir zurück , Sonnenschein , du letztes Menschenglück ! " hat ein Dichter gesungen , und das ist wahr : er ist des ärmsten und Verlassensten , dem das Leben nichts mehr gelassen hat , letztes , unverlierbares Glück , er schmachte denn im Kerker .
Selbst vor dem Tode sind nicht alle Menschen gleich ; aber vor dem Sonnenschein sind sie_es .
Darum ist Sonnenschein das höchste Fest der Armen .
Hatte der kleine Cigarrenmachergehülfe im Winter so still gesessen wie die beschneiten Büsche , so zappelte und zitterte er jetzt wie ein Blatt im Frühlingswinde , wie ein Sonnenstrahl im fließenden Wasser , und noch öfter als damals sagte Ludwig Semper mit einem Seufzer : " Gehe nur zu !
Gehe nur zu ! "
Ganz leise schämte sich Asmus , seinen Vater so im Stich zu lassen ; aber Frühling und Freiheit waren stärker als die Scham .
Er sprang dieselben Wege entlang , auf denen er sich im Winter verirrt hatte ; er stand wieder an dem unergründlichen Teiche und vor der verlassenen Färberei ; aber nun bangte ihm gar nicht mehr ; im Frühling und Sommer ist die Welt eine einzige helle Kammer .
Und er schaute wieder Wiesen und Feld mit dem vertrauten Gefühl , das ihm von frühester Kindheit eigen war .
Kein Fleckchen der Welt sah ihm aus wie das andere , jedes hatte sein eigenes Licht und seinen eigenen Klang .
Er brauchte nur den Kopf ein klein wenig zu wenden , nur einen Schritt vorwärts zu gehen , so sah er eine neue Welt .
Er sah Götter an den Wegen und Menschen am Himmel ; in Wolken und Bäumen sah er Lieder und Geschichten .
Hier sah er Josef und seine Brüder weiden , dort Aschenbrödel unterm Baume stehen ; am fernen Horizont sah er aus vergangenen Jahren Herrn Schnede mit seinem geruhsamen Esel vorüberziehen , und jetzt stand er still und fühlte , wie Taminos Flötenspiel ihm lieblich das Herz umdrang .
Er ging oft viertelstundenlang leise und behutsam dahin wie auf Socken , als fürchtete er , sich und die Welt zu erwecken , als fürchte er den Wolf und den Fuchs zu verjagen , die dort in eifriger Unterhaltung über die Pfannkuchen der Bäuerin den Feldrain entlang trabten .
XV. Kapitel .
Wie Asmus Herrn Bellievre kennen lernte und danach ein Aufrührer und Räuber wurde .
Eines Tages fand er auf diesen Wegen einen Freund , und das war Christel Bellievre .
Christel Bellievre war ein Zigarrenmacher von etwa fünfzig Jahren - ganz Oldensund saß voll von Zigarrenmachern .
Er war ein Franzose aus dem Elsaß , hatte schwarzes , volles Lockenhaar , das nur wenig angegraut war , einen dicken schwarzen Schnurrbart und war überhaupt ein schöner Mann , wenn er auch jahraus , jahrein denselben Rock trug .
Christel war nämlich ein Philosoph von der Art des Diogenes ; er brauchte nichts als Brot , etwas Fleisch und Schnaps .
Alles andere gab er mit Freuden hin für ein stillseliges Anschauen in der Natur .
Er arbeitete regelmäßig und fleißig vier Tage in der Woche ; an den übrigen Tagen ging er früh morgens , nachdem er eine große platte Flasche voll klaren Kümmels in seine blank umränderte Rocktasche versenkt hatte , barhaupt hinaus ins Feld , um erst am Abend mit einem schönen , großen Strauß von Blumen und Gräsern zurückzukehren .
Ob er überhaupt einen Hut besaß , ließ sich nicht feststellen ; die Schuljugend bezweifelte es und hatte ihn deshalb zuweilen zum Besten .
Asmus fand das unerhört ; er meinte , gegen einen Mann aus einem fremden Lande müsse man besonders freundlich sein ; er betrachtete ihn mit neugieriger Ehrfurcht , wie ein ganz anderes , übermenschliches Wesen .
Er hatte zu Hause gehört , die Franzosen wären ein sehr höfliches Volk .
Nun will ich ihm zeigen , dachte Asmus , daß die Deutschen auch höflich sind , und eines Tages , als der Diogenes von Oldensund sinnend daherwandelte , faßte sich Asmus ein Herz und rief : " Bonjour , monsieur ! "
Das hatte er von seinem Vater gelernt .
" Bonjour , monsieur ! " erwiderte freundlich der wunderbare Mann , " est-ce que vous parlez français ? "
Nein , das tat Asmus nicht , und die Unterhaltung mußte deutsch weitergeführt werden .
Aber von jetzt ab rief Asmus jedesmal , wenn er den Philosophen daherkommen sah , schon von weitem :
" Bonjour , monsieur , comment allez-vous ? "
" Fort bien , mon ami , fort bien ! " rief dann jener zurück und winkte ihm lebhaft mit der Hand , und dann redeten sie deutsch miteinander .
Christel Bellievre wußte Vogelnester zu finden , und er hob seinen Freund in die Höhe und ließ ihn hineinsehen ; im Sommer verstand er sich so gut auf Brombeeren , daß Asmus ganze Mützen voll nach Hause trug , und im Herbst zeigte er sich als Spezialist für Haselnüsse .
Überhaupt lenkte er Asmussens Natursinn , der immer geflügelt über den Dingen dahinschwebte , auf die Realitäten der Natur ; aber Asmus fand dennoch keine Vogelnester und keine Haselnüsse ; höchstens brachte er es zu einigen Brombeeren , wenn sie ihm fast in den Mund hingen .
Aber der Umgang hatte noch anderen Ertrag .
Wenn der Franzose mit sinnigem Bedacht die gepflückten Blumen und Blätter zu einem mächtigen Strauße ordnete oder durch die hoffnungsgrüne Flasche zum Himmel hinaufblickte und " klug , klug , klug " machte , dann betrachtete Asmus ihn im stillen von der Seite .
" Er hat auch fünf Finger an der Hand " , dachte er bei sich , " und gerade solche wie wir .
Und wenn er schluckt , dann tanzt seine Gurgel auf und ab , genau wie bei uns .
Solche Augen und solche Nase wie unsere hat er auch .
Nur die Ohrmuscheln sind bei den Franzosen anders .
Wenn aber Christel seine Flasche geleert hatte und sich zu langer , langer Ruhe ins Gras streckte , dann , unter der destillierenden Kraft der Mittagssonne , begann der Geist in ihm zu schwärmen , und er sprach einmal übers andere mit schwermütigem Pathos den Einleitungssatz des " Emile " vor sich hin : " Tout est bien , sortant des mains de l' auteur des choses ; tout degenere entre les mains de l'homme . "
Asmus fragte ihn , was das heiße , und Christel sah ihn bedeutend an und sprach : " Alles , mein Sohn , ist gut , wenn es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht ; alles , das merke dir wohl , mein Sohn , alles entartet unter den Händen des Menschen . "
Asmus verstand es nicht so recht ; aber er fand es sehr gut , weil es so gut klang , so entschieden und so kräftig .
Und noch viel mehr Freude machte ihm die Marseillaise , von der er sich die ganze erste Strophe gemerkt hatte , ohne daß er ein Wort davon verstand .
Ludwig Semper war nicht wenig überrascht , als sein Söhnchen eines Tages singend zur Tür hereinkam mit Allons , Enfants de la patrie , Le jour de gloire est arrivé aber als der Junge immer weiter sang . da blitzten die Ludwig Semperschen Augen hell aus , und Vater und Sohn sangen wie aus einem Munde :
Aux armes , citoyens !
Formez vos bataillons !
Marchons , marchons , Qu'un sang impure Abreuve nos sillons ! und dann lachte Ludwig Semper von ganzem Herzen .
Aber Frau Rebekka verbot dem Knaben das Marseillaisesingen auf das entschiedenste .
Wenn die Polizei das höre , dann stecke sie ihn ins Gefängnis , meinte sie .
Vor der Polizei aber hatte Asmus als deutsches Kind einen mit Schauder untermischten Respekt .
Im " Kurzen Elend " hatte er ein paar Mal von weitem und mit Grausen Herrn Lüthje gesehen .
Herr Lüthje war ein blau und roter Mann mit blanken Knöpfen , einem Säbel und einem dicken , eiergelben Bambusstock .
Die Jugend von Oldensund hatte ihm in Verehrung einen Vierzeiler gewidmet , und der lautete also :
" Lüthje mit den Eiergeel Sleit de Kinder gar to veel ; Alltoveel is ungesund , Lüthje is 'n Schinnerhund . "
Seit der Zeit stellte sich Asmus unter " Polizei " einen Mann vor , der auf die Straße geht und sucht , wo er Kinder hauen könne .
Und vollends mit Entsetzen dachte er ans Gefängnis .
Das war ein Haus mit eisernen Gittern vor den Fenstern , und Fritz Dorn , der Spaßvogel , hatte ihm erzählt , die Leute , die im Gefängnis säßen , kriegten nichts als vergiftete Klöße zu essen .
Heimlich krochen seine Blicke seitwärts nach jedem vergitterten Kellerfenster , wenn er durch die Straßen von Altenberg ging , und mit kaltem Gruseln dachte er an den da drinnen geltenden immerwährenden Speisezettel .
Asmus hörte , daß die Marseillaise ein Revolutionslied sei , und Revolution - das hatte er schon gelegentlich einmal aufgefangen - Revolution , das war so etwas wie Krieg , wie Kampf mit Säbeln und mit Flinten .
Also etwas großartig Schönes .
Und er sollte bald Gelegenheit finden , seine Kampflust zu befriedigen .
Das Holstenloch war eine geheimnisvolle Gegend :
Hatte es an einem Ende eine leblose Färberei und einen bodenlosen Teich , so lag am anderen eine ungeheure Gartenwirrnis mit zahllosen gänzlich verwilderten Obstbäumen , und in dem Garten , fast ganz verborgen , ein langgestrecktes düsteres Gebäude mit hohen Rundbogenfenstern , das ehemals eine Zichorienfabrik gewesen war , und nun aussah wie eine tote Kirche ohne Turm .
Es bedarf wohl kaum der Erwähnung , daß auf solchem Boden das Räuberwesen üppig gedieh .
Und schon wenn die Rollen im Räuber- und Soldatenspiel verteilt wurden , flammten die Gemüter und brannten die Augen .
Für eine Räuberstelle waren immer Bewerber da , für eine Soldatenstelle nie ; zum Schergendienste mußte kommandiert werden .
Der Geist der Auflehnung gegen die bürgerliche Weltordnung war schon in diesen Schwachen mächtig .
Auch Asmus faßte eine tiefe Neigung zum Räuberberuf .
Was konnte schöner sein , als verborgen und versteckt im Gezweige eines Baumes sitzen und der " toten Kirche " in die hohlen Augen zu starren oder verächtlich zu lachen über die dumme und feige Soldateska , die suchend auf dem Bauche durchs Buschwerk kroch , oder sich in der Fabrik zu verschanzen , bereit , die Freiheit bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen , und dann durch die Fensterhöhlen hinauszuschießen , während die Belagerer - kling , bumm , klirr ! - durch die Scheiben hereinschossen ?
Und obwohl Asmus der Räuber allerkleinster war , so hielt er es doch für höchstes Gebot der Räuberehre , sich bis aufs äußerste zu wehren , und wenn die Söldner ihm dennoch nach kurzem Kampfe die Hände auf den Rücken banden , so empfand er das mit vollem Ernst als eine bittere Schande und knirschte in sich hinein .
Einfach uneinnehmbar war aber das Haupt der Bande , ein fünfzehnjähriger , langer Schlingel , der mit seinen zwei Armen um sich schlug wie eine tobsüchtige Windmühle und sich lieber Jacke und Hemd vom Leibe reißen ließ , als daß er sich ergab .
Er war das erhabene Vorbild aller und genoß eine tiefe Verehrung , auch um anderer Künste und Tugenden Willen .
Er konnte fabelhaft rauchen .
Eine großmächtige Deckelpfeife , wie sie die Jäger rauchen , nannte er sein eigen , und wenn er nicht gerade als Räuberhauptmann aktiv war , so rauchte er sie ununterbrochen , ohne auch nur einen Augenblick zu erbleichen .
Wenn der Kampf ausgetobt , die Gemüter sich beruhigt hatten und das schleierleichte Dunkel der Sommernacht hereinbrach , dann lagerten sich Räuber und Soldaten friedlich auf dem Boden im Schatten eines Bretterschauers oder Weißdornbusches und bildeten einen Kreis um den Patriarchen mit der Deckelpfeife .
Was die Mittel dazu hatte , das rauchte , sei es nun Shag oder Portorico ( petum optimum subter solem ) Zigarren zu 21/2 Pfennigen oder Zigaretten zu 1 Pfennig , Weißdornlaub oder ein Stück von einem Rohrstock .
Ehrfurchtsvolles Schweigen beherrschte die Runde , wenn der Patriarch redete .
Er erzählte furchtbare Geschichten von den Greueln , die hier und dort und da verwegene Räuberbanden verübt hatten , und ausnahmslos endeten diese Geschichten damit , daß die Verbrecher gefangen wurden , daß man ihnen den Rücken und dessen Verlängerung an hundert Stellen einkerbte und dann Salz und Pfeffer in die Wunden streute .
Alle empfanden das als einen erfreulichen Sieg der Tugend und Gerechtigkeit ; aber wenn es ans Spielen ging , fühlten doch alle wieder räuberisch .
Es waren weihevolle Abende , und für Asmus war einer noch besonders schön , das war jener , wo er zum ersten Male eine vergessene halbe Zigarre seines Vaters zu Ende rauchte .
Sie tat ihm nichts ; er war wohl so mit den Säften und Düften des Tabaks durchtränkt , daß er gegen sein Gift immun war .
Aufgeräumt und kühn trat er zu Hause an seine Mutter heran und erzählte ihr von seinen Heldentaten .
" Du verdrehter Junge " , rief Rebekka Semper laut , " du hast geraucht ! "
" Ich ? Nein - ich - "
Aber Frau Rebekka war ein prompter Jurist ; sie pflegte Untersuchung , Anklage , Verhandlung , Urteil und Strafvollzug in einem Termin abzumachen und gab ihrem Söhnchen eins hinter die Ohren .
Es tat nicht sehr weh , machte aber auf Asmus einen nachhaltigen Eindruck , und in Zukunft , wenn er aus dem Rate der Männer nach Hause kam , bewahrte er zwischen sich und der Mutter eine so große Distanz , daß sie seinen Atem nicht spürte .
XVI. Kapitel .
Warum Asmus so viel Zeit zum Einholen brauchte , warum die Eisenbahn Kanonen brachte und inwiefern es 1848 anders war als 1870 .
Denn den Lockungen der Weltfreuden widerstand Asmus auch nach jener Ohrfeige nur mit mangelhafter Festigkeit , besonders auf den Einkaufgängen , die er für die Mutter zu tun hatte .
Die Kinder von Oldensund mußten nach dem benachbarten Altenberg einkaufen gehen ; denn zwischen den beiden Ortschaften lag die mit Gendarmen besetzte Zollgrenze , und jenseits dieser Grenze war alles um die Zollpfennige billiger .
Geringe Mengen durfte man zollfrei herübertragen , und der Zollgendarm , der die geladene Flinte neben sich stehen hatte , untersuchte jeden Korb und jedes Bündel und machte ein Gesicht dazu , als wisse er gar nicht , wie viel geschmuggelt werde .
Unter den Krämern von Altenberg war ein Sanguiniker , der jedem kaufenden Kinde einen Bonbon oder zwei gab , ein Phlegmatiker , der nur gab , wenn es ihm paßte , und ein Rheumatiker , der nie etwas gab .
Zu dem gingen sie nur , wenn sie mußten .
Rebekka Semper schickte am liebsten ihren Asmus zum Einholen aus ; denn sie konnte ihm zwölf Aufträge geben , ohne daß er einen einzigen vergaß .
Der sanguinische Krämer sah ihm immer fest in die Augen , wenn er seine Zucker- , Kaffee- , Sago- , Reismehl- , Graupen- , Pflaumen- , Pfeffer- , Salz- , Kaneel- und Sirup-Litanei mit Preis und Gewichtangabe herunterbetete , und wenn die Reihe besonders lang und schwierig gewesen war , schenkte ihm der kleine , schmucke Mann , der in seinem Laden herumhüpfte , wie ein Zeisig im Bauer , eine Schillerstange .
Das war eine Stange aus zähem , elastischem Zucker ; wenn zwei Kinder sie an beiden Enden in den Mund nahmen , dann konnten sie zwanzig Schritte weit auseinandergehen , ohne daß sie zerriß .
Die Stangen waren bei der Jugend allgemein beliebt , und wenn sie nicht aus diesem Grunde Schillerstangen hießen , so gab es keinen Grund dafür .
Schon ein Stück von einer solchen Stange war ein so zähes Glück , daß man sich den ganzen Heimweg damit kürzen konnte ; ein Bonbon jedoch ist bald dahingeschwunden .
Und wenn er in Nichts zerflossen ist wie eine Arie des Lyonel , dann wenden sich die Gedanken von selbst ins Innere des Korbes , um den Inhalt der Tüten in Erwägung zu ziehen .
Die Krämer besaßen im Schließen der Tüten eine verdammenswerte Kunstfertigkeit , die unendlich schwer nachzuahmen war .
Unberührtheit , wenn sie einmal dahin ist , ist immer schwer wiederherzustellen , auch bei einer Zuckertüte , und Rebekka Semper hatte einen eigentümlich scharfen Blick für Tüten mit naschbarem Inhalt .
Erst nach langer Übung gelang es Asmussen , den Krämern ihre Papierkniffe abzulauschen .
In dieser Hinsicht war der Sirup ein Gegenstand von großem Entgegenkommen .
Wenn man den Zeigefinger hineintauchte und ihn in der Mitte über dem Topfe mehrmals herumdrehte , dann riß der Sirupfaden ab , und man konnte den Finger ohne alle Gewissensbisse ablecken ; denn nach wenigen Minuten hatte sich der Sirupspiegel wieder geglättet und lag so eben da wie ein Waldsee bei Windstille .
Dagegen hatte der Sirup eine höchst fatale Eigenschaft .
Wenn man an Oberon und Titania dachte oder an den stillen Entenpfuhl im " Kurzen Elend " und langsam die Hand mit dem Topfe sinken ließ , dann floß der Sirup unbekümmert um Oberon und Entenpfuhl auf die Erde .
Und auf dem langen Wege gab es wahrhaftig genug zum Gucken und Träumen .
Da war gleich der prächtige Harbeckische Bauernhof mit all dem stillen Leben des blinzelnden Hofhundes , der watschelnden Gänse , der brummenden Kühe , der stampfenden Pferde , der klappernden Eimer und der gemächlich an der Wand lehnenden Mistforke , und mit dem Storchenpaar auf dem Dache , das bald auf einem , bald auf zwei Beinen stand und einen oft erst lange warten ließ , bis es klapperte ; dann die Schule mit ihrer gotischen Front , die ein so kirchliches Ansehen hatte , daß man glauben mußte , der Pastor regiere darin , und vor der Asmus immer wieder mit scheuer Sehnsucht und wundergläubiger Hoffnung stehen blieb ; dann wieder ein ganz vernachlässigter Bauernhof , auf dem alles in Mistjauche schwamm , der aber doch sehr hübsch anzusehen war , ja den man besonders lange anschauen mochte - dann das kleine , ganz kleine Häuschen mit der quergeteilten Tür , in dem die greuliche Hexe wohnte , die einmal in der Abenddämmerung über die untere Halbtür gelehnt und ihn angegrinst hatte wie die Hexe vom Kuchenhaus ; dann das Gehöft mit dem unheimlichen Knechte , der immer aussah , als habe er das Schlimmste im Sinn , und der einmal ohne allen Grund den Hofhund auf ihn gehetzt hatte ; dann der Judenfriedhof mit dem ganz zerfallenen , bemoosten Bretterzaun , durch dessen Löcher man , wenn man sich bückte , all die alten Gräber mit den seltsamen Inschriften sehen konnte ; dann in der engen , holperigen Gasse das Barbierbecken , das ihn als zweijährigen Knaben erfreut hatte und das einen ewigen Lichtpunkt in seiner Vergangenheit bildete ; dann der Porzellanmaler im Keller , der die Teller und Tassen auf einer Drehscheibe kreisen ließ und mit dem feinen Pinsel darüber hinfuhr und dem Asmus so oft und so lange zusah , bis er davon überzeugt war , daß er jetzt auch Porzellan malen könne , und dann - ja , die war das letzte , aber lange nicht das schlechteste : die Eisenbahn , die auf dem Damme an der Zollgrenze vorüberfuhr !
Die brachte jedesmal etwas Neues :
Dann hatte sie drei Wagen und dann dreißig , gewissenhaft gezählt , dann brachte sie Holz und Tierhäute , dann Kühe und Schweine , und dann Menschen .
Zuweilen ging die Lokomotive vorwärts und zuweilen machte es ihr Spaß , rückwärts zu laufen , zuweilen kreischte sie ganz kurz auf wie eine Frau , der eine Maus ans Knie springt , zuweilen schrie sie ganz lange und jammervoll , als wenn man ihr ein zehn Ellen langes Messer zehn Ellen tief ins Herz stieße und sie riefe : " Huuuuuuuuch , nun bin ich tot ! " und mitunter juchte sie wie eine Bauerndirne :
" Huiii , nun bin ich da und nun macht Platz , sonst fahr ich alles zu Gruß und Muss ! "
Ach ja , auf dem langen Wege gab es viel zu schauen und zu sinnen , und das Land vom Holstenloch bis zum Krämerladen in Altenberg war zu den Kinderzeiten des Asmus Semper ein gelobtes Land , wo an hohen Tagen Milch und Sirup floß .
Eines Tages im heißen Juli aber brachte die Eisenbahn etwas ganz besonders Wunderbares und Interessantes . und das waren Kanonen .
Asmus stand mit seinem Korb am Arm und staunte zu dem Damme hinauf :
da kamen Kanonen - Kanonen - Kanonen .
Er glaubte , nun wären sie gleich alle ; aber es folgten Kanonen - Kanonen - Kanonen .
Als er vom Krämer zurückkam , sah er zwanzig Schritt vor sich seine mütterliche Freundin Adolfine Moses in größter Eile dahinwatscheln .
" Adolfine ! " rief er , " Adolfine !
Nimm mich mit ! "
Adolfine stand still und wandte ihm ein ganz verstörtes Gesicht zu .
" O Gott , Djunge , Kamm schnell , o Gott , o Gott , was habe ich Foren Angst ! "
" Warum denn ? " fragte Asmus .
" O Gott , Djunge , weißt du denn noch gar nix ?
Frankreich hat uns den Krieg erklärt , un die Franzosen sind alle in Kiel , un nun kommen sie bei uns , o Gott , o Gott .
Komme man bloß schnell mit nach Hause , vielleicht sind sie alle da !
O Gott , o Gott , o Gott ! "
Also darum die Kanonen , dachte Asmus .
Aber er faßte die Weltlage viel optimistischer auf als Adolfine ; wenn die Deutschen so viele Kanonen hatten , dann wollten sie mit den Franzosen schon fertig werden , Adolfine erzählte jedoch so viele schlimme Geschichten von den Franzosen , die 1813 in Hamburg gewesen waren , und erzählte sie mit einer Gewißheit , als wenn sie selbst dabei gewesen wäre , daß Asmus doch mit einiger Beklemmung nach Hause kam .
Auch zu Hause fand er eine gedrückte Stimmung .
Zwar wurde niemand in der Familie von dem Unglück unmittelbar getroffen , Ludwig Semper war zu alt für den Krieg und seine Söhne zu jung ; aber Ludwig Semper hatte eine romantische Vorstellung von der Größe und Gewalt der Franzosen .
In seiner Jugend war es den Deutschen noch natürlich gewesen , ihre Begeisterung an der Seine oder am Piräus oder an der Weichsel zu tränken .
Die großen Geistes- und Kriegstaten der Franzosen hatten ihn von jeher mit Bewunderung erfüllt ; er hatte als Knabe mit Lord Byron und allen Hellenen gefühlt ; die Namen Kosciuszko und Ostrolenka hörte man im Hause Semper nur mit heiliger Ehrfurcht nennen , und wenn Ludwig das Lied sang : " Fordere niemand , mein Schicksal zu hören " - dann klang es wahrhaft wie ein Trauergesang um ein verlorenes Leben .
Carsten Semper hatte seinem Ludwig den größten Teil seiner Napoleonvergötterung vererbt , und Ludwig Semper war nun einmal ein gefesselter Poet : ein großer Mann mußte ihm in allen Dingen groß und herrlich und gut sein .
Ein Wort wie das Heinesche :
" Britannien , dein Meer ist groß ; aber es ist nicht groß genug , die Schande abzuwaschen , die der große Tote dir sterbend vermacht hat " , konnte sein Herz entflammen , und wenn er erzählte , was der letzte Wille Napoleons gewesen :
" Je veux que mes cendres reposent aux bords de la Seine , au milieu de ce peuple français , que j'ai tant aime . " dann fehlte wenig , daß ihm die Augen feucht geworden wären .
Und Frankreich war ihm noch immer Napoleon , und Napoleon war ihm Frankreich , und daß die armen Deutschen gegen diese ruhmreichen Gewalten aufzukommen vermöchten , das wies er mit hoffnungslosem Lächeln von sich .
Asmus hatte sich anfangs den Krieg so vorgestellt , daß die feindlichen Soldaten in jede Stadt , in jedes Dorf und jedes Haus kämen , alles wegnähmen , alles in Brand steckten und alles tot machten , was lebendig wäre .
Als er merkte , daß trotz des Krieges der Brotmann und der Milchmann ruhig ihren gewohnten Gang gingen , die Kinder wie zu allen Zeiten Ringelreihen und Abo-Bibo spielten und der Nachtwächter zu gewohnter Stunde seine Knarre tönen ließ , um die Diebe rechtzeitig zu warnen , da beruhigte er sich bald , und den großen , nationalpolitischen Fragen Maß sein siebenjähriges Herz durchaus keine Bedeutung bei .
Ja , der Krieg brachte für ihn eine höchst interessante und ausgesprochen idyllische Beschäftigung mit sich .
Der Bauer Harbeck hatte seinen Sohn und Großknecht zu den Dragonern hergeben müssen , und nun mußte Asmus ihn in der Wirtschaft ersetzen helfen .
Die mannhafte Jugend stand im Felde ; Knechte und Tagelöhner waren schwer zu bekommen , und so warb sich der Bauer seine Helfer unter der Schuljugend , die ihm die Kühe zur Weide trieb , die Pferde in die Schwemme ritt , das Heu zusammenrechte und wieder aufeinanderstreute .
Asmussens Tätigkeit beschränkte sich nun freilich in der Hauptsache auf Dabeistehen , Nebenherlaufen und " Hö- !
Hü- !
Ho !"-Schreien , wenn eine Kuh den Pfad der Pflicht verließ ; aber immerhin nützte er dem Bauer Harbeck noch mehr als seinem Vater , dem er alles zu Liebe tat , wenn es nicht Tabakstreifen war .
So mochte es geschehen sein , daß Asmus dem Schimmelwallach " Jochen " freundschaftlich die Weichen klopfte , als die dritte Armee mit 1500 Toten und Verwundeten den Geissberg und Weißenburg erkaufte , daß er " Greten " , der buntscheckigen Milchkuh , heftige Vorwürfe über ihren Wandel machte , als die Brigade François den Roten Berg bei Spichern erstürmte und ihr Führer den Heldentod starb , und daß das dritte und zehnte preußische Korps unter der blutqualmenden Sonne von Vionville mit dem Tode selbst um den Sieg rang , während der kleine Semper in einem Heuhaufen lag und herzensstill in die Sonne von Oldensund blinzelte , die so ruhig dahinzog über einer schönen Welt .
Aber ganz allmählich erwuchs in ihm eine leise Ahnung von der Bedeutung der Dinge , die dort hinten in weiter Ferne vorgehen sollten , und diese Ahnung las er vom Gesicht seines Vaters .
Zu einer Zeitung reichten die Semperschen Mittel nicht ; aber jeden Tag , an dem es Fleisch gab , holte Ludwig Semper nach alter Familiensitte das Fleisch vom Schlächter .
Und von dort brachte er Nachrichten mit ; er trug sie im Kopfe und auf dem Gesicht .
Weißenburg - Wörth - Speicherer Höhen - Mars la Tour - ein immer größeres Wundern - ein immer größeres Staunen , eine frohe Verblüffung , wie sie sich auf den Gesichtern der Israeliten gezeigt haben muß , als David den Goliath bezwang .
Das deutsche Herz des Ludwig Semper hatte den Franzosenschwärmer schon bei Weißenburg in die Flucht geschlagen .
Und nun wurden eigene Kriegserinnerungen in ihm lebendig , Erinnerungen von 1848 , 49 , 50. Freilich , mit dem Völkerringen dort unten war das nicht zu vergleichen !
Dagegen war es 48 beinahe ein Idyll gewesen .
Lustige , behagliche Geschichten erzählte Ludwig aus diesem Kriege .
Einmal hatte er auf einem Hügel Vorposten gestanden , und drüben auf einer anderen Anhöhe hatte ein dänischer Posten gestanden .
Da hatte Ludwig Semper seinen Tschako aufs Gewehr gestülpt und ihn hoch in der Luft hin und hergeschwenkt , und da hatte der Däne dasselbe mit seinem Käppi getan .
Und ein anderes Mal , als Semper in bitterkalter Weihnachtsnacht wieder aus Posten stand , da war etwas hinter ihm durchs Gebüsch gekrochen , und als er gerufen :
" Wer da ? " , da hatte_es geantwortet :
" Gruben in Bottermelk ! " und sieh da , da war ein lachender Kamerad mit einer großen Schüssel heißer Graupen in Buttermilch aufgetaucht , dem Durchfrorenen zu köstlicher Labung .
Aber blaue Bohnen hatte es freilich auch gegeben ; sie waren ebenso an den Ohren vorbeigepfiffen , wie jetzt , und die Granaten hatten gesungen wie heute .
" Hast du auch welche totgeschossen ? " fragte Asmus seinen Vater .
" Ich weiß nicht " , antwortete Ludwig , schüttelte den Kopf und sprach von etwas anderem. XVII. Kapitel .
Ein unglaubliches Kapitel ; denn Ludwig Semper wird tatkräftig .
Der kleine Asmus sollte noch ein viel deutlicheres Gefühl von der Größe der Zeit bekommen .
Eines Morgens ging er seinem Vater , der zum Fleischholen gegangen war , entgegen ; es war ein wunderbar freundlicher Morgen .
Da kam sein Vater mit seltsam großen Schritten daher , und als er wohl noch zwanzig Schritte entfernt war , warf er die Arme in die Luft und rief : " Der Kaiser Napoleon ist gefangen und hunderttausend Franzosen sind gefangen , die Deutschen haben wieder einen großen Sieg errungen , der Krieg ist aus ! "
Und heute war der Vater , wie er noch nie gewesen war .
Er sprach ja sonst nur wenig , und er sprach mit Asmus nur , was dieser verstand ; aber heute sprach er ununterbrochen ; er erzählte seinem Söhnchen alles , was er beim Schlächter in der Zeitung gelesen hatte , Dinge , die höchstens Erwachsene begreifen konnten und auch die nur mit Auswahl ; aber Ludwig Semper hatte doch keinen Erwachsenen bei der Hand , dem er sich mitteilen konnte , und da mußte eben sein Söhnchen so lange erwachsen sein .
Und Asmus fand sich nach anfänglichem Erstaunen bald in seine Rolle ; er erfühlte die Situation ; er begriff seine Pflicht in dieser großen Stunde und nickte mit Würde und sagte mit vielem Verstande " hm ! "
Als sie aber an den Eingang des Holstenlochs gekommen waren , da hielt es ihn selbst an der Seite seines Vaters nicht mehr ; er mußte vorausstürmen , die Tür aufreißen und rufen : " Hunderttausend Franzosen sind gefangen und - und der Krieg ist gefangen und - Napoleon ist aus ! "
Und in dieser wunderreichen Zeit geschah nun etwas , was beinahe noch unerhörter war als das Wunder bei Sedan .
Ludwig Semper faßte einen Entschluß und führte ihn aus .
Ob es die große Erregung der Zeit war , die seinen Willen so mächtig in Bewegung setzte , oder ob es einer jener seltenen Augenblicke war , in denen Arme von oben kommen und uns ohne unser Zutun über unsere eigene Kraft hinaufheben - wer kann es wissen ?
Wenn der Musketier Dubenfleth der Länge nach übers Turnpferd springen sollte , dann brachte er es immer nur so weit , daß er heftig mit dem Leib gegen das Hinterteil des Pferdes stieß , obwohl er sich anstrengte , daß ihm sämtliche Kopfadern schwollen .
Und einmal , da nahm Dubenfleth wieder einen Anlauf , schlug beide Hände auf den Rücken des Pferdes und setzte elegant hinüber .
Die ganze versammelte Mannschaft war außer sich , und der Leutnant rief : " Dubenfleth !
Das waren Sie doch nicht ?
Noch Mal , Dubenfleth ! "
Dubenfleth lief nochmals und nochmals und nochmals und stieß jedesmal mit dem Leib gegen des Pferdes Hinterteil , und der Leutnant rief :
" Ich sage es ja , Dubenfleth , das sind Sie gar nicht gewesen ! "
Dubenfleth kam nie wieder hinüber .
So nahm Ludwig Semper einen Anlauf und beschloß , seinen Asmus in die Schule zu schicken , und er beschloß sogar noch ein Zweites , nämlich ihn zu jenem Zwecke taufen zu lassen .
Ludwig Semper war in allen Dingen Freidenker ; aber er machte öffentlich keinen Gebrauch davon , und seine Weltanschauung war nicht der Grund , weshalb er seinen Sohn bisher nicht hatte taufen lassen .
Seine Religion bestand in dem Wünsche , ein guter Mensch zu sein , der andere gewähren ließ und den andere gewähren lassen , und in einer tiefen Abneigung gegen Flüche und Gotteslästerungen , die er durchaus nicht hören mochte .
Aber seine Religion war auch nicht der Grund , weshalb er seinen Sohn taufen ließ .
Taufen kostete Geld und einen Entschluß , und bisher war vielleicht niemals beides zugleich vorhanden gewesen , darum war Asmus ein Heide geblieben .
Nun glaubte der Vater seinen Jungen nicht ungetauft in die Schule schicken zu sollen , nun war in einem großen Augenblick Geld und Entschluß zugleich gekommen , und darum wurde Asmus Semper getauft .
Der Geistliche schien ein ganz ähnlicher Herr wie Ludwig Semper zu sein ; es fiel ihm nicht bei , dem allgemein hochgeachteten Manne Vorhaltungen wegen unchristlicher Unterlassung zu machen .
Der Fall einer so späten Taufe mochte auch in dem Dorfe , in dem es viele unkirchliche Ehen gab , nicht selten sein .
Dem Knaben gefiel der freundliche Greis mit dem weißen Haarkranz ums Kinn sehr gut , und seine gütigen Reden machten auf ihn einen wohltuenden Eindruck , wenn er auch vom Inhalte wenig verstand und eigentlich so wenig wie ein Säugling begriff , warum er getauft wurde .
Der Priester fragte die Zeugen etwas , worauf sie mit " Ja " antworteten , netzte dann das Haar des Knaben dreimal mit Wasser , und als Asmus glaubte , das seltsame und wunderbare Erlebnis werde nun bald kommen , da war die Zeremonie schon zu Ende .
Immerhin kam Asmus sich an diesem Tage interessant vor , und er versäumte nicht , den Spielkameraden , die er traf , zu erzählen , daß er heute getauft worden sei .
Und das Unglaubliche geschah , Ludwig Semper machte auch seinen zweiten Entschluß zur Tat .
An einem schönen Septembertage sagte er in einem ganz merkwürdigen Tone zu Asmus :
" Morgen bringe ' ich dich in die Schule . "
Um 8 Uhr morgens sollte der Gang angetreten werden ; um 7 Uhr stellte sich Asmus in voller Bereitschaft an die Tür , die Schiefertafel in der Linken und den Griffel in der Rechten wie Schild und Schwert .
Eltern und Geschwister lachten ihn aus ; er aber ließ sie lachen ; er wollte den rechten Augenblick zum Eintritt ins neue Land nicht versäumen .
Es mochte ein Viertel nach sieben sein , als er Tafel und Griffel in die rechte Hand nahm und die Linke auf den Türdrücker legte .
Man mußte bereit sein .
Er hatte keinen Hunger auf Brot und Milch ; er hatte nur Hunger aufs Lernen .
Ludwig Semper konnte es endlich nicht mehr ansehen und machte sich früher auf den Weg als nötig .
Er hatte aber kaum Miene gemacht , den Rock anzuziehen , als sein Sohn schon zur Tür hinausschoß und ohne Lebewohl davonrannte .
Aber Ludwig Semper hatte einen gemessenen , würdevollen Gang ; der " unanständige Gang " des Gerbers Kleon lag ganz außer seiner Natur , und der geflügelte Schritt vom 2. September wäre nur durch ein zweites Sedan zu erreichen gewesen .
Asmus war immer wieder voraus und sah sich hundertmal um ; sein Vater ging entsetzlich langsam .
Aber endlich standen sie doch vor der Schule mit den hohen gotischen Fenstern , und nun klopfte dem Kleinen plötzlich das Herz .
Er sah im Geiste den Lehrer , auf seinem Pulte sitzend , mit dem Rohrstock in der Rechten , wie ein gemalter Kaiser mit dem Zepter , und den zornigen , strengen Blick auf den neuen Ankömmling richtend .
Unzählige Kinder strömten zur Schule hinein , lachend , lärmend , pfeifend und sich balgend .
Es waren große Kerle darunter von 14 , 15 Jahren , und Asmus dachte :
Was müssen die schon alles gelernt haben !
Die müssen schon ganz furchtbar klug sein !
Und dann standen sie vor dem Lehrer .
Aber das war ein sehr freundlicher Mann mit einem hübschen braunen Vollbart , und er hieß Schulz .
Er gab Ludwig Semper die Hand und sagte : " Chuten Tag , Herr Semper ! " und nahm dann die runden Backen des Asmus in die Hand und sagte : " Chuten Tag , mein Junge . "
" Na , kann er denn schon was ? " fragte Herr Schulz .
" Ja , lesen kann er " , sagte der Vater .
" Na , das wollen wir chleich Mal ßeh'n ! "
Und Herr Schulz schlug ein Buch auf .
" Denn lies Mal , mein Junge . "
Asmus las , als war_es Kinderspiel :
" Der Spiegel .
Mathilde war sehr jähzornig .
Ihre Mutter hatte sie schon oft . . . "
" Ist Cut , mein Sohn , ich ßeh schon " , sagte der Lehrer .
Dann sollte Asmus rechnen .
Aber das ging nur soso .
Ans Rechnen hatte Ludwig Semper nie gedacht .
Und Schreiben ?
Ja , schreiben konnte er gar nicht .
" Na , dann ßetz dich nur da hin " , sagte Herr Schulz .
Asmus bekam einen Platz ganz hinten an der Wand ; Ludwig nickte ihm noch einmal zu , gab dem Lehrer die Hand und ging fort. XVIII. Kapitel .
Vom Morgenland im Abendlande und alten Liedern in neuer Zeit .
Asmus lernte gleich am ersten Tage eines der schwierigsten und wichtigsten Dinge , die man lernen kann , nämlich : wie die Welt eigentlich entstanden ist und wie die Menschen gemacht wurden .
Der Lehrer machte es ganz deutlich vor ; er nahm einen Jungen her und blies ihm in die Nase .
So hatte es der liebe Gott gemacht .
Asmus verschlang den Lehrer mit den Blicken und hörte zu , als müsse er es im nächsten Augenblick dem lieben Gott nachmachen .
Dabei hielt er die Hände krampfhaft gefaltet auf dem Tische ; denn Adolfine Moses hatte ihm gesagt : so müsse man in der Schule immerfort sitzen .
Und Herr Schulz schilderte in lebhaften Farben die Freuden des Paradieses .
Er sprang im Zimmer hin und her , schlug vor Bewunderung die Hände zusammen und stellte dar , wie Adam und Eva gejauchzt und gejubelt hätten : " Sieh Mal , die schönen Blumen !
Und was vorn kroßer chrüner Baum !
Und was für ßüße Äpfel !
Und da kam auf einmal ein Löwe daher , aber er tat ihnen garnichts ! "
Und am Mittag hatte Asmus kaum die Schiefertafel und die Mütze abgelegt , als er seinen Eltern schon über die Schöpfung Bericht erstattete .
Er setzte voraus , daß sie nie von diesem Ereignis gehört hätten .
Er sprang in der Stube herum und zeigte , wie Adam und Eva sich gefreut hätten , und rief : " Sieh Mal , was vorn schöner chrüner Baum !
Und da auf einmal - was kommt daher ?
Junge , Junge , o weh ! 'n Löwe !
Aber meint Ihr , er tut ihnen was ?
Tut ihnen garnichts ! "
Nur eines beunruhigte ihn :
Gott hatte am ersten Tage das Licht geschaffen und erst am vierten Tage Sonne , Mond und Sterne !
Woher war denn vorher das Licht gekommen ?
Darüber konnte er nicht ins Reine kommen ; er sagte aber nichts .
Es folgte der Sündenfall der Menschen und Kains Brudermord , die Sündflut und der Turmbau zu Babel , Abrahams Berufung und Gehorsam und alle jene Geschichten , die trotz allen Dunkels und aller Seltsamkeit den Weg zum Kindesherzen finden , weil sie aus der Kindheit des Menschengeschlechts herüberklingen und träumevolle , ahnungsvolle , hoffnungsvolle Kindheit in ihnen selber ist .
Der harte Winter des Kriegsjahres war angebrochen , und als die Semper eines Morgens zum Fenster hinaussahen , da war ihr kümmerliches Häuschen fast im Schnee vergraben .
Der Brotmann stampfte keuchend in hohen Schaftstiefeln daher und klagte , daß ihm immer die Nasenlöcher zufrören , und dem Milchmann gefror die Milch in den Eimern .
" Heute wollen wir die Kinder nur zu Hause lassen " , sagte Ludwig Semper .
Da riß Asmus erschrocken die Augen auf und rief , er müsse zur Schule und als man ihn nicht ziehen lassen wollte , erhob er ein solch schmerzliches Jammern , Weinen und Bitten , daß man ihn endlich gewähren ließ .
Durch die tief verschneite Winterwelt seines Dorfes trieb ihn ein sehnsüchtiges Verlangen nach dem sonnigen Lande Abrahams , der vor der Tür seiner Hütte saß , da der Tag am heißesten war , und den Herrn und seine Engel bewirtete .
Aber Asmus besaß zu dieser Zeit gerade keine Stiefel und keine Handschuhe ; die Schiefertafel entfiel seinen erstarrten Fingern , und der Schnee kroch ihm zwischen Holzpantoffel und Strumpf und benutzte die Wärme seines Fußes zum Schmelzen .
Er war froh , als er die Schule erreicht hatte , und seine Augen weinten , ohne daß er es wollte .
Der Lehrer hieß ihn seine Füße vom Schnee befreien , setzte ihn dann ganz dicht an den großen Ofen und empfahl ihm , die Füße auf die Bank zu ziehen und sich darauf zu setzen .
Und an diesem Tage war es in der Schule ganz wundersam .
Es waren nur 11 oder 12 Kinder gekommen , die anderen 50 oder 60 hatte das Wetter geschreckt .
Eigentlich sollte gelesen und geschrieben werden ; aber dazu war es viel zu dunkel ; im Zimmer war_es wie allererstes Morgengrauen .
Und der Lehrer setzte sich mit den Zwölfen rund um den Ofen , stocherte die Glut empor , daß der rote Schein auf den Gesichtern spielte und begann zu erzählen .
Und sieh , vor dem Ofen in der winterdunklen Stube blühte langsam die sonnenhelle Geschichte empor von Elieser , der für seines Herrn Sohn um Rebekka warb am Brunnen der Stadt Nahors .
Und es war in dieser Geschichte stilles Leben der Hirten , das beim Pferchen der Schafe lange schweigend in den Himmel blickt und beim Weiden des Viehes geruhig nach den Bergen schaut , über die von zehn zu zehn Jahren Grüße der Freunde kommen , von zwanzig zu zwanzig Jahren liebe Verwandte herabsteigen .
Die Augensterne des kleinen Semper machten mit der Karawane des Elieser die weite , weite Reise nach Mesopotamien , das sah man ihnen an , und als es hieß : " da kam Rebekka , Bethuels Tochter , und trug einen Krug auf ihrer Achsel .
Und sie war sehr schön von Angesicht . " da wurde Asmussens Gesicht so schön , wie es nur werden konnte , und als sie auf Eliesers Bitte um einen Trunk eilends den Krug niederließ auf ihre Hand und sprach :
" Trinke , Herr ! " da neigte Asmus lächelnd und freundlich sein Haupt und ließ den treuen Diener Abrahams trinken , und da sie gesprochen hatte :
" Ich will deine Kamele auch tränken " und mit lieblicher Geschäftigkeit zwischen Brunnen und Tränke hin- und wiederlief , da wunderte er sich mit Elieser schweigend ihrer Anmut , und als der treue Knecht nun ausrief :
" Gelobet sei Gott , der mich den Weg geführt hat zu meines Bruders Hause ! " da atmete Asmus tief auf und dachte : " Ja , die mußte er nehmen ! "
Er hätte nicht sagen können , warum ihm diese Geschichte so unsäglich gefiel ; aber in der mild auftauenden Wärme und in der weichen Dämmerung des großen Raumes empfand er unbewußt , wie Menschheitsmorgenfrühe in dieser Erzählung ist , empfand er den gleichmäßigen Fluß eines Lebens , das auch die Vereinigung zweier Menschen betrachtet nach Hirtenweise und sie zusammengibt in schweigender Unterwerfung unter ein stummes , ewiges Naturgesetz .
Er wußte auch wohl , wo diese Geschichte sich zugetragen hatte .
Am Rain , bei der tiefen Talwiese , wo es immer Sonntag gewesen war , zwischen den beiden Eisenbahndämmen , dort wo sie nach Westen und Norden weit auseinandergingen , da hatte sie sich zugetragen .
Da war das Morgenland .
Dort hatte auch Abraham gewandelt ; am hohen Rande der Talwiese hatte er das Opfermesser erhoben über Isaac , dort auf der weiten Fläche war Lots Weib zur Salzsäule versteint , als sie nach den Flammen am Horizont zurückblickte .
Und die Schöpfung hatte am " Düstern langen Balken " stattgefunden ; dort hatte Gott über der ungeheuren Wiese geschwebt , als sie wüst und leer war , und hatte gesprochen :
" Es werde Licht ! "
Im Holstenloch , dort , wo es einsam wurde , hatte sich der Wolf zu Rotkäppchen gesellt ; die Mutter Schneewittchens hatte im " Kurzen Elend " am Fenster gesessen und sich in den Finger gestochen , und im " Langen Jammer " stand irgendwo in der Luft das Tor der Frau Holle , von dem der Hahn herabrief :
" Kikeriki ! Unsere goldene Jungfrau ist wieder hie ! "
So gab er jeder Geschichte ihren Ort ; aber die Geschichten , die in einem besonderen Lichte glänzten , die verlegte er alle in die Gegend der Talwiese zwischen den Eisenbahndämmen .
Dort wurde auch das Christkind geboren .
Vom Christkinde sang auch das Lied , das Herr Schulz , der Lehrer nun anstimmen ließ .
Er holte die Geige aus dem Schrank , und die Kinder riefen :
" Aah ! "
Sie waren noch nicht verwöhnt .
Das Lied hieß : " Der beste Freund " und lautete also : " Der beste Freund ist in dem Himmel , Auf Erden sind nicht Freunde viel , Und in dem falschen Weltgetümmel Ist Redlichkeit oft auf dem Spiel .
Darum habe ich es immer so gemeint :
Im Himmel ist der beste Freund .
Die Menschen sind wie eine Wiege :
Mein Jesus steht felsenfest , Daß . wenn ich gleich darniederliege , Mich seine Freundschaft doch nicht läßt .
Er ist_es , der mit mir lacht und weint : Mein Jesus ist der beste Freund .
Mein Freund , der mir sein Herze gibt , Mein Freund , der mein und ich bin sein ; Mein Freund , der mich beständig liebet , Mein Freund bis in das Grab hinein .
Ach , habe ich es nun nicht recht gemeint ?
Mein Jesus ist der beste Freund . "
So sangen sie nach einer Volksweise , die wie ein Wiegenlied aus Urgroßvaters Tagen klang , den sanftäugigen Pietismus und die schlichte Herzenseinfalt des braven Schweidnitzer Pfarrers Benjamin Schmolcke , der jene treuherzigen Verse geschrieben im Jahre des Herrn 1704 .
Draußen in der Welt balgte sich das 10. Korps mit dem rechten Flügel der Loire-Armee bei Beaune la Rolande und halfen die Flinten und Säbel der Söhne Hamburgs bei Loigny den linken Flügel zurückwerfen und die Pläne Gambettas vernichten .
Draußen in der Welt hörte man von Leuten , die sich " Sozialdemokraten " nannten , die gegen die Annexion Elsaß-Lothringens protestierten und die Bismarck in Gefangenschaft abführen ließ .
XIX. Kapitel .
Wie Asmus Semper ein Streber wurde und sich Ruhm und Gold und einen Rosinenkloß und die Masern wünschte .
Aber in der Klasse des Herrn Schulz ging es nicht immer so ruhig zu wie an diesem eingeschneiten Morgen .
Herr Schulz war für Leben , und Asmus überzeugte sich bald , daß er mit dem Stillsitzen mit gefalteten Händen gänzlich allein blieb .
Alle Stunden des Herrn Schulz waren zugleich Turnstunden .
Wenn nämlich seine Schüler etwas wußten , dann sprangen sie auf die Füße und streckten weit den Finger vor ; wenn sie es genau wußten , sprangen sie auf die Bank ; wußten sie es ganz genau , dann stiegen sie auf die Tische ; wenn sie aber etwas ganz Seltenes und Schwieriges wußten , dann kamen sie aus den Bänken herauf und stürmten Herrn Schulz ; sie bohrten ihm fast ihre Fingerchen ins Auge und schrien :
" Ich , Herr Schulz , ich ich ich ! " , daß es aussah und sich an hörte , als wenn siebenunddreißig Küken nach Futter piepen .
Wenn es auf Lebhaftigkeit ankam , ließ sich nun Asmus Semper niemals lumpen , darin war er der Sohn seiner Mutter , und eines Tages drang er so weit vor , daß der Lehrer rief :
" Junge , du ßtichst mich ja mit dem Finger in die nasse ! "
Aber er durfte die Antwort geben , und als er seine Brust erleichtert hatte , turnte er über Tisch und Bänke und über die Köpfe der anderen zurück nach der letzten Bank hinten an der Wand .
Herr Schulz hatte aber noch ein anderes Mittel , um Bewegung in die Massen zu bringen .
Er versetzte seine Schüler nach ihren Fähigkeiten nicht halbjährlich oder vierteljährlich , sondern minütlich .
Wenn Meyer nicht wußte , wie der Sohn des Königs Saul hieß , so fragte Herr Schulz den nächstsitzenden Petersen ; wenn der versagte , den nun folgenden Schmidt usw. usw. , und wenn der Siebente " Jonathan " schrie und etwa Jansen hieß , dann sagte Herr Schulz :
" Jansen , ßieben Plätze höher ! " und Jansen raffte schleunigst Tafel , Bücher , Schwamm und Griffel zusammen und stieg mitten in der Religion über die gebeugten Nacken der sieben Unterworfenen hinweg mit Siegerlächeln an seinen neuen Platz .
Aber er durfte sich nicht in Sicherheit wiegen ; denn wenn er durch den einen Jonathan sieben Staffeln des Ruhmes erklommen hatte , so konnte er schon im nächsten Augenblick durch Isboseth um dreizehn Stufen wieder hinunterstürzen .
So glich die Klasse des Herrn Schulz einem ewig summenden Bienenstock , in dem alles in unablässiger Bewegung war , um das Wachs der Bildung und den Honigseim des Ruhmes einzutragen .
Nur Asmus Semper blieb monatelang hinten an der Wand sitzen ; denn die anderen Schüler sogen ja alle schon länger an den Brüsten der Weisheit und waren im Rechnen und Schreiben wohlgenährt , während Asmus in diesen Dingen durch besonders heftiges Saugen alles nachzuholen hatte .
An einem Nachmittage in der Schreibstunde nahm Herr Schulz das Heft des kleinen Semper in die Hand und zeigte es der Klasse .
" O weh " , dachte Asmus .
Und Herr Schulz sprach : " Seht euch Mal diese Schrift an !
Als Asmus Semper zur Schule kam , konnte er überhaupt nicht schreiben , und jetzt schreibt er am besten von allen .
Nehmt euch ein Beispiel dran !
Setz dich fünf Bänke höher , mein Sohn ! "
Wer am meisten überrascht war , das war Asmus Semper .
Er hatte seine Schrift bis dahin immer noch für trostlos schlecht gehalten und sie stets mit schmerzlichem Ingrimm betrachtet - und jetzt war_es die beste !
Er war so verblüfft , daß er gar nicht dazu kam , sich zu freuen , und auf seinem hohen Platze fühlte er sich fremd und beklommen .
Hinten an der Wand , im Halbdunkel war es so traulich gewesen .
Im halbdunklen Anfang der Bildung ist es immer traulich .
Als er daheim von seinem Avancement erzählte , erhob Rebekka Semper großen Jubel ; Ludwig Semper sagte nichts , aber er lächelte .
Und von diesem Lächeln an dachte Asmus oft und öfter :
" Könnt ich_es nur machen , daß er bald einmal wieder so lacht . "
Von diesem Lächeln datiert Asmus Semper Ehrgeiz .
Schon nach einigen Tagen gelangte Asmus durch einige sehr gesunde Anschauungen über Leben , Taten und Bedeutung des Rindes auf die erste Bank .
Als er das seinem Vater berichtete , stellte er sich vor ihm hin und sah ihm stramm ins Gesicht .
Und richtig : Ludwig Semper lächelte noch herrlicher als das erste Mal , und dann zog er die Augenbrauen hoch und machte die Augen so groß , wie sie noch nie gewesen waren , und sagte :
" Wenn du der Erste in der Klasse wirst , bekommst du von mir vier Schillinge . "
Es kann nicht Wunder nehmen , daß die Entwicklung des kleinen Asmus jetzt etwas ungesunde Formen annahm .
Zu dem Durst nach Ruhm kam jetzt der Hunger nach Gold , und zugleich empfand er tief die schwindelnde Höhe des gesteckten Ziels .
Der Erste in der Klasse werden - das wäre immerhin möglich erschienen ; aber wie konnte ein kleiner Junge von acht Jahren vier Schillinge erringen !
An dieser ungeheuerlichen Summe ermaß er so recht die Vermessenheit des Unterfangens .
Indessen - es mußte gelingen , und Asmus Semper wurde Streber .
Bald aber sollte er inne werden , daß der Weg zum Ruhme nicht in gerader Linie aufwärts geht .
Herr Schulz stellte ihm die verfängliche Frage :
" Wenn du eine Chans hast , die neun Pfund wiegt , und sie für acht Schilling das Pfund verkaufst , wieviel Cheld bekommst du dann dafür ? "
Asmus , von Gold und Ruhmbegierde erregt , rechnete statt der acht Schillinge die vier Schillinge , die ihm sein Vater versprochen hatte , und rief :
" 36 Schillinge ! "
Und für diese Uneigennützigkeit kam er einen Platz herunter .
Was war das ?
Er kam herunter ?
Asmus Semper " rutschte " ?
Das war ihm noch nicht widerfahren .
Es war ein Glück , daß die Schule gleich darauf aus war ; er raffte wie ein Dieb seine Siebensachen zusammen , stahl sich ohne Aufblicken schnell hinaus und fing sofort , als er allein war , an zu weinen .
Er wußte sicherlich noch nicht , was man unter eines Menschen Ehre versteht ; aber er hatte in ganzer Schwere und mit ganzem , schneidendem Schmerze das Gefühl eines Menschen , der seine Ehre verloren hat .
Heruntergekommen , gepurzelt , gerutscht - welch eine Schmach !
Er konnte ja gar nicht wieder in die Schule gehen !
Wie sollte er das zu Hause erzählen !
Seine Mutter würde schelten , und sein Vater - !
Sein Vater würde nicht lächeln , nein , ein trauriges , ein sehr trauriges Gesicht würde er machen - wenn er daran dachte , dann jammerte er laut auf , und in die Tränenbäche auf beiden Wangen stürzten neue Zuflüsse .
Er weinte sich nach Hause , und dort angekommen , setzte er sich auf den kleinen Vorplatz an den Herd und weinte .
Eine Nachbarin kam darüber zu und fragte :
" Junge , was fehlt dir ?
Warum weinst du so schrecklich ? "
Da weinte Asmus noch viel schrecklicher .
Und die Nachbarin rief : " Frau Semper , was fehlt Ihrem Sohn ?
Er sitzt hier und weint Tränen , so groß wie Taubeneier . "
Da mußte er hinein und bekennen ; tropfenweise entwand sich ihm das furchtbare Geständnis , und auf jeden Tropfen Geständnis kam ein Meer von Tränen .
" Ich - huu - bin einen - huu - gerutscht - huuu . . . . ! "
Rebekka Semper fand dies nun auch recht schlimm ; die Nachbarin lachte laut auf , und Ludwig Semper lachte still in sich hinein , daß seine Schultern auf und abwetten .
Aber es war nicht das Lächeln von neulich , das sah Asmus , der ihn durch eine große Träne hindurch genau fixierte , ganz genau .
" Deshalb sei nur ruhig " , sagte sein Vater , " darum kriegst du die vier Schillinge doch ! "
Das Vermögen war also gerettet .
Fehlte nur noch die Ehre .
Aber Asmus Semper war leider durchaus kein konsequenter Streber .
Am anderen Morgen erfuhr er , daß es mittags einen großen Mehlkloß mit Rosinen und süßer Specksauce geben werde .
Das entzückte ihn so , daß er den ganzen Morgen in der Schule in gehobener Stimmung verbrachte .
Und als die Mittagstunde herannahte , wurde er übermütig .
Die Schüler schrieben auf ihre Tafeln und der Lehrer saß am Pult und schrieb auch .
Da fragte Asmus seinen Nachbar : " Kannst du mit_dem Fuß auf_dem Tisch hauen ? "
" Nee " , sagte der Nachbar , " kannst du das ? "
Stadt aller Antwort hob Asmus das Bein und schlug " bums " mit der Hacke auf den Tisch .
Das war so zu sagen ein notwendiges Naturereignis :
er mußte seiner Freude Luft machen .
Herr Schulz schien von der Notwendigkeit weniger überzeugt zu sein ; er rief : " Asmus Semper , komme Mal her ! "
Asmus kam , erhielt einen Backenstreich und kam auf die zweite Bank .
Er würde wohl auch diese neue Schande in einen Strom von Tränen gebadet haben , wenn nicht die mittägliche Verheißung gewesen wäre .
Im Gedanken an einen Rosinenkloß konnte er beim besten Willen nicht weinen , und gegen Speck und Sirupsauce ist Ruhm eine Wassersuppe .
Am folgenden Tage fehlten in der Schule fünf Kinder ; es hieß , sie hätten die Masern .
Am nächsten fehlten weitere elf ; Grund : die Masern .
Am dritten vermißte Herr Schulz nicht weniger als 31 von seinen Schülern .
Asmus fand es riesig interessant , in der Schule wegen Krankheit zu fehlen ; er hörte , die Masern bekomme jedes Kind einmal , und er empfand es als eine Zurücksetzung , daß er noch immer nicht drankam .
Er schämte sich schließlich , daß er so langweilig gesund jeden Tag zur Schule kam , und sagte mit Renommisttische Miene zu seinem Nachbar :
" Morgen kannst du dich nur auf meinen Platz setzen ; ich Krieg auch die Masern . "
Aber er kam den folgenden und auch den nächstfolgenden und auch den dritten Tag mit geradezu blamablem Wohlsein zur Schule .
Da - am Abend des vierten Tages - da kam etwas , aber nicht die Masern .
Er saß bei seiner Schularbeit und machte beim großen " G " eine ganz ungeheure Schleife , die weit übers Ziel hinausging , und es war ihm ganz gleichgültig , wie weit sie ging .
Und dann war es ihm noch gleichgültiger , wie weit der nächste Buchstabe in den Himmel hinaufstieg , und dann ließ er die Feder aufs Papier fallen .
Er fühlte sich unendlich matt und schlief auf seiner Arbeit ein .
Aber nach einigen Sekunden fuhr er heftig empor ; es war ihm , als wäre er tief hinabgestürzt .
Nun umspannte ihm ein dumpfer Schmerz den Kopf und ihn fror entsetzlich .
Als die Mutter ihn auf sein Bitten zu Bett brachte , flog er am ganzen Leibe , daß die alte , kleine , wurmstichige Bettstelle knackte , und dann kam ein heftiges Erbrechen .
Darauf schlief er ein .
Folgenden Tages lag er den ganzen Tag schweigend in seinem Bett ; aber abends begann er zu fiebern .
Einen Arzt zu befragen , kostete Geld , und da Rebekka Semper im Kieler Krankenhause eine ganze Menge Medizin studiert hatte , so sagte sie :
" Er kriegt die Masern " und gab ihm Lindenblütentee .
Aber es war nicht das Richtige .
Er fieberte am nächsten Tage stärker , und am dritten phantasierte er .
Da wurde der Arzt Doktor Olsen geholt , der verordnete kühles Zimmer , kalte Bäder und etwas , was sehr bitter schmeckte .
Am Tage darauf klagte Asmus , er könne nicht schlucken und die Augen täten ihm so weh , und in seinem Gesicht zeigten sich rote Knötchen und Fleck .
" Ja , er kriegt die Masern " , sagte Frau Semper ; als aber der Arzt kam , da sagte er :
" Es sind die Pocken . " XX. Kapitel .
Von Blattern und Krieg und von lichten Tagen unter dunklem Himmel .
Von Ludwig Semper Hoffnung .
Es dauerte auch nur kurze Zeit , so war der ganze kleine Asmus mit Pocken übersät ; auch im Munde und auf der Hornhaut des Auges waren sie hervorgekommen .
Als er endlich Pocken genug hatte , fühlte er sich ein wenig wohler . und er sprach ab und zu leise mit Eltern und Geschwistern .
Und dann ging die eigentliche Krankheit los .
Der Arzt sagte : " Es sind richtig die schwarzen Blattern geworden " , und kam jetzt zweimal am Tage .
Die Mutter mußte das ganze Männlein in Tücher mit Salben einschlagen und ihm kalte Tücher auf die Augen legen , und das Zimmer mußte ganz dunkel gemacht werden .
Das Männlein ließ sich alles stumm gefallen ; nur abends wurde es gesprächig .
" Ich habe mich verlaufen " , rief es , "o Gott , o Gott , ich habe mich verlaufen , warum habt ihr so viel Schnee gemacht ?
Und meine Laterne ist auch ausgegangen ; Fräulein Johanna , zündest du sie mir wieder an ? - -
Uuu , was 'ne Menge Österreicher ! " murmelte er vor sich hin .
Aber endlich wurde er ganz still und sagte gar nichts mehr ; er lag ohne alle Bewegung da , und der Arzt sagte den Eltern , sie möchten sich keine Hoffnung mehr machen .
Was der Kranke an Nahrung brauchte , flößte man ihm ein ; er ließ indessen kein Lebenszeichen merken .
Aber während er still dalag , floß ihm Blut aus dem Näschen und aus dem Munde .
Man merkte es dem Arzte an , daß er sich jeden Tag wunderte , wenn er den Kleinen noch am Leben fand .
" Die Pusteln fangen an abzuheilen " , sagte er , " wer weiß , vielleicht holt er es doch durch . "
So hell war den Semperischen die Sonne noch nie vorgekommen wie an diesem kurzen Wintertage .
Und sieh , eines Morgens hörten sie Worte vom Bette des Kranken her .
Im selben Augenblick stand auch schon Rebekka am Bettchen und fragte :
" Was willst du , mein Trudel ? "
" Es juckt so " , sagte Asmus ganz deutlich .
" Ach Gott , mein Junge ! " jauchzte sie , " mag es doch jucken , wenn du nur lebst ! "
Sie dachte in ihrem Jubel nicht daran , daß er über das Jucken anders denken mußte .
" Es juckt aber so schrecklich ! " rief er jetzt drängender .
Da holte sie nasse Tücher und legte sie ihm auf .
Aber nun kam ein neues , fast schlimmeres Gespenst .
" Hat er noch immer die Augen nicht aufgewacht ? " fragte Doktor Olsen eines Tages .
" Nein " , sagte Frau Semper .
" Hm . "
Der Arzt machte ein eigentümliches Gesicht .
" Wenn nur die Augen nicht gelitten haben ! "
" Um Gottes Willen , Herr Doktor , ist es wahr , kann er blind werden davon ? "
" Das kann er freilich ; aber das wollen wir doch nicht hoffen , Frau Semper " , sagte der Doktor mit einem wenig zuversichtlichen Gesicht . -
Asmus blind ! -
Ludwig Semper dachte daran , mit welcher Lust am Licht die großen Augen des Kindes ins Leben schauten ; er mußte an die Augen denken , mit denen der Kleine auf jenem Sonntagspaziergang gesprochen hatte :
" Vater , hier sieht es gerade so aus wie dein Geburtstag " und " Vater , hier ist es so wie bei Isaac , als Esau ihm das Wildbret brachte " - und die bloße Vorstellung des Unglücks fuhr dem Vater mit tausend Messern durchs Herz .
Asmus machte dann freilich bald darauf die Augen auf ; aber , was man ihm auch vorhielt , er konnte nichts sehen , und heller durfte das Zimmer nicht gemacht werden .
Vier Tage später wurden Ludwig und Johannes Semper , die bei der Arbeit saßen , durch einen lauten Aufschrei der Mutter heftig erschreckt .
Sie sprangen zugleich in die Höhe und wollten hinausstürzen ; aber da riß auch schon Frau Semper die Tür auf und rief hinein :
" Er kann sehen , er kann sehen ! " das heißt , es war weniger ein Rufen als ein Schluchzen oder Lachen oder Weinen oder irgend etwas dergleichen ; vom Sprechen war jedenfalls am wenigsten dabei .
Und nun erzählte Frau Rebekka : Sie habe recht so traurig am Bett gesessen und Kartoffeln geschält , da habe Asmus auf einmal gesagt :
" Mutter , was ist das Rote da ? " -
am Fußende des Bettes habe nämlich ein roter Strumpf gelegen - und da habe sie so schreien müssen und sei vom Stuhl aufgesprungen , und zum Beweise dessen lagen denn auch Kartoffeln und Kartoffelschale über den ganzen Fußboden verstreut .
An diesem Tage war der Himmel ganz mit Wolken bedeckt ; aber die Sonne schien blendend hell im verhangenen Krankenzimmer der Semperischen .
Das war die zweite Sonne , die höhere Sonne , die weit hinter unserer täglichen Sonne hängt ; sie dringt durch die tiefsten Wolkenmauern mondloser Dezembernächte und ist so hell , daß , wer hineinblickt , nur Licht sieht und keine Sonne , und sie geht nur auf , wenn sie mag .
Und nun kamen herrliche Tage .
Asmus wurde gepflegt .
Jeden Morgen bekam er ein ganzes , weichgekochtes Ei .
Er erinnerte sich nicht , jemals ein ganzes Ei in der Hand gehabt zu haben .
Er gab aber auch Alfred und Reinhold davon ab .
Und die Nachbarin brachte einmal Hühnersuppe .
Wenn man krank ist , lebt man wie ein Kaiser , dachte Asmus .
Die Suppe schmeckte ihm eigentlich gar nicht so besonders ; aber sie erfüllte ihn mit feierlichen Gefühlen .
Die anderen taten ihm leid , weil sie ganz gewöhnliche Suppe aßen .
Sein Bett wurde nun so gestellt , daß er in die Arbeitsstube hinein und seinen Vater ansehen konnte .
Und von Zeit zu Zeit blinkten sie einander zu und beide fühlten ungefähr dasselbe dabei , nämlich :
" Diesmal haben wir dem Tod aber ein gehöriges Schnippchen geschlagen .
Wir wollen noch ein Stückchen zusammenbleiben , und schön soll es werden ! "
Aber das Beste , was ihm die Pflege brachte das war diesmal die Mutter .
Er hatte oft geglaubt , sie liebe ihn nicht , wenn sie streng oder aufbrausend und ungerecht gegen ihn gewesen war und wenn sie immer wieder gesagt hatte , der Vater behandle den Bengel wie einen goldenen Apfel .
Jetzt , in der Krankheit , hatte er endlich seine Mutter gefunden .
Wenn sie ihn hätschelte und sich sorgend um ihn mühte , dann dachte er :
Ich möchte mein ganzes Leben lang krank sein !
Als Gefahr vorhanden gewesen , daß der Kranke sich die Pusteln abkratze , da hatte man ihm die Hände umwickelt und festgebunden .
So war es glücklich erreicht worden , daß der Körper nur vereinzelte Spuren der Krankheit zeigte , unter anderem eine Narbe über dem linken Auge .
Diese hochinteressante Narbe führte Asmus mit großem Stolz in die Schule .
Dagegen konnten sich die anderen verkriechen mit ihren lumpigen Masern ; was Krankgewesensein anlangte , war er jetzt ohne Zweifel der Erste in der Klasse .
In der Schule hörte Asmus , Herr Kleesang sei in der Schlacht bei Loigny gefallen .
Herr Kleesang gefallen - das war ja der liebe , freundliche Mann , der sie im Turnen unterrichtet hatte , der immer so schöne Witze machte und den armen Kindern immer Frühstück und Kleider mitbrachte , obwohl er selbst nichts hatte !
Und wenn er ihnen etwas schenkte , dann machte er jedesmal einen Reim dazu .
Wenn er einem hungernden Schüler eine riesige Brotkante überreichte , so sprach er :
" Hier hast du einen Knust Mit Pflaumenmus . " oder : " Hier , mein Sohn , ein Brot mit Butter , Laß dir es schmecken , als käme es von der Mutter . "
Und als einmal ein Knabe in Hemdärmeln zur Schule kam , weil er keine Jacke besaß , da schenkte ihm Herr Kleesang seinen Examenfrack und sprach : " Hier , mein Junge , hast du einen Frack ; Schneidest du ihm die Schlippen ab , Hast du eine charmante Jack ' ! "
Und die Brust dieses Mannes hatte eine Kugel durchschlagen ; er war tot , lag in der schwarzen Erde und kam nie wieder !
Jetzt mit einem Male erfaßte Asmus mit dem Gefühl , was ein Krieg sei .
Die Neuruppiner Bilderbogen von Wörth und Sedan , auf denen der Kronprinz oder König Wilhelm oder irgend ein General sich durch lauter rote und gelbe Farbe hindurchfuchtelte und auf denen im Vordergrunde zur Verzierung auch ein paar schöne Leichen angebracht waren , diese Bilder hatten sein Gemüt in keiner Weise berührt .
Jetzt erst verstand er mit dem Herzen , was ein Krieg kostet .
Inzwischen waren auch nach Hamburg gefangene Franzosen gekommen .
Eines Morgens , als Asmus mit dem Korb überm Arm bei dem phlegmatischen Krämer herauskam , spazierten zwei leibhaftige Franzosen daher , bei Gott , zwei wirkliche Franzosen mit Käppis und blauen Röcken und roten Hosen und Spazierstöckchen .
Asmus dachte :
sie sind gewiß sehr traurig und zornig ; du willst ihnen Mal zeigen , daß d u ihnen gar nicht Feind bist , das wird sie freuen .
Und als sie herankamen , rief er :
" Bonjour , messieurs ! "
Die beiden blickten überrascht in die Höhe , und dann riefen sie lachend und winkend :
" Bonjour , Bonjour , mon petit ! "
Und Asmus ging sehr befriedigt von diesem Austausch internationaler Höflichkeiten nach Hause .
Am zweiten März , morgens gegen 10 Uhr , wurde Herr Schulz aus der Klasse abgerufen .
Nach wenigen Minuten kam er wieder und rief : " Kinder , der Friede ist geschlossen , ihr könnt nach Hause gehen ! "
Jubelnd stürmte alles in den schönen Vorfrühlingstag hinaus .
An solchen Tagen ist etwas in der Luft , daß alle , alle die Feier des Tages empfinden , mögen sie auch von seiner Bedeutung keinen Begriff haben .
Am Abend waren Oldensund und Altenberg und Hamburg illuminiert ; der kleinste Zwirn- oder Rübenhändler hatte Lichtlein ans Fenster gestellt , und das war sehr schön ; aber für Asmus Semper brachte das keine Steigerung .
Er hatte den ganzen Tag über den Luftraum , den ganzen Weltraum illuminiert , und alles aus eigener Tasche .
An solchen Tagen ließ er sich nicht lumpen .
Als Ostern herankam , wurde Asmus Semper Klassenester .
Dabei schwebte er in größter Gefahr , den Primat noch am selben Tage wieder zu verlieren ; denn er wippte vor Unruhe auf seinem Sitze hin und her , gab verwirrte Antworten und wäre am liebsten sofort davongelaufen , um seinem Vater die Kunde zu bringen .
Sein Nachbar bot ihm ein großes , schönes Stück Wischgummi , wenn er morgen den Platz mit ihm tauschen wolle ; Herr Schulz werde gar nichts davon merken .
Aber Asmus lächelte ein unendlich überlegenes Lächeln .
Ein Stück Wischgummi und das Lächeln seines Vaters Ludwig Semper - haha !
Als er dem Vater stotternd das große Glück berichtet hatte - seltsam , da lächelte Ludwig Semper nicht ; er legte dem Knaben die Hand auf den Kopf und sah mit großen Augen tief in ihn hinein .
Und dies Gesicht war noch viel schöner als alles Lächeln .
Dann blickte er zum Fenster hinaus ; aber die warme , kräftige Hand ließ er noch immer auf dem Kopfe des Kindes liegen .
Asmus konnte jetzt des Vaters Gesicht nicht mehr sehen , und wenn er es gesehen hätte , so hätte er es wohl nicht lesen können .
Das stumme Gesicht aber sagte : Wer weiß - vielleicht bringt er das Geschlecht der Semper wieder empor .
Zweites Buch .
XXI. Kapitel .
Vom Frankfurter Frieden und von der Ofendorfe Schlacht , von neuer Liebschaft und vom süßen Kringel .
Um dieses Kapitel mit einer jener in Romanen so wohl angebrachten retrospektiv-geschichtsphilosophischen Betrachtungen zu beginnen :
Als die kriegführenden Mächte im " Weißen Schwan " zu Frankfurt Frieden schlossen , da ahnten sie wohl nicht , daß infolge dieses Friedens die Semperische Familie eines Tages ihr Mittagessen zwei Stunden zu spät bekommen werde .
Und doch geschah es also .
An diesem Tage nämlich sprach Frau Semper zu ihrem Asmus in munterer Laune :
" Trudel , Lauf Mal schnell nach Altenberg zu Maßmann und hole mir ein halbes Pfund Sago zu Mittag ! "
Von " schnell laufen " konnte nun schon um deswillen gar nicht die Rede sein , weil auf dem Wege zu Herrn Maßmann Herr Puttfarken wohnte .
Das Haus des Herrn Puttfarken war vielleicht das poetischste in ganz Oldensund , obwohl " Puttfarken " in der Sprache der Gebildeten so viel heißt wie " Topfferkel " und das Haus ein viereckiger Steinkasten war , dessen Fenster vom frühen Morgen bis zum späten Abend durch Läden verschlossen blieben .
Die Läden waren aber zuweilen nicht fest geschlossen , oder es waren Astlöcher und Rillen darin , und wenn man ausdauernd genug durch solche Löcher und Rillen in das Dunkel des Raumes hineinblickte , dann entdeckte man , daß der öde Steinkasten des Herrn Puttfarken nicht mehr und nicht weniger war als ein ungeheures Spielwarenlager .
Da lagen die Pferde und Wagen und Trompeten und Trommeln in allen Größen und gleich zu Dutzenden ; dagegen sah oder hörte man nur selten Menschen , geheimnisvoll auftauchende und plötzlich verschwundene Menschen in diesen Räumen , und Asmus neigte sehr zu der Anschauung , daß man es hier mit einer der Niederlagen des Weihnachtsmannes zu tun habe , und wahrscheinlich war der reiche Herr Puttfarken , den kein Mensch jemals in Oldensund gesehen hatte , kein anderer als der Knecht Ruprecht .
Auch heute bohrte Asmus seine Augen wieder in das wunderträchtige Dunkel und untersuchte lange , ob die berittenen Soldaten dort bei der Festung Kavallerie oder Artillerie wären .
Er kam zu keinem Resultat und ging endlich seinen Weg weiter .
Er kaufte den Sago und wählte der Abwechslung wegen einen anderen , einen Umweg , zur Rückkehr .
Als er aber an den Bahnhof kam , da riß er die Augen auf .
Da waren Soldaten , unzählige Soldaten in blanken Helmen ; hier standen sie Gewehr bei Fuß , und dort präsentierten sie , und dort hatten sie die Gewehre zusammengestellt , sich in Gruppen gelagert , um zu schwatzen und zu lachen und belegte Butterbröte zu essen und Bier zu trinken und zu rauchen .
Sie hatten Helm und Brust mit Eichenlaub geschmückt .
Das neunte Armeekorps unter General von Mannstein war aus Frankreich zurückgekehrt .
Asmus traf einen Schulkameraden , der zeigte ihm einen Hauptmann , der vor seiner Kompanie auf und abspazierte , und sagte : " Ich glaube , das ist der General von Mannstein . "
Asmus glaubte es auch und dachte :
" Das ist ein General .
So sieht ein General aus .
Ja , man sieht es gleich ; die anderen müssen ihm alle gehorchen . "
Aber bald sah er einen , der hatte Fransen an den Schultern , da dachte er : das ist gewiß der General ; dann kam einer daher , der hatte eine silberne Schärpe um den Leib und lange , silberne Quasten am Degen : nun war er gewiß , den General erwischt zu haben ; aber dann gab es immer noch Schönere , und nach und nach sah er wohl an die fünfzig Generale , und Soldaten sah er immer neue , je weiter er ging ; an derselben Stelle , wo er vor dreiviertel Jahren Kanonen , Kanonen , schwarze Kanonen gesehen hatte , da sah er jetzt Soldaten , Soldaten , lachende , fröhliche , geschmückte Soldaten unter einer heißen , goldenen Mittagssonne , und die gepreßte Sagotüte in seiner heißen Hand wurde immer wärmer und weicher , und nun bemerkte er , daß ein paar Soldaten über ihn lachten , und einer fragte ihn im treuherzigsten Holsteiner Platt : " Na , mein Jung , seiest du Klimm ( säest du Klöße ) ? "
Und erst da wurde er inne , daß er ein Loch in die Tüte gedrückt hatte und daß ein dünner , weißer Streifen seinen Spuren folgte .
Mit einer zweistündigen Verspätung kam er im Elternhause an , und als eine weitere , von Bismarck nicht bedachte Folge des Frankfurter Friedens ergab sich , daß Asmus von der bis obenhin mit Blut angefüllten Rebekka Semper einen sehr gut gemeinten und exekutierten Schlag an den Hals bekam .
Eine fernere Folge des Friedens war die Mobilmachung in Oldensund .
In einer strohdachüberhangenen Kate lebte ein jugendliches Talent , das aus Pappe und buntem Papier vorzügliche Tschakos und Säbelscheiden machen konnte , und dieses Talent bewaffnete die Jugend von Oldensund .
Die Ausrüstung eines Gemeinen kostete einen Schilling , die eines Offiziers zwei - also eine militärische Simonie in schlimmster Form .
Da er die Scheiden und Helme klebte , so reservierte er sich auch die Stelle des obersten Kriegsherrn und Generals , und weil er eine Trommel besaß , die er nicht herausrücken , sondern gern selbst schlagen mochte , so versah er zugleich die Stelle des Tambours .
Asmus , der nur einen Schilling aufbringen konnte , wurde linker Flügelmann der Gemeinen ; sein Bruder Alfred brachte es mit 11/2 Schillingen wenigstens zum Sergeanten .
Jeden Abend fanden Übungen mit leidenschaftlichem Trommeln und Pfeifen statt .
Man wußte noch nicht , gegen wen es gehen werde ; aber es lag wie eine Ahnung in der Luft , daß es wieder gelten werde , gegen den alten Erbfeind , die benachbarten Ofendorfe zu marschieren .
Und richtig : eines Sonntags vernahm Asmus irgendwoher aus der Luft - er wußte später selbst nicht , woher - , daß sich bei der Rolandsmühle Ofendorfe gezeigt hätten .
Wie ein Lauffeuer rannte Asmus durchs ganze Dorf und alarmierte die Oldensunder Armee .
Er war tief davon durchdrungen , eine heilige Sache zu verfechten , und war tief empört über diese schändlichen Ofendorfe , die die Frechheit besessen hatten , sich bei der Rolandsmühle zu zeigen .
Das Heer rückte aus , und bei der Rolandskuhle , auf hügeligem Gelände , tobte die Schlacht .
Der Ausgang war der , daß die Ofendorfe wichen und Asmus , tapfer bis zur Besinnungslosigkeit , von einem großen Stein über dem rechten Auge getroffen wurde .
Er kam mit einem gänzlich verschwollenen Auge heim , während der General Pappenheim , der , wie es sich für einen Strategen schickt , den ganzen Kampf von einem entfernten Posten aus geleitet hatte , als unbeschädigter Sieger zurückkehrte .
Als diese Dinge sich begaben , wohnten die Semper schon wieder anderswo , und zwar hatten sie diesmal wieder drei nette Stuben und eine richtige Küche bezogen , die ganz in der Nähe des Holstenloches in einer richtigen Straße lagen .
Denn jetzt , als alle Gewerbe infolge des glücklichen Krieges einen schnellen Aufschwung nahmen , kam auch für Ludwig Semper und die Seinen eine Periode - man möchte fast sagen : des Reichtums .
Ihre Üppigkeit gedieh so weit , daß sie sich ein altes Sofa und einen alten Spiegel zulegten , die in der Familie und bei den Nachbarn allgemeine Bewunderung erregten , und daß sich Johannes , der nun richtigen Gesellenlohn bekam , eine Gitarre kaufte samt einer Schule , aus der er das köstliche Spiel erlernen wollte .
Und für Ludwig Semper kam eine Zeit , die mit Ausnahme der Steuer- und Miettermine beinahe sorgenlos war , eine Zeit wonnevoller Morgenstunden .
In unbegreiflichem Widerspruche zu seiner ganzen Lebensauffassung war Ludwig ein konsequenter Frühaufsteher , und je älter er wurde , desto früher erhob er sich von seinem ärmlichen Lager , Bett genannt .
Dann braute er sich selbst den Kaffee , goß die große Tasse so voll , daß der duftende Trank in die Untertasse lief , erfreute sich innig an diesem Bilde des Überflusses , aß eine knusprige Semmel mit Butter dazu , brannte sich eine Zigarre an und lehnte dann eine halbe Stunde im offenen Fenster und schwieg andächtig in den Morgen hinaus .
Eine halbe Stunde lang sah er dem Morgen ins ewig junge Angesicht , und Ludwig Semper und der Morgen schwiegen einander an und waren voll göttlichen Friedens .
Je wohler er sich fühlte , desto tiefer liebte Ludwig Semper zu schweigen .
Oft zur Verzweiflung Rebeckens .
Sie war durchaus keine Freundin vom Schweigen und klagte Kindern und Freunden ihre Not .
" Wozu hat der Mann nun so viel gelernt ! " rief sie aus .
" Den ganzen Abend sitzt er einem gegenüber und bewegt die Lippen und rollt die Augen und sagt kein Wort .
Und er kann doch wahrhaftig sprechen .
Der Mann kann Englisch und Griechisch und Spanisch - "
" Na , na ! " rief der Gepriesene dazwischen ; " es ist nur halb so schlimm . "
- Es war ein Glück , daß die Brunnenstraße so nah beim Holstenloch lag .
Denn im Holstenloch wohnte seit einigen Wochen die neunjährige Christiane , und Asmussens Herz lag wieder einmal in zarten Fesseln .
Sie war schlank und zierlich , und das gefiel Asmus um so mehr , als er dick und rund war und sich selbst durchaus nicht gefiel .
Anfangs hatte sie ihn ausgelacht und ihn geneckt ; aber als sie einmal mit ihm gespielt hatte , wollte sie immer mit ihm spielen oder mit ihm plaudern .
Einmal balgten sie sich im Scherz , und als er ihre Handgelenke umklammert hatte und ihre Hände in die Höhe zwang , da durchzuckte ihn plötzlich ein Gefühl , das er noch nie empfunden hatte .
Mit einem Male fühlte er :
sie ist ein Mädchen - sie ist ein anderer Mensch als du .
Er verband nicht die blasseste Vorstellung mit diesem Gefühl ; es war nichts als Gefühl .
Er hatte sie plötzlich losgelassen , war ganz rot geworden und stand da und wußte nicht , was er mit sich anfangen sollte .
Sie wollte die Balgerei fortsetzen ; aber er ließ die Arme am Leibe herunterhängen und lächelte einfältig .
Und von nun an wagte er nie wieder , sie anders als an den Händen zu berühren ; aber er war eifrig bemüht , sich vor ihr in glänzendem Lichte zu zeigen .
Wenn sie zugegen war , gab er sich als Raufbold , wozu er sonst gar keine Anlage besaß , und es sollte eine Huldigung für sie sein , als er sieben Fuß hoch von der Stellage eines Neubaues heruntersprang .
Aber auch durch die feineren Reize der Gelehrsamkeit suchte er ihr zu imponieren .
Er hatte in der neuen Klasse , in die er versetzt worden war , die Sonntage der Passionszeit gelernt und sagte sie ihr mit großen Erwartungen her :
" Invocavit , Reminiscere , Oculi , Laetare , Judica , Palmarum . "
Aber sie rief geringschätzig :
" Ach , das kann ich auch ! " und fuhr fort mit den Sonntagen aus den fünfzig Tagen der Fröhlichkeit :
" Quasimodogeniti , Misericordias domini , Jubilate , Kantate , Rogate , Exaudi . "
Er fühlte sich tief gedrückt ; die sechs Sonntage waren das Feinste , was er ihr zu bieten hatte .
Aber er kehrte jeden Abend zu ihr zurück , und als er ihr mit " Emilia Galotti " und mit der " Entführung aus dem Serail " kam , da hatte er Überwasser , da ging ihr die Luft aus , und sie sah mit Bewunderung zu ihm empor .
Um dieselbe Zeit war es , daß ihn eines Sonntags ein männlicher Spielkamerad einlud , nach dem " Süßen Kringel " mitzukommen .
" Komme mit nach 'm " Süßen Kringel " , sagte er , " da ist Tanzmusik , wir wollen . . . . " , und er schloß den Satz mit einer groben Zote .
Hocherfreut sprang Asmus hinauf zu seiner Mutter .
" Mutter , darf ich mit Ferdinand nach dem " Süßen Kringel " ?
Da ist heute Tanz - " und er hatte die Unflätigkeit seines Spielgenossen so wenig verstanden , daß er sie offenen Angesichts seiner Mutter wiederholen wollte , als diese schon rief :
" Nein , dazu ist es zu spät ; wir wollen gleich Abendbrot essen . "
Wäre er dazu gekommen , jene Worte auszusprechen , so würde Rebekka Semper auf eine tiefe Verdorbenheit ihres Kindes geschlossen haben. XXII. Kapitel .
Wie Asmus in einem alten Korbe das Land der Goldorangen fand und wie seine Seele durch Feuer und Wasser ging .
Wie er in die Politik eingeführt und ein Schlingel wurde .
Der Weg zum " Süßen Kringel " war fast noch schöner als der durchs Holstenloch .
Er führte durch die Moortwiete , von deren beiden Seiten die Büsche so sehnsuchtsvoll einander zustrebten , daß sie oben ihre Arme in einander verschlangen und daß man glauben konnte , man wäre nicht mehr auf der Erde , sondern in einem Laubengange des Himmels , wo die Vögel wieder Vertrauen faßten zu den Menschen , wo man ohne Essen und Trinken leben könne in alle Ewigkeit .
Und sicherlich war auch die Moortwiete der Himmel im Vergleich zur Tabakstube voll Dunst und Staub .
Der gute Asmus ging nun ins zehnte Jahr und wurde immer ernster genommen , das heißt er mußte immer regelmäßiger die graue Leinenschürze vorbinden und sich an den Arbeitstisch setzen .
Sobald er aus der Schule gekommen war und eine Schnitte Brot bekommen hatte , mußte er heran .
Zuweilen gab er sich einen gewaltsamen Ruck und arbeitete wie ein Besessener ; aber es war so viel Arbeit zu tun , daß er doch vor dem Abendessen nicht fertig wurde .
Da entschloß er sich bald , konsequent zu sein und nur noch zu faulenzen .
Er entwickelte die Faulheit zu einer Kunst .
Er betrachtete ein einzelnes Tabaksblatt so lange , als wenn er seine Individualität gegenüber allen anderen Blättern festzustellen hätte ; wenn er die Mittelrippe herauszog , schien er zu studieren , bis zu welchem Grade man die Bewegung der menschlichen Hand wohl verlangsamen könne , und bevor er das nächste Blatt in die Hand nahm , verfolgte er eine langsam vorüberziehende Wolke bis zum gänzlichen Verschwinden oder er repetierte im Stillen Schillers " Kassandra " , oder er führte im Vorübergehen den " Freischütz " auf , oder er dachte daran , wie er sich im Winterschnee verlaufen hatte ( mit dem Hammer in der Hand ! ) und er verlief sich abermals und konnte aus der zauberischen Stille nicht zurückfinden und schrak heftig empor , als man ihn anrief und zur Arbeit ermahnte .
Er erfand sinnreiche Methoden , den unzubereiteten Tabak verschwinden zu lassen , als wäre er erledigt ; er ersann die unerhörtesten Vorwände , um auf einen Augenblick hinausgehen zu dürfen , und wenn er draußen war , riskierte er wohl eine Tracht von Rebeckens Schlägen und entwich aus dem Hause oder er schlich auf den Dachboden , wo der große Korb stand .
Dieser Riesenkorb war eine Welt für sich .
Frau Rebekka hatte die Eigentümlichkeit , sich von keinem Läppchen oder Bändchen trennen zu können , in der im allgemeinen richtigen Erwägung , daß sich in den Kleidern ihrer Kinder sicherlich eines Tages ein Loch finden werde , das man damit verschließen könne .
So enthielt denn dieser Korb ein unentwirrbares Chaos von Lappen und Flicken , Mützen und Schuhen , Hosen ohne Boden und Strümpfen ohne Füße ; er enthielt aber auch noch anderes : alte Jahrgänge von " Über Land und Meer " und " Gartenlaube " , und unvollständige Lieferungen der Werke von Wolfgang v. Goethe , Ladislav Pyrker , Freiherrn von Aussenberg und anderen .
Hier auf dem Boden unter glühenden Dachpfannen begann Asmus Semper die Lektüre der " Wahlverwandtschaften " , ohne sie wesentlich zu fördern ; dagegen nahm er sich vor , bei nächster Gelegenheit die " Farbenlehre " zu lesen , von der er sich viel versprach .
Auf einem angeschmutzten , einsamen Lieferungsbogen fand er einen Kapitelanfang , der also lautete :
" Kennst du das Land , wo die Zitronen blühen ?
Im dunklen Laub die Goldorangen glühn ? - " O , das war ja das wunderbare Lied , das sein Vater vor Jahren einmal gesungen hatte - " In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut ; Es stürzt der Fels und über ihn die Flut " das Lied , bei dem er sofort sein Spiel hatte ruhen lassen , weil er nur horchen konnte , mit starren Augen nur horchen konnte .
Er fragte nicht , welches Land es sei ; es war das neue Land , das beim Klange des Liedes aus der Flut seiner Seele emporstieg , ein ungenanntes , heiliges Land , das er nun entdeckte , das er noch nie in seiner Seele gefunden hatte .
Er hatte viele Bilder gesehen mit Säulenhallen und Lorbeerhainen , mit schroffen Bergen und finsteren Höhlen - aber dies war ein ganz anderes Land ; ein Land , wie es auf der Erde nicht sein konnte .
Er wußte nicht , daß es das Land der Sehnsucht war .
Er las weiter und fand nun , daß Italien gemeint sei .
Italien , dachte er , das liegt im Süden .
Und er schob eine Kiste herzu , stellte sich darauf , kletterte mit Mühe zum schrägen Dachfenster empor und schaute hinaus .
Dort ist Süden , dachte er , und dort ist Italien .
Und er starrte in den südlichen Himmel und dachte :
" Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht , Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht " - -
Da erscholl hinter ihm eine laute Stimme :
" Ist es die Möglichkeit ? " rief Johannes .
" Wir sitzen unten und können nicht weiter arbeiten , weil wir keine Zurichtung haben , und der Faulpelz sitzt hier oben und schnappt Fliegen !
Willst du wohl die Güte haben , Herr Baron , und schleunigst herunterkommen ? "
Und Asmus schlich aus dem Lande der Orangen zurück an seine Marterbank .
Wenn er sich nun hätte überwinden können , zu arbeiten , dann wäre wenigstens die Zeit vergangen .
Aber er konnte sich nicht dazu zwingen , in einer Stunde tausendmal dasselbe zu tun , und so wuchs ihm durch seine Faulheit die Zeit ins Hundertfache und seine Qual ins Tausendfache .
Denn die Qual des Gewissens kam hinzu .
Er sagte sich ganz klar :
Es ist schändlich von dir , daß du deinem Vater nicht hilfst .
Aber arbeiten konnte er deshalb doch nicht .
Und dieser Vater löste oft unvermutet seine Ketten und gab ihn frei .
Es waren ja fette Jahre , Ludwig Semper war leichtsinniger denn je ; seine Blicke gingen oft seitwärts nach dem trübsinnig faulenzenden Sohne , und nicht selten sprach er : " Mache nur , daß du wegkommst " , was dann regelmäßig den melancholisch an einem Tabaksblatte hängenden Asmus in einen Blitz verwandelte , aber auch regelmäßig die entschiedene Mißbilligung Rebeckens fand .
" Was soll aus dem Jungen eigentlich Mal werden ? " fragte sie , " du bestärkst ihn ja noch in seiner Faulheit !
Du willst ja wohl 'n Grafen aus ihm machen ! " worauf dann Ludwig Semper etwa lachte und ausrief :
" Sunt pueri pueri , pueri puerilia tractant ! " und dagegen konnte Rebekka Semper nichts mehr einwenden .
Aber solch ein Freiheitsaufgang war gleichwohl so selten wie ein Sonnendurchbruch in einem Hamburger November .
Da das Geschäft , mit Erlaubnis zu sagen , " glänzend " ging und Ludwig Semper außer seinem Johannes noch zwei Gehilfen anstellen konnte , so mußte viel Arbeit getan werden .
Zeit seines Lebens bewahrte der Gefangene ein dankbares Andenken dem flammenden Befreier , der eines Tages in Gestalt eines grellen Blitzes herniederfuhr und seine Ketten zerschmolz .
Fast unmittelbar folgte dem Blitz ein Schlag , als bräche ein ganzes bretternes Weltgebäude zusammen , und Johannes sprach erbleichend :
" Das hat eingeschlagen ! "
Und als er eine Minute später zum Fenster hinaussah , rief er :
" Feuer , Feuer , ein großes Feuer , bei der Reitbahn muß es sein ! " und dann stürzte er hinaus .
Ihm folgten die anderen Gehilfen .
Asmus aber war allen vorangeeilt .
Langsam und würdevoll schritt nach einer Viertelstunde Ludwig Semper hinterdrein .
Asmus zog die Holzpantoffeln von den Füßen und lief auf den Strümpfen durch die Straßen - wenn er das tat , dann buhlte er an Schnelle mit des Adlers Flug .
Der Blitz war in eine volle , strohgedeckte Scheune gefahren , und das Feuer hatte bereits auf die ebenfalls mit Stroh gedeckten Wohnungs- und Stallgebäude übergegriffen .
Es war das erste Mal , daß Asmus eine Feuersbrunst erlebte .
Er konnte die Augen nicht wegwenden von den Wölfen und Drachen , die in immer größerer Zahl , in immer wilderen Rudeln aus den Höllenkesseln der Brandstätten in den Himmel sprangen , von den Schlangen , die aus den Fenstern hervorzischten , von den langhalsigen roten Geiern , die auf den Firsten entlang hüpften und raublüstern mit den Flügeln schlugen .
Er sah , wie die Flammen an den Balken entlang liefen und dann plötzlich an anderer Stelle emporsprangen , und er dachte : wie Hunde , die sich gierig schlingend an einem Knochen entlangfressen , dann plötzlich sich auf eine fettere Beute stürzen , an der schon andere zerren : nun springen die Neidischen hechelnd gegen einander auf und schnappen einander mit weit klaffenden Mäulern nach den Hälsen , und dann fallen sie wieder wetteifernd herab auf ihren Fraß .
Und unlöslich hingen seine heißen Augen an den heißen Augen der Bestien .
Fast sengte die Glut ihm die Wimpern ; aber er hätte nicht um Haaresbreite weichen mögen .
Sah er doch in den viereckigen Fensterhöhlen ganze Qualm- und Flammenschlachten toben ; rauchgraue Kraken und Lurche rollten und ringelten die dicken Schwänze und schossen vor mit mastigem Ungestüm ; breite , goldene Schwerter fuhren ihnen jach in den Bauch , und rotrauchendes Blut quoll wolkig hervor .
Dann verwirbelte , verknäulte , verbiß und verfilzte sich alles in Glut und Wut , zu einem Weltuntergang in Flammen und Raserei .
Da stürzte eine Mauer ein und juchzend wie trunkene Furien schlugen die Flammen ihre Mantelfetzen dem Mond ins Gesicht , der bleich und zitternd hervorgetreten war .
" Ach " , dachte Asmus , " wenn nun erst die große Giebelmauer einstürzt , dann werden die Flammen noch höher schlagen , ach ja , noch immer höher müssen sie schlagen , immer höher ! " und sein Herz flog mit den Flammen empor .
Aber nach wildem Triumphe wendet sich das Glück - die fallende Mauer hatte einen großen Teil des Feuers erstickt , und nun kam auch die " freiwillige Feuerwehr " und suchte emsig , wo der Wasserposten wäre , an den sie ihren Schlauch anschrauben könne .
Es war eine sehr brave Feuerwehr , und eine Niedertracht des Volkswitzes war es , daß er sie standhaft die " mutwillige Feuerwehr " nannte .
Er behauptete nämlich , die " Mutwilligen " stellten so oft zwecklose Übungen an , nur um regelmäßige Löschübungen in der Kneipe von Peter Ramm Darranschließen zu können , er behauptete , sie stellten die Welt auf den Kopf ; denn nach jeder Löschübung wüte in Oldensund tagelang ein entsetzliches Sodbrennen .
Aber alles das war nur die bekannte Bosheit , mit der die Menschen ohne Amt sich an offiziellen Personen und Einrichtungen schadlos zu halten pflegen .
Freilich wären die Mutwilligen dieses Feuers wohl nicht Herr geworden , wenn der Brennstoff ihnen nicht zu Hilfe gekommen und gänzlich ausgegangen wäre ; aber dafür konnte man sie nicht verantwortlich machen .
Sie rannten wacker nach den verschiedensten Richtungen hin und wieder , ließen laut ihre hallenden Männerstimmen erschallen und behandelten einander in dieser drangvollen Stunde nicht mit unzeitgemäßer Zartheit , und ihnen konnte man es nicht zur Last legen , wenn ihre Spritze einen so dünnen und wehmütigen Strahl gab , daß die unanständigen Vergleiche sich von selbst ergaben .
Es kann nicht Wunder nehmen , daß Asmus von nun an Tag für Tag , wenn er vor dem Tabak saß und ihm die Stunden zu Ewigkeiten ausquollen , gleichwie dem appetitlosen Kranken der Bissen im Munde schwillt , daß er Tag für Tag nach dem Blitz auslugte , der ihn befreien sollte .
Bei jenem Brande war kein Mensch getötet oder verletzt worden , und das machte Asmus ausdrücklich zur Bedingung :
Menschen dürften nicht verbrennen , Vieh auch nicht ; im übrigen aber durfte es alle Tage brennen , und zwar möglichst von vier Uhr nachmittags an , wenn die Schule zu Ende war und die Herrschaft des Nachtschattengewächses begann .
Aber der Blitz ging seine eigenen Wege und fragte nicht nach den Leiden des kleinen Asmus .
Dagegen hieß es eines Tages :
Auf der Hörmanschen Werft weit unten an der Elbe darf man Späne sammeln , so viel man will , und sie nach Hause tragen .
Dergleichen ließ sich die ökonomische Rebekka nicht zweimal sagen :
Asmus und Alfred mußten sich mit Säcken auf den Weg machen , und das wieder einmal befreite Herz des Asmus Semper jauchzte hoch auf .
Und auf diesem Wege hatte er ein Erlebnis , bei dem nicht das Geringste geschah , bei dem es nichts gab als ein stilles Fließen und ein stilles Anschauen , und das doch für alle Zeiten eins seiner größten Erlebnisse war .
Zum ersten Mal in seinem Leben sah er die Elbe .
Mehr denn neun Jahre lebte er auf diesem Erdenfleckchen und hatte die Lieblichkeit seiner Heimat zu Tausendmalen erfahren ; an diesem Tage empfand er zum ersten Mal , daß es ein großes Ding um seine Heimat war .
Zum ersten Mal sah er den Strom , den Deutsche und Nichtdeutsche weniger kennen und besungen haben als den Rhein , weil er nicht so anmutig und heiter bewegt ist wie der Rhein , weil er still und groß ist .
Der Rhein ist des Deutschen offene , harmlose Fröhlichkeit , die Elbe ist seine sinnende , gedankentiefe Schwermut .
Aber der Rhein fließt nur durch die westliche Seite Deutschlands - die Elbe strömt ihm mitten durchs Herz .
Der Rhein in seiner Fülle ist Heiterkeit in Wirbel , Tanz und Sprung ; die Elbe in ihrer Fülle ist Seligkeit in der Ruhe .
Am Rhein klingt Gesang und Gläserklang ; an der Elbe dreht eine Windmühle ihre Flügel ohne Laut , und der Strom trägt wiegende Nachen und lastende Schiffsriesen mit demselben großen Schweigen .
In den Rhein schauen Felsen hinab und verfallene Burgen aus versunkenen Zeiten - an der Elbe rauschen leise die weiten Gärten königlicher Kaufherren , die geruhig lächelten , wenn man sie drinnen im Lande Krämer schalt , deren Muße so groß war wie ihre Geschäfte und deren Parks vor ungezählten Schloß- und Fürstengärten eines voraus haben : schwere , breitbeschwingte Poesie .
Und fährst du die Windungen des Rheines hinab , so öffnen und schließen sich dir Bilder in neckischem Wechsel - die Elbe ist weiter und breiter als ein Auge sehen kann und gegen ihren Ausgang verschwistern sich am Abend Himmel , Land und Strom in einem Glanz .
Und die Elbe atmet .
Lautlos hebt und senkt sich ihre breite Brust , und senkt sie sich , so steigen schweigende Inseln daraus hervor , silberne und grüne Inseln , Inseln der keuschen Seligkeit , auf denen weder Menschen noch Tiere wohnen können und deren silbernes Gras die Sonne vergoldet , und hebt sich die Brust , so versinken sie lautlos , wie sie erschienen .
Und wenn sie versunken sind , so leuchten über ihrem Orte stille Feste des Schauens , die das Beste sind , was dem Menschen gegeben ist und die durch unsere Erinnerung ziehen wie in der Sonne zerfließende Schleier , so daß wir uns fragen :
" Wo war es doch , daß ich einst so glücklich war - wo war es doch ? "
Alfred erklärte seinem Bruder die jenseitigen Ufer : das sei hannoversches Land , dort liege Harburg . und die blauen Höhen da hinten , das sei die Hacke ; in der Hacke gebe es unendlich viel Heidelbeeren , und daher seien die Berge so blau , und dort liege Finkenwärter , und dort Cranz ; aber Asmus hörte keinen Laut von alledem ; er war gar nicht mehr da , er wohnte ja schon auf den silbernen Inseln .
Er sah , er fühlte zum ersten Mal den Lebensstrom seiner Heimat , und als sie gar durch den Hohlweg beim " Halben Mond " an den Strom hinuntergestiegen waren und als Asmus wohl eine Stunde lang im Ufersande gelegen hatte , da hatte er zum ersten Mal an der Mutterbrust der Heimat gelegen und in vollen Zügen einen Trank in sich gesogen , der ihn an ihr Herz bannte in alle Ewigkeit .
Es war richtig : die Kinder durften auf dem Werftplatze ihre Säcke voll Hau- und Hobelspäne stopfen , und wohl ein halbes Dutzend eifriger Sammler war bereits an der Arbeit .
Im Gedränge kam es auch wohl vor , daß einer ein ganzes ansehnliches Balkenstück in seinen Sack verschwinden ließ , was man mit einem technischen Ausdrucke " sich einen Splitter in den Finger jagen " nannte .
Und mancher Arbeiter achtete solch eines Splitters nicht , besonders wenn er selbst einen Balken im Auge hatte .
Schließlich ist ja auch die Grenze zwischen Splitter und Balken außerordentlich flüssig :
wo hört der Splitter auf und wo fängt der Balken an ?
Gleichwohl beschränkte sich Asmus auf zweifellose Splitter ; denn er fand es schändlich , den freundlichen Mann , der die Späne zu sammeln erlaubte , zu bestehlen ; zur Sicherheit aber dachte er noch an etwas anderes .
Er stellte sich vor , daß man ihn erwischte ; er konnte sich dergleichen in vollster Gegenständlichkeit vorstellen , und er hatte das Gefühl , daß er vor Schreck und Schande auf der Stelle tot sein würde .
Und zum dritten war auch die Vorstellung von dem Gefängnis mit den Gitterstäben und den vergifteten Klößen noch nicht ganz in ihm verblaßt .
War es von der Brunnenstraße bis zur Werft mit leeren Säcken eine Stunde Wegs , so waren es mit vollen Säcken und abschiedsschwerem Herzen zwei .
Keuchend und schweißtriefend trabte Asmus unter seiner schweren , mit hundert Ecken und Kanten drückenden Bürde daher ; aber was war das gegen die Lust , die Elbchaussee , die nirgends in der Welt ihresgleichen hat , hinunterzutrappeln und in die birkenverhangenen , welttiefen Gärten zu lauschen , den Hohlweg beim " Halben Mond " hinunter zu schlendern , den eine verschwiegene Brücke überwölbte , über die er niemals eines Menschen oder eines Tieres Füße schreiten sah ; was war es gegen das Glück , an den Augen der Elbe zu hängen ?
Und vor allem : wie federleicht war auch der allerschwerste Sack , wenn man nicht in der Tabakstube zu husten und sich vor Sehnsucht zu winden brauchte !
Es war ein eigentümliches Zusammentreten , daß Asmus genau um dieselbe Zeit , als ihn die Heimat so fest an ihr Herz zog , die erste Bekanntschaft mit der roten Internationalen machte .
Hinter dem Semperschen Hause , in einer Hofwohnung , hauste nämlich der Minutenschuster .
Wenn man diesem ein Paar Stiefel zum Ausbessern brachte , dann sagte er stets , ob man nun schnelle Fertigstellung verlangte oder nicht , mit treuherziger Heftigkeit :
" In de Minute , in de Minute ! " und daher nannte man ihn den Minutenschuster , im Gegensatze zum " Ewigkeitstischler " , der fast für ganz Oldensund den Bedarf an Särgen deckte .
Aber während der Ewigkeitstischler stets rechtzeitig lieferte , hatte der Minutenschuster die Eigenschaft , mit den Stiefeln , die man abholen wollte , noch lange nicht fertig zu sein .
So mußte denn auch Asmus zuweilen warten , wenn er ein Paar Stiefel abzuholen hatte , und bei solcher Gelegenheit geschah es wiederholt , daß er die Schustersfrau , eine grobknochige , gefahrdrohende Person , aus dem " Sozialdemokrat " vorlesen hörte .
Sie las von " Organisation " und " Resolution " , von der Feigheit der " Buhrghoasie " und vom " Stricken der Maurer " , und wenn sie an besonders wuchtige und kraftvolle Stellen kam , dann schien ihr der Schaum vor dem Munde zu stehen .
Die Frau war dem Knaben in der Seele zuwider ; aber wie er nach allem Geistigen schnappte , wo es sich ihm bot , so horchte er hier mit beiden Ohren , und war bald überzeugt , daß den Leuten , die da schrieben , bitteres Unrecht geschehen sein müsse und daß die , die sie anklagten , ausbündig schlechte Menschen sein müßten .
Wenn gar einer ins Gefängnis hatte wandern müssen , dann bäumte das Herz des kleinen Semper empor , und er hätte weinen mögen , daß solch eine Schändlichkeit ungestraft begangen werden durfte .
Neben dem Schuster wohnte im Hinterhause ein langer , magerer Mann , ein Schreiber , wie es hieß , der eine ewig bettlägerige Frau hatte .
So kam es , daß man ihn nicht selten mit einem Henkelkorbe über dem Arm und einem Milchtopf in der Hand über die Straße gehen sah , um die Gänge zu besorgen , die sonst den Frauen zufallen .
Da der melancholisch dreinblickende Mann überdies bei solchen Verrichtungen einen in der Taille eng anschließenden Rock mit langen Schößen und einen kerzengeraden Zylinder trug , so war mehr als nötig vorhanden , um das Interesse der Straßenjugend wachzurufen .
Er hieß Bunger , und ein dicker , ungewaschener Witzbold verfiel eines Tages auf den superben Reim : " Herr Bunger , Haben Sie Hunger ? "
Von nun an konnte der Mann sich nicht sehen lassen , ohne daß ihn ein wüster Chorus mit dieser Frage verfolgte , und da der Mann leider Temperament besaß , so beging er den Fehler , sich umzudrehen und den Buben Vorhaltungen zu machen , ja , da die Verfolgungen nun erst recht zunahmen , so verstand er sich dazu , den größten Quälgeistern Geld zu geben , damit sie ihn doch in Ruhe ließen .
Die Folge war , daß sie nun , nach weiterem Gelde lüstern , nicht mehr von ihm abließen ; denn es gibt nichts Grausameres als eine kompakte Maße von Kindern .
Selbst Asmus Semper rief an einem Tage , da ihn offenbar der Hafer stach , dem vor ihm auftauchenden Manne nach :
" Herr Bunger , Haben Sie Hunger ? "
Da wandte Herr Bunger sich langsam um , machte große , traurige Augen und schüttelte tadelnd langsam den Kopf .
Dann ging er seinen Weg weiter .
Asmus Semper war über und über rot geworden ; der Anblick des Mannes hatte ihn bis ins Herz erschreckt ; er schwieg mäuschenstill .
Er rief niemals wieder , und er sollte noch bitter bereuen , daß er es überhaupt getan hatte. XXIII. Kapitel .
Vom Imperator Rosig und seiner Leibwache , von Prügeln , Gesangbuch und Katechismus als den drei Hauptstücken der Erziehung .
Denn um die Osterzeit schon war Asmus Semper natürlich in die mittlere Klasse der dreistufigen Dorfschule aufgerückt .
Und hier herrschte nun ein ganz anderes Leben als in der sturmbewegten Klasse des Herrn Schulz .
In der Klasse des bejahrten Herrn Rosig , der aussah wie ein alter , in Falten gelegter Landpastor , herrschte das Leben eines verschlafen fortschleichenden Rinnsals , das in der meisten Zeit des Jahres überhaupt kein Wasser hat ; man könnte auch sagen : das Leben eines abgestorbenen Baumes , der nur noch einen einzigen lebendigen Ast trägt .
Dieser eine grüne Ast war des Herrn Rösings Schreibekunst .
Schön schreiben , das war das einzige , was er verstand , und er machte denn auch seinen Schülern klar , daß dies das Eine sei , welches nottue .
" Jungen " , sagte er an jedem Morgen und an jedem Nachmittage , " Jungen , schafft Euch eine schöne Handschrift an !
Eine schöne Schrift geht weg wie warme Semmeln ; wer schön schreibt , der braucht gar nicht so klug zu sein :
er findet überall offene Türen . "
So gab denn Herr Rosig , wenn er eigentlich in den Wissenschaften unterrichten sollte , unentwegten Schreibunterricht , den er auch schon um deswillen bevorzugte , weil er bei diesem Unterricht seine schöne Meerschaumpfeife nicht ausgehen zu lassen brauchte .
Zu den Wissenschaften hatte Herr Rosig überhaupt zeitlebens kein herzliches Verhältnis gewinnen können .
Seine Rechenkunst zum Beispiel schloß ab mit der Regeldetri , und während der zwei Jahre , die Asmus zu den Füßen dieses Mannes saß , begann jede Rechenstunde damit , daß er einige Regeldetriaufgaben an die Wandtafel schrieb und hierauf seine Pfeife anbrannte .
Nach einer in der Klasse gehenden Tradition mußte man das zweite Glied mit dem dritten multiplizieren und das Ergebnis durch das erste Glied dividieren .
Einer sagte es dem anderen , und wer es trotzdem nicht begriff , der schrieb von seinem Nachbar ab .
Asmus wollte eines Tages von Herrn Rosig wissen , warum man multiplizieren und dividieren müsse .
Herr Rosig war unangenehm überrascht und rief : " Junge , das ist doch ganz klar ; das macht man immer so " .
Und Asmus setzte sich wieder mit einem gänzlich unaufgeklärten Gesichte .
Nun gibt es aber eine boshafte Art der Regeldetri : das ist die mit den umgekehrten Verhältnissen .
Man rechnet ganz treuherzig darauf los und bekommt heraus , daß zehn Mann an einem Fass Bier viel länger trinken als ein Mann , wie in einem Märchen .
Diese Aufgaben richtig rechnen konnte in der ganzen Klasse nur einer : der große und starke Sohn des Ewigkeitstischlers , und der hatte es von seinem Vater gelernt .
Herr Rosig rückte mit dem Geheimnis nicht heraus , und als Asmus ihn fragte , woran man solche Aufgaben eigentlich erkennen könne , da lächelte er verschmitzt und sagte mit einer gewissen Schadenfreude :
" Ja , denke nur Mal nach ; du bist ja sonst immer so schlau ! "
Wenn er auch noch dieses , sein letztes Geheimnis preisgegeben hätte , so wäre es mit seinem geistigen Vorsprung vorbei gewesen , und darum hütete er sich wohl .
Asmussen aber ließen die umgekehrten Verhältnisse keine Ruhe ; er wandte sich an den Tischlerssohn , und dieser war uneigennützig genug , ihm das verschleierte Bild zu enthüllen .
Für diese Hilfe zeigte sich Asmus dem Tischlerssohn erkenntlich in der Grammatik .
Auf den ganz vereinzelt auftretenden grammatischen Unterricht des Herrn Rosig reagierten zwei Knaben : Asmus Semper und der neben ihm sitzende Friedrich Heilmann ; die übrigen 60 oder 70 Schüler verzichteten in der Regel .
Das kam daher , daß Herr Rosig sich über grammatische Dinge , wenn er sie notgedrungen einmal berührte , in sehr mystischer Weise aussprach , so mystisch , daß er gewöhnlich überrascht war , wenn Friedrich und Asmus verstanden hatten , was ihm selbst nicht klar geworden .
Und wenn sie mit tödlicher Sicherheit erklärten , das sei ein Objekt und das sei ein Attribut , und er aus seinem Buche ersah , daß sie ganz recht hatten , dann konnte er nicht umhin , mit ehrlicher Bewunderung auszurufen :
" Du bist'n Baas ! " oder " Ihr seid zwei Hauptkerls ! "
Für gewöhnlich bestand der deutsche Unterricht des Herrn Rosig darin , daß er rauchte und dabei aus einem Buche diktierte .
In der Linken das Buch und die Pfeife , in der Rechten einen langen , dicken , wundervoll neuen Rohrstock , ging er dann zwischen den Bänken entlang , und wo er einen empörenden Fehler entdeckte , da schlang sich der lange Rohrstock mit schmiegsamer Inbrunst um den Leib des Sünders .
Asmus hatte ein fast unfehlbares Augengedächtnis : ein Wort , das er einmal gesehen hatte , schrieb er niemals wieder falsch , und da er viel gelesen hatte , war ihm jedes Diktat ein Spiel .
Er war der Einzige , der sogar das Wort " Vieh " buchstabieren konnte , er mußte dieses Kunststück öfters in der Klasse vormachen , und jedesmal , wenn es unter atemloser Spannung der Versammlung gelungen war wie ein Todessprung am Trapez , dann rief Herr Rosig :
" Du bist'n Baas ! "
Dafür blühte ihm das gelbe Rohr seines Lehrers bei anderen Gelegenheiten .
Herr Rosig kam nämlich in eifrigen Stunden auf die kühne Idee , seinen Schülern Hausarbeit aufzugeben , z. B. die Arbeit , Krummachers " Rotkehlchen " so schön wie möglich abzuschreiben .
Asmus war sich nun stets im Unklaren darüber , was entsetzlicher sei , Tabakstreifen oder Abschreiben ; es verging deshalb vom Herbeiholen des Tintenfasses bis zur Vollendung des ersten Satzes schlecht gerechnet eine halbe Stunde .
Während er nämlich den ersten Satz hinmalte :
" Ein Rotkehlchen kam in der Strenge des Winters an das Fenster eines frommen Landmannes " fiel Traum so schwer und weich auf ihn herab , wie schwerer , großflockiger Schnee senkrecht und still herabfällt an lauen Wintertagen .
Solch ein Dichter war der altmodische Herr Krummacher , daß der kleine Knabe mitten im Sommer in einer Sekunde vollständig eingeschneit war und ein Fensterchen sah , das dicker Schnee umrahmte , und vor dem Fenster ein Vöglein , dessen Füßchen tief in den Schnee versanken , und hinter dem Fenster liebe , runde , deutsche Gesichter , deren warmer Hauch die Scheiben trübte .
In späteren Jahren entdeckte Asmus , daß ein Mann mit Namen Ludwig Richter gerade solche Bilder gezeichnet habe , wie er sie tausendfach in Feld und Kammer , in Sommerklang und Winterschweigen gesehen und geträumt hatte .
Wenn er dann noch einen halben Satz geschrieben hatte , dann hatte er gründlich genug von der Sache ; mit einer urplötzlichen Munterkeit klappte er jäh das Heft zusammen ( ohne ein Löschblatt dazwischen zu legen ! ) , trommelte mit beiden Fäusten einen kleinen Wirbel darauf und entwich ins Freie .
Herr Rosig erkundigte sich nur selten danach , ob seinem Befehle gehorsamt wäre ; wenn er aber zufällig bemerkte , wie Asmus seine Pflicht und sein Schreibheft behandelt hatte , dann sauste die Pädagogik des Herrn Rosig auf den Rücken des Sünders herab , und dann war die Sache für immer abgetan .
Der Schmerz währte höchstens drei Minuten ; die Arbeit wäre eine zweistündige Qual gewesen - der Vorteil lag also auf der Hand .
Unter den Leiden , die die zwei Jahre bei Herrn Rosig dem Knaben brachten , waren überhaupt die Stockschläge das allergeringste .
Schlimmer waren die Lesestunden .
Es wurden nur Choräle gelesen ; wenn die reichlich 900 Choräle des Gesangbuches zu Ende waren , so fing es bei Nr. 1 wieder an , und nie verstand oder empfand ein einziger Schüler ein einziges dieser Lieder .
Die Anleitung des Lehrers bestand darin , daß er , wenn ein Schüler genug gelesen hatte , die Pfeife aus dem Munde nahm und " Weiter ! " sagte .
In diesen zwei Jahren bildete sich im Herzen des kleinen Semper über der religiösen Dichtung eine Geröllhalde , und es mußte ein Wunder geschehen , wenn jemals eine Pflanze dieses Gestein durchdringen und die Augen wieder ans Licht heben sollte .
Und schlimmer noch war der Katechismus Doktor Martini Luthers ; denn den mußte man so lange auswendig lernen , daß man sich im Schlafe vor ihm ängstigte .
Herr Rosig stach mit dem Finger irgendwo in die Klasse hinein wie mit einem Uhrschlüssel in ein Uhrwerk , und siehe da , das Räderwerk schnurrte :
" Wie kann Wasser solche große Dinge tun ?
Wasser tut es freilich nicht , sondern das Wort Gottes , so mit und bei dem Wasser ist , und der Glaube , so solchem Worte Gottes im Wasser trauet ; denn ohne Gottes Wort ist das Wasser schlecht Wasser und keine Taufe ; aber mit dem Worte Gottes ist es eine Taufe , das ist ein gnadenreiches Wasser des Lebens und ein Bad der neuen Geburt im heiligen Geiste ; wie St. Paulus sagt zu Tito im dritten Kapitel :
Gott macht uns selig durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des heiligen Geistes , welches er ausgegossen hat über uns reichlich durch Jesus Christus , unseren Heiland , auf daß wir durch desselben Gnade gerecht und Erben seien des ewigen Lebens nach der Hoffnung .
Das ist gewißlich wahr . " und wenn man Asmus zehn Schillerstangen und zwanzig Bücher und dreißig Äpfel und ein neues Theater und eine Geige und ewige Befreiung vom Tabakstreifen geboten hätte mit der Bedingung , er solle ungefähr sagen , was mit jenen Worten gemeint sei , er hätte nichts zu sagen vermocht .
So hatte denn die religiöse Erziehung keinen grimmigeren Feind als diesen Unterricht , und an diesem Unterrichte trug noch der gute Herr Rosig bei weitem die kleinste Schuld .
Das Elternhaus stand allen religiösen Dingen mit vollkommener Indifferenz gegenüber , höchstens , daß Rebekka Semper gelegentlich ein kraftvolles Wort gegen die " Pfaffen " erschallen ließ .
Für Asmus bedeutete nach alledem das Wort Religion , so lange er daheim war , etwas durchaus Gleichgültiges , so lange er in der Schule saß , eine überwältigende Anhäufung geistiger Qual .
Aber auch dieser Unterricht war immer noch nicht sein schwerstes Leiden .
Sein schwerstes Leiden war , daß er anders war als die Anderen .
Wenn in der Klasse des Herrn Schulz , des herrlichen , schwärmerisch verehrten Herrn Schulz fast ebensoviel Versetzung wie Unterricht gewesen war , so versetzte Herr Rosig überhaupt nicht .
Gleichwohl gab es in seiner Klasse eine Rangordnung , aber eine ein für allemal geheiligte .
Auf den obersten Plätzen saßen nämlich die Schüler , die er fürchtete oder deren Väter oder Mütter ihm bedrohlich waren .
Es war vorgekommen , daß ein großschlächtiger Bursche , den er hatte schlagen wollen , ihm den Stock entriß und mit ihm handgemein wurde , und von diesem Tage an behandelte er alle Zöglinge dieser Art mit Ehrfurcht und Liebe .
So füllten denn die ersten Bänke lauter prächtige Kerle mit entschlossenen Gesichtern , und es waren ihrer nicht wenige , weil die Jugend des Ortes damals körperlich stärker entwickelt war als geistig .
Diese Strelitzen oder Prätorianer würden jede Versetzung mit einer Palastrevolution beantwortet haben .
Nur der begabte Sohn des Ewigkeitstischlers saß trotz seiner Stärke und Ausdehnung mitten in der Klasse , weil er durchaus friedlich und braven Gemütes war .
Der Primus der Klasse dagegen war ein werdender Stier an Kraft und Intelligenz ; er hieß Klaus Rampuhn und sah schon bei seinen dreizehn Jahren um Mund und Augen ganz danach aus , daß er um einen Sechsling einen Menschen erschlagen könne .
Da Herr Rosig an diese Leibgarde niemals irgendwelche Anforderungen stellte und ihnen sogar den Katechismus erließ , so behandelten sie auch ihn mit einer gewissen Duldung .
Sie nahmen ihn überhaupt nicht ernst ; wenn er ihnen den Rücken zuwandte , hefteten sie kleine Papierdrachen an seine Rockknöpfe oder sie zogen ihm das geblümte Taschentuch heraus und wischten ihre Federn darin ab , so daß er nachher mit einer schwarzen Nase herumging ; aber im ganzen behandelten sie ihn wohlwollend , zumal in dringendsten Fällen der Oberlehrer Herr Cremer hinter ihm stand , der nach körperlichen Vorzügen nicht fragte .
Dagegen übten die Strelitzen gegen ihre schwächeren Mitschüler alle Rechte einer absoluten Herrschaft aus , und Klaus Rampuhn besonders zeigte schon bald ein unheimliches Interesse für den noch immer klein gebliebenen Asmus Semper. XXIV. Kapitel .
Die Rache der Prätorianer und der Verrat des Brutus .
Die " immanente Gerechtigkeit der Dinge " ist so groß , daß die dummen Menschen , selbst wenn sie im Besitz der höchsten Ehrenstellen sind und sie gar nicht verlieren können , sich dennoch über die größere Gescheitheit der niedriger Stehenden schmählich ärgern .
Es liegt ihnen zwar nichts daran , gescheit zu sein ; aber die anderen sollen es auch nicht sein .
Die Prätorianer studierten durchweg schon mehrere Jahre unter Herrn Rosig , und sie hatten der ganzen Klasse jenen Seelenfrieden mitgeteilt , der sich unter solch einem Lehrer bald genug über die ganze Schülerschar verbreitet .
Nun waren da Gäste eingezogen , die schienen Neuerungen einführen zu wollen ; die Gewächse des Herrn Schulz schossen aus den Bänken heraus und riefen :
" Ich weiß es , Herr Lehrer , ich weiß es ! " und besonders Heilmann und Semper waren von solch infamer Lebendigkeit , daß ein noch so narkotischer Unterricht sie nicht gänzlich einzuschläfern vermochte .
Alle Augenblicke hieß es :
" Du bist'n Baas " und " Du bist'n Hauptkerl " , und das paßte Klaus Rampuhn einfach nicht mehr .
Er machte die Leibgarde mobil , und man begann mit einem Geplänkel aus der Entfernung .
Wenn die beiden Lebendigen sich zeigten , hieß es :
" Kuck , da sind die Baase !
Hallo , da sind die Hauptkerls ! "
Friedrich Heilmann aber war ein Diplomat ; er machte gute Miene zum bösen Spiel , ging sofort zur Leibgarde über und schloß mit ihr Freundschaft .
Das hätte nun Asmus auf den Tod nicht können !
Es war ihm eine Lust , sich necken und hänseln zu lassen ; aber sobald er Feindseligkeit spürte , gefror seine ganze Außenseite im Nun !
Dieser lumpige kleine Pfeifendreherjunge war überhaupt noch obendrein stolz !
Er hatte Klaus Rampuhn wiederholt den Gehorsam verweigert !
Überhaupt : Asmus Semper und Klaus Rampuhn !
Es waren so zwei Menschen , die beim ersten Begegnen blitzschnell und blitzhell empfinden , daß eine ewige Kluft zwischen ihnen befestigt ist .
Aber noch immer brannte der Kampf nur mit glimmendem Feuer .
Eine große Menge Brennstoff lag auf der Glut ; aber sie fand keine Luft , keinen Ausweg nach oben .
Da endlich brachte eine Pelzmütze die überreichlich entwickelten Gase zur Explosion .
Marianne Semper hatte von ihrer Herrschaft eine abgelegte , sehr schöne und sehr hohe Pelzmütze geschenkt bekommen und sie an ihren Bruder weitergegeben .
Asmus strahlte vor Glück , und weil sie so schön war und weil er sonst keine tragbare Mütze besaß , ging er an einem wunderschönen Junimorgen mit seiner Pelzmütze zur Schule .
Da bekam das Feuer Luft .
Ein brausendes Hurra begrüßte ihn , als man seiner ansichtig wurde .
Man fragte ihn , ob er bange sei , daß er sich den Kopf erkälte , und weil sie so hoch war , fragte man , ob er eine Etage zu vermieten habe .
Darüber mußte auch Asmus lachen ; aber er war doch froh , als der Unterricht begann und die Sache ein Ende hatte .
Indessen : er hatte die Pause nicht bedacht .
Auf dem Spielplatze bildete sich ein großer Kreis um ihn , und als er auf ihre Neckereien nur dadurch erwiderte , daß er schweigend sein Brot verzehrte , da nahm ihm Klaus Rampuhn die Mütze hinterrücks vom Kopfe und ließ sie von Hand zu Hand gehen .
Asmus protestierte energisch und verlangte seine Mütze zurück ; aber da wurde die Sache erst amüsant ; denn nun begann die Mütze zu fliegen .
Hoch über den Köpfen flog sie dahin und wurde nun eine Angelegenheit der ganzen Schule .
Sie fiel in den Schmutz und der Nächststehende schleuderte sie mit dem Fuße wieder in die Höhe ; so flog sie hin und her über den ganzen , weiten Schulhof , bald hierhin , bald dorthin , und Asmus lief atemlos hinterher , um sein köstliches Staatsstück wiederzuerlangen .
Aber je mehr er lief und langte , desto wilder wurde die Jagd , bis er verzweifelnd stehen blieb und Tränen über seine Wangen rollten .
Da endlich griff einer die Mütze auf und stülpte sie ihm mit allem Staub und Schmutz über beide Ohren .
Er nahm sie ab , und als er sah , wie das einzige schöne Kleidungsstück , das er besaß , zugerichtet war , da brach er in lautes Schluchzen aus .
Am nächsten Tage nahm er die Mütze schon zwanzig Schritte vor der Schule ab und stopfte sie in seine Tasche , und auf den Schulhof ging er mit bloßem Kopfe .
Aber das sollte ihm nichts helfen .
Ein Findiger hatte den Aufenthalt des amüsanten Objektes bald erspäht ; er entriß es heimlich seinem Besitzer , und nun begann das Fange und Fußballspiel von neuem .
Mit bebendem Herzen und geballten Fäusten sah Asmus zu ; als jedoch einer die Mütze mit Ekel von sich stieß und rief , man könne nicht wissen , ob sie nicht " lebendig " wäre , da bezwang sich Asmus nicht länger :
er stürzte auf den Beleidiger zu .
Aber ehe er ihn erreichte , warf ihm jemand eine Handvoll Sand in die Augen , daß er laut aufschrie und mit beiden Händen nach den Augen fuhr .
Hätte er sich klagend an den Lehrer gewandt , so würde er seine Lage nur verschlimmert haben .
Der Korpsgeist belegte mit Acht und Bann jeden , der einen Mitschüler beim Lehrer verklagte .
Er suchte sich anders zu helfen :
er ging ohne Mütze zur Schule . auch bei Regen und Wind .
Aber er sollte sogleich inne werden , daß nicht die Mütze , sondern er selbst der Gegenstand des allgemeinen Interesses war .
Dergleichen Gemeinschaften in Schulen und Kasernen suchen ein Opfer , an dem sie sich vergnügen können , und wehe dem , der auffällt , wehe dem , der dann durch eine unzeitgemäße Mütze die Furien entfesselt ; sie lassen nicht wieder ab von ihm .
Freilich , in einem Falle wäre die Frage sofort gelöst gewesen :
wenn er ein Riesenkerl gewesen wäre mit derben Fäusten .
Aber er war klein und hatte nur ein Paar unbedeutende Ärmchen ; so flutete alle Grausamkeit der Jugend auf ihn zusammen .
Sie ließen sich mit Willen auf ihn stoßen , daß er fiel , und wenn er sich aufraffte , riefen sie entrüstet , das habe der andere getan ; sie rissen ihn an den Haaren und stachen ihn mit Stahlfedern , und wenn er sich umsah , machten sie unschuldige Gesichter ; sie rezensierten schonungslos seinen dürftigen Anzug ; sie glossierten die Antworten , die er in der Stunde gegeben hatte , und nannten ihn einen furchtbar dummen Kerl ; sie schlugen ihm , wenn er aß , scheinbar unversehens das Brot aus der Hand , oder sie warfen ihm Sand oder Erde darauf .
Und seltsam : die in der Klasse die schläfrigsten waren , sie waren hier die lebhaftesten , lautesten und erfinderischsten .
Und bei alledem war das Peinvollste , daß er keinen harmlosen und unbefangenen Augenblick mehr verbrachte , daß er sich , sobald der Lehrer den Rücken wandte , als Mittelpunkt einer nicht ablassenden Aufmerksamkeit fühlte .
Er versuchte es mit hundert Mitteln , dieser Qual zu entweichen .
Wenn Herr Rosig ihn wieder einmal einen " Baas " genannt oder ihn sonstwie gelobt hatte , dann war es in der nächsten Pause besonders schlimm .
Er nahm sich vor , in der Stunde gar nicht mehr zu antworten und sich dumm zu stellen .
Aber das gewann er nicht über sich .
Wenn sein Interesse geweckt war , ging es mit ihm durch .
Er dachte sich :
Wenn ich sie bitte , sie möchten mich doch jetzt in Frieden lassen , und mich durch Gefälligkeiten mit ihnen anfreunde , dann wird es aufhören .
Aber wenn er das nur dachte , dann ballten sich schon seine Fäuste und preßten sich seine Zähne aufeinander .
Er hätte sich lieber die Zunge abgebissen .
Zu Hause verriet er keinen Hauch von seinem Kummer .
Es war das Sempersche Schweigen , was ihm die Lippen schloß .
Sie konnten ja doch nicht verstehen , wie das alles gekommen war , wie das wehtat ; er konnte es auch gar nicht so beschreiben , wie es war .
Und wenn er zehn Minuten im Bereiche des Hausfriedens geatmet hatte , dann fiel auch die ganze Schule von ihm ab , und die leichtsinnige Phantastennatur Ludwig Semper gewann in ihm die Oberhand .
Dann wandelte er wieder an jenseitigen Gestaden .
Dann schwang er sich wieder singend den Spänesack über die Schulter und trabte hinab , seiner großen , weichumfangenden Mutter Elbe ans Herz .
Und wenn er ferne Segel ziehen sah , dann dachte er , wie merkwürdig es sei , daß er früher zuweilen glücklich gewesen war , ohne daß irgend etwas geschehen wäre !
Um die und die Zeit - an irgend einem Tage - gleich nach Mittag - in einem völlig leeren , ereignislosen Augenblicke - da war ein wunderbarer Glückshauch durch sein Herz gezogen , er wußte nicht , warum - er hatte nichts verlangt , und es hatte sich nichts erfüllt .
Und er genoß im Nachglanz noch einmal diese geheimnisvollen Feste der Seele , die nach einer höheren , unbekannten Ordnung kommen und entschwinden .
Wenn er dann aber am nächsten Morgen zu einem Schultage erwachte , dann war es , als wenn eine wüsste Faust ihm jäh ans Herz fuhr und es mit rohen Fingern zusammenkniff .
Er ging auf Umwegen zur Schule , um niemandem zu begegnen , und er wartete den äußersten Augenblick ab , um unmittelbar vor dem Lehrer in die Klasse zu treten .
Am Schlusse der Schule wartete er , bis alle gegangen waren , um allein zu gehen ; aber sie hatten Zeit , sie lauerten ihm draußen auf und geleiteten ihn .
Da versuchte er , als erster hinauszukommen und rasch zu entweichen ; aber sie stürmten hinterdrein und liefen schneller als er mit seinen Holzpantoffeln .
Er schützte Erkältung vor , um während der Pause im Zimmer bleiben zu können ; aber die Strelitzen erklärten Herrn Rosig , Semper sei gar nicht erkältet , er wolle nur im Zimmer hocken ; da jagte ihn Herr Rosig hinaus .
Und wenn er drinnen blieb , so kamen sie wieder herein und quälten ihn zwischen vier Wänden , das war noch schlimmer als unter freiem Himmel .
Wenn er so nach einem Ausweg suchte und seine Seele hin- und herflatterte wie ein geängstigter Vogel , dann mußte er immer zu sich selber sagen :
" Du bist feige - du bist feige - " und dies Gefühl machte ihn sterbenselend .
Endlich beschloß er , ein Ende zu machen , und klagte Herrn Rosig sein Leid .
Der hörte ihn kaum an , nahm die Pfeife aus dem Munde und sagte : " Ach was , ihr müßt euch vertragen .
Du wirst wohl auch Schuld haben .
Du bist 'n Krakeeler ! "
Asmus war , als habe er einen Stoß vor die Brust bekommen .
Er sollte krakeelen ?
Gegen Klaus Rampuhn ?
Und gegen die anderen zwanzig Athleten ?
Eine wilde , bittere Flut brauste in ihm auf und überquoll sein Herz ; ein Gefühl , das er bis dahin nicht gekannt , vergiftete ihn , das Gefühl von einer großen Ungerechtigkeit .
Wenn ihm seine Mutter einmal Unrecht tat , so wußte er trotz alledem , daß sie ihn liebe ; aber dieser Mann war ein Richter ; bei ihm mußte man Recht finden , und er urteilte so !
Sekundenlang bäumte ein unnatürlicher Haß gegen seinen Lehrer in ihm auf .
Asmus Semper war zum ersten Male in seinem Leben tief und schwer an der empfindlichsten Stelle getroffen worden .
Die Folge seiner Anklage waren erneute , gesteigerte Quälereien .
Er wurde nun obendrein als " Angeber " , als " Klatschmaul " und " Verräter " verhöhnt .
Und noch ein bittererer Schmerz stand ihm bevor .
Friedrich Heilmann , sein Mitbaas und Vertrauter , ging offen zur Übermacht der Feinde über .
Eines Morgens sah er ihn höhnend und lachend in den Reihen seiner Peiniger .
Das begriff Asmus anfangs gar nicht .
Er wollte es gar nicht glauben ; aber als er den Treulosen auf dem Heimwege zur Rede stellen wollte , da lief dieser eilends davon , als wäre sein Gewissen eine Dampfmaschine geworden .
Noch lange nachher , als Asmus bei Shakespeare las , wie der stürzende Cäsar rief :
" Auch du , Brutus ? " und mit der Toga sein Angesicht verhüllte , mußte er denken :
" Friedrich Heilmann " , und er verstand es bis auf den Grund des Herzens , als Mark Anton dann sprach :
" Kein Stich von allen schmerzt ihn so wie der ! "
Ja , einmal sah er , wie Heilmann und mehrere Strelitzen die Köpfe zusammensteckten , wie Heilmann sprach und die anderen begierig horchten .
Irgend etwas schien von Mund zu Mund zu gehen , und dann mit einem Male klang es rings um ihn von zwanzig , dreißig johlenden Kehlen :
" Trudel , Trudel , Trudel , hohoooo Trudel , Hurra Trudel , Trudel , was macht Fidelio ?
Trudel , sing Mal was aus 'm Troubadur , hoooooooo . . . Trudel , Trudel , Trudel , Trudel . . . .. "
Asmus war bis in die Lippen hinein erblichen .
Ahnungslos hatte er seinem Freunde Heilmann anvertraut , wie sie ihn im Hause nannten , und mit glücklichem Stolz hatte er von seinem Vater erzählt , was der alles könne , wie schön er singen könne , aus " Fidelio " und aus dem " Troubadour " und aus allen Opern , und wie fein er vorlesen könne . . . . Das alles hatte Heilmann jetzt den Feinden verraten !
Wie schrecklich anders klang sein Neckname aus diesen Kehlen !
Ein Kosename war es daheim , ein wilder Schimpf war es hier ; wenn die Seinen ihn so riefen , war es ein Wangenstreicheln ; hier schlug es ihm wie eine Stachelpeitsche ins Gesicht und übers Herz ; die Zärtlichkeit hatte diesen Namen gefunden , und die Grausamkeit sprach dieselben Laute mit einem Klange , daß sie wie eine Höllenmusik von Roheit , Neid , Haß , Übermut und Schadenfreude klangen .
Wie hatte er sich gefreut und wie hatte er gelacht , als sein Brüder ihn zum ersten Male " Trudel " nannte , und nun sollte ihm dieser Name für seine ganze Schulzeit anhaften wie ein Brandmal .
Ein Mensch mit einem Spottnamen ist nicht mehr ein Mensch ; er schleppt ein doppelgängerisches Gespenst auf dem Rücken mit sich , und der Haß oder die Lieblosigkeit hält sich , wenn es ihr gefällt , an das Gespenst und achtet des Menschen nicht .
Er nahm sich zum hundertsten Male vor , ihr Gejohle mit Stillschweigen zu übergehen ; aber das half ihm nicht das Mindeste .
Das ärgerte sie und reizte sie nur noch mehr .
Sie wußten , daß seine Geduld nicht unendlich war , und sie waren immer entschlossen , es so weit zu treiben , daß er tobte und weinte .
Schon am nächsten Tage reizten sie ihn durch das neue Peinigungsmittel so weit , daß er alles um sich her vergaß und den Kampf aufnahm mit Klaus Rampuhn .
Im Wirbel der Wut , mit geballten Fäusten sprang er auf den Schlagetot los , und er flog mehr als er sprang ; der aber stieß ihm nur kaltlächelnd die Faust entgegen , und der kleine Semper lag rücklings am Boden , und das Blut floß ihm aus Mund und Nase .
XXV. Kapitel .
Wie Asmus betete und wie ihm eine Königin erschien .
Wie er von der Leiter fiel und dabei ein Dichter wurde .
Als er an diesem Tage nach Hause kam , ging er leise ins Schlafzimmer und machte die Tür behutsam hinter sich zu .
Er hatte noch nie gebetet ; in seinem Hause betete man nicht ; in der Schule geschah es nur hin und wieder , und dann tat es Herr Rosig .
Er faltete fest die Hände ineinander und sprach :
" Lieber Gott , laß sie mich doch nicht mehr so schrecklich quälen !
Ich kann es nicht mehr aushalten .
Ich will auch ganz gewiß immer gut und fleißig sein .
Mache doch , daß sie mich nicht mehr quälen , oder sonst mache mich lieber tot ; ich kann es nicht mehr aushalten .
Ich habe ihnen doch nie etwas getan !
Warum sind sie denn immer so schlecht gegen mich ?
Ich habe ganz gewiß nicht angefangen . . . . "
Da brach er plötzlich ab und starrte vor sich hin .
Er sah plötzlich Herrn Bunger , wie er ihm nachgerufen hatte : " Herr Bunger , Haben Sie Hunger ? " und wie der Verhöhnte sich nach ihm umdrehte , wie er so langsam den Kopf schüttelte und so große , traurige Augen dabei machte .
Und Asmus schlich leise von Gott hinaus und machte die Tür zu .
Er fühlte sich unendlich elend .
Er empfand die furchtbare Gerechtigkeit des Schicksals , wenn er sie auch nicht in einem Gedanken fassen konnte .
Das Schicksal hält sich meistens nicht an unsere Schuld ; es straft uns , wo wir unschuldig sind , ja , wo wir Gutes getan , und fügt so zur Strafe die Schrecken der Verwirrung .
Aber in das Dunkel dieser Tage sollte doch ein mildes Licht fallen , ein mildes und seltsam starkes Licht .
An einem schulfreien Morgen breitete sich plötzlich vor seinem Geiste mit einem unnennbaren Dufte die Talwiese aus , die Talwiese zwischen den Eisenbahndämmen , die er nicht wieder gesehen , seit sie die Wohnung " Am Rain " verlassen hatten .
Eine plötzliche Sehnsucht ergriff ihn nach jener Wiese und nach dem Lande , wo Abraham vor Gott gewandelt , wo Elieser Rebekka fand und wo die Engel auf der Strahlenleiter hinabgestiegen zu Rebeckens Sohne , wo auch die Karawane zog , zu der sich Orbasan , der Herr der Wüste , gesellte , und wo sie alle Märchen erlebte von Kalif Storch bis zum falschen Prinzen .
Ein unwiderstehlicher Drang trieb ihn dorthin ; sich überstürzend lief er davon , und als er am Ziele war , fand er noch alles , wie es einst gewesen .
Eine Stunde lang tat er nichts anderes , als daß er hier im Grase saß oder dort am Wege stand , mit träumender Hand über einen Zweig hinstrich oder in die Ferne sah und lächelte .
Als er wieder heim wollte , mußte er an dem Wirtshause vorbei , das dort lag , wo der eine Eisenbahndamm sich in zwei Dämme gabelte , und als er an dem Hause vorüberging , saß da auf dem Beischlag der steinernen Freitreppe ein wundersames Mädchen .
Sie war kein rund- und flachsköpfiges , rot und weißes Kind von holsteinischer Art ; sie sah ganz anders aus .
Sie hatte Augen und Haare von tiefem Braun , und auch ihr längliches , schmales Gesicht war gebräunt wie dasjenige - Asmus dachte nach , wer doch auch solche Farben gehabt habe - richtig : Christel Bellievre hatte ähnlich ausgesehen .
Französisch sieht sie aus , dachte er .
Sie rührte sich nicht , als er sie anstarrte ; sie erwiderte mit großen , unbewegten Augen seinen Blick .
Ihre langen , schmalen Hände lagen im Schoße gefaltet , und alles in ihrer Haltung schien aus eine frühgewohnte Traurigkeit zu deuten .
" Hast du dich verlaufen ? " fragte er .
Sie schüttelte den Kopf und sagte " nein " .
" Du bist nur müde , nicht ? "
" Nein , ich warte auf meinen Papa . "
Die Tür der Schenke stand offen und mau hörte eben ein überlautes Gelächter , bei dem die Kleine ihre langen , dunklen Brauen zusammenzog , als ob es ihr wehtäte .
" Magst du drinnen nicht sein ? " fragte Asmus .
Stadt aller Antwort schüttelte sie sich mit leisem Schauder .
" Ich mag gern in einer Wirtschaft sein " , sagte Asmus :
" Einmal , da nahm mein Vater mich mit in die Wirtschaft und da kriegte ich ein ganzes Glas voll Selters mit Himbeeressig , das schmeckt famos . "
Sie sah ihn fest und forschend an .
" Ist dein Papa gut gegen dich ? " fragte sie .
Asmus lachte auf .
" Natürlich ! " rief er .
" Mein Vater ist der beste Mann auf der ganzen Welt . "
Sie zog wieder die Brauen zusammen , sah an ihm vorbei und schwieg .
" Das ist wunderhübsch " , sagte er nach einer Weile und zeigte auf eine feingeschnitzte Brosche , die ihr ärmliches Kleidchen am Halse zusammenheftete .
Nun wurde sie lebendig .
" Das ist eine Gemme " , sprach sie , " die ist von meinem Onkel in Griechenland . "
Asmus machte große Augen .
" Du hast einen Onkel in Griechenland ? " rief er .
" Ja " , nickte sie lebhaft .
" Mein Onkel in Griechenland ist ein großer Mann .
Wenn er uns wieder besucht , will er mir eine Puppe mitbringen , so groß wie ich selbst , und wenn ich größer bin , will er nur mich heiraten , und dann soll ich seine Königin werden . "
" Seine Königin ? "
" Ja .
Mein Onkel heißt " der König der Mainotten " .
Er hat viele hohe Marmorberge , und da kann er alles tun , was er will .
Und da ist so schöne warme Luft , und dann nehme ich meine Mama mit , und dann wird sie gesund . "
" Ist deine Mutter krank ? "
" Ja .
Schon drei Jahre " , sagte sie ganz leise .
" Aber deinen Vater nimmst du doch auch mit , nicht ? "
" Nein ! "
Sie stieß das Nein so heftig hervor , daß Asmus Mund und Augen aufriß .
Eine ganze Weile stand er stumm und verlegen vor ihr , sie bald anschauend , bald in die Ferne blickend .
Es ging ihr nicht gut , das fühlte er .
Endlich griff er in die Hosentasche und sagte : " Ich will dir was schenken " , und er drückte ihr einen großen Glasmarmel in die Hand , seinen vielbewunderten Glasmarmel , in dessen Inneren man eine geflügelte Gestalt sah .
" Mädchen spielen ja gar nicht mit Marmeln , " sagte sie und lächelte dabei , und weil sie ein so ernstes Gesicht hatte , sah ihr Lächeln ganz unendlich schön aus .
" Das macht nichts , behalte ihn nur , behalte ihn nur ! " rief er hastig mit der Hand abwinkend .
Er trat zurück , damit sie ihm den Marmor nicht wiedergeben könne .
" Danke " , sagte sie dann und steckte den Marmor in die Tasche .
Asmus wollte gerade fragen :
" Kommst du immer hierher ? " als ein großer , breitschulteriger und höchst wohlgenährter Mann , vom Wirte geleitet , aus der Schenke hervortrat .
Er war ein " Stadtreisender " und trug seinen Warenkoffer in der Hand .
" Da sitzt sie nun wieder , die verrückte Deern " , rief er dem Wirt zu .
" Sie will immer nicht mit ' rein ; das is ihr nicht " fein " genug .
je , ich habe ' ne ganz feine Tochter , die is übergeschnappt ! "
Er tippte dabei mit dem Finger an seine Stirn und lachte breit und ergiebig .
Dann übergab er ihr den Koffer , der ihr ersichtlich schwer wurde , und ging davon mit der Miene eines Mannes , dem es gut geschmeckt hat .
Als sie unter dem Tunnel waren , setzte das Mädchen den Koffer nieder und schaute sich nach Asmus um und nickte ihm zu .
Asmus nickte wohl siebenmal in einer Sekunde zurück .
Dann raffte das schlanke Kind seine Bürde hastig auf und verschwand um die Ecke .
Wo war die neunjährige Christiane , die die Sonntage der Fröhlichkeit hersagen konnte - wo war Pauline , die Balletteuse - wo war Mathilde und Fanny - wo war das heilige Kind von Mariannens Herrschaften - wo war selbst Fräulein Johanna , die ihm im " Kurzen Elend " immer seine Laterne angezündet und ihn dazu geküßt hatte ? -
Sie waren mit einem Male weit , weit zurückgeschwebt ins Schattenreich , und der ganze Asmus Semper war angefüllt von der dunklen Lichtgestalt der kleinen Königin .
Ein weiches , sanftes Licht war über seine ganze Seele gekommen , und ein Stolz , als habe er eine Blume gefunden , die nur alle hundert Jahre ein Auserwählter findet .
Am nächsten Tage ging er wieder nach der Wirtschaft ; er wollte - er wußte nicht einmal ihren Namen ! -
er wollte dem braunen Mädchen sagen :
" Wenn du nach Griechenland gehst , nimm mich mit ! " aber sie kam nicht .
Drei Wochen lang ging er jeden Tag , an dem er sich irgend freimachen konnte , nach dem Wirtshause ; aber das Kind kam nicht wieder .
Dann gab er es auf , aber nicht ohne ein blindes Vertrauen in die Zukunft , daß er ihr einmal wieder begegnen werde .
Mit einer fast erhabenen Gelassenheit und Heiterkeit ging er nun in die Schule und seinen täglichen Leiden entgegen .
Mochten sie ihn nun verhöhnen und quälen - in seinem Inneren war ein beständiges Lächeln ; er hatte seine Freundschaft anderswo ; er hatte etwas , was sie nicht erreichen konnten , woran sie nicht rühren konnten , wovon sie nichts ahnten ; er war der Vertraute einer Königin , mit der er einst nach Griechenland ging .
Und bald sollten auch seine Schülerleiden einen drastischen Abschluß finden .
Er turnte auf dem Schulhofe mit einigen neutralen Genossen an der schrägen Leiter , und als er gerade am Gerät hing und sich ziemlich hoch " hinaufgehangelt " hatte , kam Klaus Rampuhn daher und riß ihn an den Füßen herunter , daß er wie eine Keule mit dem Kopfe auf den Erdboden schlug und bewußtlos liegen blieb .
Er erhob sich bald wieder , im ganzen Gesicht so blaß wie Kreide ; dann mußte er erbrechen .
Er klagte über Ohrensausen und mußte nach Hause gebracht werden .
Herrn Rosig wurde es seltsam weichlich und schwül ums Herz .
Er fand tief entrüstete Worte über die an dem kleinen Semper verübten Roheiten und warnte ernstlich vor Wiederholungen .
Klaus Rampuhn blickte ihm dabei kalt ins Gesicht mit dem Ausdruck :
Ich pfeif auf alles .
Die übrigen Prätorianer fühlten sich in ihrer diesmaligen Unschuld unendlich wohl .
Asmus hatte seine Begleiter vor der Tür seines Hauses verabschiedet und zu seiner Mutter gesagt , ihm sei in der Schule unwohl geworden , er möchte zu Bett gehen .
Besorgt fragte ihn Rebekka , wie denn das gekommen wäre ; aber er erklärte achselzuckend , das wisse er nicht .
Er konnte es nicht über sich gewinnen , seinen Eltern zu sagen , daß er in der Klasse so viele Feinde habe .
Was sollten sie von ihm denken ?
Er konnte es ja auch gar nicht beschreiben , wie diese Feindschaft war , woher sie kam , wie er sie fühlte und wie die anderen sie fühlten - er wusste es ja eigentlich selber nicht .
Und er schwieg nach der Gewohnheit seines Vaters ; er zerdrückte , zerrieb , knetete die in ihm wogenden Massen , bis alles wieder im Gleichgewichte lag .
- Übrigens schlief er die nächsten Tage fast ununterbrochen , und nach fünf Tagen hatte er sich wieder zurechtgeschlafen .
Erst Jahre nachher erfuhren die Eltern , wie ihr Sohn zu dieser Krankheit gekommen war und daß er eine leichte Gehirnerschütterung überstanden hatte .
Die Ansichten über die Folgen dieser Erschütterung waren geteilt .
Asmus selbst und seine Angehörigen waren der Meinung , daß sie ohne alle Folgen verlaufen sei ; eine Tante aber sagte um die Zeit , als Asmus seine ersten Verse machte und sie achtlos in der Schublade herumliegen ließ :
" Was ich dir sage , Rebekka , das hat er daher , wie er von der Leiter herabgestürzt ist . " XXVI. Kapitel .
Alte Lieder wecken neues Glück : die Semperischen werden üppig , und der Seefahrer läuft wieder in den Hafen .
Asmussens Sturz von der Leiter war den Strelitzen doch in die Glieder gefahren ; er hatte von nun an Ruhe vor ihnen .
Nur Klaus Rampuhn , der geborene Anti-Asmus , zeigte schon nach vierzehn Tagen Neigung , wieder mit ihm anzubinden .
Er streckte den Fuß vor , als Asmus vorüberlief , und dieser stolperte .
Aber im selben Augenblicke erscholl das Geräusch von einer enormen Ohrfeige .
Als Asmus aufblickte , stand der Sohn des Ewigkeitstischlers vor Klaus Rampuhn und sagte ruhig :
" Wenn du dich jetzt noch einmal mausig machst , hast du blaue Augen . "
Und dann sagte er zu Asmus :
" Wenn er dich nicht in Ruhe läßt , sage mir nur Bescheid . "
Klaus Rampuhn war vollständig verblüfft .
Der Tischlerssohn schlug und raufte sonst nie ; darum kam dieser Eingriff gänzlich überraschend .
Er hatte gefunden , was den Rampuhnen imponiert , und von nun an wohnte der Tischlerssohn in Asmussens Herzen gleich hinter den Eltern .
Es währte nicht lange , so zogen selbst die Strelitzen den Verfemten zu ihren Spielen heran , und sie bemerkten mit Verwunderung , daß er ein munterer , lustiger Kamerad war und keinem von ihnen etwas nachtrug .
Es war ein ganz anderer Mensch , als der , den sie bis dahin gekannt hatten .
Sie kamen dahinter , daß er nur dann ein steifes Genick habe , wenn ihm Unrecht und Feindschaft widerfuhr , und von da ab hatte er bei ihnen herrliche Tage .
Zwar nannten sie ihn auch fernerhin " Trudel " ; aber wie sie es jetzt aussprachen , machte es ihm Freude .
Als sie in der Stunde vom ersten Triumvirat gehört hatten , spielten sie in der nächsten Pause Triumvirat .
" Von den drei " , hatte der Lehrer gesagt , " war Crassus der Reichste , Pompejus der Angesehenste und Cäsar der Klügste .
Wer hat wohl zuletzt die Oberhand behalten ? "
" Der Reichste " hatten einige geraten ; aber der Tischlerssohn hatte richtig geantwortet :
" Der Klügste " .
Der Tischlerssohn wurde Pompejus ; der Sohn eines reichen Hausbesitzers Crassus , " und Trudel ist " Cäsar " , hatte der Tischler " Pompejus " gesagt , und die anderen hatten zugestimmt , obwohl Klaus Rampuhn entschieden widersprach .
Auch daheim war sonnige Zeit .
Der fleißige Johannes hatte es von der Gitarre zum Klavier gebracht .
Dreißig Mark hatte er sich nach und nach aufgespart , und Ludwig Semper hatte nach vielen , vielen Jahren einen alten Bekannten getroffen , der ihm erzählte , daß er Zigarren mache , mit Klavieren handle und auf Wunsch auch den dazu nötigen Klavierunterricht erteile .
Wenn das nicht eine Fügung des Himmels war - !
Der alte Bekannte besorgte aus " Freundschaft " ein Klavier für dreißig Mark und verdiente vortrefflich dabei .
Es war ein tafelförmiges von 51/2 Oktaven und erinnerte in der Klangfarbe auffallend an das Organ des Zigarrenmachers Fritz " von " Dorn , der mit Tenorstimme durch die Nase sprach .
Der alte Bekannte hatte sich auch erboten , dem Käufer für 71/2 Schillinge die Stunde Unterricht zu erteilen ; allein , als er eine Stunde gegeben und für mehrere Stunden Vorschuß empfangen hatte , kam er nicht wieder .
Das war die erste Enttäuschung .
Der eifrige Johannes wandte nun ein übriges auf und kaufte sich eine alte Klavierschule .
In jeder Pause , die ihm die Arbeit gönnte , an jedem Abend , wenn er müde vom Zigarrenbrett aufstand , setzte er sich frisch und feurig an das altersschwache Instrument und machte Fingerübungen und spielte Tonleitern .
Gar zu oft mußte er das an jähem Wechsel der Stimmung leidende Möbel ruhen lassen , bis der Stimmer die sinkenden Lebensgeister wieder hinaufgeschroben hatte , und der Stimmer erklärte obendrein , mit dem alten Kasten sei Johannes hineingelegt worden , der könne unmöglich noch Stimmung halten ; er könne ihm aber ein " fast neues " Klavier für sechzig Mark überlassen .
An sechzig Mark konnte aber Johannes nicht denken .
Und die Gerechtigkeit erheischt auch , zu sagen , daß aus dem wurmstichigen Dreißig-Mark-Kasten im Laufe der Tage und Monde mindestens für dreißigtausend Mark Freuden hervorquollen .
Man hatte Musik im Hause , eigene Musik ; an jedem Abend , und wann man wollte , konnte man selbst Musik machen !
Und es kam die Zeit , da unter den Fingern des Jünglings der alte Kasten aus seinen Jugendtagen das Lied sang : " An Alexis send ich dich , Er wird , Rose , dich nun pflegen .
Leuchte freundlich ihm entgegen , Daß ihm ist , als sähe er mich ! "
Er sang es wehmütig und leise ; denn er hatte es vielleicht in seinen jungen , kraftvollen Tagen mit klingender Leidenschaft gesungen .
Und an einem Sonntagnachmittag , da sang er :
" Ob ich dich liebe , frage die Sterne , Denen ich oft meine Leiden vertraut .
Ob ich dich liebe , frage die Rose , Die ich dir sende , von Tränen betaut . " und Ludwig und Rebekka Semper kamen dem Instrumente immer näher ; denn - o wunderbar - mit dem alten Spinett war ihre ganze Kindheit und Jugend wieder ins Haus gekommen !
Und bald spielte Johannes ein Lied - Rebekka konnte gar nicht anders , sie musste es mitsingen :
" Verblühn die Rosen deiner Wangen , Die Lilien der reinen Brust , Denke an den Wechsel aller Dinge !
Erlosch einst meines Daseins Spur , Ergrautes Mütterchen , dann singe Die Lieder deines Freundes nur . "
Und dann sang Ludwig Semper mit seiner ritterlichen Begeisterung für die Frauen :
" Den Schönen Heil !
Den Schönen Heil : Beim frohen Becherklange Sei ihrem Preis das beste Lied geweiht ! "
Und Rebekka sang : " Fahre ' mich hinüber , junger Schiffer , Nach dem Rialto fahre mich ! "
Und Ludwig Semper sang :
" Wenn dieser Siegesmarsch in das Ohr mir schallt , Kaum halte ich da die Träne mir zurück mit Gewalt - "
Und dann sprach Asmus wohl : " Mutter , sing Mal wieder " Nach Sevilla , nach Sevilla " , und Johannes muß dazu spielen " , und Rebekka sang und Johannes spielte , und Asmus dachte daran , wie seine Mutter eines wolkenlosen Sonntags in ihrer munteren Weise durch Kammer und Küche hin- und hergelaufen war und dieses Lied gesungen hatte , und noch immer war ihm " Sevilla " ein freier Platz mit Häusern , auf den eine unendlich goldene Sonne und ein unendlich helles , unendlich stummes Feiertagsglück herabschien .
Zuletzt aber bekam die Sempersche Hausmusik einen höheren Schwung .
Man hatte Bekanntschaft gemacht mit einer benachbarten Familie , und eine Tochter dieser Familie , eine Lehrerin , kam zuweilen herüber und spielte " Das Gebet einer Jungfrau " und die " Klosterglocken " .
Dann ging man auch zu den Nachbarn hinüber , und dort war die Mutter der Lehrerin ; die aber spielte Beethoven und Bach .
Und wenn die vergrämte Frau , die nie das Haus verließ , am Klavier saß , dann saß daneben ihr Gatte und strickte Netze .
Das war der Herr von Zäffingen , der einmal ein großes Gut besessen und alles , alles " verbraucht " hatte .
Er strickte Netze , die ihm die Leute mehr aus Mitleid als des Bedarf_es wegen abkauften ; aber seine Frau verdiente mehr mit ihren Stickereien , und Herr von Zäffingen durfte daheim nur reden , wenn ihm das Wort erteilt wurde .
So hielt er sich denn schadlos , wenn er bei den Semperischen auf Besuch war und mit Ludwig Semper von Wilhelm Kunst und von Henriette Sonntag und von den alten Zeiten plauderte , wo alles besser , schöner und größer gewesen war , nicht nur die Rittergüter , sondern sogar die Schneeflocken .
" Ich kann Ihnen sagen , Herr Semper , ich habe Schneefälle erlebt - ich weiß noch , ich war einmal auf der Hasenjagd mit meinem alten prächtigen " Beppo " - hier schienen seine Augen zu schwimmen - " da schneite es doch - nun , was soll ich gleich sagen - Schneeflocken wie diese Untertasse so groß ! "
Und Ludwig Semper hatte seine Freude daran , wie diese Schneeflocken mit der Zeit wuchsen .
Anfangs waren sie so groß gewesen wie ein Achtschillingstück , dann wie Hühnereier , jetzt waren sie wie Untertassen .
Er hoffte sie durch Geduld und Interesse noch auf die Größe von Wagenrädern zu bringen .
Erst wenn Herr von Zäffingen gegangen war , sah man Ludwig Semper in sich hineinlachen , daß seine Schultern heftig auf und abgingen .
Asmus aber saß mit stillem Behagen dabei , wenn Herr von Zäffingen erzählte , und seltsam - er mußte dabei immer an die Zeit denken , da er im " Düstern langen Balken " neben dem krummbeinigen Zwerge mit den knallroten Rundbacken gesessen und die Geschichten von jenem Manne gelesen hatte , der einem Hirsch einen Kirschkern in den Kopf schoß und ihn nach Jahren mit einem prächtigen Kirschbaum zwischen den Hörnern wiedererblickte .
Ja , so gut ging es den Semperischen um diese Zeit , daß sie sogar Gesellschaften gaben und die Familie von Zäffingen dazu einluden , Gesellschaften mit belegten Butterbröten und Punsch und - um den Leichtsinn auf die Spitze zu treiben - mit Apfelsinen zum Nachtisch .
So konnte man denn auch dem Weihnachtsfeste mit froh erregten Sinnen entgegensehen .
Johannes hatte mit geheimnisvollem Blick und Wesen einen Schatz gehäuft und ihn in einer prachtvollen Stehlampe angelegt , einer Lampe mit geblümter Milchglaskuppel , die die Form einer Tulpe hatte , und mit einem Fuße von schwarzem Marmor .
Er hatte seit längerem das Amt , den Tannenbaum zu schmücken und anzuzünden , und als die Tür aufging , brannte neben dem Christbaum die neue Wunderlampe !
Und allen Leuten , die je ins Haus kamen und die Lampe sahen , erzählte Rebekka Semper :
" Die hat mir mein Sohn Johannes geschenkt .
Der Fuß ist von schwarzem Marmor . "
Es war dieselbe Lampe , die noch das Stübchen der achtzigjährigen Greisin erhellte und von der sie den Besuchern erzählte :
" Die hat mir mein Sohn Johannes , der jetzt schon 25 Jahre in Amerika ist , zu Weihnachten geschenkt .
Vor 33 Jahren !
Der Fuß ist von schwarzem Marmor . "
Und wie die gute Zeit , kam auch diesmal so gegen Weihnachten Heinrich der Seefahrer von irgend einer Seefahrt zurück ; er fuhr mit vollen Segeln in den Hafen der Semperischen ein , und beim Löschen zeigte sich , daß er für Asmus ein funkelnagelneues Buch geladen hatte .
Er hatte aber auch einen Passagier an Bord , und das war wiederum kein anderer als Leonhard. XXVII. Kapitel .
Wiedersehen und Abschied , Wolkenschieber und Zigarrenmacher , Dichter und Seemann .
Nur in großen Zwischenräumen war Kunde von Leonhard zu den Seinen gedrungen .
Ein Gehilfe hatte acht Tage lang mit ihm zusammen gearbeitet und erzählte , er habe immer " die ganze Bude " im Lachen erhalten , wenn er aufgelegt gewesen wäre , und sein Prinzipal habe ihn wie ein rohes Ei behandelt , damit er nur nicht von ihm gehe .
Ein anderes Mal hatte ihn jemand mitten am Tage und mitten in der Woche am Hamburger Hafen Dacherschlendern und die Schiffe betrachten sehen , und wieder ein anderer hatte ihn in einer "Tannhäuser"-Aufführung mit Albert Niemann als Gast auf der höchsten Höhe der " Galerie " entdeckt und ihn mit gespannten Zügen und durstig-dunklen Augen horchen und schauen gesehen , und wieder ein anderer hatte ihn in einer Kutscherkneipe in recht geräuschvoller Gesellschaft gefunden .
Im Elternhause hatte er sich seit seinem Auftreten als Dandy nicht wieder sehen lassen .
Nun brachte ihn der Wolkenschieber herbei ; aber er brachte ihn den Eltern nicht sogleich .
Am Tage vor Weihnachten fragte er an , ob er ihn bringen dürfe .
Rebekka rief laut und jubelnd : " Ja , ja , natürlich ! "
Ludwig machte große Augen und widersprach nicht .
Aber man konnte es ihm anmerken , daß er nun noch viel heiterer dem hohen Feste entgegenging .
Er sprach am folgenden Tage kein Wort von seinem ältesten Sohne ; aber in allem , was er tat und sprach , war eine rasche Fröhlichkeit .
Als der Tannenbaum und die Wunderlampe brannten , ging draußen die Türglocke , und alle fühlten :
Das ist er .
Johannes trat schnell hinaus und führte ihn herein .
" Guten Abend " , sagte Leonhard .
Ach , wo war die weiße Pikettweste geblieben , wo die Stiefeletten mit den Lackspitzen ?
Er hatte in dieser Kälte nicht einmal einen Überrock , und in dem ängstlich zugeknöpften Jackett fehlten ein paar Knöpfe .
" Guten Abend " , hatte Ludwig Semper gesagt ; die Kinder konnten vor Erregung nichts sagen , und Rebekka kniete , als Leonhard eintrat , vor einer Schublade der Kommode , um ein Tischtuch herauszunehmen .
Da trat Leonhard zu ihr , beugte sich zu ihr nieder , legte den Arm um sie und sagte : " Guten Abend , Mutter " , und Rebekka zog ihn so fest an sich , daß er neben ihr in die Knie sank , und küßte ihn und sagte : " Guten Abend , mein Kind ! " und dann weinten sie gemeinsam in den armseligen Leinenschatz der Familie Semper hinein .
Nun wurden auch die Kinder mutig und begrüßten den ältesten Bruder . und Ludwig Semper reichte Leonhard die Hand .
Dann entstand eine beklommene Stille .
Da dachte Asmus :
Er glaubt gewiß , weil er nicht gut angezogen ist , mögen wir ihn nicht mehr leiden - jetzt wollen wir erst recht freundlich gegen ihn sein , und er machte sich eilig und eng an ihn heran und zeigte ihm das Buch , das Moldenhuber ihm geschenkt .
Es war " Sigismund Rüstig , der Bremer Steuermann " , nach dem Englischen des Kapitäns Marryat .
Während er seinem Bruder die Bilder des Buches zeigte , hörte Asmus durch das frohe Lärmen der anderen die leisen Worte Rebeckens :
" Er ist doch 'n herzensguter Junge ! " und hörte auch , wie Ludwig darauf erwiderte :
" Jaja - hm . "
Diesmal dauerte die Freude der Weihnacht weit über das Fest hinaus ; denn Leonhard trat nun wieder bei seinem Vater in Arbeit , und der Wolkenschieber obendrein !
Da war nun jeder Arbeitstag ein hochgebenedeiter Freudentag !
Heinrich Moldenhuber hatte die wogenden und glitzernden Träume des wirklichen Seefahrertums endgültig überwunden und war inzwischen auch Zigarrenmacher geworden , genau aus demselben Grunde , aus dem Ludwig Semper bei diesem Gewerbe blieb : nämlich , weil man so viel dabei denken konnte , wie man wollte .
Und nun wurde es im dunsterfüllten Arbeitsstübchen nicht stille von Norma und Euryanthe , von Walther von der Vogelweide und Penthesilea , von Thorvaldsen und Albrecht Dürer , von Danton und Robespiere , von Tiberius Gracchus und Ferdinand Lassalle .
Sie waren inzwischen beide Lassalleaner geworden , Heinrich Moldenhuber und Leonhard Semper , aber an verschiedenen Orten und auf verschiedenen Wegen .
Moldenhubers Überzeugungen waren durch Denken und Wissen und durch die Höhenluft seiner Wolkenwege geläutert ; Leonhards Meinungen waren Leidenschaft und Phrase .
Es mochte vier Wochen nach Weihnachten sein , als er die machtvolle These aufstellte , daß alle Fabrikanten Schufte seien .
Ludwig Semper widersprach wie gewöhnlich seinem Sohne mit Lächeln und Kopfschütteln .
Er verteidigte seinen Arbeitgeber , der freilich seine schlimmen , aber auch seine vortrefflichen Seiten habe .
Aber in Leonhard gärte schon wieder der Drang ins Ungebundene .
Zwar band ihn ja niemand , weder durch Handlungen noch durch Worte ; selbst Rebekka hütete sich furchtsam vor Ermahnungen .
Die Aufsicht der Eltern beklemmte ihn , eben weil sie keine Aufsicht war , sondern nur schweigend wirkende Gegenwart .
Er erwiderte seinem Vater heftig und vergaß sich endlich so weit , daß er rief : " Das ist Blödsinn ! "
Asmus bekam einen furchtbaren Schreck .
Er würde es überhaupt nicht begriffen haben , daß jemand die Ehrfurcht gegen seinen Vater verletzen könne ; daß es aber sein eigener Bruder tat , das entsetzte ihn .
Die ganze Welt war ihm mit einem Male voll tiefer Trauer ; denn sie war ihm entgöttert ; sein Vater war immer noch der liebe Gott .
Und dann brauste ihm das Herz von heißem Zorn . . . . Ludwig Semper sagte gar nichts .
Dafür sagte aber Frau Rebekka desto mehr .
Sie machte ihren ältesten gehörig herunter und sparte die drastischen Wendungen nicht ; der aber schien den Bruch als willkommene Befreiung zu empfinden ; er brach sein Zigarrenbrett ab , nahm Hut und Rock und verließ zum letzten Male das Elternhaus .
Nun folgten wohl ein paar traurige , zerrissene Tage , an denen auch die hellste Sonne die Wolken der Tabakstube nicht durchdringen konnte ; aber woher hätte wohl der Wolkenschieber seinen Namen gehabt , wenn er nicht verstanden hätte , graue Wolken beiseite und rot und goldumsäumte herbeizuschieben ?
Er war kein Spaßmacher und Witzbold ; aber auf seiner Stirn wohnte die unüberwindliche Heiterkeit des Gedankens .
Als er seinen Vater begraben hatte , stritt er auf dem Heimwege mit dem Pastor über Spinoza , und er sprach mit lachenden Augen .
Die philosophische Heiterkeit , die alles Vergängliche mit Gleichmut erträgt und in allem Sein und Geschehen nur die notwendige Verwirklichung des Weltgedankens erblickt - er hatte sie sich nicht zu erlesen brauchen ; sie war mit ihm geboren .
Niemand hatte ihn jemals zornig oder erbost oder haßerfüllt gesehen ; wenn er mit schlechten Menschen zu tun hatte , so sprach er von ihnen mit einer vergnügten Ironie , oder er schwieg und schob nachdenklich die Unterlippe so weit vor , daß Asmus dachte :
Man könnte Bleisoldaten darauf aufstellen .
Wenn einen Freund ein Leid betroffen hatte , so besuchte er ihn gewiß ; er sprach aber von dem Unglück nur mit einem Satze oder mit gar keinem , und wenn der Bekümmerte ihn noch mit jenem Unglück beschäftigt wähnte , dann sprach der Wolkenschieber schon mit Begeisterung von " König Ödipus " und vom " Zerbrochenen Krug " und - seltsam - der Leidende hörte ihm gern zu und empfand es nicht als eine herzlose Entweihung seines Kummers .
Nein , bald atmeten die Semper wieder die leichte , heitere Luft , die ihre eigentliche Atmosphäre war , und dazu hatte nicht wenig der Wolkenschieber getan .
Er verstand eben das Wolkenschieben unendlich viel besser als das Zigarrenmachen .
Seine Zigarren erbten durchweg von ihrem Erzeuger die elegisch-schiefe Haltung des Kopfes ; auch knetete er zuweilen so schwere Probleme hinein , daß sie keine Luft behielten und nicht brannten ; oder er schnitt ihnen in der edlen Raserei eines hehren Gefühls die Füße bis zum Unterleibe ab , oder er vergaß , wenn er gerade auf der Terrasse von Helsingør mit Horatio sprach , überhaupt das Abschneiden , so daß sie an ihrem unteren Ende aussahen wie geplatzte Würste , deren Inneres sich empört und nach Freiheit strebt .
Unter diesen Umständen empfand es Ludwig Semper als ein Glück , daß Moldenhuber in Hinsicht auf Zigarren nur von geringer Produktivität war ; denn wenn der Fabrikant bei der Ablieferung solche " Raupen " entdeckte , dann konnte er sehr unangenehm werden , ja , es konnte Ludwig Sempern die Arbeit kosten ; trotzdem hätte er es nie übers Herz gebracht , dem Raupenerzeuger , den er wie einen Sohn liebte , ein tadelndes Wort zu sagen .
Es würde auch nichts genützt haben .
Was einmal den Auftrieb eines Fliegers hat , das läßt sich nicht in einer Kammer festhalten , oder , wie Rebekka diesen Gedanken auszudrücken pflegte :
" Was einmal zum Schweinetrog ausgehauen ist , wird mein ' Lebtag ' keine Violine ' . "
Aber bald verfiel Ludwig Semper auf eine geniale Idee , die alle Schwierigkeiten auf die einfachste und angenehmste Weise löste .
Es bildete ohnedies schon die Regel , daß Moldenhuber am Morgen oder Mittag mit Büchern vom Sedezformat bis zum größten Foliantenformat geschleppt kam und erklärte , das müsse man lesen , das sei großartig - daß er dann vorzulesen begann , bis der Tabak auf seinem Platze trocken geworden war , und daß er dann am Ende der Woche heiter und erhaben wie ein Vollschiff mit einer Kontantenfracht von sieben bis acht Mark nach Hause segelte .
Das beschloß Ludwig Semper anders zu organisieren .
Er ernannte Heinrich den Seefahrer zum ständigen Vorleser , und er sowohl wie die drei übrigen Gehilfen erklärten sich freudig bereit , dafür die Zigarren zu machen , die der Seefahrer eigentlich machen sollte , und sie ihm anzurechnen .
So mußten sie denn freilich über den Feierabend hinaus arbeiten ; aber gerade beim Lampenlicht , wenn die Welt still geworden war , las und hörte sich es wundergut .
Der Segler verdiente mehr denn je , und die Sempersche Akademie hatte einen festangestellten Lektor .
Sie konnte sich das leisten .
Da aber der Wolkenschieber doch nicht immer lesen konnte , so wurde Asmus , der beim Zuhören so wenig Blätter entrippte , wie nie vor ihm und nie nach ihm ein Tabakzurichter entrippt hat , eines Tages zur Aushilfe herangezogen , und Asmus fuhr mit solchem Feuer vom Tabak in die Lektüre , daß die Eltern wohl hätten glauben können . ihr Kind sei ihnen unter den Händen ausgewechselt worden .
Man fand , daß es sich gut anhöre , wenn er lese , und da er sich nebenher etwas Französisch und Englisch angeeignet hatte , so konnte er sogar solche Fremdwörter wie " Bourgeoisie " und " Trades Union " lesen , was einen armen , kränklichen Gehilfen so in Begeisterung versetzte , daß er sagte :
" Wenn de und willst gern Mal ä neies Buch haben , alsdann brauchst marsch bloß zu sagen , da koof ich es dir , ganz einerlei , was es kostet . "
Und so wurde denn ein Ehrliches und Erbauliches gelesen :
dann einmal aus Virgils " Aeneis " und dann Gedichte von Herwegh und Freiligrath , dann aus Rousseaus " Emile " und dann die " Regulatoren aus Arkansas " von Gerstäcker , dann aus Humboldts " Kosmos " und dann Spielhagens " Hammer und Amboß " , dann aus Schlossers Weltgeschichte und dann Lassalles Arbeiterprogramm , dann aus Tiers ' " Geschichte der französischen Revolution " und dann Hufelands " Makrobiotick " , dann Vossens " Louise " und Gellerts Fabeln und dann wieder Hackländer und Ferdinand Lassalle - ja , einmal brachte der Wolkenschieber eine Übersetzung von Platons " Phädon " mit ; der wurde aber von seinen Mitgehilfen entschieden abgelehnt , ebenso wie Fichtes Reden .
Und wenn man nicht mehr las , so wurde über das Gelesene gesprochen ; was unverständlich war , das mußten Ludwig Semper oder Heinrich Moldenhuber erklären , und auch Asmus durfte seine Meinung sagen , wenn er eine hatte .
In Asmus aber kämpften um diese Zeit zwei Ideale mit einander .
Was sollte er werden ?
Beim Lesen all der schönen Bücher hatte sich ihm die Überzeugung aufgedrungen , daß es um den Dichterberuf doch eine wunderschöne Sache sein müsse .
Vielleicht wollte er Dichter werden .
Vielleicht aber auch nicht .
Denn es gab da noch einen anderen Beruf , der vielleicht noch herrlicher war .
Das war der des Seemanns .
Wenn er sich als Seemann dachte , dann sah er sich nachts allein auf dem Verdeck liegen und sah vom dunklen , tiefblauen Himmel das Kreuz des Südens herniederflammen .
Das Kreuz des Südens hatte es ihm angetan , seitdem er " Salas y Gomez " gelesen .
" Von deinem Himmel wird auf mein Gebein Das Sternbild deines Kreuzes niederschauen . " sagte er oft bei sich selbst .
Oder er saß in heller , silberner Luft im Mast einer Fregatte .
Da musste es gut sein : er hatte nun schon so oft an der Elbe gelegen und hatte seinen Blick mit den in die goldene Ferne strebenden Dreimastern stromab schweben lassen ; das wußte er ganz genau : um diese Masten wob ein sonders Leben ; sie ragten auf in eine andere Welt .
Und so im Maste sitzend , sah er sein Schiff einlaufen in den in der Sonne sich breitenden Hafen von Vera Cruz. Vera Cruz musste es sein , davon ließ er nicht ab .
Auch wenn ihm jemand der Wahrheit gemäß gesagt hätte , daß Vera Cruz in dürrer Ebene zwischen öden Sandhügeln liege und wenig Schönes auszuweisen habe , er wäre doch nach Vera Cruz gefahren ; das war Bestimmung .
Er hatte einmal eine Geschichte gelesen , in der der junge Held . ein Kadett . nach Vera Cruz fuhr , und sofort bei dem Namen Vera Cruz hatte er eine Vision gehabt von allen Farben und Prägen der Tropen , von einer selig träumenden Stadt der goldenen Türme , die am Hafen des ewigen Sonnenglückes ruht .
Darum mußte er nach Vera Cruz .
Sigismund Rüstig hatte wieder alle Fernenlust und Abenteuersehnsucht der Knabenseele in ihm aufgeregt. XXVIII. Kapitel .
Wie Asmus Semper den Menschensohn kennen lernte .
Aber es sollte noch schlimmer werden ; aus dem Dilemma sollte ein Trilemma werden .
Sein Bruder Johannes nahm ihn an einem Sonntagmorgen mit nach Hamburg in die " Kunsthalle " .
Da sah er den Diskuswerfer und den borghesischen Fechter , den sterbenden Gallier und den Farnesischen Stier , die melische und die mediceische und die knidische Venus , den Hermes mit dem Dionysosknaben und den belvederischen Apoll , den Oktavjanus Augustus und die Nike des Paionios .
Johannes blickte immer abwechselnd auf die Bildwerke und auf seinen Bruder ; er erwartete Ausbrüche der Begeisterung und des Entzückens ; aber Asmus war ganz wie diese steinernen Bilder ; er konnte keinen Laut hervorbringen und lebte doch vom Scheitel bis zur Sohle ein hohes , feierliches Leben .
Er war einmal mit seiner Mutter in der Kirche gewesen , und da war es gar feierlich gewesen ; aber hier war es doch noch unendlich feierlicher .
Von hier nahm er den Schimmer mit hinweg , das unsichtbare himmlische Gewand , in das er von nun an alles hüllte , was er aus dem Lande Griechenland vernahm , und die schmerzlich-süße Sehnsucht der Deutschen , die nach Hellas wie nach dem verlorenen Paradies der Formen zurückschaut .
Nein , solche Statuen schaffen können , das war doch etwas anderes als zur See fahren !
Er warf den Seemann über Bord und erklärte Tags darauf vor versammelter Familie :
" Ich will entweder Bildhauer oder Dichter werden . "
Ein homerisches Gelächter war die Antwort .
" Ja " , rief Ludwig Semper mit einem elegischen Lächeln , " wenn man das einfach so " wollen " könnte ! "
Man hielt es gar nicht für nötig , die ökonomische Seite der Frage zur Sprache zu bringen und die drollige Naivetät zu belächeln , die sich die Möglichkeit kostspieliger Studien erwartete in einem Hause , wo es einige Tage später schon wieder nach Hafersuppe roch !
Freilich starb das Neugeborene schon nach wenigen Tagen ; dennoch aber sprachen neunundneunzig von hundert Möglichkeiten dafür , daß Asmus Semper sich bei der edlen und billig zu erlernenden Kunst des " Pfeifendrehens " werde bescheiden müssen .
Nicht einmal die drei- oder vierjährige Last einer Handwerkslehre durfte man auf sich nehmen .
Die Naivetät des guten Asmus ging aber noch viel weiter , als sie ahnten .
Er hatte überhaupt nicht an Kosten gedacht .
Was brauchte es denn weiter als das Werkzeug zum Hauen und den festen Willen , Bildhauer zu wenden ?
Es sollte sofort losgehen .
Er verschaffte sich heimlich einen Hammer und einen Meißel , und bald bedeckte sich alles in seiner Umgebung , was Stein und Mauer hieß , mit den Spuren seiner Kunst .
Aber bald fiel ihm auch bei , daß man eigentlich das , was man aushaue , erst müsse zeichnen können !
Aber wo sollte er zeichnen lernen ?
Seine Schule kannte keinen Zeichenunterricht .
Was kannte überhaupt die Schule des Herrn Rosig !
Asmus verbrachte jetzt seine Schultage wohl in Frieden , aber nicht in Freude ; er tat , was er mußte , oder unterließ es , wie es ihm gerade gefiel ; er ging gleichgültig hin und kam gleichgültig zurück und lebte während der Stunden sein eigenes Leben .
Für den ungeheuren Diebstahl an Saat- und Pflanzzeit , der an ihm begangen wurde , hatte er keine Empfindung ; denn Kinder glauben , auf der Welt gebe es Zeit wie Wasser , das sie auch verschwenden , in der Meinung , daß es nichts koste .
Sie spielen mit der Zeit wie kleine Kinder mit dem Gelde ; der Taler ist wie die Zeit ein hübsches , blitzendes und rollendes Rad , aber kein Wertgegenstand .
Das Beste an Herrn Rösings Schule waren noch seine Geschichten .
Wenn seine Schüler ihn eine Zeitlang möglichst wenig bemüht und belästigt hatten , dann erzählte er ihnen zum Lohn eine Geschichte .
Seine beste Geschichte war die von dem Reisenden , der in eine Räuberherberge im Walde geriet .
Mit dieser Geschichte konnte er sogar die Prätorianer eine Zeitlang im Zügel halten .
Ein hexenartig aussehendes altes Weib begrüßte nämlich freundlich den Reisenden und leuchtete ihm in sein Schlafgemach .
Als er dieses betreten und die Tür sich wieder hinter der Alten geschlossen hatte , hörte er , wie ganz , ganz leise ein Riegel vorgeschoben wurde .
Nanu , dachte er .
Er untersuchte genau das Zimmer und sah unter dem Bette eine Leiche mit abgeschnittenem Kopfe liegen , die die Räuber und Mörder schlauer Weise dort hatten liegen lassen .
Dieses erweckte ihm ein peinliches Gefühl .
Er untersuchte das Zimmer noch genauer und bemerkte in der Decke die Umrisse einer viereckigen Luke .
Aha , dachte er .
Durch diese Luke lassen sie ein Beil herunterfallen , das den im Bette schlafenden Gast enthauptet .
So haben sie es mit dem unterm Bette auch gemacht .
Der Gast zeigt infolgedessen keine Spur von Müdigkeit ; auch diese humane Todesart sagt ihm nicht zu .
" Was tut also unser Freund ? " erzählte Herr Rosig .
" Er legt die Leiche mit dem abgeschnittenen Kopfe in das Bett , zieht die Decke darüber , löscht das Licht und wartet .
Stundenlang sitzt er da und wartet .
Da endlich - um die Zeit der Mitternacht - da hört er über sich ein leises Geräusch .
Er hört flüstern - und jetzt - jetzt öffnet sich oben ganz leise die Klappe und ein schmaler Lichtschein fällt hindurch . . . . .
So , Jungen , das nächste Mal mehr " , schloß dann Herr Rosig .
" Oh , bitte , Herr Rosig , noch 'n bißchen , Herr Rosig , bitte , bitte , Herr Rosig ! " heulte flehend und lechzend der ganze Chor der Schüler ; aber Herr Rosig war unerbittlich wie der Redakteur einer Romanzeitung und wie die Schere der Atropos ; keine Silbe ließ er sich abhandeln .
Und da diese " Geschichte für die Jugend " eine ganze Anzahl solcher " Abschnitte " hatte und schnellstens in vierzehntägigen Lieferungen erschien , so erzielte Herr Rosig auf Monate hinaus eine Art von Gesittung unter seinen Zöglingen .
Asmus hatte sehr deutlich das Gefühl , daß dies eine ganz elende Geschichte sei , eine der Geschichten vom Schinderhannes , Rosse Sandor und Genossen , die in Zehnpfennigsheften auch bei seinen Eltern zuweilen in die Tür geworfen wurden und über die sein Vater immer Witze machte - aber famos waren diese Art Geschichten doch , das konnte er nicht leugnen .
Sie machten doch höllisches Vergnügen , wenn sie auch seine Hochachtung vor Herrn Rosig nicht erhöhten .
Und doch sollte Asmus gegen die Osterzeit von den Lippen dieses Lehrers eine Geschichte vernehmen , unter der des Knaben ganze Seele bebte wie eine Harfe , die der Sturm bewegt in einer Nacht wie sieben Nächte lang .
Ja , von den Lippen des Lehrers ; denn der Atem der Geschichte kam nicht aus seinem Inneren ; er kam aus einer heiligen , schaurigen Ferne , und auch der alte Mann schien wie der Knabe zu seinen Füßen stille zu halten dem erhabenen Wehen , das in seine Seele griff wie in ein tönendes Instrument .
Der alte Lehrer erzählte nicht , er las , las aus einem biblischen Geschichtenbuche , las stundenlang mit halblauter Stimme , immer im gleichen , bangen Tone , der sich nicht zu erheben wagte und so traurig klang wie ein verborgenes Wasser in tiefer Felsenschlucht .
Er las : " Und da die Stunde kam , setzte er sich nieder , und die zwölf Apostel mit ihm .
Und er sprach zu ihnen : Mich hat herzlich verlanget , dies Osterlamm mit Euch zu essen , ehe denn ich leide . "
Zum ersten Mal hörte Asmus von Anfang bis Ende die Tragödie des Menschensohnes .
Und wie einst auf jener Talwiese zwischen den Eisenbahndämmen Bethlehem gewesen war , wie dort der Stern gestanden hatte und die Weisen aus dem Morgenlande gekommen waren , so war nun rings um das Schulhaus mit den hohen gotischen Fenstern Jerusalem , und das Schulhaus selbst war der Palast des Pontius Pilatus .
Aber seltsam : ein langer Flur des Schulhauses war auch wieder der Saal , in dem der Herr den Zwölfen die Füße wusch und das Brot und den Kelch unter sie teilte .
Und der kümmerliche kleine Garten an der Seite des Schulhauses war Gethsemane am Ölberge .
Dort sprach er zu Petro :
" Ehe denn der Hahn zweimal krähet , wirst du mich dreimal verleugnen ! " und Petrus schwor , daß er eher sterben wolle , als ihn verleugnen ; dort rang die junge starke Seele des Herrn mit den kommenden Leiden , daß sein Schweiß auf die Erde fiel wie Blutstropfen , und als er zu seinen Gefährten zurückkehrte , fand er sie schlafend !
Tränen traten dem kleinen Semper in die Augen , als Jesus sprach : " Könnet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen ? "
Er hatte treue Jünger und Freunde ; aber in seinen schweren Stunden war er allein , ganz allein .
Und wieder in einem Zimmer der Schule war die Sitzung des hohen Rats .
Da schlugen sie Jesus mit Fäusten , verhöhnten ihn und spien aus in sein Angesicht .
O , das verstand Asmus Semper , den Haß und die Roheit und die tobende Dummheit verstand er , wenn ihm auch nicht bewußt war , warum er sie verstand .
Sein kindliches Herz war dem Frevel fern , bei den Leiden Jesu an seine eigenen zu denken ; aber den Haß verstand er , er sah ihn , sah seine Augen , seine Zähne in greifbarer Deutlichkeit .
Und er verstand es gut , daß Jesus endlich auf ihre Fragen schwieg .
Er fühlte in seinem eigenen Halse , wie dem Gepeinigten Schmerz und Scham die Kehle zuschnürten .
Asmus Semper wußte es :
Was der Heiland auch sagen mochte :
sie würden es gegen ihn wenden .
Er begriff mit intuitiver Klarheit , daß alle Worte der Unschuld wie Stroh sind im Feuer des Hasses ; sie nähren es , und seine rasenden Flammen streuen die Asche höhnend umher .
In der Vorhalle der Schule stand Petrus am Feuer der Kriegsknechte , und eine Magd rief : " Du bist auch einer von denen , deine Sprache verrät dich " , und Petrus fluchte und schwor :
" Ich kenne den Menschen nicht " .
Da krähte der Hahn zum dritten Male .
Und Jesus wandte sich um und sah Petrus an .
Das war der eifrigste von seinen Jüngeren .
Und der Blick des Verlassenen drang durch die Jahrtausende von Judäa her in die Augen des Oldensunder Kindes ; noch immer stand Jesus von Nazareth da und sah Asmus Semper an , und seine großen Augen fragten : Hättest du mich nicht verlassen ?
Und dem Herzen des Knaben wurde übel und bang - es konnte nicht " nein " sagen .
Vor dem Portal des Schulhauses aber wogte Getümmel des Volks und die tobende Menge schrie : " Kreuzige ihn !
Kreuzige ihn ! "
Und aus der großen Mitteltür trat Pontius Pilatus hervor und sprach :
" Ich finde keine Schuld an ihm " .
Da dankte ihm laut das klopfende Herz des Knaben , und dieses Herz sprang jubelnd der edlen Frau entgegen , die ihrem Gatten sagen ließ :
" Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten ; ich habe im Traume viel gelitten um seinetwillen . "
Aber des Landpflegers Redlichkeit war ein schmaler Nachen auf tobendem Meer ; eine Welle griff hinein und warf ihn um .
Auf dem Platze vor der Schule , an der nördlichen Seite , war Golgatha , die Schädelstätte .
Dort ragten in eine verklärte , schimmernde Luft hinein die drei Kreuze .
Und der Heilige sprach in seinen Qualen das liebende Wort :
" Vater , vergib ihnen ; denn sie wissen nicht , was sie tun ! "
Das verstand Asmus nicht , daß er diesen Feinden vergeben konnte , das verstand er nicht .
Aber das begriff er , daß der Sterbende die beiden Menschen , die ihm auf der Welt die liebsten gewesen , aneinanderschmiegte und zu ihnen sprach :
" Weib , siehe , das ist dein Sohn - siehe , das ist deine Mutter . "
Und als der schuldlos Leidende auf dem letzten einsamen Wege noch einen Gefährten fand , als der eine der Schächer sich zu dem Verhöhnten und Verschmähten bekannte - o , da begriff er es gut , daß Jesus mit überquellendem Jubel rief : " Wahrlich , ich sage dir , heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein ! "
Dann aber , als Jesus schrie :
" Mein Gott , mein Gott , warum hast du mich verlassen ! " da zerriß dieser Schrei auch das Herz des Knaben .
Das war die furchtbarste Stunde des Gekreuzigten , das fühlte er .
Nun glaubte er selbst nicht mehr an sich - nun glaubte er selbst nicht mehr , daß Gott mit ihm sei - nun hatte er das Schwerste erduldet und sein Leben hingegeben und wußte nicht wofür .
Nun erst litt er am tiefsten , nun war er ganz allein . . . Das stumme Grauen des Kindes löste sich in mildes Weh , als der Heiland sprach :
" Mich dürstet " .
Daß er , der Hohe , Heilige , Göttliche , wie ein armes Kind sprach :
Mich dürstet , das schüttelte dem Knaben das Herz und trieb ihm wieder Tränen in die starrenden Augen .
Die Finsternis , die um die sechste Stunde übers ganze Land gekommen war , bekam einen bleichen Schein , als Christus sprach :
" Es ist vollbracht " .
Das Licht kam wieder .
Aber noch einmal schrie Jesus laut , und es zerrte und riß wieder am Herzen des Knaben , daß der Milde , Stille , schweigend Leidende schrie !
Und Jesus schrie :
" Vater , in deine Hände befehle ich meinen Geist ! " und verschied .
Da war es Asmus , als wäre die ganze Welt so still wie er , und die ganze Welt hätte nur ein Herz , und dieses Herz der Welt schlug langsam , dumpf und schwer .
" Und der Vorhang im Tempel zerriß von oben an bis unten auf . "
Und im Herzen des Asmus Semper zerriß von oben bis unten der Vorhang vor einer neuen Welt : zum ersten Male erschien ihn . der Gedanke des Christentums in der reinen Majestät seines Stifters , mit den lebendigen , rührenden , bezwingenden Zügen des Nazareners , des ewigen Königs der Herzen .
" Es war aber an der Stätte , da er gekreuzigt wurde , ein Garten , und im Garten ein neues Grab , in das niemand gelegt war . "
Und wieder in dem schmalen , ärmlichen Kräutergarten an der Längsseite des Schulhauses war das Felsengrab , das Joseph von Arimathia sich hatte aushauen lassen , und dieser Joseph und Nikodemus und die Frauen kauften Salben und Spezereien und begruben dort den Herrn .
Wie schön ist die Treue der Wenigen , die in der Trauer um uns sind !
Wie Licht , das noch am Abend zu uns kommt !
Und es heißt in der Bibel , daß sie den Sabbat über stille waren nach dem Gesetz .
Einen so stillen Tag hatte Asmus noch nie empfunden wie diesen Sabbat .
Eine ewige Stille liegt über diesem Tage , eine Ruhe , die Jahrtausende nicht wieder gesehen haben .
Und seltsam : es ist nicht die schwere Stille des Schmerzes und Bangens ; es ist heitere , leichte Stille , festliche Stille , Erwartungsstille , in der die toten Dinge unserer Umgebung leuchten und leise lächeln , eine gesellige Stille , in der alle Lippen schweigen und alle Herzen reden und alle Gedanken einander zunicken .
Und der Auferstehungsmorgen ist da .
Weinend steht Maria vor dem leeren Grabe und meint , der Mann , der hinter ihr steht , wäre der Gärtner .
Da spricht er zu ihr : " Maria " .
- Da erkennt sie ihn .
Mit solcher Liebe spricht nur er .
Und über der ganzen Erzählung ist Licht , Licht , das auf allen Dingen liegt und doch an keinem Dinge haftet .
Es ist ein springendes , fliegendes , jauchzendes Licht , bald ist es bei den Jüngeren , bald bei den Frauen , bald im Grabe , bald bei den Priestern , bald in Jerusalem , bald in Galiläa .
Aber am seligsten weilt es auf dem Wege nach Emmaus .
Da schreiten zwei Jünger munter hintan , und mitten zwischen ihnen schreitet der Erstandene .
Eine Wolke von Licht umschwebt ihn , und ihre Herzen brennen von seiner Gegenwart ; aber sie wissen nicht , von wannen diese Helle kommt .
Mit ihnen wandelt selige Morgenschöne , himmlische Begeisterung , heilige Verklärung ; aber sie merken nicht , woher die heimliche Freude strömt .
Erst in der Herberge , da er das Brot mit ihnen bricht , erkennen sie ihn .
O selige Menschen , die je im Morgenlichte einen Gang nach Emmaus gegangen ; den Frieden einer schönen Welt in den Augen , die Freude des heiligen Geistes im Herzen .
Nie in seinem Leben vergaß Asmus Semper den Sonnenschein , der auf dem Wege nach Emmaus lag .
Und immer , wenn er von der ewigen Seligkeit im Jenseits hörte , dachte er an die Seligkeit , in der die Erzählung von der Auferstehung glänzt , an das Licht , das vor dem Felsengrabe lag , als Jesus sprach : " Maria " und Maria , ihn erkennend , ausrief :
" Rabbuni ! "
Die Seligkeit war ihm nicht ein Tun und nicht ein Besitzen ; sie war ihm nichts als ein lautloses Leben und ewiges Schauen .
Selbst sein Lehrer erschien ihm nach diesen Geschichten in einem anderen Lichte .
Er war durch die Macht und Größe dieser Darstellungen wieder geadelt worden ; Asmus konnte ihn wieder mit Gefühlen der Ehrfurcht und der Zuneigung ansehen .
Im zweiten Jahre seiner Studien bei Herrn Rosig geschah es aber , daß dieser krank gemeldet wurde und ein junger Lehrer in die Klasse trat , der ihn vertreten sollte .
Es war ein langer , magerer , blonder junger Mann in grauem Anzug ; er hatte unendlich ehrliche und gerade graue Augen , einen überhängenden rötlichen Schnurrbart und eine nicht sehr kräftige Stimme .
Er sah aus , als wenn seine Vorfahren zwanzig Generationen hindurch preußische Beamte gewesen wären und als wenn sich sein Schnurrbart einmal zu einem richtigen greisen Soldatenschnauzbart entwickeln könne .
Er las den Kindern den " Postillon " von Lenau vor , was sie sehr überraschte , weil es kein Choral war .
Er las es mit bewegter Stimme .
Nachdem er mit den Kindern über das Gedicht gesprochen und Asmus oft gefragt hatte , mußte Asmus Semper das ganze Gedicht laut vorlesen .
Herr Bendemann - so hieß der junge Lehrer - sah ihn wohl zehn Sekunden lang sehr scharf an und sagte dann :
" Das war gut " .
Als die Stunde zu Ende war , rief er Asmus Semper zu sich , und es entwickelte sich folgendes Verhör :
" Wie heißt du ? "
" Asmus Semper . "
" Wie alt bist du ? "
"103/4 . "
" Was ist dein Vater ? "
" Zigarrenmacher . "
" Hast du Geschwister ? "
" Ja , sieben . "
" Was willst du werden ? "
" Das weiß ich noch nicht . "
" Nun , das hat ja auch noch Zeit .
Setze dich ! "
Asmus ging an seinen Platz und Herr Bendemann schritt zur Klasse hinaus .
" Was wollte er von dir ?
Was hat er gefragt ?
Was sollst du ? " fragten die Schüler durcheinander .
" Ich weiß es nicht " , sagte Asmus mit einem ziemlich dummen Gesichte .
Er wußte nicht , daß der Mann , hinter dem sich soeben die Tür geschlossen hatte , sein Schicksal war .
Drittes Buch .
XXX. Kapitel .
Von dem Apparat in Asmussens Augen , von seinen landwirtschaftlichen Studien bei Dierich Mattes und von seinen Ansichten über das Heiraten .
Frau Rebekka konnte die Wohnung an der Brunnenstraße nicht mehr ausstehen .
Wenn sie zwei oder drei Jahre an einer Stelle gewohnt hatte , so konnte sie sie nie mehr ausstehen .
Auch das hing wahrscheinlich auf irgend eine Weise mit ihrem Blut zusammen .
" Ich halte es in dem Loch nicht mehr aus ! " rief sie dann .
" Du hast es doch selbst halben wollen " , sagte dann ihr Gatte .
" Was ?
Ich habe diese Wohnung haben wollen ? " rief sie dann entrüstet .
" Na , nun wird es Tag ! "
" Was ?
Du hast sie nicht haben wollen ? " versetzte dann Ludwig mit ironischem Lächeln .
" Na , die Geschichte ist nicht übel ! "
Dieser Dialog wiederholte sich vor jedem Wohnungswechsel , und Frau Rebekka Semper war jedesmal fest davon überzeugt , daß es ihr nie vorher eingefallen sei , zum Umzug zu drängen .
Und doch schützten Ludwig Semper Temperament und Philosophie ihn vor jedem Verdacht des Nomadentums .
Eine landläufige Weisheit sagt , daß drei Mal umziehen so viel sei wie einmal abbrennen .
Nach dieser Berechnung waren die Semper seit ihrer Vermählung viermal abgebrannt , ein Luxus , den sie sich wohl gestatten konnten .
Rebekka vertrat freilich das rechnende und zusammenhaltende Element in der Familie und sie war stark in der Sparsamkeit ; aber ihr Blut war doch immer stärker als ihre Ökonomie .
Wo lag denn die neue Wohnung , nach der Rebekka so heiß begehrte ?
Sie lag dort , wo einst die ungeheure Gartenwirrnis mit den zahllosen , gänzlich verwilderten Obstbäumen gelegen , durch deren Gezweige die hohen Rundbogenfenster der " toten Kirche " lugten , dort lag sie , wo Asmus einst als Räuber gewirkt hatte , wo er , zwischen den Ästen kauernd , der toten Kirche in die hohlen Augen gestarrt und verächtlich auf die feilen Schergen der Justiz hinabgeblickt hatte .
Aber ach , die Bäume rauschten nicht mehr ; sie waren alle gefallen , und was an ihrer Stelle stand , das rauschte nicht , das konnte überhaupt nichts sagen , das glotzte stumm und dumm in die Welt wie ein Steinhaufen mit Löchern und war eine lange , breite Mietskaserne .
Und ach , die " tote Kirche " war lebendig geworden ; an die Stelle ihres geheimnisvoll raunenden , sagenreichen Todes war ein inhaltloses Leben getreten ; eine Tischlerwerkstatt hatte man dort eingerichtet , ein Bierlager und andere Niederlagen mehr .
Nein , nein , das Quecksilber der Frau Rebekka hatte diesmal nicht den richtigen Weg genommen .
Gegenüber der Semperschen Wohnung lag ein niedliches kleines Gefängnis mit vier Mauern , einem Dach und drei vergitterten Fensterchen , daran schloß sich die lange Reihe der Armenhäuser ; außerdem gab es in der Straße noch eine Tabakfabrik , eine Eisengießerei , noch eine Tabakfabrik , eine Brauerei und noch eine Eisengießerei , die alle kräftig rauchten .
Daß sie sich einem Gefängnis gegenüber eingemietet hatte , das sollte Rebekka Semper noch genug bereuen :
Tag für Tag mußte sie sich darüber ärgern , wie ein furchtbar dicker Polizist einen Bettler und Vagabunden nach dem anderen gefesselt vorüberführte , und regelmäßig fühlte sie mit dem " armen Teufel " von Gefangenen und gegen das hypertrophische Organ der Obrigkeit , ausnahmslos empörte sie sich über den neuen , offenbaren Justizmord , und ihr Sohn Asmus teilte ihre Anschauung vollkommen .
Die Zeiten sind inzwischen milder geworden ; an zarteren Fesseln führen heute die Menschen einander hinein in jenes kleine würfelförmige Gebäude ; denn das Gefängnis ist nun ein Standesamt , und die Fenster sind entgittert worden .
Wie Namen so falsch und trügerisch sind , das kann man so recht daraus ersehen , daß diese Gegend den Namen " am Born " führte .
Der liebliche Klang dieses Namens zaubert dem vertrauensseligen Hörer ein sinnendes Dorfidyll an einem lachenden Wässerlein vor die Sinne ; es hatte auch ehemals einen Teich an dieser Stelle gegeben ; aber er war längst verschwunden .
Ob das ein Schaden oder ein Gewinn für die Gegend war , mag dahingestellt bleiben ; jedenfalls aber war das naiv anmutende Gesichtchen , das der Name zeigte , der reinste Schwindel , und von der Poesie , die es heuchlerisch versprach , hielt die Wirklichkeit wenig oder nichts .
Man mußte denn schon über den Apparat , den winzig kleinen Apparat verfügen , den Asmus Semper seit elf Jahren im Auge mit sich herumtrug .
Durch diesen Apparat gesehen , bekam freilich selbst das auf dem Hofe der Eisengießerei verstreute Wirrsal der Stangen , Hammer , Bolzen , Schrauben , Zangen , Nägel , Schienen , Karren und Modelle nach und nach ein redendes Leben , bekam , wenn die großen Türen des Eisenwerks offen standen , das weite , undurchdringliche Innere das Ansehen einer finsteren Höhle , in der unerkennbare Menschengestalten in Gemeinschaft mit riesigen Schatten feurige Eimer schwangen , in der weißglühender Brei in zischende , qualmende , lüstern züngelnde Mäuler sich ergoß , baumlange Schattenarme an den Wänden und an der Decke herumhaschten , griffen , langten und grapsten und plötzlich aus dem schwärzesten Dunkel in greller Glut Köpfe ohne Leiber , Köpfe mit weiß glitzernden Augen aufleuchteten und verschwanden .
O ja , wenn man länger mit ihnen verkehrte , mit diesen Fabriken und ihren Winden , Luken , Fenstern und Schornsteinen , dann wurden selbst sie allmählich zutraulich und gesprächig .
Solch ein schwarzes , bestaubtes , halb zertrümmertes Fabrikfenster konnte herschauen wie ein Menschenauge , wie ein boshaft drohendes oder wie ein ernstes , trübsinniges Auge .
Besonders , wenn die Abendsonne darin funkelte , dann konnte es aussehen wie ein düsteres Auge , das in eine ferne Hoffnung blickt .
Und dann - ja alles was recht ist , und die Wahrheit über alles - dann gab es in dieser Gegend doch auch zwei kleine Punkte , an denen man die Poesie nicht erst lange zu suchen brauchte .
Das waren an einem Ende der Straße die Schmiede , in deren dunklem Raume immerdar zum lustigen Klingklang und Singsang der Hammer die roten Flammen sprangen und die weißen Funken flogen , wo alle Tage andere Pferdecharaktere vor der Tür beschlagen wurden und wo sich Asmus manche liebe Stunde vom Tabakstreifen erholte - und am anderen Ende das kleine Bauerngehöfte von Dierich Mattes .
Der annähernd sieben Fuß hohe Dierich Mattes hieß eigentlich Dietrich Martens ; aber er würde es für eine alberne Geziertheit und einen ganz lächerlichen Kraftaufwand gehalten haben , diese Konsonantenhäufungen auszusprechen .
So nannte er sich Dierich Mattes , und diese Art der Aussprache gehörte so untrennbar zu seinem Wesen , daß ihn auch die anderen Leute niemals anders nannten als Dierich Mattes ; vertraute Freunde wie Asmus Semper aber sagten ganz in seinem Sinne nichts weiter als " Dierich " .
Dierich ließ allen Dingen ihren Gang , seinen Pferden sowohl wie seinem Leben ; es fiel ihm nicht im Traume ein , seine Pferde oder sein Leben durch übertriebenen Kraftverbrauch in schnelleren Gang zu bringen .
Er besaß nur wenig Ackerland und nur eine Kuh , dazu zwei Pferde , mehrere Schweine und Hühner , und als ein wahrer Bauerndiogenes wußte er mit seiner Berechnung seine Arbeit so abzumessen , daß er gerade so viel Klöße , Speck und Tabak verdiente , wie er für sich , seine alte Mutter und neuerdings für seinen besten Freund Asmus Semper bedurfte .
Ehrgeiz , Gewinnsucht und Seife waren seinem ganzen Wesen fremd .
Asmus setzte seine landwirtschaftlichen Studien , die er im Jahre des großen Krieges bei dem Schimmelwallach " Jochen " und bei der buntscheckigen Milchkuh " Greten " begonnen hatte , bei den beiden dänischen Stuten " Stine " und " Süden " fort , und in dieser Periode seines Lebens hätte er schwerlich zu sagen vermocht , was schöner wäre , den " Don Carlos " zu lesen oder den Pferdestall zu reinigen und " Süden " und " Stine " verständnisvoll die Weichen zu klopfen .
Und dabei war es fast noch schöner , bei Mutter Mattes Klöße mit Speck zu essen oder mit Dierich auf einem Lattenzaun im Kohlgarten zu sitzen und Kalkpfeife zu rauchen .
Dierich genügte das einfache Verfahren des Rauchens nicht ; er kaute gleichzeitig Cavendish .
Das ist ein mit süßer Sauce zubereiteter , kuchenförmig gepreßter Kautabak , der genau wie das Laster anfangs sehr süß schmeckt , dann aber sengt und brennt wie sein Namensvetter , der Amerikafahrer und Seeräuber .
Wenn Dierich einen neuen " Prüntje " abgebissen hatte , verfehlte er nie , den Kuchen seinem Freunde zu reichen , und auch Asmus bis ab mit der Miene des Kenners und Gewohnheitskauers .
Heimlich spuckte er dann freilich das scheußliche Produkt wieder aus ; aber es abzulehnen , würde er für unmännlich gehalten haben .
Allerdings war es ihm dafür auch versagt , wie Dierich mehrere Meter weit spucken zu können .
Dierich hatte sonst gewiß nichts Elegantes an sich ; aber das Ausspucken vollführte er mit unnachahmlicher Eleganz . indessen eine höhere Stufe der Bildung erklomm Asmus nach heißem Bemühen dennoch :
er lernte es , den Rauch durch die Nase auszustoßen .
Wenn so der sieben Fuß lange Dierich und der drei Käse hohe Asmus nebeneinander auf dem Zaun saßen und rauchten , dann schwiegen sie entweder mit philosophischen Gesichtern , oder sie unterhielten sich ernst und würdig nach Männerart .
" Se hat mi all wieder 'n Predig Hollen " , sagte zum Beispiel Dierich .
" Wer ? Dein Mudder ? "
" Jo . "
" Worum denn ? "
" Na , das kann_es di jo denken . "
" Wieder von wegen Heiraten ? "
" Jo . " ( Längeres Schweigen . )
" Wen salls du denn nun wieder heiraten ? " fragte Asmus .
" Markmann sin Deern . "
" De schraubenlose ? "
" Jo . "
" Dor Lot di man nicht op in . "
" Nee , fallt mi jo gorni in . " ( Längeres Schweigen . )
" Geld hat se noog " , begann Dierich wieder .
" Djä , was doo ik dormit ! " rief Asmus .
" Was Reichtum auch verspricht , die Liebe kauft man nicht . "
" Dor heß du rech. "
" Un denn , wenn ji naher Heirat Sünde , denn smitt se di vor , das du nix hatte heß . "
" Jo , das deiht se auch . " ( Langes Schweigen . )
" Ich Heirat mi öberhaup nicht " , sagte Dierich .
" Was sechs du ? "
" Djä , das weet ich nicht .
Wenn ich groß bin , ich Heirat mi . "
" Nee , ich nicht .
Ich bin all to old .
För 'n Junge bin ich to old , un 'n ole mag ich nicht . "
" Das kann 'k di nicht verdenken " , sagte Asmus .
( Langes Schweigen . )
" Ich weet gorni , was de Olsch ( Alte ) will !
Wie hebt das so doch gans gemütli , nicht ? "
" Jo , das hebbt wie . "
" je , un wer weet , wie das naher wurde , nicht ?
Wer weet , was ich dor Foren Zilla im Hause Krieg ! "
" Das stimmt " , sagte Asmus , " man weet nie , was man kriegt .
Heiraten is 'n Lotteriespeel . "
- Einige Tage nach diesem Gespräch lachte Dierich seinem Busenfreunde schon von weitem entgegen , als dieser , über verschiedene Pfützen springend , auf den Hof kam .
" Du , hüte hev ich de Olsch oder fühnsch ( zornig ) mokt ! " rief Dierich .
" So ? "
" Jo. Se fung all wieder an von Heiraten . "
" Aha . "
" Weiß , was ich to Ehre seggt hev ? "
" Na ? "
" Heirat du doch !
( Se es nämli jetzt fivunsöbenti , muß du wetten . )
Mensch , harr mol sehen sullt , wie se dull wor !
Mit 'n Bessenstöhl is se mi to Liv gohn ! "
" Hat se di haut ? " fragte Asmus .
" Jo , das deiht jo nicht weh ! " lachte Dierich und zeigte all seine prachtvollen Zähne .
" Se mag di oder doch banni geern Liten " , versicherte Asmus treuherzig .
" Mensch , das weet ich jo ! " rief Dierich .
" Un wenn ich nun so 'n Langhoorige im Hause Krieg , un de behannelt Ehre womeugli schlecht , - djä , is nicht woher ? "
" Djo " , machte Asmus , indem er den Mund vorschob und die Schultern hochzog .
Daß seine Mutter auch eine " Langhaarige " war , daran dachte Dierich offenbar nicht .
Er hatte viel zu viel Ehrfurcht vor ihr , um sie für ein Weib zu halten .
Sie war eben seine Mutter .
Aber nicht nur in den Fragen der Liebe und Ehe holte Dierich den Rat seines Freundes ein ; auch in haus- , land- und gartenwirtschaftlichen Angelegenheiten tat er kaum noch etwas ohne Asmussens Zustimmung , deren er übrigens immer gewiß sein durfte .
Halbe und ganze Tage verbrachte Asmus auf dem kümmerlichen und doch so friedevollen Gehöfte , und bald wurde es ihm zum Asyl , zum ultimum refugium gegen die Drohungen des Tabaks und die Feuerzange seiner Mutter .
Wenn ein Bote vom Hause kam , um ihn zu suchen , dann log Dierich mit einer so bodenlosen Redlichkeit , daß man wohl auf die Meinung kommen konnte , die Lüge sei eigentlich das Tugendhafte und die Wahrhaftigkeit ein abscheuliches Laster , und wenn der Bote wieder gegangen war , dann pfiff Dierich und rief : " De Luv is rein ! " und der Kopf des Asmus Semper tauchte aus dem Stachelbeergebüsche wieder hervor. XXXI. Kapitel .
Von Shakespeare zur Bleipistole , von dieser zum Erlanger Bier und weiteren Genußsüchten und zur schließlich unausbleiblichen Katastrophe .
O , es war eine wunderschöne Zeit für Asmus Semper , besonders wenn man bedenkt , daß er in der freien Zeit , die er nicht bei Dierich Mattes verbrachte , auf das innigste mit einem anderen Manne verkehrte , der William Shakespeare hieß .
Er las den Shakespeare von einem Ende bis zum anderen , er las ihn wie ein prachtvolles Geschichtenbuch voll wunderbarer Abenteuer und prangend bunter Bilder .
O eine schöne Zeit , da sein Geist hin- und herwandelte zwischen Dierichs Tenne und Macbeths Schloß , zwischen seines Freundes Roggenfeld und der Heide des armen Thoms , zwischen Mutter Martens Geranienfenstern und Juliens Balkon !
Er las alles mit demselben andachtoffenen Auge und Herzen : die sinnlichen Schwüre der Liebenden wie die Gedankenflüge Hamlets , die Zoten Falstaffs wie die meuchelmörderischen Greuel des Macbeth ; alles war heilige Feier und Gottesdienst ; denn alles verbrannte auf dem Altare seines Herzens zu einer Flamme höheren Lebens .
O ihr kurzsichtigen Toren , die ihr die Kunst fürchtet um der Tugend Willen !
Hättet ihr hineinblicken können in das Herz dieses lesenden Knaben , ihr hättet verstanden , daß die Kunst unschuldig ist wie das Kind .
Ein merkwürdiger Zufall wollte es , daß er um dieselbe Zeit über einen Jahrgang einer schlechten Zeitschrift geriet , in der der Prozeß gegen die Mörder des Advokaten Fualdes zu einem " Roman " verarbeitet war .
Das Machwerk war ausgiebig illustriert , und so sah man auch ein Bild , wo bei nächtlichem Dunkel das geknebelte und gefesselte Opfer auf einem Tische ausgestreckt lag und ein scheußliches altes Weib ihm ins Gesicht leuchtete , während mehrere Kerle von wüstem und brutalem Aussehen sich zur Abschlachtung des Gefesselten anschickten .
Dieses gräßliche Bild verfolgte ihn viele Monate hindurch .
Er brauchte nur irgendwo im Dunklen allein zu sein - sogleich war das Bild da mit der widrigen Alten und dem grellen Lichtschein auf dem weißen Antlitz des Opfers .
Ja , nach Jahren noch taucht es gelegentlich vor ihm auf .
Er fühlte deutlich zwei Willen in sich : der eine wollte das Bild nicht sehen , der andere , stärkere , wollte es sehen trotz allen Ekels und Grauens , und auch dieser andere Wille war sein Wille .
Der eine Wille sagte : Ich will an etwas anderes denken , an den nächsten Jahrmarkt oder an sonst etwas Schönes , und es gelang ihm auch vortrefflich ; aber mitten im Lärmen und Läuten der Kuchenbuden und Karussells rief plötzlich der andere Wille : Ich will es doch sehen , und das häßliche Bild war wieder da .
Seltsam : er hatte schon so manches Bild von Mord und Totschlag gesehen , er hatte auch die Mordnacht im Schloß zu Inverneß mit allem Blut und allem schleichenden tastenden Grausen geschaut ; aber diese Bilder waren furchtbar und schrecklich , nicht peinigend und ekelhaft ; hinter ihrem Schrecken erhob sich wunderbar beruhigend die Majestät einer höheren und ewigen Welt .
Asmus Semper empfand , ohne es zu wissen , den Unterschied zwischen Kunst und gemeiner Sensation .
Aber einen wie großen Platz auch Dierich Mattes und William Shakespeare im Herzen des Asmus Semper einnahmen : zwei Wünsche vermochten sie doch nicht daraus zu verdrängen : den Wunsch nach einer kleinen Bleipistole mit knallenden Zündblättchen und den Wunsch nach einem jener Gummiballons , die die hineingeblasene Luft durch ein Röhrchen treiben und ein gespanntes Häutchen in Schwingung versetzen , so daß es angeblich " Mama - Papa ! " ruft .
Für einen 111/2jährigen Shakespearekenner waren diese Wünsche freilich ein wenig kindlich ; aber es waren zurückgestellte Wünsche , die er schon auf mehreren Jahrmärkten mit traurigen Blicken spazieren geführt hatte , die aber immer wegen finanzieller Schwierigkeiten unerfüllt geblieben waren .
Er hatte wohl einen Schilling gehabt ; aber dafür fuhr man natürlich Karussell , das war ja seit Anbeginn der Welt so .
Nun endlich schien seine Sehnsucht über alles Erwarten in Erfüllung gehen zu sollen .
Zwei Groschen hatte er schon -
denn die neuen Zehnpfennigstücke nannte man Groschen - als er eines Tages beim Tabakstreifen zufällig fleißig gewesen war , schenkte ihm sein Vater einen dritten .
Asmus entpuppte sich nun plötzlich als ein Virtuos im Tabakzurichten ; er vollbrachte Wunder der Emsigkeit und brachte es zum vierten , fünften , sechsten Groschen !
Und Herr Germer , der Arbeiter , der ihm einmal ein Buch hatte schenken wollen , gab ihm gar zwei Groschen , da waren_es acht !
Und das ging so weiter , bis er endlich achtzehn Groschen hatte .
Achtzehn Groschen !
Ihm war zu Mute wie dem Schulmeister im Wildschütz . als er die Arie singt : " Fünftausend Taler !
Träum oder wach ich ?
Weine oder lache ich ? "
Achtzehn Groschen besaß er , und niemand wußte darum .
Denn daß der Sohn Ludwig Semper sparen werde , konnte kein Mensch annehmen .
Und nun entwarf er einen wohldurchdachten und genau ausgeführten Plan .
Zuerst für 20 Pfennige eine Pistole mit Zündblättchen , dann für 10 Pfennige einen Gummiballon mit Musik , dann für 20 Pfennige Karussellfahren , dann für 10 Pfennige drei Schüsse in der Schießbude , dann für 50 Pfennige ein Butterbrot mit Lachs , dazu für 25 Pfennige ein Seidel Erlanger usw. usw. und endlich für 10 Pfennige drei Zigarren bei Frau Föllmer an der Papenecke .
Lauter heimliche , zurückgestaute Wünsche !
Lauter jahrelang gehegte und gepflegte Sehnsüchte !
Und in einem Nachmittag sollten die 18 Groschen verjubelt werden , das hatte er sich vorgenommen .
Er wollte einmal leben wie ein reicher Herr , wie ein Fürst , das war sein Traum .
Wie er wohl gelegentlich alle Rosinen seiner Suppe bis zum letzten Augenblick an den Rand schob , um sie dann alle zugleich in einem Löffel voll zu genießen , so wollte er alle Freuden der Welt einmal mit einem einzigen Löffel zum Munde führen .
Der Jahrmarkt kam , und das Programm wickelte sich glatt ab .
Nur war es ein Fehler , daß Asmus seinen kleinen Bruder Reinhold an dem Vergnügen teilnehmen ließ , und daß er die Zigarren bei Frau Föllmer kaufte .
Diese brave und gewissenhafte Frau hielt es - die schändliche Verräterin ! - für ihre Pflicht , Frau Rebekka Semper noch nach vier Wochen zu fragen , warum sie denn Zigarren kaufen lasse , da sie deren doch genug im Hause habe .
Asmus hörte , wie seine Mutter im anstoßenden Zimmer mit lauter Stimme das Ungeheure berichtete .
Es war ein heißer Sommermittag , und der Inkulpat legte sich so lang , wie er war , auf den Fußboden und stellte sich schlafend .
Der Schlaf , dachte er , wird ihnen heilig sein .
Aber das Unerhörte geschah : Ludwig Semper-Macbeth mordete den Schlaf ; er rief : " Sieh ' da , er schläft den Schlaf des Ungerechten !
Tu nur nicht , als wenn du schliefest , mein Sohn ; stehe ' nur auf ! " und nun geschah das Unglaublichste : Ludwig Semper gab seinem Sohne einen Schlag an den Kopf .
Asmus war starr .
Es war nur ein leichter , kaum schmerzhafter Schlag gewesen ; aber er tat unendlich weh ; er durchfuhr den ganzen Körper des Knaben .
Seltsam : wenn seine Mutter ihn mit einem Ellenmaß oder einem Kochlöffel geschlagen hatte , dann hatte sie nur seinen Rücken oder seine Schulter oder auch seinen Kopf getroffen , und er hatte diese Schläge bald und oft genug mit einem Lächeln abgeschüttelt - sein Vater hatte den ganzen Menschen getroffen , und diesen einen , leichten Schlag konnte man nicht abschütteln ; er blieb sitzen , und er saß im Herzen .
Er empfand ihn wohl als eine große Schande ; aber viel mehr noch fühlte er ihn als einen tiefen Schmerz .
Und er dachte lange nach :
Warum hat er mich geschlagen ?
Asmus wußte zwar , daß sein Vater vom Rauchen der Kinder durchaus nichts wissen wollte und es entschieden verboten hatte - , aber das genügte sicherlich nicht , um Ludwig Semper dahin zu bringen , daß er schlug . daß er seinen " goldenen Apfel " schlug !
Dahinter mußte noch eine andere Ursache stecken !
Und bald genug sollte Asmus auch diese andere Ursache erfahren .
Vorläufig war die Reihe der Enthüllungen noch nicht erschöpft .
Als der siebenjährige Reinhold hörte , daß die drei Zigarren an den Tag gekommen waren , da fühlte er sich wohlig angeregt , auch von den anderen Genüssen zu erzählen , und nun wuchs alles wieder aus dem Grabe der Vergangenheit hervor :
Die Pistole , der Lachs , der Ballon , das Bier usw. usw.
Jetzt sagte Ludwig Semper nichts , er sah seinen Sohn nur eine Weile schweigend an .
Johannes und Alfred konnten sich gar nicht genugtun mit vortrefflichen Witzen .
" Ja " , hieß es , " die Arbeit schmeckt dir wohl nicht ; du nähmst vielleicht lieber ein Rundstück mit Lachs ? " , oder sie riefen :
" Ein Glas Erlanger gefällig ? " oder " Mein Herr , wollen Sie Mal schießen ? " und so ins Unendliche .
Wer sich aber gar nicht vom Schreck erholen konnte , das war Rebekka .
" Achtzehn Groschen ! " rief sie dann einmal laut , und dann wieder sagte sie es leise vor sich hin .
" Achtzehn Groschen !
In einem Nachmittag vertan !
Davon hätten wir beinahe zwei Tage leben können ! "
Alles das setzte dem Knaben solchermaßen zu , daß er endlich mitten in einer Nacht mit einem furchtbaren Schrei aus dem Bette sprang und in fliegender Angst immer wieder ausrief : " O Gott , ich verbrauch es , o Gott , ich verbrauch es ! "
Erst als sich die tief erschrockenen Eltern und Geschwister um ihn bemühten , erwachte er aus seinem Traum ; aber es währte noch lange , bis er sich wieder beruhigte .
Damit war die Achtzehngroschenschuld getilgt ; Asmus hörte nie wieder ein Wort davon .
Doch sollte er bald von seinem Vater wieder etwas Befremdliches erfahren .
Asmus saß wie gewöhnlich am Arbeitstisch und schien zu überlegen , ob das nächste Tabaksblatt ihn auch wohl beißen werde , wenn er es anfasse - in Wirklichkeit ging er in den Felsentempeln von Ellora spazieren , von denen sein Lehrer Herr Cremer erzählt hatte .
Da rief Ludwig Semper plötzlich in einem gereizten , bitteren Tone , den sein Liebling noch nie von ihm vernommen hatte : " Stehe auf und mache , daß du wegkommst - ich mag es nicht mehr mit ansehen ! "
Dieser Ton schnitt dem Knaben so ins Herz , daß er wie gebannt auf seinem Stuhle sitzen blieb und mit ängstlicher , bittender Stimme sprach : " Laß mich , bitte , hierbleiben ; ich will lieber arbeiten . "
" Nein , nein ! " rief sein Vater , "geh weg , gehe weg , ich will es selbst tun . "
Und Asmus schien es , als ob in seiner Stimme Verachtung läge .
Er durfte sich nicht mehr sträuben ; er mußte hinaus aus der Tabakstube , und er schlich hinaus .
Er ging nicht zu Dierich Mattes , nicht auf die Straße zu seinen Spielkameraden ; er setzte sich im Hausflur auf die Treppe und weinte bitterlich darüber , daß er so faul war und daß er doch beim besten Willen nicht fleißig sein konnte und daß er überhaupt ein so schrecklich unglücklicher Mensch war .
Wie mochte es nur kommen , daß sein Vater so anders sprach und so anders aussah als sonst .
Vielleicht ist er krank , dachte er .
Und in der Tat : Ludwig Semper war krank .
Asmus hörte bald , daß er ganze Nächte nicht schlafe , daß er dann im Bett aufrecht sitze und wache , weil er nicht liegen könne vor Erstickungsangst .
Ein Arzt , der gerufen wurde , nannte die Krankheit Asthma und verschrieb ein Mittel , das nichts verschlug .
Er wurde wieder und wieder gerufen und verschrieb anderes , das ebensowenig nützte .
" Der weiß genau so viel wie ich " , sagte Ludwig , " es gibt kein Mittel dagegen " , und er beschränkte sich von nun an darauf , zu leiden und zu schweigen .
Wenn ihn am Tage ein Anfall packte , dann ging er in einen Raum , wo er sich allein wußte .
Aber Asmus sah ihn doch zuweilen , wie er vornübergebeugt , die Arme auf den Tisch oder die Fensterbank stemmend , schweigend dastand : die Brust heftig auf- und abgehend , die Augen groß und feucht geradeaus starrend und die hohe , breite Stirn blinkend von Angstschweiß .
Asmus sah ein , daß er anders werden mußte .
Und wenn die Täler und Höhen seiner Träume noch so schön waren - er mußte anders werden , er mußte sie meiden und sich mit zusammengebissenen Zähnen festhalten im Tabakgefängnis .
Und er wurde anders .
Er arbeitete mit so fanatischem Fleiße , daß selbst Frau Rebekka ihm gelegentlich sagen mußte , nun sei es genug , er möge hinausgehen und spielen .
Dann allerdings , als sein Vater ein paar Wochen ohne Anfall gewesen war , und als Herr Cremer von Ägypten gesprochen hatte , da war es eines Tages doch wieder so weit , daß er mit einem träumenden Tabaksblatte in der Hand durch gewundene Gänge in das Innere einer Pyramide hinabstieg .
Aber da hatte er ein Erlebnis , ein seltsames Erlebnis. XXXII. Kapitel .
Asmus hört zum ersten Male eine gute Predigt , sieht zum ersten Male Tod und Begräbnis und wird aus Überfluß an Wissen Schulmeister .
Mit Herrn Germer , dem schwindsüchtigen Arbeiter , der ihm einmal ein Buch angeboten hatte , " einerlei , was es koste " , war er zufällig ganz allein im Arbeitszimmer .
Der Leidende mit der eingesunkenen Brust und den vorstehenden Backenknochen sah ihn an und lächelte milde .
" Ach Herrje " , sprach er ohne Schärfe , fast freundlich , " nun sitzt de schon wieder da un dust nichts . "
" Ja " , sagte Asmus trotzig , " wenn man auch den ganzen Tag beim Tabak sitzen muß ! "
" Ach Herrje " , sagte der Kranke , immer in demselben milden Tone , " den ganzen Tag !
Du weißt ja gar nicht , wie gut daß du es hast !
Ich nehme_es der weiter nicht iebel in deiner Unvernunft .
Wenn de ooch 'n klugen Kopp hast , du bist doch halte ebend noch ä unvernünftiges Kind .
Du hast immer satt zu essen un hast was ieber de Fiese ze ziehen un gehst alle Dage in die Schule wie 'n Fürschtenkind .
Un da willst de noch dich beklagen !
Ach Herrje !
Du hättest Mal meine Jugend hättest Mal durchmachen missen , ach Herrje !
Ich will der'sch nicht wünschen , de bist ja ooch ä ganz anderer Mensch als ich , da will ich ja nichts gegen sagen ; aber bloß zwei Wochen möchte ich der'sch Mal wünschen , daß de un kriegst ä Begriff !
Wie ich fünf Jahre bin alt gewesen , da habe ich mit missen in de Streichhölzerfabrik , un daderbei habe ich keine Schuhe ieberhaup nicht gekannt , un Fleisch ?
Ja , wenn mein Vater un hat Mal ä Hund gefangen - das war der aber schon ä großer Festtag , ei Herrje !
Sunschten gab_es Kartoffeln mit Salz , un de Kartoffeln habe ich gewehnlich stehlen missen , un wenn daß keine Kartoffeln da waren , ha 'm mehr Kartoffelschale gefressen .
In de Schule - ach Herrje !
Ich hätte Mal meegen meinen Vater sehen , wenn ich , un hätte in de Schule wollen statt zu arbeeden !
De Jacke hätte er mehr vollgehauen !
Im ganzen bin ich heechstens 'n Jahr in de Schule gegangen , un ich habe ebend so viel gelernt , daß ich kann meinen Namen schreiben .
Un daderbei mußt de nicht Globen , daß ich wäre dumm gewesen ; wenn der Lehrer was gesagt hat , da habe ich es ooch sofort begriffen , was er jemeent hat .
Un als mein Vater war gestorben an der Schwindsucht , da habe 'n meine Mutter und wir fünf Kinder uns alleine durchschlagen missen .
Da ha'm mehr mehr Gestohlenes als Gekooftes gefressen , das kannst_du mehr Globen .
Ach Herrje , wenn ich so dran denke , denn wundere ich mir jedesmal , daß ich bin ä ehrlicher Mensch jeblieben un nicht bin ins Zuchthaus jekommen .
Un nun kommst un willst dich ooch noch beklagen !
Du lebst ja wie ä Graf !
Du hast so gute Eltern , un was haste allein fier 'n Vater , ach Herrje !
Dein Vater is 'n Mann - ach Gott , der es ja viel zu gut fier de Welt !
So gut darf man gar nicht sein dahier in der Welt !
Un nun is er ooch noch krank , un nun kommst ooch noch un ärgerst 'n .
Du mußt nämlich nicht Globen , daß der Mann un weil er nichts sagt , daß der Mann sich nicht innerlich grämt .
Der Mann , der grämt sich viel mehr , als ma denkt . "
Es wäre nicht nötig gewesen , diese Saite im Herzen Asmussens anzuschlagen : ihm rannen schon längst die stillen Tränen über die Backen , heiße , stille , reichliche Tränen .
Kein Priester und Meister des Worts hätte das Herz des Kindes sicherer ergreifen können als dieser arme , kranke , gänzlich ungebildete Mann mit seiner leisen , bescheidenen , fast schüchternen Predigt .
" So 'n Vater , wenn ich hätte " , fuhr der Prediger fort , " ach Herrje !
Ins Wasser täte ich fieren gehen ! "
" Das tu ich auch ! " rief Asmus , er schrie es fast und warf die Arme auf den Tisch , den Kopf darauf , und er schluchzte heftig .
" Nun ja " , sprach der Arbeiter begütigend , " das will ich ja ooch gewiß nicht sagen ; ich will dir ja ganz gewiß nicht wehtun , siehst_du , so mußte das nicht verstehen !
Wenn ich mir schlecht ausgedrückt habe , da mußte ebend entschuldigen ; ich habe ja nichts gelernt .
Du bist ja doch kein schlechter Mensch nicht , i bewahre , du weißt es ebend noch nicht besser ; du kennst eben es Leben noch nicht .
Aber du hast noch ä weiches Herz , un wenn der Mensch bloß noch ä weiches Herz hat , da kann ooch noch alles Jute werden .
Na , nun weine man nicht mehr , hehrste ?
Das habe ich ja gar nicht wollen , daß de weinen sollst .
Weste , ich habe noch 'n paar Bieger zu Hause ; ich verstehe ' se doch nicht , die werde ich dir schenken , un wenn de un besuchst mich wieder ä Mal , da soll dir meine Frau 'n Eierkuchen backen , weil de 'n so gerne ißt . "
Asmus wischte sich die Tränen aus dem Gesicht .
" Ich will auch jetzt anders werden " , sagte er .
" Ich will jetzt - "
Da trat ein Arbeiter ein , und Asmus bückte sich tief auf seine Arbeit , damit man seine rotgeschwollenen Augen nicht sehe .
Er hielt Wort ; so viel man von dem Gedächtnis eines kaum Zwölfjährigen verlangen konnte , hielt er Wort .
Er wurde fleißiger , und niemand wußte , warum .
Mit seinem Moralprediger aber verband ihn von nun an eine feste Freundschaft .
Asmus besuchte ihn wiederholt , und jedesmal mußte die Frau einen Eierkuchen backen .
Es war ein Eierkuchen , wie ihn Asmus durchaus nicht mochte ; aber jedesmal aß er ihn mit Todesverachtung hinunter , so treu war seine Freundschaft .
Herr Germer besaß auch ein zweibändiges Handlexikon , und eines Tages sagte er zu dem Knaben :
" Wenn ich werde gestorben sein , denn kriegst du das Lexikon ; bis mein kleiner Junge so weit is , wer weiß . . . "
" Sie sterben aber doch noch lange nicht ! " sagte Asmus lachend .
" Ach herrje ! " lachte Herr Germer .
Schon acht Tage darauf lag er im Krankenhause , weit hinten in St. Georg ; denn er wohnte in Hamburg .
Am nächsten Sonntag stiefelte Asmus allein hinaus , um ihn zu besuchen .
Auf dem schwarzen Brett über dem Bette des Kranken stand " Phthisis " .
" Des heeßt Schwindsucht " , sagte Germer .
" So ? " sagte Asmus bedrückt , und wußte nicht , was er weiter sagen sollte .
" Des hier is alles Schwindsucht " , fuhr der Kranke fort , indem er mit den Augen auf die anderen Betten deutete .
Es war eine bange , schwere Stunde .
Ringsumher in den Betten lagen hohlwangige , bleiche Menschen mit scharfroten Flecken auf den spitzen Backen und mit glanzlosen Augen , die mit einer merkwürdig apathischen Ausdauer nach dem kleinen Besucher starrten als nach dem Interessantesten im ganzen Zimmer .
Einige schliefen ; einer lag auf dem Rücken und starrte nach oben , und die Bettdecke ging mit seinem Brust in schneller Bewegung auf und ab , immer auf und ab .
Ein anderer ging im Zimmer umher und unterhielt sich sehr vergnügt mit Kranken und Wärtern .
" Der gloobt , er kommt noch wieder raus " . sagte Herr Germer mit einem mitleidig-ironischen Lächeln .
" Da trieben in dem Bett is heit Nacht einer gestorben " , fuhr er nach einer Weile fort .
Der Knabe sah mit scheuen Augen nach dem Bette hinüber , und ein Schauer lief ihm über das junge Herz .
Aber das Schrecklichste von allem war ihm doch die vollkommene Teilnahmlosigkeit der Wärter , die auf dem Gange vor der offenen Tür Allotria trieben und Scherze machten .
Er dachte sogleich an die Totengräber im " Hamlet " , die beim Auswerfen eines Grabes Witze machten , und er sagte sich : Sie sind wohl schon an alles gewöhnt ; aber doch blieb ihm dies das Grausigste von allem .
Er hatte sich vorgenommen , die ganzen zwei Besuchsstunden hier auszuhalten ; aber nach einer Stunde schickte sein Freund ihn fort .
" Nun gehe man lieber " , sagte Germer , " des is hier nichts fier Kinder . "
" Ach - " , sagte Asmus etwas künstlich , " ich bleibe sonst gern noch hier . "
" Nee , nee " , lächelte der Kranke , " gehe man lieber .
Um drei kommt noch meine Frau , sie kann von ihrer Stelle nicht eher loskommen .
Grieß alle recht schön , besonders dein 'n Vader !
Sage ihm man , ich hätte auf keiner Stelle so gern gearbeed wie bei ihm .
Un Grieß ooch deine Mutter , det is 'ne dicht'ge Frau .
Weste , wenn dein Vader un hätte de Enerschie von deiner Mutter gehabt , da war er - ä großer Mann wäre er gewor'n !
Na , laß der es gut gehe 'n im Leben , mein Junge !
Aber da habe ich gar keine Bange ; ich Bild marsch nun ä Mal ein , daß aus dir noch ä Mal was werde !
Pfeifendreher Weste nicht , das steht nun Mal feste !
Da denke nur an mich , was ich gesagt habe . "
Asmus war schon fast an der Tür , als ihn der Kranke noch einmal anrief .
" Grieß ooch den Wolkenschieber , hehrste ?
Des is 'n gediegener Kerl .
Un sag'm , er soll ooch seine Liebste von mir Grießen , de Ephigenia - wie heeßt se man noch ? "
" " Auf Tauris " oder " in Aulis " " , sagte Asmus gewissenhaft .
" Na ja " .
Und Herr Germer lachte sehr vergnügt über seinen Witz , und dann mußte er husten .
" Auf Wiedersehen !
Und gute Besserung ! " rief Asmus .
" Na ja ! " rief der Kranke , zwischen Husten und Lachen hin- und hergeworfen , " ich werde mir Mühe geben . "
Als der Knabe die letzte Tür des ungeheuren Hauses hinter sich hatte , lief er mehr , als er ging .
Erst nach fünf Minuten merkte er , daß er in ganz verkehrter Richtung gegangen war .
Er hatte nur laufen müssen , Bewegung fühlen , seine Kraft fühlen müssen , alles andere war gleichgültig .
Vierzehn Tage später erschien Germer plötzlich im Arbeitszimmer bei Semper .
Er hatte Urlaub bekommen .
Er habe die " Bude " noch einmal wiedersehen müssen , sagte er .
Er blieb stundenlang , als könne er sich nicht von dieser Stätte trennen ; endlich nahm er Abschied , nachdem er sein Werkzeug an die anderen Arbeiter verschenkt hatte .
Die erklärten unter Lachen und Witzen , sie würden es ihm seinerzeit schon wiedergeben ; Germer winkte nur abwehrend mit der Hand .
Schon fünf Tage darauf begruben sie ihn .
Es war das erste Begräbnis , an dem Asmus teilnahm .
Das viele Schwarz : die Schwärze des Sarges , des Leichenwagens und der Träger erschien ihm äußerst widerwärtig .
Warum sieht das alles so abscheulich aus ?
Man kann gar nicht recht traurig sein , dachte er .
Er wunderte sich , daß er nicht trauriger war .
Erst als der Schrein hinabsank und man Erde darauf warf , fror es ihn plötzlich vom Kopf bis zu den Füßen ; denn jetzt erst dachte er :
" Nun sieht man ihn niemals wieder " .
Und als er die Gattin weinen und das Söhnchen des Toten ratlos umherblicken sah , da trat ihm eine einzige , große und heiße Träne ins Auge .
Dann ging er schweigend mit seinem Vater , seinem Bruder Johannes und dem Wolkenschieber heim .
Der Wolkenschieber sprach davon , warum Schiller in seiner " Braut von Messina " die Chöre angewandt habe .
Aber Asmus schwieg .
Er dachte :
Vor einem Vierteljahr hat er noch zu mir gesprochen , so daß ich weinen mußte .
Wie kann er nun mit einem Male weg sein .
Er kann nicht mit einem Male weg sein .
Ich glaube , er geht jetzt neben uns ; aber er läßt sich nichts merken .
Das war nun im Laufe weniger Jahre schon der vierte von Ludwig Semper Gehilfen , der an der schrecklichen Seuche dahinstarb .
Es waren unter diesen armen Leuten zu viele erblich belastete und schlecht genährte Körper , und die Staub- und Gifthölle der Arbeitsstube war nicht geeignet , ihre Lungen zu besseren .
Auch Asmus litt zuweilen an monatelangen Husten , die ihm den Kopf zu sprengen drohten .
Überhaupt ein seltsamer , wechselvoller und lehrreicher Zug von Menschen , der in diesen Arbeitern an dem still beobachtenden Auge des Knaben Asmus vorüberging .
Jeden neuen Arbeiter sah er sich lange von der Seite an und machte sich seine Gedanken über ihn .
Da waren Dänen , Schweden , Belgier und Franzosen , Katholiken , Protestanten und Juden , adrette , saubere Leute und Säufer , Lüderjane und Diebe , stramme Monarchisten und wütende Königsmörder , sinnende Schwärmer und brutale Rüpel .
Eines Mittags trat Asmus gerade in die Arbeitsstube , als zwei Brüder in rasender Wut mit Messern aufeinanderstürzten .
Er schrie laut auf , da ließen sie voneinander ab .
Einmal war auch ein Halbidiot dabei .
Das war , als Ludwig Semper so viel Arbeit hatte , daß er noch einen zweiten Zurichter anstellen mußte , und dieser Zurichter war " Hannis mit de Klock " .
Hannis besaß nämlich eine Taschenuhr , die so groß war wie eine kleine Untertasse , und diese Uhr war der Stolz , die Freude , das Zentrum seines Lebens , wenn man von seinem Appetit absehen wollte .
Das war freilich schwer ; denn er aß so viel Brot , daß ein mäßiges Pferd sich daran hätte genügen lassen können .
Seine Uhr aber band er sich mit vielen Bändern und Stricken am Leibe fest , damit sie ihm niemand nehmen könne .
Natürlich war es eine der reinsten Freuden der Dorfjugend , den guten Hannis , sowie er sich erblicken ließ , zu fragen :
" Hannis , was ist die Uhr ? "
Und dann war Hannis so glücklich , daß er seinen Ehrgeiz nicht zügeln konnte ; er nestelte mit unendlicher Mühe sein Heiligtum los und sagte ihnen auf die halbe Minute genau die Zeit .
Selbstverständlich trieben auch die Semperischen Arbeiter mit ihm ihr gutes und arges Spiel , und das war nun etwas , worüber sich Asmus niemals freuen konnte .
Er hatte ein ungeheures Mitleid mit diesem Menschen , dessen Unglück ihm vielmals größer schien , als es war , ja , er liebte ihn förmlich .
Denn er hatte noch die kindliche Anschauung , daß zum Glücke ein klarer Verstand erforderlich und dienlich sei .
Er suchte seinen Klienten vor Kränkungen zu schützen ; er sprach nur Ernsthaftes mit ihm und erzählte ihm aus der Schule von der Schiefe der Ekliptik und von adverbialen Bestimmungen , weil er auf diese Weise seinen Verstand zu kurieren hoffte .
Überhaupt konnte Asmus das ungeheuer Viele , das er bei seinem jetzigen Lehrer Herrn Cremer lernte , unmöglich alles bei sich behalten .
Er erstattete nicht nur seinem Vater regelmäßig Berichte über Lykurg und Solon , über Marius und Sulla , sondern er machte auch aus einem großen Brett eine Wandtafel , verschaffte sich ein Stück Kreide und unterrichtete die Arbeiter .
Sie waren sehr empfänglich dafür , hörten aufmerksam zu und gaben Antwort wie die Kinder , und der arme Germer , der kaum seinen Namen schreiben konnte , war einer der Gescheitesten gewesen und hatte sogar das präpositionale Objekt von der Adverbialbestimmung unterscheiden gelernt .
Der Eifrigste und Ehrgeizigste aber war ein Rostocker mit einem Shakespearekopfe .
Der nahm Sonntags noch Extrastunden , und nach zwei Jahren konnte er noch immer nicht Substantiv und Subjekt unterscheiden .
Aber er ließ nicht locker ; er wollte seinen Verstand durch die Maße zwingen und nahm immer noch mehr Stunden , und Asmus dachte :
Schließlich muß es doch in seinen Kopf hineingehen , und er stürmte dieses harte Bollwerk mit immer neuem Mute ; aber er drang nicht hinein .
Wenn Asmus fragte :
" Was für ein Wort ist also " und " ? " dann sah ihn der Shakespearekopf mit leuchtenden Augen an und rief :
" Imperativ ! " oder sonst ein Wort , und weiter hat er es auch in seinem Leben nicht gebracht. XXXIII. Kapitel .
Vom herrlichen Herrn Cremer , von einer prachtvollen Hose und von wunderbaren Volksrednern .
Und einmal war unter den Arbeitern auch eine Arbeiterin , eine junge , ansehnliche Zurichterin namens Jette .
Mit ihr kam ein besonderer Geist in die Arbeitsstube .
Die Arbeiter machten Witze , die Asmus nicht verstand und über die sie doch ganz unbändig lachten ; auch Jette drückte den Kopf tief auf ihre Arbeit und kicherte heftig .
Einmal , als Asmus an der Formenpresse stand und sie andrehte , machte er eine Bemerkung , über die sowohl Jette wie die Arbeiter in ein großes Gelächter ausbrachen .
Der Knabe blickte verdutzt umher :
er begriff nicht , was er Komisches gesagt habe ; aber er ahnte , daß sie über etwas Unanständiges , Geheimes und Verbotenes lachten .
Das konnte er schon daraus schließen , daß in Gegenwart seines Vaters nie dergleichen gesprochen wurde .
Ludwig Semper brauchte sich solche Gespräche nicht zu verbitten ; in seiner Gegenwart schwieg all dergleichen von selbst .
Aber Asmus wußte auch schon , daß es in den Beziehungen der Geschlechter etwas gab , was man Kindern verbarg , worüber nicht gesprochen werden durfte , was zu tun und worüber sich zu unterhalten ungeheuer unanständig und schlecht war .
Die vollkommene Harmlosigkeit , mit der er sonst die zweierlei Menschen angesehen hatte , war erschüttert , und den stärksten Stoß hatte ihr die Bibel gegeben .
In der Oberklasse bei Herrn Cremer benutzte man die Bibel , und zwar fleißig .
Jeden Tag ließ er drei bis fünf große Bibelstellen auswendig lernen , was Asmus dergestalt zu Wege brachte , daß er sie unmittelbar vor der Religionsstunde einmal durchlas ; dann wußte er sie .
Und in der Bibel zeigten die Knaben einander mit verstohlenem Blinzeln und Lächeln allerlei interessante Stellen .
Auch in der Klasse des Herrn Cremer kam die Religion nicht zu knapp , wenigstens nach Meinung der vorgesetzten Behörden nicht , die der Ansicht huldigten , daß man das kindliche Gemüt so lange mit Bibelsprüchen , Chorälen und Religionsstunden vollstopfen müsse , bis es gewissermaßen mastfromm würde .
Aber in dem Unterrichte des Herrn Cremer gab es etwas ganz Vortreffliches , und das war Herr Cremer selbst .
Herr Cremer nämlich war , um es kurz zu sagen : ein herrlicher Mann .
Er stand an der Schwelle des Greisenalters und war feuriger als die meisten Jünglinge .
Er sah aus wie ein Graf aus altadeligem Geschlecht und war schlicht und freundlich mit allen .
Er hatte nur ein ganz dünnes , gespaltenes Rohrstöckchen , das er seit vielen Jahren immer wieder zusammengebunden hatte und mit dem er milde und väterlich schlug , und die größten Rüpel hatten heiligen Respekt vor ihm .
Das zeigt den Mann .
Er war ein schöner Mann ; aber eben kein schöner Mann , wie ihn die Ladenmädchen sich denken ; sein rechtes Auge lag viel tiefer in der Höhle als das linke ; aber es blickte unter dem vorragenden Stirnbein hervor wie ein Adler unter einem überhangenden Felsen .
Und mit diesem Adlerblick , wenn er zürnte , mit seinen zitternden Nasenflügeln , seinem immer kurzgeschorenen , edelgrauen , tadellos geformten Aristokratenkopfe und seinem eisenfarbigen Barte konnte er aussehen wie ein humaner Herzog von Alba oder Wallenstein .
Und dieser Mann , der im Jahre wohl 700 Bibelstellen und 25 Choräle auswendig lernen ließ und jede der 5 Religionsstunden um die Hälfte ausdehnte , so daß es 71/2 wurden , er war trotz alledem fromm , echt und ehrlich fromm und glaubte alles , was er lehrte .
Er glaubte auch an seine Sendung , an die Heiligkeit und Fruchtbarkeit seines Berufes , und wenn ein Mensch solchen Glauben hat , so brennt das Feuer dieses Glaubens in all seinen Worten und all seinem Tun .
An der Hand dieses Mannes schritt Asmus Semper durch die Hallen und Säle der Geschichte mit traumhaft zögernden , weilenden Schritten , mit weitgeöffneten , gebannten Augen .
Denn auf den Lippen und in den Augen dieses Erzählers wurde alles Versunkene wieder lebendig , alle Menschen und Reiche , alle Tempel und Schlachtfelder der Vergangenheit , wurden Sanherib lebendig und Sesostris , das rasende , brausende Wetter der Völkerwanderung und der verzauberte Zug der Abendländer nach dem Morgen unter Gottfried von Bouillon .
Mit allen Saugorganen seiner Seele heftete sich der dürstende und hungernde Asmus an die Seele dieses Mannes , wenn er erzählte oder schilderte .
Denn auch zu schildern vermochte er ; die Levante wie die äußerste Thule erwachte vom Hauch seines Mundes , das Pendschab wie die Oase Siwah , und er wußte beredt zu berichten von Dattelpalme und Zuckerrohr , von Zimt und Cassia .
Nur kann man sich leider auch bei lebendigster Schilderung keine Vorstellung von einer Kassiastaude machen , und Anschauungsmittel besaß die hohe Schule von Oldensund nur drei .
Das waren ein Panamahut und ein Rock von chinesischer Seide - die gehörten Herrn Cremer - und eine Luftpumpe .
An schönen , heißen Sommertagen erschien Herr Cremer in dem chinesischseidenen Rock und dem Panamahüte , und wenn dann Amerika daran war . dann zeigte er zur Veranschaulichung den Hut , und wenn Asien daran war , zeigte er den Rock .
Ein Schelm gibt mehr , als er hat .
Die Luftpumpe aber war schon seit Jahrzehnten keine Freundin von Experimenten ; sie widersetzte sich seufzend und fauchend allen Versuchen , und wenn man die Luft vorn herausgeholt hatte , ließ sie sie hinterlistig durch irgend ein neues Loch wieder herein .
Gleich zu Anfang ihres gemeinsamen Wirkens gerieten übrigens Herr Cremer und Asmus in einen Konflikt .
Herr Cremer hatte seinen Schülern fünf oder sechs Beweise für die Kugelgestalt der Erde gegeben und verlangte nun , daß sie sie aus dem Gedächtnis niederschrieben .
Asmus schrieb einen Beweis hin und setzte darunter " usw . "
Denn er sagte sich :
was bewiesen ist , ist bewiesen .
Etwas fünfmal beweisen ist lächerlich und erweckt nur den Anschein , daß die Beweise nicht viel taugen .
Herr Cremer aber erblickte in diesem " usw . " den Ausdruck einer außergewöhnlichen Faulheit und machte aus dieser Auffassung auch durchaus kein Hehl .
Bald aber verstanden sich diese beiden Menschen und wurden die allerbesten Freunde .
Indessen : das Glück hatte den kleinen Asmus von jeher knapp gehalten , damit er nicht übermütig werde .
Wenn es ihm einen leckeren Kuchen hinhielt , so ließ es ihn einmal abbeißen , dann zog es ihn wieder zurück , und es ist schon möglich , daß es damit eine sehr gute Absicht verfolgte , die aber der Knabe nicht verstand .
Auch in dieser Klasse fiel Asmus auf sowohl durch sein Wesen im allgemeinen , dem nicht jeder Spielkamerad gefiel , als auch durch die Unverschämtheit im besonderen , mit der er eine ganze Reihe bemooster Häupter überflügelte , alte , würdige Herren , die schon lange in der Klasse saßen und deshalb weit ältere Rechte auf die guten Plätze hatten als dieser Emporkömmling .
Und seltsam : wieder sollte es ein Kleidungsstück sein , was die Mine zum Springen brachte .
Solange er die graue Hose hatte , war er geborgen , ja war allen überlegen .
Diese Hose , die ihm seine Schwester Adelheid von ihrer Herrschaft mitgebracht hatte , war einfach elegant , war dandymäßig , hoffähig , eines Prinzen von Wales würdig .
Sie war nach der Mode jener Zeit sehr eng und zeichnete die wohlgeformten , fast ganz geraden Beine des Asmus Semper mit wundervoller Plastik ab .
Es ist begreiflich , daß er sich gewöhnte , mit gesenktem Kopfe zu gehen :
er mußte die Hosen genießen ; er hatte ja nie so etwas auf dem Leibe gehabt .
In den Tagen dieser Hose ging er dreimal nach dem Gasthause zwischen den Eisenbahndämmen , in der Hoffnung , die kleine griechische Königin zu finden ; aber er hoffte und harrte vergebens .
Eines Tages aber spielte er in nächster Nähe einer Maschinenfabrik und spielte so herrlich , daß er sogar seiner Hose vergaß und ganz harmlos in einen Tümpel hineinkniete , der aus einer reinen und kräftigen Mischung von Eisenstaub , Ruß und Maschinenöl bestand .
Die Weherufe und die Schläge , die von Mutter Rebekka ausgingen , waren ja das Wenigste - das Zermalmende war , daß der Flecken allen Beseitigungsversuchen mit hämischer Fettigkeit trotzte .
Ein Glück , ein wirkliches , ganzes Glück war ihm vernichtet worden , nein , hatte er sich selbst in einer Minute frevelhaften Leichtsinns vernichtet !
Nun mußte er doch den Überzieher anziehen .
Bisher hatte er lieber gefroren , als seine liebe Hose zu verdecken .
Aber dieser Überzieher , der zu weit größerem bestimmt war , als zur Bedeckung Asmus Semper , reichte fast bis zu den Knöcheln hinab und verhüllte den bösen Fleck .
So erwachsen war dieser Überzieher , daß ein Herr , bei dem Asmus eine Bestellung auszurichten hatte , ihn mit " Sie " anredete .
Asmus fühlte sich wunderbar erhoben und dachte :
Ich muß in dem Überzieher sehr groß aussehen .
Aber das war die einzige Freude , die er an dem Kleidungsstücke erleben sollte .
Sowie er damit in der Schule erschien , hieß es :
" Hurra , Trudel mit_dem Überzieher ! " und die alten Leiden begannen von neuem .
Die Mine war gesprungen und ihr Feuer brannte ihm auf der Haut und ins Fleisch bis ins Herz den langen , langen Winter hindurch .
Und was der Überrock nicht tat , das tat Ferdinand Lassalle .
Das Lassalleanertum hatte in der Semperischen " Bude " starken Boden gewonnen .
Johannes war unentwegter Abonnent des " Sozialdemokraten " und las oft und kräftig daraus vor .
Er ging seltener in die Oper und ins Konzert , er ging vielmehr in die Volksversammlungen und schilderte am anderen Morgen , wie großartig Hasenclever und Hasselmann und Most geredet hatten .
Der Wolkenschieber schritt mit langen Beinen auf dem Wege des Liberalismus der Sozialdemokratie entgegen ; er stand augenblicklich bei Gervinus .
Was sonst an Arbeitern durch die Semperische Stube ging , war jedenfalls auf irgend eine Weise radikal , für die Armen und gegen die Reichen , für die Niederen und gegen die Hohen , für die Laien und gegen die Priester .
Bei den Armen , Niederen und Laien ist das begreiflich .
Sie nahmen aber nicht alles an , was Hasenclever gesagt hatte ; sie stritten darüber oder es mußte einer den " Bourgeois " markieren und Gründe gegen die Sozialdemokratie vorbringen , dann führten sie heftige Debatten ; denn sie glaubten durch Debatten der Wahrheit näher zu kommen , oder wenn nicht der Wahrheit , so doch ihrer Erlösung .
Ludwig hörte allem , wenn er sich wohl fühlte , mit hellen , blitzenden , oft ins Ferne gerichteten Augen zu und sagte sehr selten etwas .
Er las gern eine Rede von Bebel ; aber er las auch gern eine von Lasker oder Windhorst , wenn sie geistreich oder schwungvoll war .
Er hörte mit Freuden flammende Reden gegen Tyrannen und Blutsauger , war ein begeisterter Verehrer Dantons und war auch im Prinzip und im allgemeinen für Revolution , wenn es damit keine Eile hatte und wenn es anständig und menschenfreundlich dabei herging .
In einem stimmte er mit seinen Arbeitern unbedingt überein :
er mochte Bismarck nicht leiden .
Der war so unsemperisch .
Johannes bekleidete aber bald einen Vertrauensposten in der Oldensunder Parteiorganisation und empfing nicht selten vornehmen Besuch von Parteihäuptern und Rednern .
Ein ganz dicker war darunter , der hieß " Ganz Deitschland " ; denn er sagte mit Vorliebe : " Mei Name is begannt in ganz Deitschland " .
Es war ein guter , freundlicher Mann , der Asmus einmal schmeichelnd übers Haar strich , daß er ehrfurchtsvoll bis in die Wurzeln seines Wesens erschauerte .
Denn der Knabe blickte alle diese Männer von der Seite mit scheuer , staunender Verehrung an , diese Männer , die vor tausend Menschen hintreten und stundenlang reden konnten .
Der kleine Bursche hatte einen unendlichen Schatz von Pietät in seinem Herzen und glaubte , die in solchen Versammlungen redeten , das wären die Klügsten. XXXIV. Kapitel .
Warum Asmus die Biographie Ferdinand Lassalles schrieb , warum er nie der Erste werden konnte und warum er die Missionsreisen des Apostels Paulus noch einmal machte .
Dann aber kam gar ein Tag , da er mitdurfte in solch eine Versammlung !
Es war keine " politische " Versammlung , es war " Lassalles Totenfeier " .
Als der Knabe mit seinen Eltern und Geschwistern den langen , dämmerigen Saal betrat , stand er sogleich still , gebannt von einem Anblick am anderen Ende des Saales .
Die ganze Breite der gegenüberliegenden Wand war eingenommen von einem seltsamen Bilde .
Es war ein transparentes Bild : ein schöner Mann mit einem Schnurrbart und in weißem Hemde lag in den Kissen eines Bettes , die Arme auf die Decke gelegt , die Augen geschlossen , ein Sterbender oder Toter .
Das war Lassalle .
Überall im Saale herrschte nur halbes Licht ; Säulen und Decken waren mit Girlanden und Fahnen geschmückt ; aber alles war mit Floren umwickelt .
Hier und da hingen rechteckige Transparente , die in leuchtenden Lettern Kernsätze der neuen Lehre verkündeten .
Auch eine weiße , von Lorbeer umschattete Büste stand auf dem Podium ; aber Asmus mußte immer wieder nach dem toten Manne blicken , der nach seiner Meinung für die Armen gestorben war , und sein Herz war voll Mitleid , Trauer , Ehrfurcht , Dankbarkeit und Begeisterung .
Dann begannen die Vorträge : Lieder , meistens schlecht gesungen , Gedichte , noch schlechter deklamiert , und Reden , und immer wieder Lieder , Gedichte und Reden , drei Festreden , jede mindestens eine Stunde lang ; es währte bis über die Mitternacht hinaus .
Immer öfter mußte " Ganz Deitschland " auf die Tribüne steigen und rufen : " Geehrte Anwesende !
Ich möchte um Ruhe bitten ! " aber sobald er unter allgemeinem Bravo das Podium verlassen hatte , hob der Lärm am Büfett wieder an .
Dort hatten sich die meisten Männer versammelt , um Bier zu trinken und sich zu unterhalten ; im eigentlichen Saal saßen fast nur noch Frauen und Kinder .
Da - der ganze Saal war schon ein wogendes Meer von Tabaksqualm , Stimmengewirr und Bierdunst - da betrat ein hagerer , steifer Jüngling die Tribüne , und das war Heinrich Moldenhuber .
War es möglich !
Der Wolkenschieber , der jeden Tag bei ihnen in der Stube saß , dem er immer die Äpfel aus der Rocktasche geholt hatte , damals im " Düstern langen Balken " - der war auch einer von den großen Männern , die Reden halten konnten .
Und er war gar nicht bange ; er schob die Unterlippe vor , lächelte und begann zu reden .
Asmus hörte genau zu ; aber er verstand nur sehr wenig :
Moldenhuber sprach nämlich um halb zwölf Uhr über Gervinus und dessen " Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts " , und am Büfett waren Unterhaltung und Bierverbrauch in stetiger Zunahme begriffen .
Dann ging wieder " Ganz Deitschland " auf und mahnte zur Ruhe , und dann kamen wieder Lieder und Gedichte .
Asmus blickte zuletzt durch all diesen Wirrwarr und Qualm und Lärm nur noch still nach dem stillen Mann auf dem Totenbette : das war das Schönste an diesem Abend .
Dieses Bild folgte ihm in die Tage und Nächte , und endlich konnte er es nicht mehr in sich bewältigen und bergen ; er nahm , da er kein anderes Papier hatte , seine Schulkladde her und schrieb dahinein nach seinem Gedächtnis mit zitternder Erregung das Leben und Sterben Ferdinand Lassalles .
Nun war aber Asmus in Dingen der Ordnung nie in seinem Leben ein Pedant gewesen , und so geschah es ein paar Monate nachher , daß er seine Kladde in der Schule vergaß und liegen ließ .
Ein Mitschüler fand sie am anderen Morgen und zeigte sie herum .
Man fand die Lassalle-Biographie .
Ungeheures Gaudium !
Das mußte man Herrn Cremer zeigen , der von Zeit zu Zeit in seinen Religionsunterricht wuchtige Reden gegen ungläubige und demokratische Menschen verflocht !
Zu jener Zeit hatte der Sozialismus selbst unter der Arbeiterbevölkerung nur noch geringen Anhang , und besonders waren die Kinder noch von keiner Politik angesteckt .
Herr Cremer also nahm das Heft , las die begeisterte Monographie und steckte dann das Ganze in den Ofen .
Gleich darauf trat Asmus ein .
Er spürte sofort , daß die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse auf ihn gerichtet war , eine spitzige , lauernde , nicht eben liebevolle Aufmerksamkeit : stechende Augen und gespannte Mundwinkel .
Aber es geschah etwas Unerhörtes :
Herr Cremer erwähnte die ganze Angelegenheit mit keinem Worte , hielt seinen Unterricht wie immer und fragte Asmus Semper so oft und so freundlich wie je .
Für diese bittere Enttäuschung mußten sie Entschädigung haben .
Und schon in der nächsten Pause ging es los .
Er hieß jetzt nicht mehr Trudel , sondern Lassalle .
" Hurra , kiek , Lassalle mit_dem Überzieher ! " riefen sie .
" Lassalle , halte Mal 'ne Rede ! "
" Lassalle , bist du 'n Jude , Lassalle ? "
Freilich , so rohe Mißhandlungen wie ehemals hatte er nicht zu dulden ; Herr Cremer hielt seine feste Hand schützend über jeden Schüler .
Es waren feinere Qualen , die er litt .
Er hatte das Gefühl , ein Einsamer , Gemiedener zu sein , wie ein schlechter Kerl von ihnen angesehen zu werden .
" Nehmt jo man in acht " , sagte ein Bauernsohn , " he will alles Dellen !
Paßt man op joer Botterbrot !
Mein Vader seggt : De Dezimalkroaten wüllt ni arbei'n , oder fix verdienen ! "
Am schwersten aber litt er , wenn Herr Cremer , wie er das von Zeit zu Zeit für seine Pflicht hielt , gegen die Ungläubigen , die Unzufriedenen und die Volksverführer sprach und sie verächtlich oder lächerlich machte .
Dann wußte Asmus :
Jetzt denken sie alle an dich , und ihre Blicke schlichen , wo es möglich war , zu ihm hin und verweilten schadenfroh auf seinem Gesichte , daß er nicht wußte , wohin mit seiner Scham .
" He glövt auch nicht an Gott " , sagten sie von ihm und ließen ihn allein stehen wie einen Aussätzigen .
Der gute Herr Cremer hatte für solche Kampf- und Streitreden eine ganz bestimmte Schlußformel .
Wenn er mit schlagenden , gar nicht zu widerlegenden Gründen das Dasein Gottes oder die Notwendigkeit der Monarchie oder der bestehenden Gesellschaftsordnung bewiesen hatte , dann schloß er :
" Wissen denn das alles die Volksverführer nicht ? -
Wissen sie sehr gut ! -
Warum handeln sie denn nicht danach ? -
Paßt ihnen nicht in ihren Kram . "
Und dann war die Sache erledigt .
Obwohl nun aber Herr Cremer ganz genau wußte , welch ein Geist im Hause des kleinen Semper geschäftig war und dieses Kind unverkennbar beeinflußte , so dauerte es doch nicht lange , bis Asmus auf der ersten Bank saß und der dritte in der Klasse war .
Dann freilich hieß es :
Bis hierher und nicht weiter ; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen .
Höher konnte Asmus nun und nimmermehr steigen ; die beiden über ihm waren nicht zu bewältigen .
Der Erste nämlich war ihm überlegen in der Ordnung und in der Religion .
Der war immer tadellos angezogen , hatte tadellose Hefte , machte tadellose Striche , gab tadellose Antworten , war überhaupt tadellos und dabei doch ein guter Junge .
Und von der Religion glaubte er alles , ohne Abzug .
Herr Cremer mochte fordern , welches Dogma er wollte , Julius Tipp bekannte sich dazu .
Asmus betrachtete ihn oft mit Staunen .
Er dachte so oft : Auf diese Frage könnte man doch alles mögliche antworten ; aber nein :
Julius Tipp präsentierte Herrn Cremer genau die eine Antwort , die er wollte , und immer genau mit den Worten des Herrn Cremer .
Wenn Herr Cremer fragte :
" Wissen denn das die Volksverführer nicht ? " dann antwortete Julius :
" Wissen sie sehr gut . " und wenn Herr Cremer dann fragte :
" Warum handeln sie denn nicht danach ? " dann sagte der Primus : " Paßt ihnen nicht in ihren Kram . "
Der war nicht wegzubringen , das war klar .
Der saß fest .
Das war der primus omnium .
Er ist auch später Stationsvorsteher geworden .
Und der Zweite war Asmussen überlegen im Rechnen und in der Sittlichkeit .
Im Rechnen war es noch nicht so schlimm , da hätte ihn Asmus mit einiger Mühe vielleicht eingeholt ; aber in der Sittlichkeit war es schlimm .
Der secundus omnium besaß nämlich eine unglaubliche Geschicklichkeit darin , während des unmittelbarsten Unterrichts zu schwatzen und zu frühstücken .
Er konnte unsichtbar kauen und schlucken , und wenn er seinem Nachbar Asmus etwas mitzuteilen hatte , dann wußte er mit Zähigkeit und Schlauheit den Augenblick abzupassen , da Herr Cremer nach einer anderen Richtung blickte .
Asmus aber war viel zu temperamentvoll , um erst auf einen gleich günstigen Zeitpunkt zu warten ; er antwortete frei von der Leber weg oder er steckte gerade eine Kirsche in den Mund , wenn ihn Herr Cremer nach den Funktionen des heiligen Geistes fragte , und dann rief Herr Cremer mit finsterem Adlerblick :
" Asmus Semper - hierher !!! "
Dann mußte Asmus herausklettern aus der Bank , sich neben dem Pult des Herzogs von Alba aufstellen und gegen die Wand blicken .
In den mehr als tausend Religionsstunden , die Asmus zu den Füßen Cremers genoß , mußte er manche hundertmal neben dem Pulte stehen und gegen die Wand blicken .
An der Wand aber hing eine große Karte von Europa , und die war seine Freundin .
Auf dieser Karte war auch Kleinasien mit Palästina , und Asmus machte nun zunächst etwa einen Spaziergang ums Tote Meer .
Er blickte langsam empor an dem schroffen Felsengestade , um dessen Wände das öde Grauen hing , und starrte hin über die Flut , die in schauriger Stille floß , wo Sodom und Gomorrha einst gelebt und gelärmt .
Dann war er in Pniel , wo Jakob mit dem Herrn rang , bis er " hinkte an seiner Hüfte " .
Dann in Kirjath Jearim , wo die Bundeslade aufbewahrt wurde .
Dann in Sichar , wo Jesus mit einem Weibe am Brunnen saß .
Dann in Nain -
da hörte er ganz deutlich , wie Christus zu der Witwe , deren einziger Sohn gestorben war , herantrat und sprach : " Weine nicht " .
Wenn er das sagte , dann weinte man nicht mehr .
Dann kam Asmus nach Kana in Galiläa , wo eine Hochzeit war und der Herr fröhlich und menschlich unter den Menschen saß und lächelte zu ihrer Freude .
Es war auch ein Plan von Jerusalem auf der Karte , und Asmus verweilte mit bangem Blick auf dem Berg des Ärgernisses und dem Berg des bösen Rates , dann aber eilte er hinauf an den von ewiger Freude umgrünten See von Tiberias und zum Berg der Seligkeiten , der lächelnd in ihn hinabschaute .
Und von Antiochien machte Asmus sich auf und ging mit Saul von Tarsus auf die Reise und machte mit ihm drei große Missionsreisen , lange , weite Reisen durch Sonnenbrand und Staub , durch Einsamkeit und Not , durch Leiden und Verfolgung , und doch Reisen durch lauter Licht .
Alles ein einziger Gang nach Emmaus , breite Sonne auf Weg und Höhen , geheimes Himmelslicht im Herzen .
Es war dem kleinen Semper , als wäre eine große , köstliche Festlichkeit in dieser ganzen Frühzeit des Christentums .
Sie glaubten alles , was sie lehrten und wofür sie starben ; sie waren ganz mit sich eins , und wo das ist , da ist Allgegenwart des Lichtes , Allgegenwart Gottes .
Licht und Freude ist überall in diesen Jahrhunderten der Kindheit : in den Krypten der geheimen Gemeinden wie in Kerkern und Arenen , auch im Martyrium und im Tode .
" Siehe , ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende ! " -
das klang durch die Jahrhunderte unter Domitian bis Diokletian .
Nicht schrecklich und grauenvoll erschienen ihm die Christenverfolgungen ; er sah nur auf der Stirn der Märtyrer den Glanz des Morgenlichtes , dem die Seligen entgegenstarben .
Auch Asmus Semper war bereit zu sterben ; für seinen Vater wollte er sterben .
Er wünschte , es möchte doch eines Tages heißen :
" Du mußt sterben oder dein Vater ! "
Dann wollte Asmus sagen : " Ich will sterben ; laßt meinen Vater leben . "
Einstweilen aber zog er noch mit Paulus gen Paphos und Ikonia , gen Lystra und Derbe , gen Thessalonich und Ephesus .
Er sah den Aufruhr sich durch die Straßen wälzen , den der Goldschmied erregt hatte , und hörte die Menge schreien : " Groß ist die Diana der Epheser ! " -
und plötzlich hörte er eine Stimme aus dem Haufen fragen :
" Welches sind also die fünf Stücke der christlichen Heilsordnung , Asmus Semper ? "
Es war Herr Cremer , der ihn aus Ephesus abberief .
Aber Asmus konnte nicht antworten ; er konnte nicht so schnell zurückkommen ; da zog ihn denn Herr Cremer an einem Ohr von Ephesus nach Oldensund und rief : " Paßt du noch immer nicht auf , du Schlingel ? " und gab ihm eine Maulschelle wegen seiner mangelhaften Religion .
Und doch war es alles Religion gewesen , was er soeben in Syrien und Kleinasien , in Mazedonien und Hellas getrieben hatte : lautere , klare Religion , nur freilich eine andere als Herr Cremer lehrte .
Die Religion liebte er nicht , die glaubte er nicht , für die konnte er nicht sterben , nein .
Er hatte den religiösen Lehren des Herrn Cremer lange genug und scharf genug zugehört .
Er wußte , daß die zu Hause von dem , was sein Lehrer vortrug , entweder wenig oder gar nichts glaubten ; er hatte eine Menge von radikal-rationalistischen Ideen und Worten in sich aufgenommen , ja viele von den Arbeitern seines Vaters hatten alle Religion als Unsinn und Pfaffenbetrug bezeichnet .
Aber er hatte trotz alledem mit horchender Seele zugehört ; sein ganzes Wesen hatte sich darauf gespannt , hier , von diesem vortrefflichen Manne die Wahrheit und das Rechte zu hören .
Und Herr Cremer war ein ausgezeichneter , lebendiger Lehrer , der das Menschenmögliche tat , die Knochen der Dogmatik mit Fleisch zu umkleiden .
Und Asmus horchte und horchte , straffte seine Stirnhaut und drängte alle seine Aufmerksamkeit nach vorn , als wenn das Gehirn zu den Augen hinaussollte - aber er verstand Herrn Cremer nicht .
Merkwürdig : Julius Tipp , der Erste , schien ihn zu verstehen , Ewald Knapp , der Zweite , auch , und noch viele , viele andere , die weit dümmer waren als er .
Er hatte immer das Gefühl : Er muß gar nicht das sagen , was er sagt , er könnte auch irgend etwas anderes sagen .
Wenn Herr Cremer etwas bewies , dann dachte Asmus : mit diesen Worten könnte er alles andere auch beweisen ; es war ihm überhaupt , Herr Cremer spräche dann nur irgend etwas Beliebiges - so wenig verstand er ihn , so wenig überzeugte ihn der treue , ehrliche , kluge Herr Cremer .
Daß Gott eins sei und auch wieder drei und auch wieder eins , das verstand Asmus nicht .
Daß Jesus Mensch sei und doch auch nicht Mensch , Gott und auch nicht Gott - er verstand es nicht .
Daß man aus Liebe für die Menschen sterben könne - ja , das begriff er , das hatte er im Tiefsten seines Herzens gefühlt , als der armselige Herr Rosig das Leiden Christi vorlas ; aber daß durch diesen Tod die Menschheit erlöst sei , daß um dieses Leidens Willen anderen ihre Sünden vergeben wurden - das verstand er nicht , da mochte Herr Cremer reden , so lange er wollte .
O , Asmus Semper kannte sie alle sehr wohl , die Antworten , die der Lehrer erwartete und die Julius Tipp und die anderen ihm gaben ; er wußte sehr wohl , daß er , wenn Herr Cremer fragte :
" Warum ist Christus zur Hölle niedergefahren ? " , zu antworten hatte :
" Um den Seelen der Ungetauften das Evangelium zu bringen und dem Teufel die Macht zu nehmen ; aber Asmus antwortete nicht .
Er hatte die ganze Katechismuslehre am Schnürchen ; aber er antwortete nicht .
Denn er dachte bei sich :
" Wenn ich ihm das antworte , dann meint er , ich glaube daran " , und dieser Gedanke war ihm unsäglich widerwärtig .
Er hatte den Lehrer zu lieb , um ihn zu betrügen ; er war aber auch zu stolz , zu hartköpfig dazu , etwas zu sagen , was er nicht glaubte , ja , was er wegen der Aufdringlichkeit , mit der es ihm immer wieder vorgerückt und aufgenötigt wurde , haßte .
Einmal im Jahre kam der Schulinspektor , ein Pastor , und prüfte vierzig Minuten in der Dogmatik und fünf Minuten in den Wissenschaften .
Asmus antwortete nicht .
Einmal kam sogar der Generalsuperintendent der Provinz , ein Patriarch , dessen rundes Gesicht ein Präsentierbrett voll himmlischer Süßigkeiten war - aber Asmus antwortete nicht .
Er wollte lieber für dogmendumm , faul oder unaufmerksam gelten , als Antworten geben , die ihm Bekenntnisse schienen . Hin und wieder mußte er auch beten ; denn das Beten zu Anfang und am Schlusse des Unterrichts ging reihum .
Hundert und hundert Mal dachte Asmus : Du willst ihm sagen : Bitte , lassen Sie jemand anders beten , ich kann nicht beten , ich mag nicht beten , ich glaube ja gar nicht daran .
Das waren ihm schreckliche , qualvolle Minuten , wenn er den Kopf neigen , die Hände falten und so tun mußte , als wenn er fromm wäre ; er kam sich dann sehr schlecht und feige und verlogen vor ; aber er wagte doch nicht , sich zu weigern .
Denn er hatte eine dunkle Furcht , als wenn dann ein großer Zusammenbruch kommen , als wenn er dann die Zuneigung seines Lehrers für immer verlieren und sein Leben in der Schule unerträglich werden müßte .
Und dennoch betete er zuweilen .
Er ging dann wieder in ein Zimmer ganz mit sich allein , faltete die Hände und sprach :
" Lieber Gott , sage mir nur ein einziges Mal , ob du wirklich da bist , - gib mir ein Zeichen , dann will ich auch ganz gewiß an dich glauben , mein ganzes Leben lang - " , aber es kam kein Zeichen .
So blieb ihm denn jede Religionsstunde ein anderthalbstündiges Leiden , bei dem er sich auch körperlich unwohl fühlte , es sei denn , daß ihn eine wohltätige Unaufmerksamkeit überfiel oder daß er sich plötzlich mit inniger Freude erinnerte , diesen Morgen Butter auf dem Brote oder gar ein paar Pflaumen in der Tasche zu haben .
Dann begann er behutsam zu frühstücken ; aber dann hieß es gewöhnlich schon nach dem ersten Bissen :
" Asmus Semper , hierher !!! " und dann machte er wieder Missionsreisen und wurde am Oelberg oder am See Genezareth wieder ein Christ. XXXV. Kapitel .
Asmus Semper als Don Juan , Theaterdirektor und überflüssiger Dichter .
Dieses fünfmalige wöchentliche Leiden schleppte sich durch vier unendliche Jahre .
Denn vier Jahre mußte Asmus auf dieser Stufe der Kultur zubringen , weil eine höhere für Asmus Semper in Oldensund nicht zu erklimmen war .
Aber zum Glück waren die vier Jahre in anderen Stunden wieder durchaus nicht unendlich , sondern kurz und erfreulich .
Bei Herrn Cremer gab es keine Leibwache , keine Strelitzen , die die Verfolgung überlegener kleiner Mitschüler organisierten und zum Fachstudium und Beruf machten ; der Zahn der Zeit zernagte Asmussens Überzieher ; Gras wuchs über Leben und Sterben Ferdinand Lassalles , und nach und nach kamen auch hier die kleinen Leute immer mehr dahinter , daß dieser Semper überhaupt ein ganz anderer Mensch sei , als sie geglaubt hatten .
Zehn oder zwölf von ihnen gründeten eine " Liedertafel " , und als es zur Wahl kam , da wählten sie durch Akklamation Asmus Semper zum Präses und Dirigenten .
Ganz hinten im Holstenloch , wo nur die Kühe sie hörten , am Eingang einer Wiese , hielten sie ihre Übungen ab .
Sie saßen auf dem Wiesengatter ; Asmus stand vor ihnen und dirigierte , und sie sangen :
" Laue Lüfte fühle ich weben , Goldener Frühling taut herab . "
Und wenn sie gesungen hatten , beratschlagten sie immer wieder , wie sie ein Banner kriegten .
Das war ihre größte Sorge ; denn ohne Banner waren sie überhaupt gar keine Liedertafel .
Sie verrauchten eine große Menge Tabak , ohne daß ihnen doch etwas Rechtes einfiel .
Asmus Semper aber wälzte noch ganz andere Sorgen in seinem Haupte und Herzen herum .
Diese Sänger waren ja nur ein einzelnes Moment in einem groß angelegten Plane .
Er hatte etwas Ungeheures vor .
Den Don Juan wollte er einstudieren und aufführen .
Weniger nicht .
Und zwar nicht etwa mit Puppen , nein , mit Menschen .
Er hatte den Don Juan nicht selbst gehört und gesehen ; sonst wäre ihm das Werk der Herren Mozart und da Ponte doch wohl etwas zu kolossal vorgekommen .
Nein , er hatte nur Johannes gehört ; der hatte das Wunderwerk selbst genossen und mit fliegenden Nüstern darüber berichtet , über die Ermordung des Komturs , über die drei Masken auf dem Balle , über die Einladung des steinernen Gastes , über dessen erderdröhnendes Erscheinen und über des Verführers Höllenfahrt .
Und Johannes hatte den Don Juan gesungen , und dann war in Ludwig wieder der Oktavio erwacht , und dann sang wieder Johannes den Leporello , und dann richtete sich in Ludwig wieder drohend und gewaltig die Donna Anna empor und sang : " Du kennst den Verräter !
Er drohte mir Schande !
Entriß meiner Liebe Den besten der Väter .
Zur Rache , zur Rache Ruft Liebe , ruft Ehre Vereinigt dich auf ! " und dann war in Asmus einfach kein Halten mehr .
Den Don Juan wollte er selbst spielen , dafür war er Direktor und Regisseur .
Er hätte freilich nicht sagen können , welche Schande denn eigentlich der Tochter des Komturs gedroht habe , und er begriff eigentlich nicht , warum Masetto sich so heftig dagegen sträubte , daß Don Juan mit Linnen tanze .
Es war ein Don Juan mit einem fast unberührten Kinderherzen .
Aber fechten wollte er mit dem Komtur und ihn niederstechen , daß es eine Art hatte , und wenn der steinerne Gast sein Gelenk umklammerte und rief : " Bessre dich ! " dann wollte er " Nein ! " rufen , daß es durch die Hallen gellte .
Johannes sollte auf dem Klavier die Musik dazu machen ; ob er es könne und wolle , danach fragte Asmus vorläufig nicht .
Einen Oktavio , Komtur und Masetto wollte er aus seiner Liedertafel nehmen ; die Donna Anna sollte die schlanke Christiane spielen - ach , wenn er doch die kleine Königin der Mainotten einmal wiedersehen könnte - die müßte mit ihren traurigen Augen Elvira sein !
Freilich , ob er es fertig bringen würde , sie so schlecht zu behandeln , wie es Don Juan getan , daran zweifelte er .
Für den Leporello wollte er Ewald Knapp gewinnen , weil er so heimlich kauen konnte .
Und die Dekoration - Oh - die wollte er schon kriegen !
Einstweilen malte er sie mit fliegenden Blicken in die Luft : die Vorhalle im Palast des Gouverneurs , den lichtgoldenen Ballsaal Don Juans , das mondumgeisterte Grabmal des Ermordeten .
So voll war er dieser Dinge , daß er sein Herz seinem Freunde Dierich Mattes ausschütten mußte .
" Mensch " , rief er , " kennst du Don Juan ? "
" Nee " , sagte Dierich mit großen Augen .
" Junge , Mensch , das is großartig !
Denn kummt Don Juan und will Donna Anna entfuhren , un denn kummt de Komtur und singt : " Laß sie Verführer !
Zieh deinen Degen ! " un denn singt Don Juan : " Ha , grauer Alter , noch so verwegen ? " un denn fecht se mit nanner , un denn stickt Don Juan em tot .
Und denn kummt Donna Anna und Oktavio un Elvira - de hett' e auch verfuhrt ; he hat öberhaup dusend un twee Stück verfuhrt - de kommt maskiert bi em op't Fest , un denn wüllt se em to Liv ; oder da treckt he sin 'n Degen un haut sick mitten mang jem durch - he ganz allein gehen all de anderen ! - und denn geht he op 'n Kirchhof un Lot denn Toden Gouverneur in :
" Willst du mein Gast sein ? " un denn , Mensch , denn schint de Mond op de stenerne Statue , un denn fangt se mit eenmol an to singen un singt : " ja . . . . . . a . "
Un richtig : As Don Juan rech so vergneugt is , da kummt de steinerne Gast , un da seggt he to em , he sall sick doch Betern ; oder das will 'e nicht , un doo versackt de Komtur in de Ehre , un da kummt ut alle Ecken de Furien und Ritt em in de Hüll dol !
Mensch , das is prachtvull ! "
Dierich hatte seinen jungen Freund von der Seite her mit immer hilfloseren , ängstlicheren Blicken angesehen ; jetzt , da Asmus schwieg , blickte er eine Weile vor sich hin , und dann sagte er mit größter Gelassenheit :
" Was du dor schnackst , das hat nicht Kopp un nicht stärt . "
Das schlug Asmus vor den Kopf wie ein Brett .
Er guckte Dierich eine ganze Zeitlang mit großen Augen an , sagte plötzlich " Adjüs " und ging .
Der gute Dierich hatte mit seiner großen , rauhhaarigen Pfote hineingetappt in die Bilder einer Zauberlaterne , und das vertrug der Zauberlaternenmann nicht .
Er flüchtete seine entweihten Träume in geborgene Einsamkeit .
Wenige Tage darauf fing er aus einem Gespräch , das Ewald Knapp und Arnold Diepenbrook auf dem Schulhofe führten , das Wort " Theater " auf .
Er trat hinzu und hörte mit weit aufgerissenen Augen , daß Arnold Diepenbrook ein großartiges Puppentheater geschenkt bekommen hatte .
Dieser Arnold entstammte demselben Geschlecht der Diepenbrook , dem der Mond gehörte , der des Abends so oft und so milde versöhnend über dem " Kurzen Elend " gestanden hatte .
Also dieser Sproß aus dem Stamme der Mondpächter besaß ein Theater , und er sprach davon mit Entzücken und Liebe .
Asmussens Theater war längst zerfallen und vergangen ; nicht wenig hatte dazu der kleine Adalbert beigetragen , der , ein neuer Caligula , die unwiderstehliche Neigung zeigte , alle Puppen des Schauspielpersonals in den Mund zu stecken und ihnen die Köpfe abzubeißen .
Schon am Nachmittag desselben Tages wühlten drei Köpfe in den Schätzen des neuen Theaters herum , und der dickste und heißeste Kopf gehörte Asmus Sempern .
Da es drei echt deutsche Knaben waren , so legten sie sich zunächst den Titel von Direktoren bei , und da sie auch deutsche Gründlichkeit und Genauigkeit im Busen trugen , so unterschieden sie sich auch in ihren Titeln .
Knapp konnte für den " Zriny " einen Pulverturm bauen , der von einem einzigen Schwärmer in die Luft flog und sich dann tadellos wieder aufbauen ließ ; er erhielt den Titel " Technischer Direktor " ; Semper , der alles gelesen hatte und vor kurzem in der Klasse die Schillersche " Feuersbrunst " deklamiert hatte , daß man glaubte , es brenne wirklich , hieß " Künstlerischer Leiter " und Diepenbrook wurde zum " Besitzer " ernannt .
Das Theater spielte nur Sonntags , genau wie das Prinz-Regenten-Theater in München , und die Preise betrugen 5 , 2 und 1 Pfennig .
Es war in einem Schauer untergebracht , und Asmus hatte darauf bestanden , daß über den Eingang dieses Festspielhauses , in dem an Wochentagen Schaufeln , Äxte , Sägen und Harken ihr stummes Dasein lebten , die Worte geschrieben würden : Apollini et Musis .
Leider stieß aber unmittelbar an diesen Schuppen der Diepenbrooksche Schweinestall , und wenn Asmus , hinter der Bühne in eine Ecke gekauert , das ganze Drama von Anfang bis Ende rezitierte und mit heißen Backen und heißer Begeisterung rief :
" Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern - " dann schrien die aufgeregten Schweine : " Uit , uiiit , uiiiiiiiiit ! "
Und wenn Asmus fortfuhr :
" In keiner Not uns trennen und Gefahr " - dann machten die Schweine treuherzig :
" Nöff , nöff , nöff ! "
Und hier konnte man wieder einmal erfahren , daß reine Begeisterung in unnahbaren Tempeln wohnt .
Wenn Asmus aus der Ecke seines Bretterschuppens auf weitgespannten Flügeln emporstieg , dann hörte er die Nachbarn nicht , sein Ohr hörte die Weisen einer anderen Welt , seine Nase witterte Sternenluft .
Es ging auch alles herrlich , so lange sie solch interessante Stücke wie den " Tell " , den " Freischütz " und " Zriny " spielten ; aber Asmus setzte auch " Emilia Galotti " aufs Repertoire , und " Egmont " und " Iphigenie " , und da wurde es auf der Seite der Zuhörer noch viel lauter als auf der Seite der Schweine .
Das zahlende Publikum rebellierte und erklärte , wenn solche langweiligen Sch--stücke gespielt würden , dann wolle man sein Geld wiederhaben .
Und das schlimmste , schmerzlichste war , daß das Direktorium in diesem Falle nicht einstimmig war .
Diepenbrook war nobel und fand sich bereit , der höheren Kunst auch fernerhin Opfer zu bringen , der nüchterne Knapp aber gab dem Publikum recht .
Er wollte Stücke , in denen etwas in die Luft flog ; was Asmus in seinem Winkel dacherdeklamierte , das war ihm furchtbar gleichgültig .
Als schließlich auch Diepenbrook wankend wurde , da redete Asmus seine Mitdirektoren folgendermaßen an :
" Menschenkinder , ihr habt ja überhaupt keine Ahnung davon , was Kunst ist .
Ihr habt ja überhaupt nichts gelesen und nichts gesehen !
Ihr geht ja auch nie in ein wirkliches Theater !
Ihr müßt Mal in ein richtiges Theater kommen , da kriegt ihr erst Mal einen Begriff , was überhaupt Kunst ist .
'n Schwärmer abknallen und 'n Schiff in die Luft fliegen lassen , das ist keine Kunst ! "
" So " , rief Ewald Knapp , " und wenn du da stundenlang was herquasselst , was kein Mensch versteht , das ist wohl Kunst , was ? "
" Auch , du bist ja 'n Kaffer ! " rief dann Asmus ; aber bei nächster Gelegenheit gingen sie doch einmütig und hüpfenden Herzens in ein wirkliches Theater , in das neue Altenberger Stadttheater .
Sie standen stundenlang vor dem Aufgang zum billigsten Platze im Gedränge der vielen Menschen , wie der siebenjährige Asmus einst in Hamburg vor der großen , finsteren Pforte gewartet hatte , hinter der das Land des schneeweißen Königskindes und das Reich der sieben Zwerge lag .
Sie harrten und schwitzten und drängten sich und hörten die Reden der wartenden Gemeinde .
" Neulich habe ich 'n schönes Stück gesehen " , sagte eine dicke Frau , die Asmus schwer auf dem Herzen lag , " wie hieß es man noch : " König " - richtig : " König Lear von Scheckspier " - haben Sie das auch gesehen ? "
" Nein " , erwiderte ein junger Mann , " ich habe " Gräfin Lea " gesehen , das is auch wunderhübsch . "
" Nee , das habe ich noch nicht gesehen " , fuhr die Dicke fort .
" Un denn habe ich neulich bei Barnay seinem Benefiz 'n Stück gesehen , wie hieß es man noch - das hat noch so_ein komischen Namen - da wird auf so_ein Horn getutet - "
" Uriel Acosta " , sagte Asmus ganz schüchtern .
" Richtig , mein Jung , so hieß es auch .
Auch , das war auch wunderhübsch , bloß so schrecklich traurig . "
" Nee , was Trauriges mag ich nicht sehen ; Trauerspiel habe ich im Leben genug " , sagte eine Frau mit einem bunten Kopftuch .
" Djä , heute gibt es aber auch 'n Trauerspiel !
" Faust " is auch 'n Trauerspiel ! "
" Ach du lieber Gott , das is 'n Trauerspiel ?
Un ich denke recht , das is 'n Oper ! "
" Na , wissen Sie " , klang es jetzt von einer anderen Seite , " der ganze Othello ist doch schließlich ' ne recht grobdrahtige Sache . "
Das sagte ein magerer , bleicher Primaner mit einer Brille .
" So 'n Scheusal wie den Jago , das gibt es doch einfach gar nicht .
Und dagegen diese schneeweiße Unschuld , die Desdemona .
Überhaupt , stellen Sie sich Mal vor :
Der Mann ist ein berühmter Feldherr im Dienste Venedigs , und der läßt sich von einem Fähnrich die Haut voll lügen und glaubt ihm alles - das ist ja alles so gräßlich unwahrscheinlich ! "
" Ja , ja " , nickte ehrfurchtsvoll ein sauber gekleideter Arbeiter , der glücklich zu sein schien , daß ein so gelehrter Jüngling ihn seiner Unterhaltung würdigte .
" Was halten Sie eigentlich von " Nathan der Weise " ? " fragte er gespannt und ehrerbietig .
Der Primaner zog die Schultern hoch und sagte mit einer gewissen Schonung : " Na ja - 'ne Tendenzdichtung !
Haben Sie Possart darin gesehen ? "
" Nein . "
" Müssen Sie sich ansehen .
Das ist der Mühe wert . "
Zwischendurch wurde hier ein Bonbon verzehrt , da ein Brot mit Limburger Käse genossen , dort ein schamhafter Schluck aus der Schnapsflasche genommen .
Mitten im harten Gedränge stand einer und las , gestoßen und geschoben , gequetscht und getreten , mit unerschütterlicher Emsigkeit in einer Reclamausgabe den " Faust " .
Droben auf der Galerie , die aussah wie eine Raufe in einem Pferdestall , war es so heiß wie in einem römischen Bade ; aber obwohl Asmussen der Schweiß in Strömen von der Stirn rann , klatschte er doch nach jedem Aktschluß wie ein bezahlter Claqueur und feuerte auch Diepenbrook und Knapp zum Klatschen an ; denn er fand alles so schön , so schön .
Er dachte an den Primaner und an alle die Leute , die an solchen herrlichen Dingen noch etwas auszusetzen fanden ; was mußten das für furchtbar kluge Menschen sein !
Er konnte nicht anders :
er fand alles da unten unsagbar schön .
Er schämte sich fast , daß er alles so schön fand .
Neben ihm saß ein Mann wie ein Bierführer .
Der sagte , als die Szene in der Hexenküche vorüber war :
" 'n hübsches Stück .
So recht aus_dem Leben ! "
Selbst Ewald Knapp war entzückt .
Der Ritt auf dem Weinfaß , der weingebende Tisch und die Hexenküche , das alles hatte ihm die Überzeugung beigebracht , daß an dem " Faust " denn doch " etwas dran " sei , und er widersetzte sich nicht länger der Aufnahme dieses " feinen Stückes " in den Spielplan .
Der Tragödie erster Teil wurde mit Sorgfalt vorbereitet - aber vor der Erstaufführung schritt die Zensur ein .
Diepenbrook hatte das Unglück , sich gerade am Tage der Premiere , weil er sich ganz und ausschließlich mit dem " Faust " beschäftigte und für anderes nicht zu haben war , mit seiner Mutter zu überwerfen .
Asmus und Ewald kamen gerade darüber zu , wie seine Mutter ihn schlug , und Asmus empfand in diesem Augenblick tief und dankbar , daß Rebekka Semper , selbst wenn sie den Besenstiel schwang , doch eigentlich noch ein Lamm war .
In ihrem banausischen Zorn verbot Frau Diepenbrook nicht nur die Faustaufführung , sondern alle Aufführungen , und sie machte nicht einmal ein Hehl daraus , daß sie der Anwesenheit der Herren Semper und Knapp nicht den geringsten Wert beimesse .
Betrübt und traurig schlichen der technische Direktor und der künstlerische Leiter von dannen .
Aber Asmussen tat sein Freund Diepenbrook ganz unendlich leid .
Und als er allein war , dachte er : Du mußt ihn trösten , du mußt ihm etwas recht Schönes zum Trost sagen , so daß er seinen Gram vergißt .
Und da war es ihm plötzlich , als ob man so etwas nur in Versen sagen könne - ja : nur ein Gedicht konnte in einem so tiefen Kummer trösten .
Und merkwürdig : ganz von selbst fielen ihm Verse ein , ganz schwermütige Verse , bei denen er selber weinen mußte , und nach einer Stunde hatte er zwanzig Zeilen gedichtet .
Er schrieb sie auf , und den Zettel wollte er Diepenbrook am anderen Morgen nach der Schule heimlich zustecken und dann wollte er schnell weglaufen .
Aber , o weh :
Diepenbrook war am anderen Tage schon wieder ganz vergnügt , und da schämte sich Asmus , es ihm zu geben .
Er zerriß es in tausend kleine Stückchen und streute sie in den Wind .
Das war Asmus Semper erstes Gedicht. XXXVI. Kapitel .
Von düstern Nächten und blassem Mondschein .
Diepenbrooks Theater hätte Asmus wohl ganz wieder zurückgezogen ins warme , rosiggoldene Land der Faulheit , wenn sein Vater nicht gar zu krank gewesen wäre .
Ludwig Semper lächelte jetzt nur noch um einer Freude Willen , wenn nämlich sein Asmus mit einem neuen Erfolge aus der Schule heimkam , wenn er bei Herrn Cremer der einzige gewesen war , der eine geometrische Aufgabe löste , oder wenn Herr Bendemann , jener Herr Bendemann mit den geraden grauen Augen , der aussah , als wenn seine Vorfahren zwanzig Generationen hindurch preußische Beamte gewesen wären , und der Asmus einmal so genau wie ein Richter nach seinen Personalien gefragt hatte , wenn also jener Herr Bendemann mit dem überhangenden Schnauzbart gesagt hatte : Asmus Semper hat den besten Aufsatz geschrieben .
Und Asmus erzählte dergleichen seinem Vater , weil er wußte , daß er dann trotz aller Qualen lächelte .
Aber Ludwig Semper war so unvernünftig lange krank und arbeitsunfähig , daß ihm die Krankenkasse endlich keine Unterstützung mehr zahlte .
Da fing das längste und härteste Elend der Semper an .
Die Zeiten waren wieder schlechter geworden , und was man ohne Ludwigs Hilfe verdiente , das reichte höchstens für die Hälfte der Woche .
Die Rippen , die aus den Tabaksblättern herausgezogen wurden , durften die Hausarbeiter zu eigenem Nutzen verkaufen , und sobald sich ein Häuflein angesammelt hatte , stopfte es Asmus in einen Sack und trug es nach einer Fabrik , wo aus den Rippen Pfeifentabak gemacht wurde .
Da hieß es dann gewöhnlich :
" Wir haben mehr als genug , wir können keine brauchen . "
Dann sagte Asmus offen heraus :
" Kaufen Sie mir sie nur ab , bitte , wir haben kein Geld mehr . "
Dann berieten die Arbeiter untereinander , ob sie es gegen das Verbot ihres Fabrikanten wagen dürften , und sie hatten Mitleid mit ihm und nahmen sie ihm ab , und seelenfroh brachte er die drei oder vier Groschen seinen Eltern ins Haus .
Mit Borgen und Sorgen schleppten sich die Semper hin ; als aber Ludwig noch immer nicht gesundete und darum in der Arbeit eins und das andere versehen wurde , da nahm ihm der Fabrikant die Arbeit und gab sie einem anderen .
Die " Bude flog auf " ; die Sempersche Akademie der Wissenschaften und schönen Künste löste sich auf für immer .
Wohl verdienten Johannes und Alfred ihr Brot außer dem Hause , und Asmus half hie und da in einer Kneipe beim Kartoffelschälen und Kegelaufsetzen ; aber das reichte bei weitem nicht für sieben .
Mit bangen Blicken betrachtete Rebekka Semper den neuen Gerichtsvollzieher , der in den Ort gekommen war und der wegen der rückständigen Steuer gemahnt hatte .
Und er sah auch drohend genug aus : Lang , hager und steif wie ein Ladestock , mit grauen , buschigen Brauen und grauem , buschigem Schnauzbart , und sein Blick durchbohrte wohl eine ganze Schwadron auf einmal .
Er war auch lange , lange Zeit Wachtmeister gewesen .
" Das ist so_ein richtiger Preuße ! " sagte Rebekka , " der sieht aus , als wenn_es ihm Spaß machte , den Leuten das letzte Hemd zu nehmen . "
Sie mochte die Preußen nicht und meinte , " wir wären besser unterm Dänen geblieben .
Da bezahlte man einen Schilling Kopfsteuer und damit basta . "
Vor dem Gerichtsvollzieher aber kam noch ein anderer , das war der fette Brotmann , der immer so aussah , als ob er heimlich noch etwas anderes betriebe .
Der wollte sein Geld haben .
Als Ludwig ihn ersuchte , zu warten , weil er jetzt nichts habe , da traf der Mann die schwächste , empfindlichste Stelle der Semper .
Er zeigte nach der Gitarre des Johannes , die an der Wand hing , und rief höhnisch :
" So ? Sie haben doch Geld für solcherlei dummes Zeug ! "
Da wuchs Ludwig Semper so hoch empor , wie ihn Asmus noch nie gesehen hatte .
Er war aufgestanden , zeigte nach der Tür und rief .
" Scheren Sie sich augenblicklich hinaus ! "
" Jawohl , auch noch hochnäsig !
Na , warten Sie - Sie werden von mir hören ! " rief der Mahner ; aber dann war er auch schon draußen , weil es ihm unter den Blicken des Alten doch nicht ganz wohl zu Mute war .
Asmus hatte diesem Auftritte beigewohnt , und ihm war es , als ginge es nun geradeswegs in Untergang und Tod hinein .
Und nach dem Brotmann kam noch ein härterer Mann , das war der Winter .
O weh , der lockte nicht mehr so freundlich wie einst im " Holstenloch " , als Weg und Busch und Sonne geflüstert hatten : " Komme nur , komme ! "
Denn Asmus hatte keine Stiefel mehr und keinen Mantel und keine Handschuhe , und der Winter war härter als der Winter des Kriegsjahres .
Es ist ein tiefes Elend , zu frieren ; es greift tief , tief in die Seele hinein .
Es ist das verzagteste Elend von allen ; der Frierende , dem der Schnee durch die Strümpfe und der Ostwind bis in die Achselhöhlen dringt , er hofft nichts mehr , er glaubt nichts mehr , er will auch nichts mehr ; er möchte sich am liebsten im nächsten Augenblick am Weg hinlegen und sterben .
Er ist der verlassenste von allen Betrübten ; selbst die nächste Freundin des Menschen : die Luft , ist seine Feindin geworden , und die Sonne verhöhnt ihn ; denn je heller ihr Schein , desto schärfer der Frost .
Es war wieder ein Weihnachtsmorgen , als er mit dem Korb am Arm und dem Milchtopf in der erstarrten Hand von einem kärglichen Einkauf zurückkam .
Als Vierzehnjähriger schämte er sich bitterlich des Weinens ; aber er konnte es nicht ändern : eine Träne nach der anderen rollte die Wangen herunter .
Da begegnete ihm ein breitschulteriger Arbeiter , der beide Hände in den Hosentaschen hatte , der Glückliche !
Und der lachte übers ganze Gesicht , als er den Knaben sah , und rief : " Na , mein Junge ?
Die Sonne ßticht wohl heute 'n Büschen , was ? "
Und Asmus , der Scherz und Lachen liebte wie sein Leben , er konnte sich jetzt nicht mehr bezwingen : das Wasser schoß ihm in Bächen aus den Augen , und er weinte mit Bewußtsein , mit Leidenschaft , mit verbissener Lust am Leiden .
Nein , er war nicht mehr der lachlustige , warmblütige Knabe ; in diesen Tagen des grauen Kummers war ein seltsamer Geist über ihn gekommen .
Ein Mitschüler hatte ihm " Onkel Toms Hütte von Harriet Beecher-Stowe " geliehen .
Darin wird erzählt von einem kleinen Mädchen , einem Engel in Kindesgestalt , Eveline Saint Clair , einem Kinde , das zu zart , zu schön und fromm ist für die Erde , das wie eine Wolke , die vom Himmel gekommen ist , wieder aufschwebt zu seiner Heimat und aufgesogen wird vom Lichte des Himmels .
Die betäubende tropische Sentimentalität dieser Erzählung überwältigte das trauernde Gemüt des Knaben so ganz , daß er beschloß , so fromm , so sanft und gut zu werden wie jener Liebling des Himmels : er , der kratzbürstige Kämpfer , der mit geballten Fäusten gegen Klaus Rampuhn gerannt war wie eine Schwalbe gegen einen Kirchturm - er wollte werden wie der Engel Eveline .
Er wollte nicht mehr trotzen und widerreden , wenn seine Mutter ihn schalt oder schlug , er wollte dulden und leiden , ohne Murren und ohne Haß , im Hause und in der Schule ; er wollte unendlich sanft , gut und fromm sein und alle Menschen lieben .
Dann , so hoffte er , würde er so schön werden wie Eveline Saint Clair , und bald sterben .
Er freute sich nun des Leidens , weil es ihn dem ersehnten Ziele näher brachte ; ja , er aß und trank weniger als sonst , um seine Auflösung zu beschleunigen .
Aber solche Stimmungen gedeihen besser im feuchtwarmen Klima des Wohlstandes als in der rauhen Luft des Mangels .
Brutale , platte Wirklichkeiten setzten sich frech und breit an die Stelle des seraphischen Traumes .
Zunächst kam der grimmhaarige Gerichtsvollzieher , um Pfändungszettel anzukleben .
Und da gab es eine große Überraschung .
Als Rebekka Semper diesem " richtigen Preußen " ihre Not klagte , da zeigte sich , daß der Mann mit dem schwadronendurchbohrenden Blick eine ganz weiche Stimme hatte .
" So , so " , sagte er , " na dann wird die Sache wohl - dann wird sich die Sache wohl - auch noch anders machen lassen - dann beruhigen Sie sich nur , liebe Frau - dann will ich es schon machen , daß die Sache - , daß Ihnen nichts passiert .
Adieu !
Machen Sie sich nur keine Sorgen mehr . "
Und er ging hin und bezahlte die Steuerschuld der Semper aus eigener Tasche .
Als Asmus das hörte , da schwoll ihm das Herz so sehr , daß es die ganze Brust anfüllte , und er nahm sich vor :
Ich will ein Gedicht auf ihn machen .
Das - das war wieder so etwas , was man nur in Versen sagen konnte .
Aber die Pfändung kam doch ; denn der Brotmann hatte geklagt .
Ludwig Semper hatte gebeten , daß der Wagen am späten Nachmittage kommen möchte , und er kam , und das Sofa , der Spiegel , das liebe Klavier , Tisch und Stühle , alles , was nicht ganz unentbehrlich war , verschwand für immer im Dunkel des Elends .
Es war gekommen , wie auf jenem Bilde in der " Gartenlaube " : Rebekka weinte , und Ludwig stand im öden Arbeitszimmer , die Arme auf den Tisch gestemmt , mit keuchender Brust und vor sich hinstarrend .
Als man bei den Semper zum ersten Male gepfändet hatte , da war es dem kleinen Asmus fast ein Vergnügen gewesen , als die Stube so schön geräumig wurde und ein ganz anderes Gesicht machte .
Nun stand er dabei und betrachtete die schuldlosen Handlanger der Justiz wie seine Todfeinde , und Gram , Verzweiflung , Haß , Wut und Mitleid mit den Eltern wühlten in seinem Herzen in unaufhörlichem Kampfe durcheinander .
Von nun an , wenn Herr Cremer in der Schule von Staat und Regierung sprach , stieg sein Herz wie ein scheuendes Roß in der Schlacht .
Denn der Staat war sein Feind , die Regierung war sein Feind , das Gericht war sein Feind , der König war sein Feind .
Er war zu jung , um anders zu denken , und hierin war er der Sohn Rebeckens .
Er dachte an sein Ideal Eveline Saint Clair , und er sagte vor sich hin :
" Ich kann es nicht - das kann ich nicht . "
Und doch stand auch in dieser nächtigen Zeit der Mond am Himmel und gab einen blassen , tröstenden Schein .
Asmus faßte eine innige Liebe zu dem zweijährigen Söhnchen eines Nachbars .
Es war darin etwas Wunderliches mit ihm : selbst noch in allem ein Kind , liebte er die Kinder über alles , liebte sie wie ein Erwachsener .
Die holde Zartheit , Heiterkeit und Anmut der Kinder dünkte ihn wohl das Schönste im ganzen Garten der Erde .
Damals im " Düstern langen Balken " hatte er Reinhold abgöttisch geliebt - der war jetzt ein hübscher Bengel und gescheiter Schüler ; dann war er ganz und gar vernarrt gewesen in Adalbert - auch der ging schon zur Schule und baute nebenher Maschinen - nun , da Rebekka Semper nach ihrer dreizehnten Entbindung kein Kind mehr bekam , hatte ihm ein freundliches Geschick einen neuen Bruder geschenkt in dem kleinen Rodrigo .
Denn das Kind hieß Rodrigo , weil der Vater , ein Tischler und Säufer , einmal in Südamerika gewesen war und Asmus liebte es wie sein Brüderchen oder gar wie seinen Sohn .
Er lag stundenlang vor ihm auf dem Boden , und es war ihm , als höre er , was in diesem blonden Köpfchen und in diesem warmen kleinen Herzen vorginge ; er sprach und spielte mit ihm in seiner Sprache , strich ihm über die Locken , küßte es auf den Mund und betrachtete dann wiederum lange seine goldhellen Augen .
Und nie wurde das Kind seines unverhältnismäßigen Gefährten müde , ja , es kam oft genug vor , daß es vom Arme seiner Mutter mit beiden Ärmchen nach dem Halse Asmussens langte , und dann war Asmus so stolz , als habe er das russische Reich erobert .
Ja , er fühlte wie ein Vater für dieses Kind .
Eines Abends kam die Mutter des Kleinen in bleicher Angst zu den Semper : ob sie nicht zum Arzt schicken könnten ; ihr Mann habe wieder das Delirium und sehe lauter Ratten und Mäuse .
Reinhold wurde zum Arzt geschickt ; Asmus aber schlich schon in der nächsten Minute die Treppen zum obersten Stockwerk hinauf .
Mit laut klopfendem Herzen stand er vor der Tür der Mansardenwohnung und horchte .
Da trat der Kranke heraus , scheinbar ruhig , und sagte : " Sieh da , Asmus !
Ach , höre Mal , mein Junge , du könntest mir wohl für zwei Groschen Schnaps holen . "
" Ja " , sagte Asmus bleich und zitternd .
" Ich habe aber keine Flasche ! "
" Richtig , mein Junge , ich will dir eine holen . "
Und der Wahnsinnige verschwand in der neben dem Zimmer liegenden Küche .
Wie der Wind fuhr Asmus in die Stube hinein , riß den am Boden sitzenden Rodrigo in die Höhe und stürmte mit ihm in wilder Flucht die Treppen hinunter .
Er ließ ihn an diesem Abend nicht wieder von sich ; das Kind mußte in seinem Bette mit ihm schlafen .
Er war so erregt , daß er stundenlang nicht einschlafen konnte , und immer mußte er den lieblichen Schläfer betrachten , der zwiefach unbewußt ein trauriges Schicksal verschlief .
Bald darauf trat die tiefste Verfinsterung im Schicksale der Semper ein. XXXVII. Kapitel .
Von Leonhards letztem Abschied , von einer schweren , schwülen Zeit und einer schwebenden , seligen Zeit .
An einem Januartage erschien bei Semper ein gänzlich unbekannter Mann .
Er fragte ob hier Herr Semper wohne , und als dies bejaht wurde , sagte er :
" Ich heiße Grat - ihr Sohn Leonhard hat bei mir gewohnt . "
" Ja ? - und - ? " fragten Ludwig und Rebekka zugleich in furchtbarer Spannung ; denn der Mann hatte etwas Schwer-Befangenes in seinem Wesen .
" Er - er ist sehr krank - er wird wohl - "
" Ist er tot ? " schrie Rebekka .
" Ja , ja ! " sagte der Mann schnell , als wäre er froh , der Last nun ledig zu sein .
Ludwig Semper hatte seine Frau umfaßt und führte sie zu einem Stuhle .
Der Mann berichtete , Leonhard sei am Herzschlage gestorben .
Der herbeigerufene Arzt , selbst ein Trinker und an der Zunge leicht gelähmter Mann , habe gesagt :
" Er hat für sein Herz zu viel getrunken ; ich habe ihn neulich noch vor der Tür bei Sternfeld gewarnt . "
" Sternfeld " war die niedrigste Schnapskneipe in Oldensund ; die Halb- und Ganzverkommenen verkehrten dort .
So weit also war es mit Leonhard gekommen .
Die Familie Semper machte sich auf , den Toten zu besuchen .
Er lag auf einem alten , zerrissenen Sofa ; seine Züge waren ganz ruhig und friedlich , und er war noch immer ein hübscher Mensch .
Rebekka kniete bei ihm und streichelte und küßte ihn unter Jammern und Schluchzen .
" Weine nur nicht mehr " , sagte Ludwig und wollte sie aufheben , " wer weiß : es ist wohl das Beste für ihn . "
" Ach Gott , er ist doch mein Kind , er ist doch mein Kind ! " rief Rebekka und warf sich über den Toten .
Auf dem Tische lag ein Band von Eichendorffs Gedichten , darin hatte Leonhard gelesen , als ihn der Tod ereilte .
Und auf einem kleinen Bücherbrett stand eine längere Reihe von Lieferungen des Brockhauschen Konversationslexikons .
" Das hat er gehalten " , sagte der Vermieter , " und hat immer darin studiert .
Er war überhaupt ganze Monate lang solide und ging nicht aus der Tür .
Dann studierte er immer .
Bis ihn dann wieder der Leichtsinn beim Wickel hatte . "
" Das ist auch nicht vom Trinken gekommen " , sagte Rebekka .
" Er hat doch immer 'n Herzfehler gehabt . "
Ludwig widersprach ihr nicht .
Wer sollte die Kosten des Begräbnisses tragen ?
Die Semper konnten es nicht ; er mußte auf Kosten der Armenkasse begraben werden .
Am Grabe stand auch Moldenhuber .
Er schob die Unterlippe weit vor und starrte in die Gruft .
Das Leben hatte die beiden Freunde weit aufeinandergeführt .
Asmus hatte noch immer nicht weinen können .
Er hatte wie sein Vater empfunden :
Wer weiß , was ihm noch Schreckliches begegnet wäre .
Es ist besser so .
Als aber der Sarg hinabgelassen werden sollte , rief er immerfort mit steigender Angst : " Nein ! nein ! nein ! nein ! " bis ihn der Mann , bei dem Leonhard zuletzt gearbeitet hatte , auf die Seite führte und ihm zuredete .
Auf dem Heimwege sagte derselbe Mann :
" Vor vier Tagen hat er uns auf der Bude noch so schön was vorgesungen . "
" Ja ? " fragte Asmus .
" Was hat er gesungen ? "
" Ach , aus " Tannhäuser " .
Das , wie Tannhäuser aus Rom zurückkommt :
" Wie dieser Stab in meiner Hand Nie mehr sich schmückt mit frischem Grün , Kann aus der Hölle heißem Brand Erlösung nimmer dir erblühn ! "
Da mußte Asmus daran denken , wie Leonhard im " Düstern langen Balken " zum ersten Male das Elternhaus verlassen hatte , wie er dann im " Holstenloch " erschienen war in Zylinder und weißer Weste und mit einer Taschenuhr , die er Asmus ans Ohr gehalten hatte , wie er dann in der Brunnenstraße neben seiner Mutter vor dem Wäschekasten gehockt und geweint hatte und wie er nun tief im Grabe lag und all die schwarze Erde über ihm .
Und die Wehmut des Zeitenwandels löste wie ein Tauwind das starre Grauen seines Herzens in Trauer auf , und er begann still und heiß vor sich hinzuweinen .
Es ist auch das ein Unglück der Armen , daß die Not ihnen nicht einmal das schmerzliche Glück einer reinen Trauer gönnt .
Die Sorge um die gemeine Notdurft befleckt ihre Trauer und drängt sie gar höhnend beiseite wie einen angemaßten Luxus , den Bettler sich nicht gestatten dürfen .
Und mit den Semperischen kam es endlich so weit , daß sie sich verschämter Weise an einer öffentlichen Verteilungsstelle Marken holen mußten , für die sie an anderer Stelle eine warme Suppe in Empfang nehmen konnten .
In diesem Zeit nun wurde Asmus Semper vor die Wahl eines Berufes gestellt .
In dieser Zeit aber erwachte auch das Bewußtsein seines Geschlechtes in ihm .
Und so wurde aus seiner Seele eine neblig-rosige , qualvolle Wirrnis von Zweifeln und Sehnsüchten , Bängnissen und Hoffnungen .
Was sollte er werden ?
" Dichter oder Bildhauer " wie er geprahlt ?
Hahahahaa !
Wohin war jene Zeit gekommen !
Seemann ?
Er mußte dableiben und seine Eltern unterstützen .
Einmal hatte er auch gesagt :
Wenn ich Lehrer werden könnte !
Das alles war jetzt Torheit !
Er hatte kürzlich vor dem Fenster einer Hutfabrik gestanden und den Arbeitern zugesehen .
Das schien ganz interessant - wie wäre_es , wenn er Hutmacher würde ?
Noch besser war freilich Feuerwerker .
Er hatte aus dem Boden in dem großen Flickenkorb seiner Mutter ein Buch über die Feuerwerkerei von Ruggieri gefunden .
Vierzehn Tage lang war er in einem unaufhörlichen Funken- und Flammenregen dahingewandelt ; im Wachen und im Traume hatte er Schwärmer und Raketen , Sonnen und Sterne gemacht , und mitten in der Katechismusstunde waren feurige Palmenbäume , goldene Girandolen und silberne Kaskaden in seiner Seele aufgestiegen und hatten sein armes Dasein in Licht und Glanz gehüllt .
Oder sollte er Tischler werden ?
Von allen Handwerkern hatte er immer den Tischlern am liebsten zugesehen .
Ihre Arbeit hatte etwas Schöpferisches , Bildnerisches , darum fand er sie so hübsch .
Aber das alles war ja Unsinn !
Das alles waren ja unerfüllbare Träume !
Das alles kostete ja Geld , oder seine Eltern mußten ihn doch jahrelang erhalten helfen ; er sollte Geld verdienen , und das sogleich , und je mehr , desto besser .
Da musste es also beim Tabak bleiben .
Das Zigarrenmachen verstand er schon zur Hälfte ; in einem Vierteljahre würde er es ganz können , und Lohn bekam er sofort , mehr als in irgend einer anderen Lehre .
Schon nach einem halben Jahre konnte er jede Woche drei , vier , fünf Taler in der Tasche klimpern lassen , - und das war doch eigentlich auch sehr schön !
Dann gab er das Meiste seinen Eltern ; aber er behielt so viel für sich , daß er alle Freuden der Welt genießen konnte : Theater , Biertrinken , Tanzen und - alle Freuden !
Es mußte da draußen in der Welt Freuden geben - wundersame Freuden - er wußte nicht , welche - aber seltsam lockende , unergründliche Freuden .
Es wohnten Leute bei den Semper im Hause , die hatten eine sechzehnjährige Tochter :
Flora hieß sie , eine hübsche kleine Brünette mit heißen Augen .
Als er einmal ein anthropologisches Buch las , in dem der menschliche Körper abgebildet war , hatte sie ihm über die Schulter gesehen , und dann hatte sie entrüstet gesagt , so etwas müsse er gar nicht lesen , das sei unanständig , und dann hatte sie ihn angelacht , so merkwürdig . . . so süß . . . . Sie wollte auch immer mit ihm " ringen " , Brust an Brust ; er tat es auch einmal , aber dann niemals wieder ; er fürchtete sie . . . . Ja , es mußte in der Welt etwas geben - etwas Rätselhaftes - Drohendes und Süßes - Lockendes - Schreckendes - wenn er Zigarrenmacher wurde und gleich so viel Geld verdiente , dann war er selbständig , dann war er sein eigener Herr , dann konnte er tun , was er wollte - schon nach einem Vierteljahr !
Und dann wollte er die Welt kennen lernen .
Sein Bruder Leonhard regte sich in ihm .
Wenn er dann wieder ein Buch sah , krampfte sich sein Herz zusammen in bitterer Trauer .
Er hatte ein großer , kluger Mann werden wollen , alles , alles hatte er lernen wollen - nun war alles aus .
Aber nein , nein , er wollte lernen , immerzu , immer mehr , ganz einerlei , was aus ihm wurde , und er setzte sich abends um neun Uhr hinter Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung ; aber da er sie nicht verstand , hielt er sich für rettungslos dumm , und da er in den Jahren des Wachsens war , wo Essen und Schlafen den vordersten Platz in der Seele einnehmen , so fiel er nach zehn Minuten mit dem Kopfe aufs Buch und entschlief .
Wenn ihn dann sein Vater mit leisem Schütteln weckte , dann fuhr er auf und schlüpfte beschämt , den Kopf auf die Brust gedrückt , hinaus , und im Bett liegend , wütete er in Scham und Verzweiflung gegen seine Schwäche und seine Dummheit .
Es war eine schwüle , schwere Zeit und war eine schwebende , selige Zeit .
Denn in seltenen Stunden , sonderlich am Sonntagmorgen , war immer wieder in seiner Brust ein Schweben und Dehnen und heiteres Sehnen .
Es war in ihm wie Flügel , die sich entfalten wollten und nicht konnten und die sich immer weiter dehnten , so weit , daß seine Brust bei weitem nicht Raum genug für sie hatte , und es war ihm eng und glückselig zu Mute .
Es war wie ein Rufen aus den Lüften :
" Du wirst doch nicht in der Tiefe bleiben - ein anderes Los ist dir geworfen - du wirst dennoch einst fliegen - " , es war in ihm wie ein Wittern dünnerer , silberreiner Lüfte .
Dann ging er trällernd und singend müßig umher , nichts denkend , nichts wollend , nur glücklich , und hätte niemand sagen können , warum er so heiter wäre , der noch vor einer Minute so trüb und traurig gewesen .
Dann wieder , zur Nachtzeit , packten ihn wüsste , lastende Träume : er sah sich in großen , finsteren Räumen , deren Wände sich langsam auf seine Brust senkten , daß er aufschrie , aus dem Bett sprang und stöhnend im Hause umherlief , bis seine Mutter ihn wieder zu Bett brachte und ihn beruhigte .
Dann entschlief er wieder und sah sich wohl auf einer der grünen und silbernen Inseln liegen , die emporsteigen , wenn der atmende Busen der Elbe sich senkt , und es war ihm , als rännen alle die eilenden Fluten von seinem Herzen fort , alle die Wasser , alle von seinem Herzen , und es wurde ihm immer leichter , immer wohliger , und sieh , neben ihm saß die kleine griechische Königin und strich ihm über die Stirn und lächelte mit einem holdseligen Licht aus traurigen Augen .
Wenn er von ihr geträumt hatte , dann war er tagelang still und feierlich in allem , was er tat , und wenn ihn dann die lustige Flora anlachte , dann fand er sie häßlich und widerwärtig .
Die Konfirmation rückte näher und näher .
Während des letzten Semesters hatten die abgehenden Schüler außer den 71/2 Religionsstunden bei Herrn Cremer noch zwei wöchentliche Stunden beim Prediger .
Herr Cremer sprach zu den Katechumenen mit immer feierlicherem , wehmütigerem Ernst .
Er schied ungern von den Kindern und die Kinder ungern von ihm .
Und jedem erteilte er den Ritterschlag ; das war ein altehrwürdiger Brauch .
Herr Cremer gab nämlich jedem Konfirmanden vor seinem Abgang bei irgend einer passenden Gelegenheit noch eine fühlbare Ohrfeige .
Darauf konnte man rechnen , wie auf wenige Dinge in der Welt , und wer sie nicht bekommen hätte , würde sich zurückgesetzt gefühlt haben .
Denn einmal war sie die besiegelte Bestätigung , daß man der Schule entwachsen und gewissermaßen ein junger Mann sei : zu Gottes und Mareien er , diesen Schlag und keinen mehr - zum anderen aber fühlte auch jeder , daß der alte Mann in diesem Schlag noch einmal alle Sorge und Liebe zusammenfasse und alle treuherzigen Lehren und Ermahnungen unwiederbringlicher Jahre in einem kurzen Symbol den Scheidenden auf den Weg gebe .
Und alle bekamen sie den Schlag , selbst Julius Tipp , der Fleckenlose .
Während des ganzen letzten Jahres hatte in der Klasse des Herrn Cremer auch Herr Bendemann Stunden gegeben .
Und in einer der letzten Stunden hatte Herr Bendemann den immer noch kleinen Asmus wieder einmal mit seinen grundklaren und grundgütigen Augen so lange und so bohrend angesehen , daß man glauben konnte , er wolle mit seinem Blick auf der anderen Seite des Asmus Semper wieder hinaus .
Und endlich hatte er gefragt :
" Was willst du werden , Asmus ? "
" Ich weiß nicht " , hatte Asmus gesagt .
Dann hatte Herr Bendemann ihn noch einmal beinahe ebenso lange angesehen und dann hatte er langsam seinen Blick in sich zurückgezogen und war gegangen. XXXVIII. Kapitel .
Ein schier unglaublicher und doch wahrer Bericht von den Taten der Herren Bendemann und Ludwig Semper .
Um diese Zeit hätte aber Ludwig Semper beinahe noch einen anderen Beruf ergriffen .
Es hieß , daß an einer der Oldensunder Schulen die Stelle eines Schuldieners frei geworden sei .
" Gehe doch Mal hin ! " sagte Rebekka .
" Ach , wozu soll ich dahin gehen ! " sagte Ludwig .
Er ging aber doch hin ; denn die Not hatte ihn unternehmend gemacht .
Er erhielt auch die Versicherung , daß " sein Name vorgemerkt sei " , und dann wurde ein Schuhmacher angestellt , der alle Sonntage in die Kirche gegangen war und alles glaubte , was man von ihm verlangte .
So wurde auch das Mißverhältnis vermieden , daß der Schuldiener gebildeter war als der Schuldirektor .
Dann wollte Ludwig Bote bei einer Krankenkasse werden .
Aber da wollten sie einen jungen , kräftigen Mann haben , der all die Treppen zu den kleinen Leuten hinaufsteigen konnte , und eine Treppe war für Ludwig schon so viel wie für andere Leute der Blocksberg .
Und dann endlich bekam er wieder Arbeit als Zigarrenmacher , vierzehn Tage vor Asmussens Konfirmation bekam er gute Arbeit , so gute , daß Rebekka ihrem Sohne einen Hut zu zwei Mark und beim Trödler einen schwarzen Gehrock zu vier Mark kaufen konnte .
Ihr war sehr feierlich dabei , und sie , die konsequente Pfaffenfeindin und Kirchenhasserin ging mit ihrem Sohne zur Konfirmation , zur Beichte und zum Abendmahl und war ganz still vor Feierlichkeit und weinte vor Frömmigkeit .
Asmus aber , als der Prediger den Kindern das Bekenntnis abforderte und sie im Chor sprechen sollten : " Ja , ja , wir glauben es " - Asmus schwieg .
Er wußte sehr wohl , daß dies Schweigen keine Bedeutung habe , daß seine Teilnahme an dieser Zeremonie schon ein Bekenntnis sei ; aber an diesem ernsten Tage und an diesem erhabenen Orte war ihm so feierlich ums Herz , daß er keine Lüge über die Lippen brachte .
Ja , sein Herz schlug den ganzen Tag über gedämpft vor Feierlichkeit ; er mußte immer wieder denken , daß er an einer großen Wende seines Lebens stehe , daß sich nun sein Schicksal für immer entscheiden werde , und dazwischen langte er immer wieder hinten in die Rocktasche ; denn es erfüllte ihn mit Stolz und Freude , daß er nun sein Schnupftuch hinten aus der Rocktasche zog wie sein Vater und die ganz großen Erwachsenen alle .
Aber aus der Wahl eines Berufes wurde immer noch nichts .
Ludwig Semper verschob die Entscheidung von Woche zu Woche , und Asmus saß nun statt der halben Tage ganze Tage beim Tabak , richtete zu , machte " Wickel " und fing an , das Zigarrenmachen zu lernen .
Nur an einigen Tagen ging Asmus noch zur Schule .
Der alte Herr Rosig hatte nämlich " den ehrenvollen Ruf " an ihn ergehen lassen , die alten , zerrissenen und beschmutzten Schreibvorlagen durch neue zu ersetzen , und Asmus widmete sich diesem Geschäft mit frohem Eifer ; es war doch etwas anderes als Tabakstreifen .
Herr Rosig schaute ihm wohlgefällig zu und war stolz darauf , diesen Schüler auf die höchste Höhe der Bildung erhoben zu haben ; denn er konnte sogar gotische und lateinische Überschriften malen , mit Schraffierungen und Schnörkeln .
Und eines Tages schrieb Asmus die folgenden Verse ab :
" Wenn alles eben käme , Wie du gewollt es hast , Und Gott dir gar nichts nähme Und gäbe dir keine Last , Wie war_es da um dein Sterben , Du Menschenkind , bestellt ?
Du müßtest fast verderben , So lieb wäre dir die Welt .
Nun fällt , eins nach dem anderen , Manch ' süßes Band dir ab , Und heiter kannst du wandern Gen Himmel durch das Grab , Dein Zagen ist gebrochen , Und deine Seele hofft . -
Dies wurde schon oft gesprochen ; Doch spricht man es nie zu oft . "
Ach ja , dachte Asmus , es ist ganz gut , wenn es einem nicht so gut geht .
Dann kann man leichter sterben .
Da sah er plötzlich etwas Langes neben sich stehen , und als er aufblickte , war es Herr Bendemann .
Der sah mit seinen geraden , niemals abirrenden Augen auf die Schrift des Asmus Semper .
Und dann sprach er :
" Willst du denn nicht wenigstens deine schöne Handschrift verwerten ? "
Da war es Asmus , als ob ein anderer aus ihm spräche , ein stärkerer Wille in ihm nahm über seinen Kopf hinweg das Wort und sagte : " Ich möchte wohl gern Lehrer werden " - und als Asmus hörte , was der andere in ihm sprach , da erschrak er und fügte schnell hinzu : " aber das können meine Eltern nicht . "
Da sagte Herr Bendemann die folgenden Worte :
" Sprich doch einmal mit deinen Eltern .
Ich will dich wohl umsonst unterrichten . "
In diesem Augenblick sah der grau gekleidete Herr Bendemann mit dem überhängenden roten Schnurrbart aus wie der lichte Erzengel Gabriel , und Asmus stotterte : " Ja - ja - ich will - danke - danke - ich will noch Mal mit meinen Eltern sprechen - danke - "
Wenn Herr Rosig gesehen hätte , was Asmus in der folgenden Stunde schrieb , so würde er wohl an der Vollkommenheit seines Schülers ernstlich irre geworden sein .
Das sah wunderlich aus und ging in Wellenlinien auf und ab ; denn die Augen des Schreibers waren immer anderswo als die Feder , und seine Hände liefen über den Rand des Blattes hinaus und wollten durchaus nach Hause .
Wenn die Uhr nur erst zwölf war - dann wollte er nach Hause laufen , nein springen , nein fliegen - aber als es so weit war , da ging er ganz langsam .
Seine ganze Armut legte sich ihm breit und wuchtig aufs Herz .
Seine Eltern konnten es ja doch nicht !
Viele Jahre mußte er dann studieren , und nichts würde er in dieser Zeit verdienen - nachher freilich , als Lehrer , dann bekam er ein riesiges Gehalt , dann hatte alle Not seines Hauses ein Ende ; aber bis dahin - nein , sie taten es doch nicht .
Und doch flog und flackerte sein Herz , als er in der Küche zu seiner Mutter sagte : " Herr Bendemann will mich umsonst unterrichten , wenn ich Lehrer werden will . "
" Ach , Junge " , sagte Rebekka , " wie kannst du Lehrer werden !
Wir können ja schon so nicht vor Sorgen in Schlaf kommen .
Deine Brüder sind auch keine Lehrer geworden ! "
Aber ein interessantes Ereignis war es doch , und sie ging mit ihrem Sohn in die Wohnstube , wo Ludwig Semper mit aufgestützten Armen und keuchend am Tische stand .
Und sie berichtete , was Herr Bendemann gesagt hatte .
Da kam in Ludwig Semper trübe Augen ein Licht aus frühen , frühen Tagen langsam zurück , immer näher kam es , immer näher , und seine Augen wurden immer größer und immer heller und verbreiteten ihr Licht über seine Stirn und seinen Mund und sein silbernes Haar , und sieh , er lächelte , und er stützte sich nicht mehr , sondern stand frei und aufgereckt da und ergriff noch einmal das Fahrzeug seines Lebens am Steuer , ergriff es mit lächelndem , blind wagendem Griff und legte die Hand auf den Kopf seines Sohnes , wie damals im " Holstenloch " , als er der Erste in der Klasse geworden war , und sagte : " Gut , du sollst Lehrer werden . "
Nur ganz leise und ganz schüchtern fragte Rebekka : " Aber , wie willst du das möglich machen ? "
" Laß nur " , sagte Ludwig , " es wird wohl gehen . "
Er rechnete nicht , er fragte nicht einmal nach den Kosten ; er konnte nicht sorgen für den kommenden Tag ; aber mit erhabenem Leichtsinn etwas Großes und Gutes tun - das konnte er .
In Asmussens Familie und Asmussens Heimat küßten Eltern und Kinder sich nur , so lange die Kinder noch klein waren .
So große Kinder wie Asmus küßten ihre Eltern nicht mehr , besonders Knaben nicht , und besonders nicht den Vater .
Man schämte sich dessen .
O wie gern wäre Asmus mit einem wilden Sprunge seinem Vater an den Hals geflogen und hätte ihm Mund und Wange und Stirn und Haar und Bart mit Küssen bedeckt .
O , diese dumme , alberne , abscheuliche Scham !
Und so stand er nun da und wandte und drehte sich und rang und zerkniff die Hände und sagte endlich mit brennenden Augen und zuckendem Munde :
" Ich - will mir auch schrecklich Mühe geben - - " und dann konnte er keinen Ton mehr hervorbringen , und dann lief er hinaus . - -
Letztes Kapitel .
Von dem Semperischen Glück , von der griechischen Königin und vielen anderen Seligkeiten .
Das nun folgende Jahr war ein unablässiges Schweben im Licht , ein Schweben mit ausgebreiteten Schwingen .
Nur einmal in der Woche ging er zu Herrn Bendemann und arbeitete mit ihm deutsche Sprache und Literatur .
Herrn Bendemanns Wohnung war das rechte Gehäuse dieses Mannes :
es standen ein Tisch , vier Stühle und ein Schrank im Zimmer ; aber in ihr lebte die Poesie eines heiterreinen , der Pflicht geweihten Lebens .
Immanuel Kant könnte in ihr gelebt haben , und dem poesiehungrigen Asmus schien es in diesem Raume stets so lieblich und wohnlich wie in einem guten Gewissen .
Herr Bendemann ließ den Knaben selbständig arbeiten und versuchte , was er ihm bieten dürfe .
Er gab ihm auf , sechs Seiten durchzuarbeiten , dann acht , dann zwölf , zuletzt zwanzig .
Er glaubte , Asmus habe die ganze Woche für diese Arbeit ; aber er hatte nur einen halben Tag dazu ; in der übrigen Zeit mußte er notgedrungen beim Tabak helfen , und des Abends lernte er Latein und Französisch .
Nun schlief er nicht mehr ein ; nun hatte sein Leben ein Steuer , nun hatte er Wind in den Segeln , nun ging es vom Bach in den Strom , vom Strom ins Meer , vom Meer in die Unendlichkeit .
Nun saß er an der Quelle und trank und trank und wollte so lange trinken , bis sie leer war ; er wollte alles lernen , alles , um dann , wenn er alles gelernt haben würde , glücklich zu sein .
Er kam nicht mehr mit den Füßen auf die Erde ; er flog nur und flog , und es wurde ihm so leicht , zu fliegen :
er schlug nur zweimal , dreimal mit den Flügeln , dann konnte er wieder lange , lange mit unbewegten Flügeln dahinschweben durchs Licht .
Er fand noch Zeit zu Spaziergängen , und er ging zwischen heimlichen Hecken , an grünüberwachsenen Teichen , durch dörflichen Frieden dahin , und an seiner Seite gingen Schiller und Ossian , Aristoteles und Goethe , Voltaire und Klopstock , Gottsched und Bodmer .
Er las alles , was sich ihm bot , sogar die Noachide von Bodmer und die Oden von Ramler .
Am liebsten aber ging er den Hohlweg am " Halben Mond " hinunter , um seiner Elbe mit langen , stummen Blicken zu sagen , wie glücklich er sei .
Dann schritt er stromauf und stieg bei " Martens Mühle " wieder ans Ufer hinauf , dorthin , wo auf einer umbuschten Wiese der Abend unter blühenden Malven lag .
Dort legte er sich nieder mit seinem Buche und sah die Elbe unten vorüberfließen , groß und still , wie sie dahingewandelt war , als er auf Hörmanns Werft die Späne in den Sack gesammelt hatte .
Und unter silbernen Segeln kamen mit dem Strome die Stunden seines vergangenen Lebens daher , stiegen ans Land , kamen zur Wiese herauf , traten aus den Büschen hervor , entwirrten rosig-silberne Schleier , die ins Abendrot hinüberschwanden , tanzten an ihm vorüber mit einem seligklagenden Zwiegesang , und verschwanden wieder in den Büschen , wie ein Gesang sich unter fernen , dunklen Bäumen zur Ruhe legt .
Da kamen die Stunden , wie er mit Dierich Mattes auf dem Zaune saß und rauchte , wie er durchs Bodenfenster nach dem Lande sah , " wo milde Luft vom blauen Himmel weht " , wie er am Wintermorgen mit Elieser um Rebekka freite , wie Adolfine Moses ihm die Kriegserklärung überbrachte , wie er mit brennenden Augen in die Flammen der Feuersbrunst schaute , wie der Maurer mit dem Munde den Knall eines Pfropfens nachahmte , wie Klaus Rampuhn ihn von der Turnstange riß , daß er mit dem Kopfe auf die Erde schlug , wie er im weißen Kleidchen auf den Dielen saß und seine Mutter übers Treppengeländer hinweg mit einer Nachbarin sprach - in wundersamen Verschlingungen tanzten in neckischem Nahen und Entfliehen die Stunden den träumeumwehten , -umklungenen Reigen .
So schön war das Leben , daß selbst die Stunden des Leidens ihn freundlich ansahen , so traurig war das Leben , daß selbst die lachenden Augen der seligen Stunden von der Wehmut des Vergehens übertaut waren .
Er mußte auch der Tage denken , da er " Doktor Krause " gespielt mit dem Konfirmationzylinder Leonhards , und der Tage , da er an der Leiche seines Bruders stand .
Und er dachte :
Wenn Leonhard so gute Lehrer gehabt hätte wie ich , und wenn ein Lehrer ihn entdeckt hätte wie mich , wenn er hätte lernen können - es wäre anders mit ihm gekommen - und alle meine Geschwister - wenn ihnen das Glück so hold gewesen wäre wie mir - und es wurde ihm weh und bang in seinem Glücke .
Überhaupt war ihm bei allem Glück die Schwermut eine liebe Gefährtin , und wenn er nun dichtend am Ufer der Elbe hinschritt , so dichtete er mit Vorliebe in der sapphischen Odenstrophe , weil ihre letzte Zeile wie ein letzter Abendhauch über Grabesblumen weht .
Er besang den Tod von treuen Freunden , die nie gelebt hatten , und die Treulosigkeit von Geliebten , die er nie gesehen hatte , und das war schade ; denn sie waren ohne Ausnahme schön und engelgleich , nur treulos .
Aber auch Lieder des Zornes und der Empörung gegen Tyrannenwut und Geistesknechtung atmete er mit wogender Brust dem Herbststurm entgegen , wenn er mit vorstürmendem Kopf und mit Schritten , die für seinen Körper viel zu lang waren , durch den Sand des Elbufers stampfte .
Ein Wort hatte sich ihm schon in früher Kindheit eingeprägt , das Wort : " Und sie bewegt sich doch ! "
Das mußte er einmal singen , und er sang es .
Und es klang so : E pur si muove .
Vor hohem Tribunale im heiligen alten Rom , Da stand einst Galilei , der große Astronom .
Dort wollte man ihn zwingen , die Wahrheit zu verdrehn ; Dort sollte er blind sich stellen , weil er zu klar gesehen .
Man schleppt ihn in den Kerker , ein feucht , verpestet Loch ; Da zwingt der alte Körper den jungen Geist ins Joch .
Der Held muß unterliegen der kalten Heuchlermacht , Verleugnen und verdammen , was er ans Licht gebracht .
Er läßt hinaus sich führen ins liebe Sonnenlicht .
Wohl zeigt des Kampfes Spuren sein edles Angesicht - Doch als die welken Glieder umschloß das kalte Erz , Da fühlte er , daß in Fesseln ihm brechen müßt ' das Herz .
Der Alte muß es schwören , die Hand aufs Buch gelegt :
" Der Erdenball hier unten sich nimmermehr bewegt .
In seinen Angeln ruht er auf ewig still und fest , Den Feuerball dort oben er um sich kreisen läßt . "
Doch wie er_es hat geschworen , die Hand auf's Buch gelegt , Da hat im tiefsten Inneren sich wild sein Herz geregt , Und durch die Zähne zwingt er_es , ingrimmig knirschend noch , Trotz Schwor und Pfaffenallmacht :
" Und sie bewegt sich doch ! "
Und wie einst Galilei der Nacht zum Opfer fiel , So sind viel Geisteshelden verschmachtet im Exil , Von Lug und Trug geächtet , gekreuzigt und verbrannt ; Doch ihre Geister leben im nahen und fernen Land .
Darum Mut gefaßt , ihr Kämpfer :
Die Wahrheit nimmer stirbt ; Den lohnt die treuste Liebe , der sie zur Braut erwirbt .
Und schleppt man euch zum Tode : vom Scheiterhaufen noch Ruft jede Flammenzunge :
" Und sie bewegt sich doch ! "
Das ist dir gelungen , dachte Asmus .
Freilich wenn er ganz ehrlich gegen sich selbst war , dann mußte er gestehen , daß es zuweilen verteufelte Kniffe gekostet habe , den verflixten Reim und die vertrackte Silbenzahl herauszukriegen ; aber wenn man es recht stürmisch und wohlwollend deklamierte , dann merkte man nichts .
Von hinten herum , auf dem Wege über seine Mutter erfuhr er , daß das Gedicht seinem Vater große Freude gemacht habe .
Eines Tages nämlich war Johannes über seine Papiere geraten , hatte das Gedicht gefunden und es starr vor Begeisterung seinem Vater gezeigt .
Ja , Ludwig Semper konnte sich wieder freuen ; seine Augen wurden wieder klar , sein Gang wieder rascher ; sein qualvolles Leiden ließ von ihm ab .
Es war , als ob der große Entschluß , seinen Sohn den Niederungen des Elends zu entreißen und ihn lichteren Sphären zurückzugewinnen , seinen Leib wie seine Seele verjüngt und die Ketten des Leides zerrissen hätte .
Er konnte wieder lachen , ja singen sogar , und als er eines Tages deutlich merkte , daß es mit seinem Sohne vorwärts ging , wie er gehofft , da hob er den Kopf von seiner Arbeit , blickte gerade ins hellste Licht der Lampe hinein und rezitierte : There is a tide in the affairs of men , Which tacken at the flott Leads ohne to fortune ; Omitted , all the voyage of their live Is bound in shallows and in miseries .
Und dann warf er ein Bein über das andere , lachte mit schütternden Schultern in sich hinein und machte wieder Zigarren .
Nach einem Jahre meldete Asmus sich zur Aufnahme in das Hamburger Lehrerseminar .
Mit Zittern und Beben .
Nun wird deine greuliche Unwissenheit ans Licht kommen , dachte er .
Als er zum ersten Male in das Zimmer des Direktors trat , schnauzte der ihn an .
Er wußte natürlich nicht , daß der Direktor zunächst immer schnauzte und doch ein herrlicher Mann war .
Unter den Lehrern war einer mit einem ganz roten , ganz runden und breiten Kopfe , der durch abstehende Haarbüschel noch wesentlich verbreitert wurde , und dieser Mann machte ein Gesicht , als wollte er sagen : " Wer nicht ebenso gelehrt ist wie ich , den fresse ich innerhalb der nächsten fünf Minuten auf . "
Acht Tage währte die hochnotpeinliche Prüfung .
Dann wurde Asmus aufgenommen .
Als er am Tage nach der Aufnahme in gehobenster Stimmung den Heimweg einschlug , gesellte sich ein Klassenkollege zu ihm , und an der anderen Seite dieses Kollegen ging eine Bekannte des jungen Mannes , eine schlanke Dame von etwa siebzehn Jahren mit großen braunen Augen und einer ungeheuren Fülle braunen Haares .
Sie trug eine Büchermappe und war offenbar eine Schülerin des nahegelegenen Lehrerinnen-Seminars .
Sie hielt sich sehr stolz und gerade und hatte doch im Gesicht einen sanften , ja melancholischen Ausdruck .
Sie sprach nur wenig .
Als den Kollegen sein Weg seitab geführt hatte , ging Asmus noch eine Strecke mit ihr allein .
Er kam sich so unglückselig und dumm vor wie noch nie : er konnte kein Wort hervorbringen .
Endlich sagte er :
" Sind Sie bald zu Hause ? "
" Nein " , sagte sie , " ich muß noch nach Eimsbüttel . "
" Wohnen Ihre Eltern in Eimsbüttel ? " fragte er ; denn unter den Zöglingen der Seminare waren manche , deren Eltern auswärts wohnten .
" Ich habe keine Eltern mehr " , sagte sie .
" Ach ! " sagte er unwillkürlich und dachte im selben Augenblick :
" Was bin ich für ein Glückspilz " .
Jetzt erst bemerkte er auch , daß sie ganz in Schwarz gekleidet war .
Ihr Kleid war von fast armseliger Einfachheit , zugleich aber von peinlichster Sauberkeit und Ordnung , und alles , was sie trug , stand ihr so fein und gut , daß man sie dennoch für eine vornehme Dame halten mußte .
Asmus wollte noch mehr sprechen ; aber alles , was ihm einfiel , kam ihm so ungeschickt und albern vor , daß er lieber gar nichts sagte .
Endlich zog er plötzlich den Hut , machte etwas , was als eine höfliche Verbeugung gedacht war , und sagte " Guten Abend " .
Sie erwiderte seinen Gruß mit einer graziösen Neigung des Kopfes , und ihre Wege trennten sich .
Er wußte nicht , daß die kleine griechische Königin neben ihm gegangen war , die " Königin der Mainotten " , die zwischen den Eisenbahndämmen vor dem Wirtshause gesessen hatte .
Sie wußte nicht , daß es der kleine Junge war , der ihr den Glasmarmel geschenkt hatte , den Glasmarmel , den sie - sie wußte kaum warum - noch immer in ihrem Nähkästchen aufhob .
Acht Tage später rief der Ordinarius der Klasse , der aussah , wie die Rechtschaffenheit und die Geometrie in einer Person , den Präparanden Asmus Semper zu sich .
" Sie sind in die höhere Klasse versetzt " , sagte er .
Asmus wurde blaß .
" Ich kann aber kein Englisch " , stieß er hervor .
" Das schadet nichts .
Das holen Sie in vier Wochen nach .
Sie sollen hier Ihre Zeit nicht verlieren .
Sie erhalten auch ein Stipendium . "
Merkwürdig : auf dem Wege nach Hause begegnete Asmus lauter schönen Gesichtern .
Und als er sich plötzlich in Oldensund sah , mußte er aufatmend stillstehen und sich umsehen :
Wie war er denn nach Oldensund gekommen ?
Er war ja gar nicht gegangen !
Er hatte ja gar nicht die Erde berührt !
Seine Füße waren aus Gewohnheit nach Hause gelaufen , etwa wie ein Pferd auch ohne Reiter den Heimweg findet .
Sein Kopf war hoch über den Füßen auf einer wogenden , schimmernden Flut geschwommen , und auf dieser Flut schwammen die Köpfe der ihm begegnenden Menschen wie Seerosen mit lieben , lachenden Gesichtern , und die nahen sahen aus , als ob sie fern , ganz fern wären , und die fernen , als wären sie zum Greifen nah .
" Ich bin in die höhere Klasse versetzt und ich kriege ein Stipendium ! " hallte es durch das Haus der Semper , und dahinter erschien Asmus .
Frau Rebekka mußte es dreimal hören , ehe sie es begreifen und glauben konnte .
Ludwig aber sah seinen Sohn an , als wenn er ihn heute erst kennen lerne .
Dann legte er ihm nach alter Gewohnheit die Hand auf den Kopf und rieb diesen Kopf in so langer und heftiger Freude , daß Asmus alle Haare wehtaten ; aber er gab keinen Mucks von sich ; er rührte keine Wimper , und ein Schauer rieselte ihm den Rücken hinunter .
Sie waren in diesem Augenblick ein Mensch , Vater und Sohn , und blickten gemeinsam in ein neues Land .
Dann aber warf Ludwig Semper plötzlich die Arme nach beiden Seiten , wie es keiner je von ihm gesehen , und rief : " Es geht wieder aufwärts mit den Sempern , es geht wieder aufwärts . "
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- TextGrid Repository (2025). Ernst, Otto. Asmus Sempers Jugendland. Bildungsromankorpus. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0q4.0