Zweiter Band .
Erstes Kapitel .
Der Tag von Valmy .
Unsere Frühstücksstunde schlug .
So lange hatte ich in fruchtlosem Mühen in der Laube gesessen .
Nun stieg ich hinunter .
Die Eltern wußten bereits um die Abreise des Prinzen .
Das langgehegte Geheimnis hatte sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt verbreitet .
" Er ist auf guten Wegen ; Gott Geleit ihn ! " sagte der Vater , und drückte meine Hand .
Die Mutter aber sagte :
" Du siehst blaß und erkältet aus , liebe Tochter .
Gehe und Ruhe ein paar Stunden . "
Aber ich durfte nicht ruhen ; ich mußte Dorothee vorbereiten , die der Kraft und des Mutes mehr bedürfen mußte , als ich selbst .
Ich kam zu spät .
Schon auf der Treppe vernahm ich ihr angstvolles Stöhnen .
Aus blauem Himmel hatte sie der entsetzliche Schlag getroffen .
Sie lag am Boden in ihren Tageskleidern .
Die Arme , quer über dem Bette ausgestreckt , zuckten konvulsivisch , die Augen starrten nach der Tür , ohne daß sie die Eintretende bemerkten .
" Fort , fort ! " war der einzige Laut , der sich der hastig arbeitenden Brust entrang .
Ich hob sie auf das Bett und setzte mich an ihre Seite .
Der Krampf währte eine Weile ; endlich gewahrte sie mich und winkte leidenschaftlich , daß ich mich entferne .
" Du bist krank , Dorothee , " sagte ich .
" Ich werde den Arzt rufen lassen . "
Das Wort brachte sie außer sich .
" Nein , nein ! " schrie sie auf .
" Keinen Arzt !
Ich bin gesund .
O nur allein , ganz allein ! "
Ich zog die Bettvorhänge zusammen , und tat , als ob ich mich entferne , setzte mich aber verborgen in den Hintergrund .
Allmählich wurde sie ruhiger ; ein Tränenstrom machte ihr Luft ; ich hörte sie schluchzen , endlich nur noch leise wimmern und seufzen .
Nach einer Stunde etwa richtete sie sich auf , strich den verschobenen Anzug zurecht , trocknete ihre Augen und blickte sich scheu im Zimmer rundum .
Als sie meiner gewahr wurde , überflog sie von Neuem ein Schauder .
" Gehen Sie , Fräulein Hardine , " flehte sie .
" Um Gottes Barmherzigkeit Willen , lassen Sie mich allein ! "
Ich entfernte mich nun wirklich ; aber von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick in das Nachbarzimmer .
Dorothee saß weinend und händeringend auf ihrem Bett .
Sie sprach kein Wort , aber sie war gesund .
Wochen gingen hin in mechanischem Tageslauf .
Langsam brachten die Zeitungen , rascher von Zeit zu Zeit ein durchreisender Kurier Kunde über den zögernden Vormarsch der verbündeten Armeen .
Am Tage des heiligen Ludwig , an welchem unser junger Held den Triumphzug nach Paris zu beschließen gehofft hatte , standen die ersehnten Retter noch diesseits der Ardennen , und der Enkel des heiligen Ludwig war ein Gefangener des Tempel .
Dennoch verzagten wir nicht .
Verdun hatte sich wie Longwy übergeben , und wenn von da ab wochenlang alle Nachrichten ausblieben , hielten wir uns an die Zuversicht , daß das bis dahin immer siegreiche Heer sich an einen verächtlichen Feind in seiner Flanke nicht gekehrt , in Eilmärschen die Marne überschritten , und 1 * wenn auch später , als wir gehofft , doch sicher zur Stunde bereits dem gefangenen Monarchen in seiner Hauptstadt die Freiheit wiedergegeben haben werde .
Unbegreiflich dahingegen und wahrhaft beängstigend war uns das Schweigen unserer heimatlichen Freunde bei der Armee ; denn wenn wir auch bei unserem aufgeregten Prinzen keine mitteilsame Stimmung voraussetzten , so hatte doch ein junger Regimentskamerad , der jenem als Adjutant beigegeben und meinem Vater vertraulich zugetan war , fleißige Nachricht versprochen , und nun nahezu zwei Monate kein Wort von sich hören lassen .
Und Faber , dem durch seltsame Fügung die Freunde auf fremdem Boden , unter fremder Fahne in demselben Regimentsverband begegnen mußten , auch Faber sendete keinen Trost in dieser bänglichen Zeit .
" Ich habe ein besseres Fiducit zu diesem Monsieur Per--se gehegt , " sagte mein Vater ärgerlich .
" Daß ich auch nicht daran gedacht habe , dem Prinzen einen Denkzettel an ihn mit auf den Weg zu geben .
Die arme kleine Dorle ist wie verwandelt , seitdem es nun ernstlich zum Klappen gekommen ist .
Sie grämt sich und schämt sich , so vergessen zu sein in ihrer Angst und Not . "
Ja freilich grämte und schämte sie sich , die unglückliche Dorothee , wenn auch aus anderen Gründen , als ihr alter Freund ihr unterschob .
Sie mied uns in sichtbarer Seelenangst , saß mit vorgezogenem Riegel in ihrer Stube , und huschte im Garten scheu und stumm an uns vorüber .
Redeten wir sie an , und war es das Gleichgültigste , so antwortete sie verworren und ausweichend .
Ich sah , sie zitterte vor einer Erörterung , die auch ich von Tage zu Tage verschob .
Warum , da sie doch unausbleiblich und jedenfalls vor meiner Abreise nach Reckenburg stattfinden mußte ?
Ja , warum scheut man sich denn , einen Knoten zu durchhauen , warum rechnet man auf das Unwahrscheinlichste , das eine Lösung bewirken könnte ?
Ich zum Exempel rechnete auf eine Eröffnung und vielleicht Verständigung zwischen dem Prinzen und Faber , die mich der Pein einer Mittlerrolle überhob .
Endlich , endlich kam der langersehnte Brief vom Adjutanten .
Der Prinz hatte seine Verzögerung befohlen , um die Freunde , eines kleinen Unfalls halber , nicht ohne Not zu beunruhigen .
Er war , indem er dem die Tête bildenden Regimente Weimar nacheilte , beim Überschreiten der Grenze auf ein preußisches Reiterpikett gestoßen , hatte sich ihm angeschlossen und mit ihm eine rekognoszierende , weit überlegene feindliche Jägerabteilung attackiert .
Nach hartnäckigem Kampfe war sie niedergehauen und gefangen worden .
Dem Prinzen aber , der auch nicht einen Flüchtigen entkommen lassen wollte , stürzte während der Verfolgung auf dem vom Regen durchweichten Boden das Pferd .
Er trug eine Verstauchung davon , die sich bei mangelnder Pflege entzündete und ihn wochenlang in einer armseligen Bauernhütte festhielt .
" Wie er knirschte , " so sagte der Korrespondent , " wie er wetterte , zurückbleiben zu müssen , während die Armee die Ardennenfestungen in ihre Hand bekam -- nun Ihr könnt es Euch denken , Ihr kennt ihn ja !
Wie er aber schäumte während des unbegreiflichen achttägigen Halts vor den schwachbesetzten Argonnenpässen -- nein , das könnt Ihr Euch nicht denken , trotzdem Ihr ihn kennt !
Wäre das Kommando doch in des Königs Hand !
Gottlob jedoch , sein ritterlicher Sinn hat über die alte Schulweisheit gesiegt und unser leichtes Glück bei Croix aux bois und Grandpré , wo diese Freiheitshelden Reißaus nahmen wie die Hasen , wird auch unserem Serenissimus Cunctator eine Fackel aufgesteckt haben , welche den Weg nach Paris beleuchten soll .
Die Armee ist in vollem Marsche nach Châlons .
Zieht Dumouriez , dieser Schwätzer par excellence , sich zurück : gut .
Einen solchen Feind in der Flanke fürchten wir nicht .
Gelingt ihm die Vereinigung mit Kellermann , der ihm von Metz zu Hilfe kommen soll : desto besser .
Wir werden das Gesindel dann mit einem Schlage los .
Das Beste aber ist , daß unser Prinz , heil und wohlgemut , morgen aufbrechen wird , um sein Regiment einzuholen .
Am Abend denken wir Menehould -- fluchwürdigen Andenkens ! -- zu erreichen . "
Das Ungestüm unseres Prinzen sprach aus jedem Worte dieses Berichts .
Ein Postskriptum enthüllte dahingegen die weit nüchternere Auffassung seines Begleiters .
Weg und Wetter waren abscheulich ; es fehlte an jeder geregelten Verpflegung ; epidemische Krankheiten dezimierten die Armee ; was aber am tiefsten überraschte : die Stimmung der Bevölkerung war dem königlichen Befreiungskriege keineswegs so geneigt , wie nach den Schilderungen der Emigranten alle Welt vorausgesetzt hatte .
Einige diplomatische Andeutungen über den Doppelsinn der Herführung bildeten den Schluß .
Wir schlugen uns den nachhinkenden Boten aus den Gedanken und hielten uns an den guten Glau ben und an die gute Kunde von unserem Helden , wobei wir denn freilich die Gefahren jedes Augenblicks vergaßen , welche die Spanne zwischen Sendung und Empfang solcher Kunde füllen .
Der Brief , welcher am neunzehnten September geschrieben , erreichte uns am achtundzwanzigsten .
Auf den folgenden Tag , Michaelis , fiel Dorothees Geburtsfest .
Ich suchte schon früh am Morgen bei ihr einzudringen .
Die beruhigende Nachricht über den Prinzen , hoffte ich , werde eine nicht länger aufzuschiebende Aussprache ermutigend einleiten .
Aber wiederum ein vergeblicher Versuch .
Sie war schon vor dem Frühstück hinüber zum Vater entschlüpft und kehrte während des ganzen Morgens nicht zurück .
Am Nachmittag saßen wir im Familienzimmer um den Kaffeetisch , auf welchem ein Festkuchen , umgeben von einem bunten Asternkranze , prangte .
Achtzehn Jahreslichtchen , und in der Mitte das dicke Lebenslicht sollten rasch angezündet werden , sobald es Ehren-Purzel , der an der Treppe aufgestellt war , gelungen , das Geburtstagskind abzufangen .
Ich hatte das Mißliche dieser alljährlichen kleinen Festlichkeit heuer wohl empfunden , wußte aber keinen Vorwand , den guten Willen der Eltern zu verhindern .
Wir war täten vergebens .
Dorothee kam nicht .
Auch hatte die Frankfurter Post keinen Brief des bisher wenigstens zweimal im Jahre regelfesten Bräutigams gebracht .
Papa schimpfte recht lästerlich auf seinen rücksichtslosen Monsieur Per--se .
Es dämmerte bereits , als ein Stafettensignal sich von Westen vernehmen ließ .
Bei jedem Klange aus dieser Richtung sammelten sich Offiziere wie Bürger vor dem Posthause , um irgend eine wahre oder unwahre Nachricht zu erhaschen , welche die Kuriere auf den Stationen ausstreuten .
Der Vater eilte hinaus , und auch uns Frauen ließ es keine Ruhe , wir traten unter die Haustür , seine Rückkehr erwartend .
Die Stafette sprengte auf der Leipziger Straße weiter .
Der Vater kam zurück .
" Ein Zusammenstoß soll stattgefunden haben , " rief er uns kopfschüttelnd entgegen ; " unfern von St. Menehould ein unerhörtes Kanonenfeuer vernommen worden sein .
Wer aber obtinirte ? -- und ob wirklich beim Abgang der Post am anderen Tage die Armeen sich in unverrückter Stellung gegenübergestanden ?
Reime sich_es , wer kann -- ich -- "
Er bemerkte bei diesen Worten Dorothee , welche sich leise von der Gartenseite herbeigeschlichen hatte , und in atemloser Spannung seiner Rede lauschte .
Lachend reichte er ihr einen Brief , welchen er dem Kurier abgenommen hatte ; " Ein Tausendsassa , liebe Dorle , wie er die Gelegenheiten wahrzunehmen weiß ! "
Dorothee riß den Brief an sich und floh die Treppe hinan .
Der Vater hielt noch einen zweiten Brief in der Hand .
" Vom Adjutanten , " sagte er , nachdem wir in das Wohnzimmer getreten waren .
" Er wird uns , denke ich , das Rätsel lösen . "
Ich zündete in der Hast das Lebenslicht auf dem Geburtstagskuchen an , und stand in atemloser Spannung , bis der Vater den Brief entsiegelt hatte .
Kaum aber , daß er einen Blick hineingeworfen , sah ich ihn auf dem Stuhl zurücksinken , das Blatt seiner Hand entfallen .
" Tod , tot ! " stöhnte er , wie vernichtet .
" Wer ist tot ? " kreischte die Mutter .
Sie hob das Blatt vom Boden auf .
Ein Blick auf das erste Wort ; ein zweiter der tiefsten Angst zu mir hinüber .
Ich lag nicht in Ohnmacht oder Krämpfen ; ich stand steif wie eine Kerze .
Sie legte es beruhigt in meine Hand .
Es war flüchtig mit Bleistift geschrieben und datierte vom einundzwanzigsten September .
" Unser herrlicher Prinz ist tot !
Das Opfer eines Kampfes , für den ich keine Bezeichnung habe .
Mitten in der Nacht waren wir aufgebrochen .
Der Weg war heillos , aber die Kundschaft , daß der König gestern den Vormarsch und den Angriff der feindlichen Armee befohlen habe , gab dem Prinzen Flügel .
Wir hetzten unsere wechselnden Pferde zu Tode .
Um sieben Uhr hörten wir den ersten Kanonenschlag .
Die Gegend lag im dicksten Nebel .
Das Feuer wuchs von Minute zu Minute .
Der Boden dröhnte .
Der Prinz glühte buchstäblich im Fieber : die Schlacht , die heißersehnte Schlacht !
Alle rückstehenden Truppenteile , die wir passierten , zeigten die zuversichtlichste Stimmung , ja ausgelassene Heiterkeit .
Unser Regiment stand bei der Avantgarde , mit welcher Hohenlohe den Angriff erhoben hatte .
Wir jagten vorwärts .
Mittag war vorüber ; der Nebel hatte sich gesenkt .
Jetzt erkannten wir die feindliche Aufstellung auf den Höhen vor Valmy .
Eine günstige Position ; der Feind uns um ein Drittteil überlegen .
Aber welch ein Feind !
Bodenlos soll die Verwirrung gewesen sein , als Hohenlohe den linken Flügel , d. h. Kellermann , angriff , und Dumouriez auf dem rechten zu fern war , um ihm beizuspringen .
Der Sieg schien mit Händen zu greifen , und -- wir setzten die Attacke aus !
Wir schossen hinüber , der Feind herüber , ohne begreifbaren Zweck und Erfolg .
Vierzigtausend Kanonenschläge sollen in diesem Feuerwerk verpufft worden sein .
" Der Prinz schäumte vor Wut , als er jenseits der Straße von Menehould seinem Regiment auf dem Rückzug begegnete .
Fluch und Verwünschung jagten sich auf seinen Lippen ; Purpurröte und Totenblässe auf seinem Gesicht .
Laut und öffentlich sprach er aus , daß Hohenlohe dem unseligen Rückzugsbefehle trotzen müsse , sprengte tollkühn die Anhöhe hinab und jenseits wieder hinauf bis zu der Stellung , welche die Vortruppen am Morgen inne gehabt hatten .
Er glaubte einen Angriff von dieser Seite noch jetzt mit Sicherheit ausführbar .
Er kann nichts anderes gedacht haben , als eine Rekognoszierung bei dem verwegenen Ritt .
Die Kugeln sausten um seinen Kopf .
Ich sprengte ihm nach , dem tödlichen Beginnen Einhalt zu tun .
Mehrere Offiziere des Regiments folgten mir .
Dicht ihm an den Hacken , sahen wir ihn taumeln , vom Pferde sinken .
Noch fing ich ihn in meinen Armen auf .
Unter einem Kugelhagen trugen wir ihn nach dem Vorwerk la Lune , dem Standquartier unseres hohen Chefs .
Er war am Herzen getroffen und in wenigen Minuten -- eine Leiche .
" Und dieses herrliche Opfer sühnt kein Sieg , sühnt nicht einmal das Bewußtsein der genügten Ehre .
Der Feind steht uns heute wie gestern hoch gegenüber .
Wir greifen auch heute nicht an und selber die Geschütze schweigen .
Man munkelt von Unterhandlungen , von Rückzug .
Mir ist nichts unglaublich nach dem gestrigen Puff .
Kann aber , wird ein König von Preußen sich dieser Schmach unterwerfen ?
Die Offiziere schreien Zeter über den Braunschweiger .
Mit abgewandten Gesichtern schleichen sie aneinander vorüber , sie , die gestern so stolz und sicher wie zur Parade ausgezogen waren !
Weinen habe ich ihrer sehen vor Zorn und Scham .
" Wären Sie ein Preuße wie ich , " sagte mir ein alter Major , " hätten Sie noch unter Friedrichs Fahne gedient , Sie beneideten Ihren gefallenen Prinzen . "
Was soll ich weiter sagen ?
Äußerlich hielt ich Stand .
Lautlos legte ich den Brief in des Vaters Hand zurück .
Er schluchzte wie ein Kind und die Tränen rieselten über seine Wangen in den ergrauenden Bart .
Die Mutter saß lange Zeit still mit gefalteten Händen .
Endlich erhob sie sich .
" Wir alle bedürfen der Sammlung .
Gehe zur Ruhe , liebe Tochter , " sagte sie , indem sie mich auf die Stirn küßte .
Der Vater führte mich bis zur Tür , preßte meine beiden Hände und sprach :
" Gott muß es am besten wissen , mein gutes Kind . "
" Gott muß es am besten wissen ! " wie oft habe ich in ruhigeren Stunden dieses Wortes gedacht , das so alltäglich verhallt , und doch das einzige ist , dessen wir Menschen uns in unbegreiflichen Schickungen trösten .
Diese lebensgierige Natur , ohne Halt in der Außenwelt , zügellos in der inneren , würde sie sich behauptet haben während der zwanzig Jahre des Verfalls , welche der Spiegelfechterei von Valmy folgten , bis zur tiefsten Schmach und hart an die Grenze der Vernichtung ?
Würde sie ihre Kraft zusammengehalten haben , für die büßende Mannestat ?
Oder nach welcher Richtung hin sie verschleudert und sich selbst verloren ?
Gott hat es am besten gewußt , mein braver Vater !
In dieser Stunde freilich da war Dein Trostspruch mir ein Schall und ich hörte nur das eine hoffnungslose tot , dahin was meiner Augen Licht und meiner Seele Stolz gewesen .
Aller Halt war gebrochen , sobald ich -- endlich allein ! -- die Treppe erreicht hatte .
Ich ließ mich auf die Stufen niedersinken , der Leuchter entglitt meiner Hand .
So lag ich , ich weiß nicht wie lange ; das Leben dünkte mich eine Nacht , undurchdringlich als die , welche mich umfing .
Endlich raffte ich mich auf und tastete mich nach meiner Tür .
Da sah ich einen hellen Streifen durch die Spalte der Nebenstube fallen , und -- Törin , die ich gewesen ! sah mich aus dem Reiche des Grabes schon wieder inmitten der bewegenden Flut .
Denn ich erinnerte mich an Eine , der wahrhaftiger als mir des Lebens Leuchte erloschen war .
Es war die Todespost , die ihr der alte Freund als eine Freudenpost gereicht hatte und tödlich schien der Streiche , der für sie so jach getroffen .
Sie lag kalt und steif am Boden ausgestreckt ; in der krampfhaft geballten Hand den Brief Siegmund Fabers .
Die tiefe Schnuppe des Lichts zeigte wie lange sie in dieser Erstarrung hingebracht hatte , und wohl ahnte mir das jammervolle Dasein , zu welchem ich sie erwecken sollte .
Eine dunkle Stimme warnte mich , die Eltern oder Diener um Beistand herbeizurufen .
Ich trug sie auf ihr Bett , löste die einengenden Schnüre und -- --
Und was empfand die spröde , achtzehnjährige Ehrenhardine vor der Enthüllung , die sie nicht geahnt hatte und doch mit Blitzesschärfe verstand ?
Erbarmen , Empörung , Haß ?
Schrie sie Wehe über die Sühn dein ?
Nichts von alledem ist ihr bewußt ; aber heute noch fühlt sie den Schauer , der sie in jenem Augenblicke überrieselte , den Schauer neuerwachenden Lebens nach dem gellenden Todesschrei .
Nein , er war nicht tot , nicht völlig tot ; eine Spur von ihm lebte , und ich beneidete das glückselige Weib , dem seine Liebe sie eingeprägt hatte !
Ich öffnete das Fenster , benetzte die Erstarrte mit kölnischem Wasser , hauchte meinen Atem auf ihre Lippen ; mit Todesangst fühlte ich ihren Puls und hätte auch schreien mögen vor Entzücken , als ich den ersten matten Schlag spürte .
Endlich schlug sie die Augen auf und schaute wirr umher , wie beim Erwachen aus einem entsetzlichen Traum .
Jetzt fiel ihr Blick auf mich , und es war ein markerschütternder Schrei , der das rückkehrende Bewußtsein verkündete .
Gleich einer Wahnsinnigen sprang sie aus dem Bett , wand sich am Boden mit entblößtem Busen und zerrauftem Haar :
" Töte mich , töte mich , Hardine ! " gellte das verzweifelnde Weib .
Aber die böse Stunde verrann .
Ein erwärmendes Feuer prasselte im Ofen , die Lampe brannte ruhig auf dem Tisch .
Dorothee lag eingehüllt im Bett ; ihre Tränen rieselten über die bleichen Wangen und :
" Retten Sie mich , retten Sie mich , Fräulein Hardine ! " wimmerte eine Kinderstimme in mein Ohr .
Und die ermatteten Lider fielen zu ; die Brust hob sich in gleichmäßigen Atemzügen ; sie schlummerte ein .
Auch ich wollte Ruhe suchen .
Da bemerkte ich den Brief , den ich vorhin ihrer Hand entwunden und den zu lesen ich wohl ein Recht hatte .
Mein erster Blick fiel auf die folgende Nachschrift :
" Gestern hatte ich ein Erlebnis , das mich seltsam bewegte und das den Anteil Ihrer verehrten Hausgenossen erwecken wird .
Seien Sie mit der Kundmachung vorsichtig , liebe Dorothee .
Ich befand mich bei den Vorposten unseres Regiments , als ich im Namen meines durchlauchtigen Chefs zu schleuniger Hilfeleistung entboten wurde .
Ein hoher Anverwandter Seines Hauses , als Volontär erst vor einer Viertelstunde bei der Truppe eingetroffen , war während eines kühnen Erkundungsrittes schwer verwundet und in ein unfernes Vorwerk gerettet worden .
Ich hatte den unglücklichen Vorgang mit angesehen und war bereits auf dem Wege zu helfen .
" Gottlob , da ist Faber ! " riefen der Herr Herzog mir entgegen .
Bei dem Namen Faber schlug der Verwundete das schon brechende Auge in die Höhe .
Eine Lebenshoffnung mochte in ihm erwachen .
" Faber , " lallte er , " Faber ! "
Er tastete nach meiner Hand und drückte sie mit letzter Kraft an seine Brust :
Ein eisiger Schauder überrieselte ihn , der Todesschweiß tropfte von seiner Stirn .
" Barmherzigkeit , Faber , Barmherzigkeit ! " hauchte er noch und sank in meine Arme -- entseelt .
" Wie eigen war mir zu Mute , als ich die Uniform meines alten Regimentes löste , und in Erinnerung der Heimat doppelt begierig hätte helfen mögen , wo doch alle Hilfe vergeblich war .
Der Prinz war nicht verwundet , wie wir angenommen hatten , nur von der Kugel gestreift , und ein Blutgefäß des Herzens durch die Erschütterung , oder den ungestümen Ritt , oder den Sturz vom Pferde lädiert .
Niemals sah ich einen vollkommeneren männlichen Körper .
Auf seinem Herzen fand ich ein Band , gehüllt in ein Blatt , das unter wohlbekannten Zügen einen verehrten Namen trug .
Ich gestatte mir keinerlei Deutung .
Aber mit Allerhöchster Genehmigung lege ich diese Reliquie , vielleicht als ein trostreiches Andenken , in der Freundin Hand , das einzige Angebinde , das ich Ihnen heute zu bieten habe , teure Dorothee . "
Und nun wickelte sich wieder das blaue Haarband vom Frühlingsfeste um meine Finger und ich betrachtete das Blatt , welches nichts als den Namen " Hardine von Reckenburg " trug , die abgerissene Unterschrift eines meiner wenigen Briefe an Dorothee und von dem , welchem das Blatt bei irgendwelchem Anlaß zugespielt worden war , vielleicht niemals bemerkt .
Aber war es nicht eine seltsame Fügung , daß Siegmund Faber es sein mußte , welcher das Andenken von der Brust des Mannes nahm , der sein Lebensglück vernichtet hatte , und daß er es , als das Liebeszeichen einer Anderen , in die Hand seiner treulosen Verlobten zurücklegte ?
Ich aber , wie hätte es in jenen Stunden ohne Einfluß auf mich bleiben können , daß über dem brechenden Herzen Name und Schriftzüge der Freundin geruht , welche er seine Schwester genannt hatte , als er mit seinem Abschiedsworte das geliebte Weib ihrem Schutze anvertraute ?
Wie hätte ich mich in jenen Stunden anklagen mögen , weil das Vermächtnis des toten Freundes stärker in mir sprach als die Pflicht gegen den lebenden ?
Ich ging in meine Kammer und warf mich unentkleidet auf das Bett .
Dorothee schlief ; ich fand keine Ruhe !
Die Ereignisse dieser Sonnenwende verschlangen sich wie greifbare Erscheinungen vor dem halbbetäubten Sinn . von jenem Festtage an , wo ich 2 * die alte Reckenburgerin das Liebeslied der Königsmark trällern hörte , bis zu dem Schmerzensbilde , das Siegmund Faber enthüllt hatte .
Ich träumte mit offenen Augen und es währte wohl eine lange Weile , ehe ich zwischen den Phantomen der Erinnerung die leibhaftige Gestalt unterschied , welche bei dämmerndem Morgen vor meinem Lager kniete mit gesenktem Kopf und die Arme über der Brust gekreuzt gleich einer Verbrecherin .
" Wollen Sie mich retten , Fräulein Hardine ? " flüsterte sie nach einer langen Stille .
Eine neue lange Stille folgte und statt der Antwort nur die Gegenfrage :
" Was denkst Du zu tun , Dorothee ? "
" Denken -- ich ? " versetzte sie , indem sie traurig den Kopf schüttelte .
" Ich will tun , was Sie sagen , Fräulein Hardine . "
" Nicht was ich sage , was Siegmund Faber sagt , " entgegnete ich .
Sie aber rief mit einem Schauder :
" Der -- Der ?
Was habe ich mit Dem noch zu schaffen ? "
Doch verstand sie meinen vorwurfsvollen Blick , denn sie setzte hastig hinzu :
" Ich werde ihm das Seine zurückgeben und mein Brot mit meiner Hände Arbeit verdienen . "
In anderer Stimmung würde ich beim Anblick dieser zartgeschonten Hände den ausgesprochenen Entschluß belächelt haben .
In der gegenwärtigen sagte ich nur :
" So schreibe ihm heute noch , Dorothee , bekenn ihm die Wahrheit und empfange Dein Schicksal aus seiner Hand . "
Sie fuhr in die Höhe mit einer Heftigkeit , die ich niemals an ihr gekannt hatte .
" Ihm schreiben und heute noch ! " rief sie .
" Ihm Alles sagen , ihm , ihm !
Nein , das verlangen Sie nicht , nur das Eine nicht , Fräulein Hardine , das kann ich nicht . "
" Nun denn , so will ich es tun an Deiner Stadt , " sagte ich .
" Würde ein Brief ihn treffen , Fräulein Hardine , " entgegnete sie .
Es sind zehn Tage , daß er schrieb , eine eben so lange Zeit müßte vergehen -- -- und lebt er denn noch ?
Und wo ?
Und wie ? "
Sie hatte Recht .
Wo stand die Armee in dieser Stunde ?
Vorwärts , in Feindesland ? rückwärts , am Rhein ?
Ein eintreffender Brief konnte bei so unsicheren Zeitläuften ein wahres Wunder genannt werden .
Und durfte ich ein solches Geheimnis der Verschleuderung und einer fremden Entdeckung preisgeben ?
Nein .
Wir mußten weitere Nachricht von oder über Faber erwarten .
" Wohlan , Dorothee , " sagte ich nach einer Pause und ergriff ihre Hand , " wenn denn zur Stunde nicht vor ihm , so vor der Welt zeige entschlossen , daß Euer Bund sich gelöst .
Kehre in Deines Vaters Haus zurück ; nimm die Demütigung auf Dich als Sühne der Schuld ; setze Pflicht gegen Pflicht . -- "
Es war wie ein Todesurteil , das sie vernommen hatte .
Ein Fieberfrost durchschüttelte ihren Leib , sie sank von Neuem auf die Knie .
" Muß es sein ? " hauchte sie kaum vernehmlich .
" Ja , es muß sein , Dorothee . "
" Jetzt , gleich jetzt , vor der Zeit ?
O , Fräulein Hardine , mir ist , als ob ich sterben werde nach der Zeit .
Ach , so gerne sterben !
Sparen Sie es meinem alten Vater , lassen Sie ihn nicht mit Schanden in die Grube fahren . "
Sie mochte wohl merken , daß das Mitleid mit dem alten , trunkenen Schwachkopf , gar wenig auf mich wirkte , denn sie fuhr hastig , mit bebender Stimme fort :
" Und Er -- Er , den ich nicht nennen kann , soll sein Name verlästert werden in einem Atem mit dem der verworfenen Kreatur ? in der Stunde , wo die Tränen noch warm um ihn fließen , wo sein armer Leib noch nicht die Ruhe bei seinen Vätern gefunden hat ? "
Es war eine Zauberin , dieses Kind Dorothee , wie es im rechten Augenblicke immer das Wirksame zu treffen wußte !
Nein , das Geheimnis war zur Hälfte nicht zu wahren , und die Anklage gegen den Verführer durfte sich nicht in die Totenklage um unseren Helden mischen .
Vor meinen Eltern , die ihn geliebt hatten , vor den Kameraden , die ihn bewunderten , ja selber vor den gering geachteten Heimatsbürgern Dorothees , mußte der Letzte seines Stammes ohne Makel in der Gruft seiner Ahnen ruhen .
" So sei es denn , Dorothee , ich will Dein Geheimnis wahren und schützen , bis Siegmund Faber über Dein zukünftiges Los entschieden haben wird . "
Mit diesem Gelöbnis endete die erschütternde Unterredung .
So schwer der Entschluß , so rasch und leicht war der Plan .
Dorothee begleitete mich nach Reckenburg ; alles Weitere enthüllte sich in dem stillen Waldhause Muhme Justines .
Und wie der Plan , so rasch und leicht war auch die Ausführung .
Vater Kellermeister hatte keine Stimme ; meine Eltern aber gönnten den beiden bekümmerten Gespielinnen ein tröstendes Beieinandersein .
Kaum eine Woche später waren sie , von Leipzig ab in Begleitung des Predigers , auf dem Wege nach Reckenburg .
Dorothee war dem alten Freunde keine Fremde ; ich hatte ihm oft von meiner reizenden Mitschülerin erzählt .
Jetzt führte ich sie ihm vor als eine Besucherin Muhme Justines , also ohne buchstäbliche Lüge .
Wie denn überhaupt , wenn lügen oder täuschen nur heißt : Unwahres sagen , nicht auch Wahres verheimlichen , ich in diesem ganzen Verhältnisse keiner Lüge oder Täuschung schuldig zu werden brauchte .
Freilich mochte das stilltrauernde Weib , wie es sich scheu und leise weinend in die Wagenecke schmiegte , wenig zu dem Bilde stimmen , das ich von meiner frohen , beweglichen kleinen Dorle entworfen hatte .
Sein Auge weilte mit Wehmut auf dem bleichen , gesenkten Gesicht .
Gewiß , er ahnte die Wahrheit .
Der geistliche Herr aber war einer von denen , welche dem bekümmerten Sünder die Hand entgegenstrecken .
Wie oft hatte ich blutjunges Ding mich mit Entrüstung von unseres Seelsorgers milder Lehre und Praxis , gegenüber einer zuchtlosen Gemeinde , abgewendet .
So erinnerte ich mich im Besonderen einer Predigt über das ehebrecherische Weib , deren Text und Auslegung ich beim Diener meiner alten Gräfin wie derholte .
" Der Herr Pastor könnte derlei bedenkliche Themata vermeiden ; aber was kümmert das uns ? " hatte sie gesagt , und ich ihr -- bis auf den Nachsatz -- endlich beigepflichtet .
Das war am Sonntag vor meiner Abreise , und heute führte ich selber solch ein recht- und ehrvergessenes Weib als meinen Schützling in seine Gemeinde ein ; ich , die ich mein Leben so sicher auf den Wahrspruch meines Hauses gegründet glaubte .
Baue Keiner auf eine Maxime , wenn er nicht , wie Jungfer Ehrenhardine , eines Tages mit schamroten Wangen einem fertigen Menschen gegenübersitzen will .
Das , meine Freunde , ist die Moral der Geschichte von der Rose und ihrem Blatt .
Zweites Kapitel .
Muhme Justines Pflegling .
Auf der letzten Station blieb Dorothee zurück .
Der geistliche Herr und ich rollten in Reckenburgs goldener Kutsche unserem Ziele entgegen .
Die Gräfin schlummerte , als ich auf dem Schlosse anlangte .
Ein böser Zufall , dessen Anlaß ich nur zu gut erriet , hatte ihre Kräfte härter denn jemals mitgenommen .
Es war die von Neuem bewährte Leibwärterin , welche mir diese Auskunft gab , und so konnte denn das , was mir zunächst am Herzen lag , gleich in der ersten Stunde seine Erledigung finden .
Verschwiegenheit und Zustimmung waren mir zum Voraus verbürgt , schon weil ich es war , die sie erbat .
Im Übrigen brachte die Pflege ein Stück Geld und die demütigende Abhängigkeit der " Jungfer Obenaus " einen erquickenden Kitzel .
Von schweren sittlichen Bei denken konnte bei einer Helferin ihres Zeichens füglich nicht die Rede sein .
Wir wurden daher ohne Markten handelseinig .
Die Muhme holte am anderen Tage ihre Schutzbefohlene aus der Stadt ab , nahm sie in Kost und Pflege und ließ sie , wenn Einer nach ihr fragen sollte -- unwahrscheinlicher Weise , da " Bauern nicht wie Stadtbürger wissenschaftlicher Komplexion sind " -- für eine Angehörige , die kürzlich Witwe geworden war , gelten .
Vor allem Anderen übernahm sie die Auseinandersetzung mit dem Prediger , dem die unbedingte Wahrheit gesagt werden mußte .
Daß unser Übereinkommen gewissenhaft und mit bestem Gelingen durchgeführt worden ist , sei zum Voraus berichtet .
Nicht ohne Bewegung ging ich nun dem Wiedersehen der Gräfin entgegen .
Mir , der Jugendlichen , war ja nur ein Traum entwichen , ein flüchtiges Glück , das ich erst seit unserer Trennung hatte kennen lernen .
Ihr , der Urgreisin , war der Bau eines langen Lebens in Trümmern gestürzt .
Ich mußte auf eine tiefe Wirkung vorbereitet sein .
Was ich aber gewahren sollte , das war die Verwüstung eines sengenden Strahls und Gott weiß , unter welchen Qualen ich lange Jahre hindurch in mei einer stillen Reckenburger Flur gegen sein nachzehrendes Feuer gerungen habe .
Schon bei diesem ersten Wiedersehen fand ich die Gestalt zusammengesunkener -- die Bewegungen hilfloser , die Rede knapper ; eine Spur innerlichen Lebens nur noch in dem kalten , stahlscharfen Blicke der Gier .
Die Herrschaft war ausgestorben , und die Magd , die sich frühe und zähe in ihrem Dienste ausgebildet hatte , die Alleingebieterin in dem verödeten Haus .
Jetzt , das heißt seit der Stunde , in welcher die Todesbotschaft von Valmy sie erreicht hatte , jetzt war sie und wurde von Tag zu Tage mehr " die schwarze Reckenburgerin , " zu welcher die Volksphantasie die einsame Erhalterin seit einem Vierteljahrhundert ausgearbeitet hatte .
Jetzt glich sie den dämonischen Märchenwesen , die Metalle hegen und hüten , lediglich um ihres Glanzes Willen ; die der Kupferheller schmerzt , welcher dem eigenen Bedürfnis geopfert werden muß .
Ich sage Euch , wie ein Herkules habe ich um die Erhaltung der nutzbringendsten Anlagen gekämpft und es war am Ende nur die achtzigjährige Gewöhnung , welche das Getriebe mechanisch und methodisch zusammenhielt .
Die Korrespondenz mit Dresden verstummte ; der einzige Festtag auf Reckenburg fiel aus und niemals wieder hat der Name des erkorenen und verlorenen Erben der Greisin Lippen berührt .
Sie dachte nicht mehr an sterben und vererben .
Existierte aus früherer Zeit eine letztwillige Verfügung und zu wessen Gunsten ?
Niemand wußte es .
Die Testatorin aber würde keinen Federstrich getan haben , um sie zu widerrufen oder umzuändern .
Ein Mensch war ihr so gleichgültig wie der andere ; sie kannte keine Pflicht .
Sie wollte leben , nur leben .
Die Ewigkeit würde ihr nicht zu lang gedünkt haben , allein , neben ihrem funkelnden Schatz .
Kam es aber eines Tages zum Ende , nun , wenn dann die Erde unter ihrem Goldturm sich geöffnet hätte , es würde ihr das rechte , das willkommenste Ende gewesen sein .
Vierzehn Jahre noch , die letzten der Jugend , sind mir hingegangen in Abhängigkeit von dieser Mumie mit dem einen überlebenden Sinn ; und sicherlich nicht ohne haftende Spur .
Wohl waren die Anlagen , die wir weibliche nennen , von Haus aus nur schwächlich in mir organisiert , die Stunden in dem Goldturm der Reckenburg aber ; wenn auch nur wenige jeden Tag und durch Arbeit gefüllt , sie haben in mir die letzte Fähigkeit unterdrückt , einem häuslichen Leben die anheimelnde Spur , eine Physiognomie einzuprägen , wie das bescheidene Erdgeschoß der Baderei sie doch so beglückend getragen hat .
Die Nachwirkung jener Stunden hat auch den westlichen Turm der Reckenburg zu einer Klause werden lassen und wenn ich , ihnen zum Trotz , die Grundrichtung meiner Natur durchgeführt habe , so danke ich es der Werkstatt unter Gottes freiem Himmel , die mir rings um ihn erschlossen blieb .
Ihr seid noch zu jung , meine Freunde , seid Gottlob ! zu beglückt durch Euer wechselseitiges Selbst , um zu ermessen , wie solch eine Werkstatt unter freiem Himmel einem Menschen zur Welt und zum Schicksal werden kann .
Aber macht einen alten Bauersmann gesprächig und Ihr werdet über seine Erlebnisse auf der armen Hufe staunen .
Nun aber eine Schöpfung , wie die der Reckenburg , so mühsam umgewandelt , so weithin angewachsen , so fruchtbringend schon heute , so segenverheißend für eine kommende , freiere Zeit ; da wird jeder Findling des Feldes zu einem weiterfördernden Mittel , die kümmerlichste Pflanzung zu einem beseelten Wesen .
Wir sehen die Ernte in dem aufgehenden Halm und in der absterbenden Stoppel die Befruchtung für eine neue Saat .
Uns schmerzt jeder Baum , dessen Alter der Axt verfällt und wir freuen uns jedes jung aufstrebenden Keims ; wir führen fremde Kolonisten in die beschränkte Gesellschaft , die unserer Scholle von Alters her entsproß , unsere Kenntnis wächst , die Erfahrung wird bunter mit jeder Färbung und Form .
Und wie befreunden wir uns mit der tierischen Kreatur ; wie forschen wir nach ihren Trieben , Sitten und Gesetzen , lernen ihre Lebensart verbessern und ihre Gaben immer reichlicher verwerten !
Seht Eure Herden Tag für Tag auf ihrer Trift und Ihr unterscheidet an jedem einförmigen Schaf oder Rind ein Gesicht und ein Geschick .
Endlich aber , ganz zuletzt , die menschlichen Genossen in dieser abgeschiedenen kleinen Welt .
Es ist kein Paradiesgarten , meine Freunde .
Gleichgültiger als an der weidenden Herde geht der Fremdling an den stumpfen , entarteten Gestalten vorüber , schätzt sie niedriger als das Wild des Waldes in seiner unverkümmerten Schöne und dem ungebrochenen Instinct .
Aber Schritt für Schritt schwinden Ekel und Langeweile , wächst der aufmerkende Trieb .
Allmählich werden sie uns vertraut , die platten Gesichter , denen wir jede Stunde begegnen , deren mühseliges Tagewerk wir verfolgen von der Wiege bis zum Grabe .
Wir schütteln die rauhe Hand , die mit uns arbeitet an der Umbildung unserer heimatlichen Welt , dringen aus dem allgemeinen in das persönliche Leben zurück , forschen nach der Spur des göttlichen Ebenbildes in unserem Mitgeschaffenen , streben , sie ihm selber kenntlich zu machen und ihn höher zu fördern in der Reihe der Wesen , die einen Schöpfer ahnen und bekennen .
Solch eine kleine Welt war mir untergeordnet , mir zunächst , ja mir allein .
Sie hatte ich zu schützen vor dem Verfall , welchem eine wahnsinnige Leidenschaft sie preisgab ; sie der Zukunft zu erhalten , gleichviel , ob dieselbe mir oder einem Fremden zu Gute kam ; und je schwieriger der Ringkampf um die Mittel , desto tiefer wurzelte die Neigung , desto hartnäckiger der Widerstand .
Diese uneigennützige Liebe ist mein Verdienst um Reckenburg , weit mehr als die freie , beglückende Wirksamkeit in einer späteren Zeit .
Auf diesem meinem Arbeitsfelde ertrug ich denn auch leichter , als ich nach der traurigen Episode des Herbstes hätte ahnen sollen , den Schicksalswinter von dreiundneunzig mit seinem ätzenden Hohn .
Als die Kunde des einundzwanzigsten Januar kannibalisch schreckend bis in unseren stillen Waldwinkel drang , da pries ich meinen jungen Helden selig , der in der letzten Hoffnungsstunde geendet hatte , während seine Kampfgenossen wie von einer Narrenfahrt zurückirrten und den königlichen Märtyrer , zu dessen Erlösung sie den Kreuzzug erhoben hatten , unter dem Henkerbeile fallen sehen mußten .
Auch Dorothee hatte sich so friedlich eingelebt , als es in ihrer Lage möglich war .
Der Herbst brachte noch heitere Tage , die in das Freie lockten ; die Wunde verharschte in der Stille ländlicher Natur ; die Schande drückte sie nicht , da sie Keinem begegnete , der sie ihr vorgeworfen hätte , und an die Sünde -- wenn sie die Sünde überhaupt jemals gefühlt -- wurde sie um so weniger erinnert , da heuer auch der übliche Weihnachtsbrief Siegmund Fabers ausblieb .
Kehrte ich bei meinen Wanderungen durch den auch im Winter belebten Wald in dem einsamen Muhmenhause ein , so fand ich Dorothee flink und zierlich mit einer Handarbeit beschäftigt , wie sie die Sorge für ein junges Leben nötig werden läßt .
Die Kinderlaune wachte in ihr auf , sie tändelte mit dem kleinen Gemäch wie zu der Zeit , wo sie unter meinen verwunderten Blicken ihre Puppen ausstaffierte .
" Wie reizend ! " rief sie dann wohl aus , indem sie ein Mützchen , mit bunten Glasperlen durchstrickt , auf ihren Fingern wiegte ; " wenn da erst so ein Engelsköpfchen darunter steckt !
Ach , wie freue ich mich .
Ich habe Kinder immer so lieb gehabt , Fräulein Hardine . "
An einem der ersten Frühlingstage , mit Störchen und Drosseln um die Wette , fand ich das neue Erdenkind in dem Muhmenhause eingeflogen .
" Zu früh , " wie die bewährte Pflegerin versicherte , wenngleich das Männchen ein gar stattliches Ansehen trug , und die junge Mutter sich heil und frisch fühlte , wie ein Fisch im Wasser .
Freudentränen träufelten auf das Kind in ihrem Schoße .
" So schön , so wunderschön ! " rief sie entzückt .
" Ach , wie habe ich es lieb , wie bin ich glücklich , Fräulein Hardine !
Niemals , niemals könnte ich mich von dem kleinen Engel trennen . "
Bei welcher Entzückung Ehren-Justine freilich eine gar hämische Grimasse zog und mir beim Hinausgehen zuraunte :
" Das wäre der erste Wildling , der eine dauerhaftige Mutterliebe spürte !
Was nicht im Ehebett geboren worden ist , das verfliegt wie Spreu . "
Indessen wußte sie , immer unter der Rubrik " zu früh " schon anderen Tages eine häusliche Nottaufe einzurichten , bei welcher sie und ich Gevatterinnen wurden .
Der Knabe erhielt den Vaternamen August und ist unter seiner mütterlichen Familie gesetzmäßig durch den Prediger in das Kirchenregister eingetragen worden .
Niemand würde leichtlich diesen Namen in den Annalen unseres wüssten Walddörfchens gesucht und aufgefunden haben .
Als aber etliche Jahre später der Blitz die Kirchenbücher in der Sakristei vernichtete , da gab es nur noch ein einziges Dokument über August Müllers Geburt und Ihr werdet es an einer anderen Stelle dieser Blätter beigeheftet finden .
So lange Dorothee Bett und Zimmer hütete und ihren Knaben an ihrer Seite liegen sah , hegte sie kein Verlangen , als so lange als möglich in Reckenburg zu weilen und sich späterhin irgendwo häuslich mit ihm einzurichten .
" Was kümmern mich die Leute ! " entgegnete sie lächelnd den Einwänden der Muhme .
" Ich habe ja mein Kind ! "
Die Muhme aber blieb brummend bei ihrem Satz :
" Schnickschnack Kind !
Selber noch ein Kind !
Die braucht einen Mann und nicht ein Kind ! "
Ich schalt darüber heimlich und laut mit meiner alten Getreuen , zumal als sie auch nach Dorothees Herstellung die Pflege des Knaben ausschließlich in ihrer Hand behielt und ihre Hintergedanken bei dieser 3 * Diktatur wenig verhüllte .
Möglich allerdings , daß das " halbschürige Lamm , die Dörte " für des kräftigen Knaben Ernährung sich zu zart erwies und sehr wahrscheinlich , daß ihre von jeher unliebsame Gegenwart der Alten auf die Dauer lästig fiel .
Ganz gewiß aber war , daß der unversöhnliche Schellenunter von Neuem seine Streiche spielte .
Sie ahnte ja nicht , daß er im verwichenen Sommer ihre Orakelweisheit bereits wahr gemacht hatte .
Er lauerte noch immer , und jetzt doppelt bedrohlich , unter der Kappe der anrüchigen Dirne , zu deren Patronin ihr Fräulein sich erhoben hatte , und so ruhte sie denn auch nicht , bis sie die Gefährliche außerhalb des Weichbildes sah , das sie , seitdem sie selbst sich darin niedergelassen hatte , für ihres Fräuleins eigentliche Heimat hielt .
Dorothee aber , wie sie die Ernährung ihres Kindes einer Ziege und seine Wartung einem despotischen Willen überlassen mußte , wie sie müßig in dem dürftigen Waldhause unter dem schnöden Gebaren ihrer Wirtin gebannt saß , da merkte ich gar wohl , daß das Herz sich im Stillen nach der Freiheit und dem Behagen des eigenen Heimwesens zu sehnen begann .
Sie langweilte sich , sie wurde unruhig .
" Was soll aus mir werden ? " seufzte sie und klagte :
" Ich bin doch recht unglücklich , Fräulein Hardine . "
Ich hatte in diesem Jahre den gewohnten Reisetermin vorübergehen lassen , weil die Stimmung der Gräfin und die mit dem Frühling wachsende Tätigkeit eine ununterbrochene Vermittlung zwischen Turm und Flur notwendig machte .
Zwischen Saat- und Erntezeit gedachte ich auf etliche Wochen heimzureisen und hatte mich zum Voraus für eine Postfahrt entschlossen .
Zählte ich auch erst achtzehn Jahre , so fühlte ich mich seit den Erfahrungen des vorigen Sommers selbständig genug , um getrosten Mutes eine Reise um die Welt ohne Begleitung anzutreten .
Schon im Mai wurde ich indessen durch einen aufregenden Zwischenfall in die Heimat zurückgerufen .
Des Vaters Regiment gehörte zu dem Kontingent , das der Kurfürst zu dem Reichskriege gegen Frankreich gestellt hatte ; der Vater selbst aber war bei den Depots zurückgeblieben und wir Alle , obgleich gewiß keine weichlichen Naturen , fühlten uns dessen froh .
Was durfte nach den Erlebnissen des vorigen Herbstes von diesem Feldzuge erwartet werden ?
Wer hoffte denn noch auf eine rechtzeitige Rettung der unglücklichen Königin und ihrer Kinder , nachdem man den König geruhig hatte morden lassen ?
Für das bedrohte Königtum und den bedrohten König eines fremden Landes würden wir mit religiöser Freudigkeit unsere Teuersten sich haben opfern sehen -- wir , sage ich , meine Freunde , und meine damit durchaus nicht bloß uns Frauen , sondern mit etwaiger Ausnahme des Predigers alle Männer , stattliche , brave Männer des mir zugänglichen Kreises -- aber was kümmerte es uns viel , daß deutsches Recht verhöhnt , daß deutsches Land jenseits und selber diesseits des Rheins gebrandschatzt , verheert und dauernd in Besitz genommen wurde ?
Erst zwanzig Jahre später , nach einer ungeheuren Umwälzung der Gemüter , haben wir den Wert vaterländischer Erde auch außerhalb unseres heimatlichen Gaues schätzen lernen und dadurch erst , nicht durch die Bezwingung eines Eroberers , der früher oder später seinem Despotenwahnsinn zum Opfer gefallen sein würde , durch diese Schätzung erst sind die Befreiungskriege zu einem bleibend hochherrlichen Segen für unser Volk geworden .
Bei dieser Gleichgültigkeit gegen den Kampfeszweck traf es mich wie ein Unglücksschlag , als mein Vater plötzlich seinem dreißigjährigen Friedensdienste entrückt und mit Majorsbeförderung zu der Armee vor Mainz befohlen wurde .
Sobald ich diese Nachricht erhalten hatte , bereitete ich meine Abreise für den nächsten Morgen vor , und es blieben mir nur wenige flüchtige Minuten zum Abschied in dem Muhmenhause .
Peinlich , trotz aller Aufregung , empfand ich die Notwendigkeit , Dorothee in der Heimat als krank zurückgeblieben aufführen und auf diese Weise mich der ersten buchstäblichen Lüge in meinem Leben schuldig machen zu müssen .
Sie sollte mir indessen erspart werden , denn zu meinem unaussprechlichen Staunen fand ich , als ich am Morgen vor dem Posthause eintraf , meine Schutzbefohlene , zur Rückreise gerüstet , meiner harrend -- allein ohne ihr Kind .
" Es läßt mir keine Ruhe , ich muß dem lieben , gnädigen Papa zum Abschiede noch einmal die Hand küssen .
Solch ein gütiger , herzlicher Vater von Kindesbeinen an auch für mich , Fräulein Hardine ! " schluchzte sie und setzte dann hastig , mit niedergeschlagenen Augen hinzu : " Der Kleine ist ja versorgt ; die Muhme versteht es ja weit besser als ich , Fräulein Hardine , und zum Herbst nehmen Sie mich wieder mit zurück . "
In unverhohlener Entrüstung wendete ich mich hockte einsam und stumm vor der Tür , bis eine mitleidige Nachbarin ihr einen Bissen reichte , oder sie in ihr durchgewärmtes Zimmer führte .
Den Vater sah sie fast nie .
Wenn er spät in der Nacht heimkehrte , schlief sie schon , und wenn er früh am Morgen wieder aufbrach , schlief sie noch .
Es ging jach abwärts mit dem Manne , wie seine sterbende Frau es vorausgesagt : aus dem Weinhause in die Branntweinkneipe , aus dem Kreise kannegießernder Bürger unter ein Publikum roher Gesellen .
Sein lockigen Haare wurden struppig , blutrote Flecken brannten auf den gedunsenen Wangen ; die Adern schwollen neben den Narben der Stirn , und ein wüstes Feuer brannte aus den großen , blauen Augen , wenn er nach dem Pferde schrie , das er tummeln , nach dem Säbel , mit dem er den noch immer erwarteten Feind niederhauen wollte .
Das alte Soldatenherz rumorte noch wie einst , aber Prinz Gustel war untergegangen , und das Vaterherz hatte noch niemals pulsiert .
Der Handschlag , den er seinem sterbenden Weibe gegeben , war so gut wie vergessen .
Zu seinem Glücke kam der Tag , wo das letzte Stück Hausrat , das letzte Kissen von Frau Lisettes Brautschatz abgepfändet waren , wo der Hauswirt die ter , als ich ihn vorausgefühlt hatte .
Die grausigen Bilder des vorjährigen Rückzugs , deren Einzelheiten mir erst in der Heimat deutlich wurden , ließen ein Nimmerwiedersehen ahnen .
Meine arme Mutter erlag fast der Anstrengung , sich als standhafte Soldatenfrau zu behaupten .
Sie lächelte über den Trostspruch des ehrlichen Purzel ; -- des letzten Purzel im Reckenburg'schen Dienst ; -- " Nur guten Mut , gnädige Frau .
Ich Sorge schon .
Es passiert ihm nichts ; und passiert ihm doch was , dann komme ich gleich und melde Post . "
Sie lächelte und bedachte das kleinste Bedürfnis , das einem Verwundeten oder Kranken dienen kann .
Aber ihre zarte Gesundheit hatte sich von den Schmerzen und Sorgen der Trennungsjahre nicht wieder erholt .
Am Vorabend des Abmarsches ging ich zu Dorothee , die sich in ihrem Mädchenstübchen ganz wohlig wieder eingenistet hatte , und hob ohne Umschweif an :
" Ich sehe ein , Dorothee , daß Du zu einem freiwilligen Bekenntnis niemals das Herz haben wirst .
Gestatte mir daher , Dein Geheimnis meinem Vater anzuvertrauen .
Die sächsische Armee steht mit der preußischen vereint in dem Lager vor Mainz .
Siegmund Faber wird dort leicht aufzufinden , der Vater aber der zuverlässigste Vermittler und Dir der mildeste Anwalt sein . "
Sie war bei diesen Worten wie vom Donner gerührt und es dauerte eine Weile , bevor sie der kindlichen Beredsamkeit Herr geworden war , mit welcher sie meine Rechtsgrundsätze schon einmal aus dem Felde geschlagen hatte .
" Tun Sie es nicht , Fräulein Hardine ! " rief sie außer sich .
" Um Gottes Barmherzigkeit Willen tun Sie es nicht !
Vor der ganzen Welt , vor meinem eigenen Vater sogar eine verworfene , ehrlose Kreatur , nur nicht vor den Augen des arglosen , gütigen Herrn !
Und würde er es der gnädigen Frau Mutter verbergen können , verbergen wollen ?
Wie sollte ich vor ihr bestehen und fortan unter einem Dache mit ihr leben ?
Sie ist so streng , so stolz !
Auch Sie würden von ihr zu leiden haben , Fräulein Hardine , Sie erst recht .
Und weiß es erst Einer , wird es ein Lauffeuer .
Ich habe es ja nicht anders verdient , ich müßte es hinnehmen .
Aber auch Sie bekrittelt zu sehen , Sie , die Sie mir ein Engel gewesen sind , von den eigenen lieben Eltern getadelt , ich ertrüg es nicht . --
Und warum das Alles ? " fuhr sie nach einer Pause fort , während welcher ich diesen unbeachteten Gesichtspunkt hin und her erwogen hatte .
Der Vater , wie ich ihn kannte , würde in der Tat ein erstes eheliches Geheimnis kaum über die Nacht und sicherlich nicht über den ersten Brief hinaus bewahrt haben .
Sollte ich zu dem Herzeleid der armen Mutter noch diese neue Prüfung fügen ?
Das freundliche Verhältnis zu unserer Hauswirtin wurde gestört , das Vertrauen in die Aufrichtigkeit und Ehrenhaftigkeit der einzigen Tochter im Grunde erschüttert .
Auch der nachsichtigere Vater würde den mütterlichen Auffassungen nicht widerstanden und bekümmerten Herzens von seinem pflichtlosen Kinde , vielleicht für es Leben , geschieden sein .
" Und wozu uns Allen diese Verwirrung ? " fuhr Dorothee durch meine sichtliche Bewegung ermutigt fort .
" Lebt er denn noch ?
Er hat den ganzen Winter nicht geschrieben ? "
" Briefe erreichen in solchen Zeitläuften selten ihr Ziel , " versetzte ich ; " die Nachricht seines Todes aber würden wir erhalten haben . "
" Und wenn er lebt , " entgegnete Dorothee , " in welchem entfernten Lazarett , in welcher neuen Stellung .
Es ist ja ein so weitläufiger Kriegsplatz ; Gott weiß , ob der Herr Vater jemals mit ihm zusammentrifft .
Begegnet er ihm aber und weiß ich erst den Ort , wohin ich mich zu richten habe , dann will ich ihm Alles bekennen ; ja , Fräulein Hardine , ich verspreche es Ihnen , Alles bekennen , und wie er es verordnet , so soll es geschehen .
Nur stellen Sie keinen Anderen zwischen mich und ihn . "
So war denn Fräulein Ehrenhardine wieder einmal die Besiegte der kleinen Dorle .
Der Vater reiste ohne unser Geheimnis ab .
Ja , in der Furcht einer Entdeckung , wagte ich nur ganz schüchtern die Bitte , sich doch recht nach dem Faber umzutun und ausführlich über ihn zu berichten .
Dicke Tränen hingen dem guten Manne in den Augen , als er beim Abschied es noch mit einem Scherzworte versuchte :
" Sage der lieben Dorle , meine Dine , daß ich ihren Monsieur Per--se ganz gehörig ins Gebet nehmen werde . "
Und wirklich enthielt der erste väterliche Brief aus dem Lager vor Castel , in welchem die Sachsen mit einem Teil der Preußen vereinigt standen , einen ausführlichen Bericht über den seit dem Tage von Valmy Verschollenen .
Er hatte alle Fährnisse einer pestilenzialischen Krankenpflege glücklich überdauert und stand , zum Regimentsarzt befördert , bei dem Belagerungskorps .
Der Ruf seiner Unermüdlichkeit , Uner schrockenheit und seines großen Geschicks war durch das ganze Lager verbreitet ; Hoch und Gering schätzte des noch jungen Mannes bedeutenden Beruf .
Die Genossen der alten Baderei waren bald aufeinander gestoßen und die heimischen Verhältnisse weidlich hin und her besprochen worden .
Ob dem kleinen Musterbräutchen nicht ein wenig die Ohren geklungen haben sollten ?
" Ihr müßt Euch , " so schloß der väterliche Bericht , " unter dem Herrn Doktor Faber nun beileibe nicht mehr den steifen Feldschergehilfen vorstellen , der sich quasi immer einen Spiegel vorhielt , um ja keine angestammte Badereimanier durchschlüpfen zu lassen .
Er ist degagiert wie Einer , seitdem Generale und Prinzen so gut wie der gemeine Stückknecht unter seinen Messern und Zangen still halten müssen .
Auch gemütlicher , aufgeknöpfter ist er geworden , nichtsdestoweniger aber doch noch der alte Per--se , der Alles anders anfaßt , wie andere Leute , und besieht man es bei Licht , allemal recht .
Als ich ihn auf das Risiko hinwies , dem jungen , einsamen Bräutchen das eingegangene Verhältnis so selten in Erinnerung zu bringen , da versicherte er zwar , um die Weihnachtszeit sein regelmäßiges Carmen entsendet zu haben , und weil er es versichert , muß der Brief verloren gegangen sein .
-- Indessen " -- so setzte er hinzu -- " indessen wozu dieses leere Stroh ? "
" Der Allerweltsdoktor wurde bei diesen Worten zu einer Konsultation bei einem schwer erkrankten General auf das linke Ufer abberufen .
Ich hatte ihn gebeten , sich um ein Paar in einem Vorpostengefecht Blessierte von unseren Husaren zu bemühen und erhielt schon am anderen Tage schriftlich eine beruhigende Kunde .
Schließlich kam er denn auch auf die Herzensangelegenheit zurück , in der wir gestern unterbrochen worden waren .
Ich schneide die betreffende Stelle zum Frommen meiner lieben Jungfer Grundtext aus seinem Brief , und lege sie dem meinigen bei . "
" " Über das Risiko , wie Sie es mit Recht nennen , mein Herr Major , über die Gefahr hinweg hilft kein mahnendes Wort .
Und Beruhigung , -- wer schöpfte die auf hundert Meilen Distanz ?
Bevor ein Brief seinen Ort erreicht , hat die Szene gewechselt und der , über dessen Wohlergehen man sich freut , modert vielleicht im Grabe .
In beiden Fällen hilft nur Vertrauen auf einen guten Stern , oder von Haus aus Resignation in Bausch und Bogen .
Briefe sind für Müßige oder für Gleichstrebende .
Soll ich mein liebes Kind mit militärischen Evolutionen und diplomatischen Schachzügen unterhalten ? oder soll ich ihm mit meiner ärztlichen Widerwart eine Gänsehaut erregen !
Und Liebesschwüre , Liebesseufzer etwa ?
Ist es nicht der Superlativ aller Albernheit , das Heimlichste , Unsagbarste der Menschenbrust in einen Gemeinplatz umgesetzt , Schwarz auf Weiß durch die Welt zu jagen ?
Wie eingeschnürt sind die Kritzelfüßchen meiner kleinen Dorothee !
Wie kann ich die Stunden zählen , in denen sie an ihrer Feder gekaut hat !
Wo sind ihre Blumen und Vögel , ihr kindliches Tändelwerk ?
Wo ist eine Spur von dem , was in ihr und um sie wirklich lebt und webt ?
Da lobe ich mir das Täschchen und Beutelchen , die sie gestrickt .
Sie sind mir stündlich zu Dienst und sehe ich sie , so sehe ich auch die flinken Fingerchen in ihrem Bereich .
Das sind Taten , weibliche Liebestaten , mein Herr Major , und da ich sie nicht mit solchen aus meiner Praxis erwidern kann , tue ich wohl , mich meiner zärtlichen Treue nicht zu rühmen .
" " Sie versichern mich , hochgeehrter Freund , der stillen Geduld des herrlichen Kindes , und ich kann Ihnen nicht aussprechen , wie es mich beglückt , mein schülerhaftes Experiment also gerechtfertigt zu sehen , ein Experiment , vor dem ich mich bei reiferer Erfahrung gehütet haben würde .
Ich fühlte mich als Mann und sah in ihr das Kind , den einen vielleicht zu früh , und das andere vielleicht zu lange .
Im Grunde aber sah ich gemäß der Natur und gemäß der Vernunft .
Denn wem , frage ich , möchte eine derartige Enthaltsamkeit ins Blaue hinein zugemutet werden , als dem Manne , der gewohnt ist , vor sich selber Schildwacht zu stehen , oder dem Kinde , das ohne zu träumen , im umfriedigten Nestchen schlummert , bis der vorbestimmte Erwecker es zur Freiheit ruft ?
Nun wohlan , mein Herr Major , der Mann wird Farbe halten .
Das Weltwesen , das ich ahnte , als ich dieses Bündnis schloß , hat sich um zwei Jahre verzögert , und der Himmel weiß , wann und wo das Wirrsal enden wird .
Überdauere ich es aber , und wäre ich verschlagen worden bis ans Ende der Welt , so werde ich meinem anverlobten Weibe den väterlichen Trauring unentweiht vor Augen führen , und sehe ich den meiner Mutter an ihrer Hand , werde ich den Knabenglauben segnen , der sich bewährte , wo so mancher Mannesglauben zu Schanden wurde . "
" Diese experimentierende Resignation , welche meine arglose Mutter nicht vorsichtig zurückhielt , war Wasser auf die Mühle der bekenntnisscheuen Sünderin .
Der seltsame Mensch verlangte ja gar keine Aufklärung , und bis er persönlich kam , dieselbe einzuholen , -- wenn er überhaupt wieder kam , -- ach , was konnte da nicht alles verändert sein !
Ich aber wurde es müde , ein Mißverhältnis zu demonstrieren in die leere Luft .
Schämte sie sich nicht , als Braut eines Mannes zu gelten , den sie verraten hatte , scheute sie sich nicht , mit seinem Treugut sich selber und dem Kinde eines Anderen das Leben leicht zu machen :
warum sollte ich mich dessen schämen und scheuen ?
War sie meine Schwester , meines Gleichen ?
Torheit über Torheit , der leichtfertigen Schenkentochter eine honette Gesinnung zuzutrauen !
Kehrte Siegmund Faber zurück , dann lag es mir ob , mich , nicht sie , vor einem wahrhaftigen Ehrenmanne zu entschuldigen .
Zu Dorothees Gunsten , und um vor der Hand mit ihrem philosophischen Liebhaber abzuschließen , sei indessen vorausgemeldet , daß ein späterer väterlicher Brief von einem rätselhaften Verschwinden des Doktor Faber berichtete .
Während des Angriffs auf die feindlichen Lager bei Pirmasens , Ende September , war er in seiner beherzten , rastlosen Tätigkeit noch vielfach bewundert worden , -- seitdem spurlos Aller Augen entrückt .
Anfangs glaubte man ihn , im Gefolge des Königs , der ihn persönlich hatte schätzen lernen , auf das vor Kurzem so schmählich erworbene polnische Gebiet verpflanzt .
Da diese Meinung aber sich als Irrtum erwies , sahen die Einen ihn verwundet in Feindes Hand , die Anderen ihn von erbitterten Gebirgsbauern abgefangen .
Die Mehrzahl hielt ihn für geblieben , wenngleich sein Leichnam von den das Terrain innehaltenden Siegern nicht aufgefunden werden konnte .
Alle aber beklagten die Lücke , welche durch des immer_bereiten Helfers Fehlen entstanden war .
Auch als mein Vater nach drei Jahren , wohlbehalten und mit dem Verdienstorden belohnt , aber kopfhängerisch wie alle Teilnehmer dieser unfruchtbaren Kampagne zurückkehrte , wußte er keine Spur von dem Verschollenen anzudeuten .
Bald war er unter seinen Heimatsbürgern ein toter , vergessener Mann und Niemand würde es seiner bräutlichen Witwe verargt haben , hätte sie , zu Gunsten eines Anderen , über ihre begehrenswerte Person und das Anwesen der alten Färberei verfügen wollen .
Ich hatte in unserer bänglichen Stimmung meine Mutter während des Feldzugs nicht verlassen wollen und nur auf beider Eltern dringende Vorstellung mich zu der Rückreise nach Reckenburg entschlossen .
" Bei des Vaters ausgesetzter Lage und unserer Mittellosigkeit , " so sagte die Mutter , " ist die Gräfin Dein und auch mein letzter Anhalt .
Verscherze ihn uns nicht , liebe Tochter .
Dort kannst Du wirken , mir nützest Du nichts .
Ich bin nicht krank , und stieße mir etwas zu , habe ich da nicht das liebe Kind , Dorothee ? "
Das liebe Kind , Dorothee !
Sie mir an einem Sorgenstuhle , an einem Krankenbette vorzustellen , mit ihrer freundlichen , leise geschäftigen Art , -- wahrlich , es konnte mir nichts Beruhigenderes widerfahren , als daß sie im Ernste gar nicht mehr an die Rückkehr in das einsame Waldhaus dachte , und daß eine abzehrende Krankheit ihres Vaters die Täuschung einer näher liegenden Pflicht gestattete .
" Halten Sie Ihre Augen über meinem Liebling , Fräulein Hardine , " flüsterte sie beim Abschied in mein Ohr .
" Ich werde der gnädigen Frau Mutter helfen und dienen an Ihrer Stadt . "
So schieden wir , und als gegen die Weihnachtszeit jene erste Kunde von Fabers Verschwinden eintraf , stand ich schon längst wieder auf meinem Reckenburger Posten und Dorothee saß , -- zu meiner innerlichsten Befriedigung ! -- geruhig daheim in ihrer Mädchenstube .
Dort fand ich sie , wenn ich in den 4 * nächsten Jahren , -- immer nur auf etliche Sommerwochen , -- in der Heimat einkehrte , unverändert dieselbe , fleißig bemüht durch zierliche Stickereien ihre Einkünfte zu verbessern , auf daß es ihrem Knaben an keiner Pflege , keiner Zierat gebrechen möge .
Hatte sie am Abend Mützendeckel und Flitterschuhe bei Seite gelegt , dann zeichnete sie kleine Kinderköpfe , oder schnitzelte sie als Silhouetten aus schwarzem Papier , legte sie zwischen die Blätter ihres Gesangbuches und küßte sie als Gleichnisse ihres schönen Knaben .
Sie fertigte ihm Röckchen und Wämschen , drehte Blumen aus den hellen Locken , die ich ihm jedes Jahr für sie abschneiden mußte , verflocht sie mit einem Goldfädchen ihres eigenen Haars , auch wohl mit einem anderen , das sie einem teuren Erinnerungszeichen entwand , und nannte sie ihre Sonnenblumen .
Sie herzte jedes fremde Kind , sie jubelte vor Lust und weinte vor Weh , wenn sie des eigenen gedachte , -- aber wiedergesehen hat sie den Pflegling Muhme Justines nicht .
Auch als ihr Vater schlafen gegangen , als der meine heimgekehrt war , als sie ledig jeder Pflicht auf eigenen Füßen stand : daß sie , und nicht eine Fremde zur Hüterin ihres Kindes berufen sei , daran dachte sie nicht .
Ich aber rüttelte nicht mit Gewalt diese Pflicht in ihrem Gemüte wach .
Denn der Wuchs eines Menschen , wie der eines Baumes , -- ich hatte es allmählich begriffen , -- er läßt sich in die Breite und allenfalls in die Höhe treiben ; aber tiefer graben , bis zum nährenden Quell lassen sich seine Wurzeln nicht .
Wie die Natur ausgepflanzt hat , so müssen wir einander hegen , -- oder meiden .
Im Übrigen sagte ich mir auch , daß der vaterlose Knabe sich unter der rauhen Hand der Fremden natürlicher entwickeln werde als unter der tändelnden der Mutter .
Und endlich hielt ich die eigenen Augen nicht auf ihn gerichtet ?
Wie ich als Kind nicht mit Puppen gespielt hatte , so war ich auch späterhin nicht das , was man kinderlieb nennt .
Dieser Knabe aber wuchs mir nahe ans Herz .
Wenn ich auf dem Wege durch es Dorf die blöde , plumpe , flachssträhnige Bauernbrut zwischen Hühnern und Ferkeln auf ihren Düngerhaufen hatte hocken sehen , und nun vom Walde her die biegsame , kleine Gestalt in ihrem zierlichen Röckchen mir entgegensprang , da lachte ich wohl vor Lust , aber ich fragte mich auch mit Wehmut , ob nicht der Vater , an welchen mein Prinzchen so lebhaft erinnerte , sich in die natürlichen Schranken des Lebens gefügt haben würde , hätte er dieses Liebeskind zur Führung an seiner Hand gefühlt ?
Wie früh und sicher er die Füßchen bewegen lernte , wie ausgelassen er sich im Walde tummelte , mit den Hasen Wettlauf hielt , hellen Klangs die Vogelstimmen nachahmte , lange ehe er unsere menschliche Sprache zu reden verstand !
Wie trotzig lachend er sich das Eichhörnchen zum Muster nahm , bis zum Wipfel der knorrigen Steineiche hinaufkletterte , während die alte Muhme mit ohnmächtiger Angst am Fuße drohend die Fäuste ballte ! --
So wurde dem Kinde der Natur die Natur eine frühe Bildnerin ; frühe aber auch drängte das Bedürfnis sich auf , es einer strengeren Regel und dem Gesetze eines männlichen Willens zu unterstellen .
Als der Knabe im fünften Jahre stand , erklärte die Muhme , den Wildling nicht über den nächsten Winter hinaus bändigen zu können , noch zu wollen .
Denn es gab nichts Kurioseres , und für mich nichts Ärgerlicheres als der Zwiespalt der alten Seele gegenüber ihrem Ziehkind .
Sie hatte ein Wohlgefallen an dem neckischen , kleinen Patron , ja ein Herz für ihn ; sobald sie ihn aber in meiner Nähe sah , überfiel sie eine so unwirsche Laune , daß , hätten noch Bären und Wölfe in unserem Walde gehaust , sie ihn unter die Bären und Wölfe in den Wald gejagt haben würde .
" Es kommt Ihnen nichts Gutes durch den Wildling , " wurde sie nicht müde , mir vorzuhalten .
Das landläufige Sprichwort von dem besudelnden Pech und der Geist , welcher geheimnisvoll aus einem Kartenspiel warnt , stimmten in dieser Mahnung zusammen : Und alte , treue Justine , könntest Du doch spüren , daß vierzig Jahre später die Erörterung der Frage , ob Deinem Fräulein Gutes von dem Wildling gekommen ist ? die Schlußbetrachtung ihres Lebens bilden wird .
Da half kein Zureden , der Junge mußte fort ; fort aus Reckenburg ; und eine Erwägung anderer Art gab diesem Entschluss Nachdruck auch für mich .
Unser treuer Freund , der Prediger , hatte uns kürzlich verlassen , um als Vorsteher des Laurentiusklosters eine freiere , seinem väterlichen Sinne angemessenere Stellung einzunehmen .
Der Dienst in der Gemeinde wurde während der Vakanz wechselnd von Nachbarpredigern versehen , die sich um örtliche Verhältnisse wenig kümmerten .
Wenn aber kommenden Sommer der neugewählte Seelsorger sich bekannt machte , konnte ihm das Auffällige unseres Schützlings schwerlich entgehen .
War auch die Beglaubigung des Kirchenbuches zu Grunde gegangen , dem Geistlichen durfte auf Befragen die Wahrheit nicht verhehlt werden ; ein Mensch mehr wußte um Dorothees so ängstlich gewahrtes Geheimnis ; neugierige Spürversuche , Fraubasereien , irgend ein unberechenbarer Zufall leiteten auf die richtige Fährte und der immerhin interessante Zusammenhäng drang über unseren stillen Waldwinkel hinaus in der Leute Mund .
-- Alles dies führte ich Dorothee zu Gemüte , sobald ich für etliche Herbstwochen im Elternhause eingekehrt war .
Ich fand sie in nachdenklicher Stimmung , vorbereitet durch den Prediger , wie Se. Hochwürden , der nunmehrige Propst und Direktor hier zum letzten Male genannt werden soll .
Niemals hatte Dorothee seit ihrem Unglück sich in jugendliche Kreise gemischt , niemals mit einem Blick oder Wort die Huldigungen der Bürgersöhne , wenn sie ihr zufällig begegneten , ermuntert und so die Bewerbungen , an denen es ihr nicht gefehlt haben würde , von vornherein abgeschnitten .
Niemals aber auch hatte sie gegen mich den Namen des Einziggeliebten genannt .
Dennoch , so oft ich sie in der Einsamkeit überraschte , spürte ich an ihrem Wesen , an den in-sich gekehrten oder sehnsüchtig schweifenden Blicken , daß der kurze Sommerrausch des Glücks nicht erloschen sei und jedes nüchterne Nachspiel dämpfe .
Und immer , immer sah sie doch an jeder Wand ein Bildnis noch Von einem Menschen , der verschwand und ihr als Kind das Herz entwand .
Um so mehr war ich daher überrascht , als sie jetzt auf meine Frage :
Was sie über die Zukunft ihres Sohnes beschlossen habe ? mit niedergeschlagenen Augen antwortete :
" Wenn ich den Taube heiratete , Fräulein Hardine ? "
" Unseren Hofmeister ?
Bewirbt er sich denn um Dich , Dorothee ? "
" Er hat mich seit meiner Kinderzeit lieb gehabt , und es mir vor wenig Tagen gestanden . "
" Und Du ? "
Sie schüttelte die Locken mit einem unaussprechlichen Ausdruck von Wehmut und stolzer Erinnerung .
" Lieben ich ? " rief sie mit einem Schauder .
" O niemals , niemals wieder !
Aber , " setzte sie nach einer Pause gelassen hinzu , " aber ich würde friedlich mit ihm leben und er würde meinem Knaben ein guter Vater sein . "
" So dächtest Du , ihm Dein Geheimnis zu bekennen , Dorothee ? "
" Wie sollte ich nicht , Fräulein Hardine ?
Ich nähme ihn ja nur , um das Kind zu versorgen .
Nur um des Kindes Willen . "
" Auch schon ehe er Dein Mann geworden ist , es ihm bekennen ? "
" Wenn Sie es für Pflicht halten , auch schon zuvor . "
" Und Du glaubst , daß er dennoch Dein Mann werden würde ? "
" Ich glaube es , Fräulein Hardine . "
Ich schwieg eine Weile .
Dorothee saß mir im Fenster gegenüber , die Hände über der Brust gekreuzt .
Unwillkürlich fiel mein Blick auf den Verlobungsring , den sie noch immer am Finger trug .
Sie bemerkte den Blick und sagte errötend , indem sie sich vergeblich bemühte , den Reif abzustreifen :
" Er ist mir ins Fleisch gewachsen . "
Es war im achten Jahre , seit Siegmund Faber von hinnen gegangen , im fünften seines spurlosen Verschwindens ; niemand zweifelte an seinem Tode .
Lebte er aber selbst -- und eine innerliche Stimme sagte mir immerfort :
er lebt ! " --
lebte er und kehrte er zurück : dieser Mann konnte nimmermehr dieses Weibes Gatte werden .
Welch mildere Täuschung aber hätte sich für ihn finden lassen , als die lange Getreue endlich einem natürlichen Berufe gefolgt zu sehen .
Ich wußte demnach nichts Stichhaltiges einzuwenden , insofern sich wirklich ein Mann fand , der seine Ehre nicht durch die bewußte Unehre seiner Frau beleidigt fand .
Doch beschlossen wir , den Fall unserem treuen Gewissensrate vorzulegen und machten uns auf den Weg nach dem Kloster .
" Ich spreche Ihnen , mein Kind , " so ließ der Propst sich vernehmen , " die Berechtigung zur Freiheit nicht ab , und ich für mein Teil würde den Mann nicht tadeln , der dem geliebten Weibe einen Fehltritt vergibt und mit ihr vereint sich bemüht , dessen Wirkungen auf Andere in Segen zu verwandeln .
Ich habe aber Grund zu glauben , daß unser hohes Konsistorium diese Auffassung nicht teilt .
Die Gegenwart des Knaben brächte voraussichtlich Ihr Geheimnis ans Licht , Ihr Mann würde aus seinem Lehramte scheiden müssen , dem einzigen , zu dem er gebildet und berufen ist . "
" Wir würden still auf dem Lande leben und -- ich bin nicht unbemittelt , Hochwürden , " stammelte Dorothee , den Purpur der Scham auf den Wangen .
" Hinreichend für Sie und allenfalls für Ihr Kind .
Aber für eine zweite , vielleicht zahlreiche Familie ?
Und gesetzt den , wenn auch unwahrscheinlichen Fall der Heimkehr Doktor Fabers :
er würde seine Schenkung nicht zurücknehmen und er dürfte es nicht .
Aber müßte es eine Natur , wie die unseres Taube , nicht zu Boden drücken , seine und der Seinigen Existenz von dem Treugute des Getäuschten abhängig zu sehen ?
Indessen , diese beiden möglichen Zwischenfälle ungerechnet -- kennen Sie das Leben eines Lehrers auf dem Lande , liebe Dorothee ? "
Es hatte diese Besprechung auf dem Rückwege vom Kloster stattgefunden .
Unmerklich aber waren wir von unserem Begleiter seitwärts durch ein Nachbardorf geführt worden und standen bei den letzten Worten vor einem Häuschen , dessen Bestimmung ein vieltöniger stockender Chorus mit obligaten Donnerschlägen des Vorbeters verkündigte .
Ein Schulhaus und keines von den bescheidensten seiner Zeit , denn von den Schäden des siebenjährigen Krieges ausgeheilt , stand es auch jetzt noch unversehrt unter Dach und Fach .
Dessenungeachtet , wir konnten es nicht leugnen , für ein idyllisches Stillleben war die Wohnstube , in welche wir vorüberstreifend blickten , doch ein wenig dumpf und kahl .
Die kleine Dorle hätte mit der Hand an die Decke reichen können .
Die Fensterscheiben glichen Schiefertafeln , welche im Schulgebrauche blind geworden waren und in dem Kachelofen brodelte das Runkelrübenfutter für die Kuh nicht eben sinnerquickend .
Wir setzten unsere Umschau fort und weilten in der Musterung der hartköpfigen kleinen Menschenherde und ihres kahlköpfigen treuen Hirten .
Keine Frage : Das Lehramt hat seine Poesie .
Schwerlich aber würde sie in unseren Augen zu kurz gekommen sein , hätte ein leiser Anflug der kindlichen Pausbacken auf dem hehren Antlitz ihres Hüters reflektiert ; auch ein Ersatzstück für das , was eines Tages schwarzer Manchester auf seinem Leibe geheißen , würde von uns nicht als sträfliche Eitelkeit verlästert worden sein .
Aufrichtige Bewunderung dahingegen zollten wir im Weiterschreiten der musivischen Kunst , welche auf der Hauswäsche über dem Gartenzaun entwickelt war .
Diese Kunstleistung mochte unseren Führer verlocken , nach der Bekanntschaft mit dem Schulregenten uns auch die der Hausregentin inmitten ihrer privaten kleinen Herde zu Gute kommen zu lassen .
Und wieder ein Chorus mit obligaten Donnerschlägen lockte uns über den Hof auf ein Ackerstück , daß sich den stolzen Namen " Garten " beigelegt hatte .
Hier stand sie , die Heldin unseres Idylls !
Eine klassische Gestalt , hoch geschürzt , die Schritte nicht durch zwängendes Schuhwerk gehemmt , das gestrige Haar durch keine Spiegelkunst verschnörkelt .
Die fremden Eindringlinge störten sie nicht in ihrem Geschäft .
Mit antiker Kraft und Ruhe hackte sie die Erdäpfel auf , welche eine nachwüchsige Schar in die Höhe puddelte .
Das beiläufig ausgerodete Unkraut lieferte einen Leckerbissen für die umkreisende Ziege , samt ihren Zickelchen , die mit lustigen Sprüngen ihre Wollust an den Tag legten .
Das kleine , zweibeinige Publikum spendete dem vierbeinigen Beifall , die Arbeit stockte und die Vorarbeiterin entfaltete die Macht ihrer Lungen und Gliedmaßen , um sie wieder in Gang zu bringen .
Jetzt aber griff ein tragischer Zwischenfall in das ländliche Bild .
Unter der Hoftür lehnte die älteste Tochter , zugleich Kindesmagd der Familie und noch nicht nach mütterlichem Exempel stoisch geschult .
Beim Begaffen der fremden Gäste entglitt das Wickelkind ihrem Arm und fiel -- zum Glück in den Schlamm vor dem Schweinekoben .
Mit erhobenen Händen stürzte die Mutter zur Hilfe und Rache herbei ; die älteste Tochter heulte , das Wickelkind schrie , die Säue grunz ten , die Zickelchen meckerten , im Stalle brüllte die Kuh .
Die Buben balgten sich um die Beute einer gelben Rübe ; die Heldenmutter tachtelte nach rechts und links ; aufgescheucht durch die Gefahr , welche sein Teuerstes bedrohte , zeigte sich mit einem Weheruf und umschwärmt von seiner tobenden Schar , die hehre Gestalt in weiland Manchester :
wir aber , die wir diesen Sturm im Stillleben angestiftet hatten , entschlüpften leise über den Ackertrain .
" Ein respektables Weib !
Für ihren Beruf ein Musterbild ! " sagte nach einer langen Stille lächelnd der menschenkundige Freund .
Dorothee ging schweigend mit gesenktem Kopf -- und von einer Bewerbung Christlieb Taube's ist fortan nicht die Rede gewesen .
Meine nahende Abreise drängte endlich zu einer Entscheidung über die Zukunft des Knaben und da war es denn der Propst , welcher das seiner Aufsicht unterstellte Kloster in Vorschlag brachte .
Von seiner ursprünglichen Bestimmung für Soldatenwaisen hoffte er eine Ausnahme zu erwirken , wenn gelegentlich einer Visitation des hohen Kurators der Anstalt , ein Teil des Geheimnisses , die väterliche Abstammung , vorsichtig angedeutet wurde .
Dorothee weinte vor Freuden in der Aussicht , ihren Knaben bald unter den Augen des gütigsten Beschützers und in ihrer eigenen Nähe zu wissen , ohne sich selber einer schmachvollen Enthüllung preiszugeben .
Sie bedeckte ihres Wohltäters Hände mit Küssen und Tränen , rief Gottes Segen auf ihn herab und stellte zum Voraus den Betrag ihrer Hausrente für den Aufwand eines Halbpensionärs zu seiner Verfügung .
Mir dahingegen bäumte sich die Seele bei der Vorstellung , das Liebeskind des Fürsten , dem das Erbe der Reckenburg zugefallen sein würde , in eine Armenanstalt eingeschmuggelt und für eine subalterne Lebensstellung herangebildet zu sehen .
Was hatte ich jedoch Schicklicheres zu raten und zu bieten ?
Das Kloster war wohlberufen , wie die Mehrzahl unserer zu Schulzwecken säkularisierten sächsischen Abteien , war reich dotiert und stand unter der trefflichen Obhut des einzigen Menschen , der sich zu einer väterlichen Teilnahme an dem Knaben gezogen fühlte .
Mußte ich nicht schließlich eine höhere Fügung in diesem Wechsel der Verhältnisse verehren ?
So trat ich denn die Rückreise nach Reckenburg an mit dem Versprechen , im nächsten Frühjahr den Zögling Muhme Justines persönlich dem Waisenkloster zuzuführen .
Drittes Kapitel .
Die Hochzeit .
Des Knaben Versteck im Waisenhause war eben so nach der Muhme Sinn , als mein Plan , ihn persönlich dahin zu spedieren , demselben widerstrebte .
Sie spürte plötzlich ein unbezwingliches Verlangen , ihre Gegend einmal wiederzusehen , und welchen Grund hätte ich gehabt , ihre Reisebegleitung abzulehnen ?
Der Tag unseres Eintreffens war den Eltern bereits angekündigt , als ein heftiger " Zufall " der Gräfin einen Aufschub veranlaßte .
Die zähe Natur hielt Stand wie schon so oft vorher und noch oft nachher .
Die bewährte Leibpflegerin aber konnte nicht umhin , mit dem Rüstzeug ihrer Instrumente den verhängnisvollen Posten zu hüten und ihr Erbfräulein zwölf Meilen weit ohne Beistand den Tücken des unverwüstlichen Schellenunters preiszugeben .
Der Ehre jedoch , in Reckenburgs gol dener Kutsche seiner fernerweitigen Reisegelegenheit entgegengeschaukelt zu werden , wußte sie den kleinen Plebejer zu entziehen .
Sie karrte ihn bei Nacht und Nebel in einem Handwägelchen nach der Station , nachdem sie ihm , wie ich stark vermute , ein Mohnsäftchen einfiltriert hatte .
Ihr letztes Wort , als sie den Schlafenden neben mich in den Einspänner hob , war die Warnung , mich beileibe nicht mit dem Kinde der Heimlichkeit einzulassen .
Wie nun der kleine Waldmensch beim Erwachen in dem engen Gehäuse ungebärdig tobte , das werden Euch August Müller's beigeheftete Erinnerungen anschaulich vorführen .
Auch gegen die bändigenden Prozeduren soll kein Widerspruch erhoben werden .
Jedenfalls wählte er für uns Beide das bequemste Teil , indem er die langweilige Fahrt fast ohne Unterbrechung verschlief .
Der letzte Brief seines künftigen Pflegevaters datierte von einem thüringischen Gebirgsdorfe , in welchem er der Einführung seines Sohnes in dessen erstes Pfarramt beigewohnt und gleichzeitig die Freude gehabt hatte , dem betrübten Liebhaber , unserem Taube , eine heitere Lebensstellung auszumitteln .
Ein Lehrer- und Organistenamt in einer kleinen , wohlgesitteten Gemeinde , Haus und Gärtchen durch den Gutspatron anheimelnd eingerichtet , und die Kinder dieses Patrons ihm zur Pflege in der " göttlichen Musik " unterstellt , alles das in romantischer Berg- und Waldeinsamkeit : welch ein besseres Los hätte er sich wünschen können , oder wir für ihn ?
Da ich den Propst die seltene Reiseerholung so lange wie möglich wollte genießen lassen , hatte ich ihm unser verspätetes Eintreffen poste restante nach Jena gemeldet , glaubte ihn daher frühestens gestern heimgekehrt , und war erstaunt , ihn in meinem gewohnten Leipziger Nachtquartier , der goldenen Laute , vorzufinden .
Ich fragte ihn lachend , welche fernerweitige Einführung ihn so eilig wieder in entgegengesetzter Richtung auf die Füße gebracht habe ?
" Die Einführung dieses Knaben in seine neue Heimat , " antwortete er ernst , indem er den Schlafenden von seinen Armen auf das Bett in meinem Zimmer niederließ .
Ich witterte so etwas von einer Anwandlung Muhme Justines in dem geistlichen Herrn , entgegnete daher verstimmt , daß ich auch ohne seine Bemühung den kleinen Mönch im Kloster Laurentii glücklich abgeliefert haben würde .
5 * Er schwieg ; doch konnte mir eine gewisse bängliche Unruhe an dem gelassenen Mann nicht entgehen , und als er auf meine Frage : ob er etwas auf dem Herzen habe ? seufzend den Kopf senkte , rief ich :
" Ich bitte Sie , keine Vorbereitungen , Freund ; meine Eltern -- -- "
" Sind gesund und wohlgemut in Erwartung der geliebten Tochter , " antwortete er .
" Und Dorothee ? " drängte ich weiter , da mir die Bekümmernis auffiel , mit welcher sein Blick auf dem Knaben ruhte .
" Ist Dorothee krank ? "
" Nicht krank , nur -- "
" Nur ? "
" Verheiratet , oder so gut wie verheiratet . "
" Mit Christlieb Taube , also doch ! "
" Nicht mit Christlieb Taube , aber mit -- Mit ? --
Mit Siegmund Faber ! "
Mit Siegmund Faber !
Das war denn nun freilich eine Neuigkeit , die mir das Blut im Herzen stocken machte .
Ich hatte ja niemals weder an seinem Leben , noch an seiner Heimkehr gezweifelt ; aber so unvorbereitet , so rasch am Ziel -- ich fiel wie vernichtet auf einen Stuhl .
" Sahen Sie ihn ? " fragte ich nach einer langen Pause .
" Nicht ihn selbst , " versetzte er .
" So sahen Sie Dorothee ? "
" Auch nicht . "
" Von wem erfuhren Sie denn aber -- -- "
" Von Ihrem Herrn Vater , Fräulein Hardine . "
" Wann , wann , wann -- -- "
" Gestern Nachmittag , als ich kaum von der Reise heimgekehrt war . "
" Und wissen Sie , glauben Sie , daß Dorothee ihm die Wahrheit bekannte ? "
" Ich weiß es nicht .
Aber Sie , meine junge Freundin , die Sie sie besser kennen , als ich , -- glauben Sie_es ? "
" Nein ! " sagte ich entschieden , und auch er schüttelte den Kopf .
" Und dennoch verheiratet , wirklich verheiratet ? " fragte ich .
" Das letzte Aufgebot sollte heute , Sonntag , stattfinden .
Wenn die Trauung vielleicht bis morgen verschoben worden ist , so geschah es in Erwartung Ihres Eintreffens , Fräulein Hardine . "
" Heute , morgen erst , und Sie erfuhren es gestern , Mann ! " schrie ich auf , indem ich entrüstet seinen Arm schüttelte .
" Sie hatten Zeit , warum schritten Sie nicht ein ? "
" Weil dieses Einschreiten nicht begehrt worden ist , " antwortete er ruhig , " und weil es , unbegehrt , in so später Stunde zwecklos oder gefahrvoll gewesen sein würde . "
" Es wird , so Gott will , noch zu dieser Stunde nicht zwecklos sein und die höchste Gefahr abwenden , nicht herbeiführen , " sagte ich , und stürzte aus der Tür .
Nachdem ich den Wirt beauftragt hatte , mir augenblicklich Extrapost zu bestellen , kehrte ich zu dem Propst zurück , der nachdenklich neben dem schlafenden Knaben saß , und dessen Hand in der seinen hielt .
Ich rannte ungeduldig im Zimmer auf und nieder .
Nie im Leben hatte ich mich in ähnlicher Aufregung gefühlt .
Jede Minute des Wartens dünkte mir eine Ewigkeit , ich hätte mir Flügel anheften und von dannen fliegen mögen .
" Beruhigen Sie sich , liebes Kind , " mahnte endlich der Freund .
" Sie erreichen Ihr Haus noch in dieser Nacht .
Einige Minuten früher oder später , -- allemal früh genug oder zu spät . "
" So erzählen Sie , " rief ich , und der alte Herr hob mit absichtlicher Breite also an :
" Da ich Ihren Brief in Jena vorgefunden , verweilte ich dort noch ein paar Tage in heiterster Stiem mung , unter literarischen Anregungen , mit deren Schilderei ich Sie heute verschone , Fräulein Hardine .
Erst gestern bei grauendem Tage trat ich die Postfahrt nach meiner Anstalt an .
Mein gutes Glück gewährte mir einen wissenschaftlich und weltmännisch gebildeten Reisebegleiter , der sich mir , wenn auch nicht dem Namen nach , als eine ärztliche Notabilität Berlins dokumentierte .
" Das Gespräch , wie das heutzutage kaum anders mehr möglich ist , sprang von unseren beiderseitigen friedlichen Neigungen bald genug hinüber auf das wildbewegte Zeitwesen , auf die phänomenalen Entwicklungen , welche dasselbe gleichsam aus dem Staube in die Höhe wirbelt , um sie eben so jach wieder in Staub und Kot zurückzuschleudern ; und wie hätte da der jugendliche Feldherrengenius unerwähnt bleiben sollen , der sich zur Stunde kaum noch geheimnisvoll zu einem Zuge rüstet , um über Meer und Land den letzten unbezwungenen Feind des republikanischen Frankreich in der Grundfeste seiner weltgebietenden Macht zu erschüttern .
" Ich habe , " so erzählte im Verlauf der preußische Herr , " über den General Buonaparte die interessantesten Aufschlüsse erhalten durch einen Augenzeugen seiner vorjährigen italienischen Gloria .
Dieser Augenzeuge , mit dem ich kürzlich meine kleine Erholungsreise antrat , ist ein Mann meines Fachs , der seit etlichen Wochen unser nach Kuriositäten so lüsternes Berliner Völkchen in ein wahrhaftes Fieber versetzt , und , wennschon mir ein gefährlicher Rivale , in der Tat verdient , als merkwürdiges Beispiel aufgeführt zu werden , wie eine superiore Natur das rohe , blutige Treiben der Gegenwart als Bildungsstoff für einen eng begrenzten , friedfertigen Beruf mit Geschick und Glück zu verwerten vermag .
" Denken Sie sich , mein Herr , einen blutjungen , sächsischen Barbier , lediglich als Autodidakt in einer mühsam aufgesuchten Praxis geschult , der in Preußens kriegerischen Rüstungen einen günstigen Spielraum für sein Streben ahnt und durch die glücklichsten Begegnungen findet .
Die heillosen Feldzüge von 92 und 93 geben Gelegenheit , sein Talent und seinen Eifer in ein helles Licht zu setzen .
Er , der keiner Fakultät immatrikuliert gewesen ist , kein Examen absolviert hat , geht aus den verpesteten Lazaretten jener Tage als Regimentsarzt hervor ; hochgestellte Herren verdanken ihm Hilfe und Heilung , man eröffnet ihm weittragende Aussichten auch in friedlichen Zeiten .
Während des Angriffs auf das Lager von Neuhornbach , wo er im Gefolge des verwegen vordringenden Königs sich allzuweit vorgewagt , und über dem Verbande eines feindlichen schwer Verwundeten aufgehalten hat , gerät er in französische Hand .
Er wird nach Paris gebracht ; sein guter Stern will , daß es eine einem Konventsmitgliede verwandte , einflußreiche Persönlichkeit ist , die ihm das Leben verdankt ; sie erwirkt ihm die Freiheit , sich in Instituten und Spitälern umzutun .
Die große , wildbewegte Hauptstadt , die zahlreichen Opfer der Schlachtfelder , ja nicht zum Geringsten die der Henkerbühne werden eine Vorlage für den energischen Trieb .
Selber inmitten dieser tumultuarischen Welt fällt hin und wieder ein beachtender Blick auf den rastlos forschenden Fremden .
" Der Frieden von Basel führte die ausgewechselten Gefangenen in ihr Vaterland zurück .
Auch unser Doktor hatte die Freiheit , zu gehen .
Aber er blieb .
" Was wollen Sie , " sagte er mir , " der Arzt , als solcher , unterscheidet nicht Heimische und Fremde , nicht Freund und Feind .
Er unterscheidet nur Gesunde und Kranke , Gebrechliche und Heile als Material , und sucht , so lange er lernt , das günstigste Terrain für seine Kunst und Pflicht . "
Freiwillig begleitete er die italienische Armee nach Italien ; der junge deutsche Doktor tritt in den Horizont des Helden von Lodi und Arcole .
Ein Jahr lang verweilt er , geteilt zwischen Leistung und Studium , in dem dem Arzte hochwichtigen Bologna , beobachtet an Kranken und Verwundeten den steigernden oder mildernden Einfluß eines südlichen Himmels und kehrt , nachdem der Friede von Campo Formio den Kontinent zur Not beruhigt hat , nach allen Seiten bereichert , aus dem republikanisirten Italien nach Paris zurück .
" Hier wurden ihm glänzende Anerbietungen gemacht , der rätselhaften Meeresfahrt seine Dienste zu leihen , in welcher wir gegenwärtig den verwegenen Corsen mit der gegen England bestimmten Armee befangen sehen .
" Aber , " so sagte jetzt unser Mann , " ich war kein Abenteurer .
Ich hatte mir in der Fremde angeeignet , was meiner Heimat dienen konnte , und ich fürchte , nur allzubald in schwerer Stunde dienen wird .
Ich durfte zurückkehren . "
So erscheint er vor etwa Monatsfrist in unserem ihm völlig fremden Berlin .
Ein Cäsar der Messer und Zangen , kommt er , sieht und siegt .
Das Gerücht , rasch und geheimnisvoll wie der Wind , schnellt ihn zu einem Wundertier in die Höhe .
Kriegerische Kameraden , aus den Rheinfeldzügen zu Dank und Anerkennung verpflichtet , bewillkommnen ihn mit festlichen Ehren ; die friedlichen Kollegen spitzten die Ohren bei der Mär von dem Champion ihrer Kunst , der , um Studien zu machen , freiwillig seinen Kopf in des Löwen Rachen gesteckt hat ; der junge König , sich seiner aufopfernden Bemühung während der Seuchenzeit nach dem Feldzuge in der Champagne erinnernd , empfängt ihn und wünscht seine Erfahrungen an der neubegründeten Pepinière verwertet zu sehen ; die Menge drängt sich um den Zeugen der revolutionären Greuel und Verwogenheiten , mit deren Schilderei zur Zeit Ehren- Haude und Spener ihre Haare sträuben gemacht hat .
Kaum zu Atem gekommen , ist er in Aller Munde ; die Fachgenossen lauschen seinen genialen Aphorismen ; die Laien , bevor sie erprobt , was der Mann kann , begnügen sich mit dem , was er erlebt ; bis die Neugierde verflogen , ist die Klientel begründet .
Kurz und gut , niemals hat ein junger , ehrgeiziger Praktikant seine Bahn unter günstigeren Auspizien angetreten .
Wir Alten werden die Segel streichen müssen denn freilich unsere Kathederweisheit sieht sich von seiner kühnen Methode himmelweit überflügelt . "
" Ich brauche Ihnen nicht zu sagen , Fräulein Hardine , " fuhr der Propst nach kurzer Pause fort , " wessen Bild während der Erzählung handgreiflich vor mir aufgestiegen , und daß es eine müßige Frage war , die ich nach dem Namen ihres Helden stellte .
In der Antwort :
" Doktor , neuerdings Geheimrat Faber , " überraschte mich höchstens der Titel .
" Wir hatten uns der Stelle genähert , bei welcher der Weg nach der Anstalt abzweigt .
" Verstand ich Sie recht , mein Herr , " fragte ich , nachdem ich Abschied genommen , den Fremden , " verstand ich Sie recht , so hat Doktor Faber Sie kürzlich auf der Reise in diese Gegend begleitet ?
Sie werden meine Neugier entschuldigen , wenn ich Ihnen sage , daß ich einem lange Verschollenen in seiner Heimat zu begegnen hoffe . "
" " Ihre Hoffnung dürfte sich erfüllen , Verehrtester , " " antwortete der Begleiter .
" " Wir reisten bis Halle miteinander ; dort verweilte ich , während er ohne Aufenthalt auf der Merseburger Straße weiterfuhr .
In Familienangelegenheiten , wie er sagte . " "
" Und wann geschah das ? " fragte ich noch einmal .
" " Gestern , Freitag vor acht Tagen , " " versetzte der Fremde , und der Postwagen rollte von dannen .
" An dem nämlichen Tage hatte ich meine Fahrt nach Thüringen angetreten ; seit länger als einer Woche konnte demnach die Entscheidung unter Ihrem heimischen Dache , Fräulein Hardine , gefallen sein .
Durfte ich hoffen , daß diese Entscheidung meinem erwarteten Pflegling einen Vater gegeben habe ?
Mußte ich fürchten , daß sie ihm auch noch die Mutter geraubt ?
In der lebhaftesten Spannung legte ich den Weg zur Anstalt zurück .
" Kaum dort angekommen , berichtete meine alte , Sie wissen , kurzsichtige Haushälterin , daß am Tage nach meiner Abreise , bei kaum grauendem Morgen , ein verhülltes , städtisch gekleidetes Frauenzimmer nach mir gefragt , und als es meine Entfernung vernommen , gebeten habe , ihr Anliegen schriftlich hinterlassen zu dürfen .
Ich fand das Blatt ohne Aufschrift , aber versiegelt , auf meinem Schreibtische , und las die wenigen Worte :
" Sobald Sie zurückkehren , Hochwürden , bitte , lassen Sie mich es wissen .
Aber um Gotteswillen ! kommen Sie nicht zu mir , auch nicht zu der gnädigen Herrschaft , bevor Sie mich benachrichtigt haben . "
" Sie wünschte demnach eine Unterredung , ohne Zweifel , um ihres Kindes Zukunft festzustellen , und sie fürchtete eine absichtliche oder zufällige Enthüllung .
Ich wußte jetzt , wie die Entscheidung gefallen war . "
" Sie wußten es ! " so unterbrach ich zum ersten Male den Erzähler , " und Sie eilten nicht , gegen ein drohendes Unheil einzuschreiten ? "
Der Freund erwiderte :
" Ich war , trotz des Verbots , eben im Begriffe , an Ort und Stelle die Lage der Dinge einzusehen , als ein Besuch Ihres Herrn Vaters , Fräulein Hardine , mich dieser Erkundung überhob .
Er hoffte eine Nachricht aus Reckenburg , die Ihr verspätetes Eintreffen erklärte , bei mir vorzufinden und da ich ihm diese Aufklärung geben konnte , bat ich ihn , nicht in Sorgen zu sein , wenn das ersehnte Wiedersehen sich noch um etliche Tage verzögern sollte . "
" Ich komme auch keineswegs aus Sorge , im Gegenteil in heller Freude , Freund , " versetzte der gütige Herr .
" Ich möchte meine Dine nur gern bei einem -- Familienfeste darf ich wohl sagen -- unter uns sehen , als Brautjungfer unserer kleinen Dorle und des -- -- raten Sie , Propst , und des -- -- " " Und des Geheimrat Faber , " ergänzte ich ; erzählte in der Kürze , auf welche Weise ich von des Mannes Heimkehr unterrichtet worden war , und bat , um eine Darstellung des Eindrucks , den die so lange getrennten Verlobten auf einander gemacht haben , und wie die Sache so rasch zum letzten Abschlusse geführt werden konnte .
" Ich werde mir nun erlauben , diese Darstellung möglichst exakt mit Ihres Herrn Vaters eigenen Worten zu geben ; die Schlußfolgerung aber Ihnen selbst überlassen , Fräulein Hardine .
-- " Am Freitag Abend sitzen wir still beieinander .
Meine Frau spinnt , ich rauche .
Da hören wir das Haustor unter einem kurzen , knackenden Druck sich öffnen und wieder schließen , hören einen raschen , elastischen Schritt im Flur , drei klopfende Schläge wie mit einem Hämmerchen an der Stubentür .
Der Druck , der Schritt , das Klopfen sind uns alte Bekannte .
Mir entfällt die Pfeife , Adelheiden der Faden : " Faber ! " rufen wir aus einem Munde , und mit dem Namen steht auch schon der Mann uns gegenüber .
Nicht mehr der Feldscher von Anno neunzig , auch nicht mehr bloß der Doktor aus den Schanzen vor Mainz : ein kapitaler Mann , ein gemachter Mann auf den ersten Blick ; aber auf den ersten Blick auch noch leibhaftig der alte Monsieur Per--se . -- --
" Er schüttelte mir die Hand und küßte die meiner Frau mit dem er eines jener armen Marquis , deren Köpfe er zu Dutzenden hat rollen sehen .
Den ken Sie , Propst , der Sohn und Gehilfe meines alten Barbiers !
Aber das Gute muß ja freilich der Anblick des Plebsregiments hervorbringen , daß ein honetter Mensch sich zu guten Manieren bequemen lernt . " -- -- " " Ich komme als Hochzeiter , mein Herr Major , " " sagte er , indem er auf den väterlichen Trauring an seinem Finger wies .
" " Ein wenig spät , werden Sie sagen , -- aber der Mann hat Farbe gehalten ! " "
" Oho ! " versetzte ich lachend , " das Kindchen erst recht ! "
-- " Meine Frau hatte sich unterdessen von ihrem Staunen erholt und in Positur gesetzt .
" Zunächst , " hob sie an , " Herr -- Doktor , nicht wahr ? "
Er antwortete lächelnd mit einer Verbeugung .
" " Für meine ältesten Freunde Siegmund Faber , wie ehedem , Monsieur Per--se , wie es Ihnen beliebt .
Im Übrigen : Geheimrat Faber , praktischer Arzt in Berlin . " " -- -- " " Zunächst also , Herr Geheimrat , " sagte Adelheid , indem sie sich gleicherweise verneigte , " die Versicherung , daß Demoiselle Müller in ungestörtem Wohlbefinden und in geduldiger Treue unter unseren Augen Ihrer Heimkehr gewartet hat . " " -- -- " Wie eine Nonne auf den himmlischen Bräutigam , " fiel ich ein .
Adelheid räusperte sich und Sie wissen schon , Propst , wenn Adelheid sich räuspert , das heißt allemal :
Mal apropos , Eberhard !
" " Indessen möchte es doch gut sein , " fuhr sie fort , " das liebe Kind auf Ihr überraschendes Erscheinen vorzubereiten . "
-- -- " Sie wollte sich entfernen .
Da erwiesen sich aber der Herr Geheimrat recht gründlich als der alte Per--se .
Nach dieser hochbeglückenden Versicherung , meinte er , erbitte er sich die Gunst , die gnädige Frau begleiten und in einem unmittelbaren Eindrucke die Entscheidung über seine Herzenswünsche empfangen zu dürfen .
Er zündete während dieser Rede ohne Umstände den Wachsstock , der auf dem Tische stand , an , und setzte es auf diese Weise durch , als Vorleuchter , zuerst das Zimmer seiner Braut zu betreten . -- --
" Die arme , kleine Dorle saß wie jeden Abend einsam bei ihrer Spielerei .
Sie hatte kleine Kinderköpfe ausgeschnitten , und war vor Langeweile eingenickt .
Die Arme lagen ausgestreckt über dem Tische , und der Kopf war auf sie herabgesunken .
Als die Tür jetzt rasch geöffnet wurde , hob sie ihn , wie aus einem Traume erwachend , in die Höhe .
" Ich kann Dir , " sagte Adelheid , denn ich war natürlich unten zurückgeblieben , " ich kann Dir das Entzücken nicht beschreiben , das sich bei diesem Bilde in Fabers Augen malte .
Die zierliche Einrichtung seines alten Zimmers , der Kleinen unveränderte Schönheit , ihre kindlich stille Beschäftigung und den goldenen Reif am Ringfinger , alles das hatte er mit einem einzigen Blicke erfaßt .
Er bedurfte keines Wortes , er wußte , was er zu wissen brauchte . "
-- -- " Jetzt hatte aber auch Dorothee ihn bemerkt .
Sie schrie auf wie ein Kind , das eine Biene gestochen hat , wurde kreideweiß und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen . - -- " " Ich habe Sie erschreckt , meine teure Dorothee , " " sagte Faber , indem er auf sie zueilte , ihre linke Hand von den Augen zog und einen Kuß gegen den Ringfinger drückte . -- -- " " Aber dieser Augenblick der Überraschung ist mir Ersatz für die langen Jahre der Entsagung .
Mein ganzes Leben wird ein Dank sein für das Glück , daß Sie ihn mir gewährten . " "-- -- " Indessen dies zweite Experiment , -- Sie wissen , Propst , er nannte schon seine Verlobung ein Experiment , -- nun diese Überrumpelung erwies sich denn doch schier zu stark für unsere arme , kleine Dorle .
Es überlief sie ein Schauder , ihre Glieder flogen , Fieberglut verjagte die tödliche Blässe auf ihrem Gesicht .
" " Sie sind unwohl , Dorothee ! " " rief Faber ängstlich , führte sie auf das Canapee , setzte sich auf einen Stuhl an ihre Seite und faßte ihre Hand , nicht wie ein Liebhaber , sagte Adelheid , sondern wie ein Arzt , der die Pulsschläge zählt .
Sie schüttelte das Köpfchen , raffte sich zusammen , erholte sich allmählich , und als Faber nach einer Weile fragte , ob sie sich kräftig genug fühle , seine Gegenwart zu ertragen , antwortete sie mit einem Nicken . -- -- " " Das Ziel , das ich mir gesetzt hatte , ist erreicht , " " sagte Faber darauf , " " später als ich gehofft , aber sicher und ehrenvoll .
Eine ausfüllende Tätigkeit wartet meiner in Berlin , eine sorglose Häuslichkeit steht mir , -- Ihnen , liebe Dorothee , -- dort bereitet .
Freilich ist meine Zeit gemessen .
Aber was bedürfen wir auch noch der Zeit ?
In einer Woche , denke ich , werden wir vereint der neuen Heimat entgegenziehen . " " -- -- " Da sie alles so glücklich im Gange sah , hielt Adelheid , die bisher unbemerkt im Hintergrunde gestanden hatte , es an der Zeit , sich zu entfernen .
Bei dieser Bewegung wurde die Kleine ihrer ansichtig .
Sie fuhr in die Höhe , stürzte auf meine Frau zu mit einem , wie diese behauptet , geradezu irrsinnigen Blick und den Worten , den ersten , die sie sprach :
" " Hardine , 6 * Hardine ! wann kommt Fräulein Hardine ? " "
-- " " Wir erwarten sie bis Mitte nächster Woche , liebe Dorothee , " " -- beruhigte sie Adelheid und ließ die Brautleute allein . -- -- " Unten angekommen , sagte sie zu mir :
" " Das arme Mädchen ist über die Maßen bestürzt , Eberhard .
Mehr als ein Kopfnicken und Schütteln wird ihr auch im tête à tête nicht abzuschmeicheln sein .
Was Wunder aber auch ?
Der Mann ist ihr in acht Jahren ein Fremder geworden ; ja , als Mann betrachtet , ihr auch vorher nur ein Fremder gewesen .
Nun über Hals und Kopf : Wiedersehen , Hochzeit , Abreise , eine gänzlich neue Welt , und alles das ohne die getreue Beraterin , unsere Tochter Hardine . " " -- -- " Ich bin der Ansicht , Propst : nichts hilft einem Menschen gemütlicher über eine verlegene Situation als im Kreise guter Freunde eine heitere Tafelei , und Adelheid und ich waren daher auch auf der Stelle einig , das Beste , was Küche und Keller boten , eilig zu einem Bewillkommungsschmause aufzutischen .
Kaum daß ein Stündchen vergangen war , stieg ich die Treppe hinauf , die Gäste zu unserem Äxtempore einzuladen .
Ich machte der Braut , die noch immer die Sprache nicht wiedergefunden zu haben schien , meine Grast lation und dem glückstrahlenden Bräutigam noch einmal mein Kompliment .
Bald saßen wir alle Vier behaglich um den Tisch ; das erste Fläschchen wurde entkorkt und niemals habe ich ein freudigeres Lebehoch als das auf unsere beiden Getreuen erschallen lassen . -- --
" Nun mußte aber auch endlich unser Gast mit der Sprache herausrücken und die Fahrten und Fährnisse zum Besten geben , unter welchen der Gefangene von Pirmasens sich so glücklich bis zum königlich preußischen Geheimenmedizinalrat durchgewunden hat .
Propst , der Mann versteht zu erzählen : simpel , anschaulich , mit Bescheidenheit und doch nicht ohne das geziemende Selbstgefühl . -- --
" Da gab es denn einen kuriosen Wechsel von Bewunderung und Grauen , wenn man den einsamen Fremdling mit seinen Messern und Zangen so gelassen dahinschreiten sah , heute unter den Blitzen des Fallbeils , morgen unter dem Donner der Kanonen ; vorbei an Menschen , die gestern Gold waren und heute Staub sind , und an solchen , die gestern als Staub übersehen und morgen als Gold vergöttert werden .
Was solch eine Revolution zu sagen hat , das ist mir wahrlich erst durch meinen Monsieur Per--se recht klar geworden , Propst .
Die Nacht hindurch würden Adelheid und ich mit gespanntem Ohr gelauscht haben . -- --
" Aber freilich ein Anderes sind ein Paar im Grunde doch fremde alte Leute und ein Anderes eine junge bängliche Braut .
Die arme , kleine Dorle saß stumm und blaß , Hände und Blicke im Schoß und berührte keinen Bissen noch Tropfen .
Eigentlich kam es mir vor , als hätte sie von alle den Mordgeschichten und Geschäften nicht ein Sterbenswort gehört und ganz an was anderes dabei gedacht .
Der Erzähler aber dankte ihr dieses angstvolle Erstarren im Rückblick auf die Gefahren , die er fern von ihr durchlebt hatte .
Er drückte ihr die Hand und schwenkte geschickt in ein Gebiet , in welchem das schwächlichste Frauenzimmer sich allezeit erholt .
Die revolutionären Damenmoden wurden auf es Tapet gebracht ; das gesellige Treiben , erst in Paris , dann in Berlin ; Namen wurden genannt , als die von Gönnern und Freunden , bei deren Klange dem vormaligen Schenkjüngferchen wohl das Herz im Leibe lachen konnte ; und als endlich gar der eigene Hausstand an die Reihe kam , als einer Beletage unter den Linden , der Bedienten , Wagen und Pferde wie selbstverständlicher Dinge Erwähnung geschah , Freund , da hätten Sie sehen sollen , wie unser Bräutchen auftaute !
Wie die Öhrchen sich spitzten , die Äugelchen blitzten , die blassen Wangen immer rosiger sich färbten .
Die kleine Dorle sah sich schon als Frau Geheimrätin , wohl gar als gnädige Frau , in Tituskopf und Tunika , wiegte sich auf seidenen Polstern zwischen Pendülen und Vasen , während draußen Generale und Grafen antichambrierten in Erwartung des gefeierten Herrn Gemahls .
Jetzt wagte sie es , die Augen zu ihm aufzuschlagen ; sie nickte ihm lächelnd zu und ließ die bisher so widerwillige Hand ohne Sträuben in der seinen .
Ja , Weiberchen , Weiberchen , Eva es Töchter , die ihr alle seid ! -- -- "
" Das Herdfeuer lodert in Erwartung der Hausfrau " " -- so schloß der geschickte Mann seine Schilderei , -- " " und auch die Hausfrau wird ja , will_es Gott , nur auf Tage noch dem freundlichen Heimwesen fehlen .
Wir sind Beide verwaist , auch Sie , liebe Dorothee majorenn ; die erforderlichen Zeugnisse können im Orte bezogen werden .
Übermorgen darf das erste Aufgebot stattfinden , und zweifle ich nicht , daß uns alle weiteren Observanzen erlassen werden , wenn ich in Leipzig , wo ich morgen einige alte Freunde und Gönner aufzusuchen gedenke , mich beim Konsistorium darum bemühe .
Jedenfalls wird bis zum übernächsten Sonntag alles erledigt und dann auch die Zeugin unserer Verlobung gegenwärtig sein , Fräulein Hardine , die ich so gern auch als Zeugin unserer stillen Hochzeitsfeier begrüßen möchte . " " -- -- " Adelheid hat recht , Propst ; es ist merkwürdig , wie die kleine , liebe Dorle an unserer Dine hängt .
Ein Anderer als Monsieur Per--se würde sich solch ein Freundschaftsregiment verbitten !
Aber der : Schürzenangelegenheiten -- bah !
Ja , wäre es ein Mann , der ihm ins Gehege käme , dann Gnade Gott ! --
-- " Die Kleine hatte seinem Plane mit aller Gelassenheit zugehört ; bei dem Namen Hardine aber fuhr sie erschrocken in die Höhe ; weiß Gott , sie zitterte und wurde jählings wieder blaß wie eine Wand .
" " Hardine ! " " flüsterte sie .
" "Wann kommt Fräulein Hardine ? " "
-- " Sie soll zur Hochzeit nicht fehlen , Herzenskind , " rief ich ihr ermunternd zu .
-- " Morgen schreibe ich ihr und in spätestens acht Tagen ist sie da . "
-- -- " Dorothee saß auf ihrem Stuhle zurückgesunken und regte sich nicht .
Der Bräutigam leerte das letzte Glas auf das Wohl unserer guten Tochter .
Auch die Braut mußte anstoßen und nippen , aber sie tat es mit einem Schütteln , als ob ihr der Tod über es Grab gelaufen sei .
Wir alle sahen , wie sehr das liebe Kind der Ruhe bedürfe .
Meine Frau hob die Tafel auf ; der Gast empfahl sich , um im Gasthof ein Nachtquartier zu suchen .
Unser Fest war zu Ende . --
" " Lieber Herr Major , " sagte die gutmütige Dorle , als ich sie die Treppe hinaufführte , " bitte , schreiben Sie Fräulein Hardine nicht .
Es möchte ihr ungelegen sein .
Sie kommt ja ohne dies .
Oder wir warten , bis sie kommt . " " -- -- " Nun ich habe auch nicht geschrieben , da am anderen Morgen ein Brief ihre Ankunft bis spätestens Donnerstag meldete .
Und nun ist sie doch nicht gekommen und kommt am Ende auch gar nicht mehr zu rechter Zeit . "
-- " Ihr Herr Vater , Fräulein Hardine , hatte sich bei den letzten Worten erhoben , um den Heimweg anzutreten .
Ich begleitete ihn und bat , daß er seine Mitteilung fortsetzen möge .
-- " Was soll ich weiter berichten , " sagte er .
" Es ist alles gekommen , wie unser Doktor es ausgesonnen hatte .
Am Sonntage sind sie zum ersten Male von der Kanzel gefallen .
Morgen geschieht_es zum zweiten und dritten Male vereinigt .
Am Nachmittag , oder spätestens Montag früh , eine stille Trauung auf dem Lande ; als Zeugen nur Adelheid , ich und wenn sie noch eintrifft , versteht sich , unsere Tochter .
Daß sie nur käme !
Die Kleine verzehrt sich buchstäblich über dieser fixen Idee .
Bei jedem Wagen , der die Straße heraufrollt , stürzt sie ans Fenster und schaut hinaus .
" " Hardine , Fräulein Hardine ! " " sind fast die einzigen Worte , die ihre Lippen berühren .
Vorgestern , wo wir sie mit Bestimmtheit erwarteten , habe ich selber mich über die kleine Torheit geärgert .
Sie ist in diesen acht Tagen abgemagert zum Skelett ; der Verlobungsring , der ihr so drall am Finger saß , rollt bei der geringsten Hantierung in ihren Schoß .
Sogar an den Brautputz denkt sie nicht .
" " Es wird doch nichts daraus ! " " murmelte sie , als Adelheid neulich davon anfing .
Hysterie , Propst , nennt man ja wohl diese Launen bei dem Frauenvolk ?
Gottlob , unsere Dine hat von dem Wesen keine Spur . "
-- " Und zeigt der Bräutigam keine Art von Beunruhigung über diesen jedenfalls verwunderlichen Herzenszustand ? " wagte ich zu äußeren : ein Zweifel , welchen der ritterliche Herr Major aber nahezu als eine Ehrenkränkung zurückwies .
-- " Wie meinen Sie das , Propst ? " rief er unwillig .
" Hat der Mann nicht Adelheids und mein eigenes Zeugnis für des Mädchens untadeliges Verhalten ?
Würde ohne dasselbe unsere Tochter ihre Freundin sein ?
Rühmt nicht die ganze Stadt ihre geradezu scheue Zurückhaltung seit jenem heillosen Donnerstagabend , an dessen Ausgelassenheit das arme Kind wahrlich geringere Schuld als wir Anderen samt und besonders getragen hat ?
Daß sie bis jetzt keine übermäßige Passion für den Herrn Bräutigam empfindet , darüber wird er selber am besten im Reinen sein , er ist kein Apollo , unser Monsieur Per--se !
Aber nur erst unter die Haube und an den eigenen Herd .
Einer , wie der Faber , fühlt sich Manns genug , um ein Frauenherzchen in Beschlag zu nehmen .
Klug , wie er ist , schont er die bängliche Laune einer kurzen Übergangszeit ; zeigt sich der Kleinen nur in flüchtigen Besuchen , liebreich , ohne Zärtlichkeit , mit offener Hand und im Nimbus eines gefeierten Namens .
Alles drängt sich um den merkwürdigen Heimatsfreund .
Die Kunde seiner Rückkehr hat sich wie ein Lauffeuer in der Gegend verbreitet .
Meilenweit ziehen sie einher , alte und neue Schäden von dem Wunderdoktor heilen zu lassen .
Im Fluge sind etliche schwere Operationen absolviert worden .
Nun soll aber auch den alten Bekanntschaften ein Gruß und Lebewohl gebracht werden , bis zum Schinder hinab , den er seinen ersten Professor nennt .
Kurz und gut : ein Tourbillon hat sich um den Mann erhoben und er bewegt sich nach allen Seiten mit Takt und comme il faut .
Nicht zum Geringsten auch gegen uns .
Das alte , väterliche Haus , " seine Treuburg " , wie er es nennt , bleibt unserer Verfügung , der Mietzins Fräulein Hardine zu Armenzwecken überlassen .
Kein Stück wird in Dörtchens bräutlichem Zimmer verrückt , kein Gepäck mit auf die Reise genommen .
In ihren Hochzeitskleidern , leicht wie Sommervögel , fliegen sie in das bereitete Nest , wo dann alles neu und nie gesehen das junge Weibchen umfängt und erfrischt . "
-- " Wir hatten während dieser letzten Rede die Stadt und Ihre Wohnung , Fräulein Hardine erreicht .
Die Mutter saß am Spinnrad vor der Tür .
-- " Die Post von Leipzig ist herein , und wieder ohne unsere Tochter , Eberhard ! "
-- " Die Gräfin ist krank geworden , " versetzte der Gemahl , " der Propst hat Nachricht .
Aber was sagt unsere Dorle , Adelheid ? "
-- " " Nun da so ziemlich die letzte Hoffnung geschwunden ist , scheint sie sich ihre kindische Sehnsucht aus dem Sinn schlagen zu wollen .
Sieh Dich um , Eberhard ; an allen Fenstern und Türen ein gaffendes Gesicht .
Eben ist Dorothee am Arme ihres Bräutigams um die Ecke gebogen , zum ersten Male , daß sie seit seiner Heimkehr das Haus verläßt .
Sie wollen den Gräbern der Eltern Lebewohl sagen .
Eine noble , delikate Natur , dieser Faber ; Sie hätten ihn kennen lernen sollen , Herr Propst .
Auch meiner Tochter hätte ich sein Wiedersehen gewünscht .
Doch mag ich der morgenden Trauung nicht länger widersprechen .
Dorothee kommt ohne Abschied leichter zur Ruhe , und käme Hardine morgen Abend , was könnte ihr an der bloßen Brautführerrolle gelegen sein ? " "
-- Der Propst schwieg ; seine Erzählung schien zu Ende .
" Und warteten Sie , " fragte ich hastig , " Dorothees Rückkunft und ihren Entschluß nicht ab ? "
" Nein , " antwortete er mit Ruhe .
" Ich bat Ihre Frau Mutter , ihr meine Heimkehr von der Reise mitzuteilen und ging in meine Anstalt zurück .
Als nach dem Morgengottesdienste , wie ich es kaum anders erwartet hatte , eine Botschaft an mich nicht ergangen war , benutzte ich die Post nach Leipzig , um meinen Schützling in Empfang zu nehmen . "
Die Postchaise fuhr in diesem Augenblicke vor .
Ich hatte meine Reisekleider gar nicht abgelegt und das Gepäck bereits wieder hinunter schaffen lassen .
Als ich jetzt den Knaben wecken und mit ihm voran eilen wollte , trat mir der Propst entgegen .
" Ich halte es für besser , " sagte er , " mit dem Kleinen hier zu übernachten und erst morgen -- "
" Der Junge wird im Wagen so gut wie hier im Bette schlafen , " unterbrach ich ihn gereizt .
" Rasch voran ! "
Er sann einen Moment und folgte mir dann , den schlummernden Knaben auf dem Arme .
Des Freundes ausführliche Mitteilung hatte meine Aufregung nur gesteigert .
Sicherlich nicht ohne seine Absicht : die Gehrung sollte vor den aktuellen Eindrücken brausen .
Zum ersten und Gottlob einzigen Male im Leben fühlte ich mich in einem Zustande von , -- dreist heraus , in einem Zustande von Wut ; von Wut zunächst gegen mich selbst .
Ich hätte mir das Haar ausraufen , oder die Wagenfenster zerschlagen , ich hätte schreien , oder wie ein wildes Roß mir die Adern zerbeißen mögen , um dem kochenden Blute ein Ventil zu öffnen .
Ich , ich hatte dieses strafwürdige Ereignis verschuldet ; ich die Sünde gedeckt , die Untreue verheimlicht ; getäuscht die arglosen Eltern , auf deren guten Glauben hin ein Ehrenmann in seinem Allerheiligsten voraussichtlich zur Stunde schon betrogen war .
Ich , ich hatte die stolze Zuversicht der eigenen Seele für allezeit zerstört .
In solcher Stimmung gibt es keine größere Erleichterung , als einen Teil seiner Last auf einen Anderen abzuwälzen , und so wendete ich mich denn , sobald das Gefährt auf die weniger holpernde Landstraße eingelenkt hatte , gegen den Begleiter , dessen milde Gelassenheit mich empörte .
" Wenn wir zu spät kommen , Propst , " sagte ich " wenn die Trauung vollzogen ist , so haben Sie eine schwere Verantwortung auf sich geladen .
Sie , der Sie den Frevel hindern konnten und in bequemer Scheu vor der Anklage es unterließen . "
" Darf der Beichtstuhl zur Anklagebank werden , Fräulein Hardine ? " entgegnete er , " und war ich nicht in der Lage des Beichtigers , der ein anvertrautes Geheimnis zu bewahren hat ? "
" Sie hatten das Geheimnis nicht von einem Beichtkinde , nicht zuerst wenigstens vom einem Beichtkinde empfangen .
Übrigens sprechen Sie mit dieser Auffassung sich selbst das Urteil .
Dem Manne , dem Freunde , mochte Zartgefühl die Zunge binden ; dem Seelsorger war es Pflicht , ein Verbrechen seines Beichtkindes zu verhüten . "
" Und was tun , Fräulein Hardine ? "
" Raten , warnen , bedräuen ; für die erste Christ liche und menschliche Tugend , die Wahrhaftigkeit , das matte Gewissen zum Leben rütteln . "
" Und haben Sie , meine mutige , junge Freundin , nicht geraten , nicht gewarnt , nicht das Gewissen zur Wahrhaftigkeit aufgerüttelt , Sie , die von allen Menschen die stärkste Macht über dieses Kind geübt haben und in einer Zeit der Gleichgültigkeit , ja mehr als dieser , gegen den Mann , dem sie die Wahrheit schuldete ?
Und mit welchem Erfolg ?
Heute aber , in der letzten Stunde , am Vorabend der Trauung , wo alles Sinnen und Trachten des beweglichen Herzens nur gegen die Gefahr eines Widerspruchs gerichtet ist -- "
" Hätten Sie im äußersten Falle das äußerste Mittel nicht scheuen dürfen . "
Der Freund faßte nach einer kleinen Stille sanft meine Hand und sprach :
" Fordern Sie , mein liebes Kind , von einem alten Manne nicht eine Tat , die das Maß seiner Anlagen überschreitet , und für die er , mißrät sie , sich und Anderen kein Heilmittel zu bieten hat .
Und wenn das Äußerste nun zum Äußersten geführt hätte ?
Wenn das schwache Geschöpf , -- eben weil es schwach ist , Fräulein Hardine , -- gebrandmarkt vor der Welt und vor dem Manne , der im Augenblick all sein Begehren gefangen nimmt , in töte liche Krankheit , in Wahnsinn verfallen wäre ?
Wenn sie verzweifelnd Hand an sich gelegt -- "
" Nun wohlan ! " rief ich leidenschaftlich , " ich , ist es noch Zeit , werde diesen Gefahren trotzen , werde , und wäre es vor dem Altar , den Einspruch der Wahrheit vernehmen lassen .
Ich bin aus den Schranken meiner natürlichen Anlagen , meiner Erziehung , der Denkweise meiner Väter , der Gesetzmäßigkeit meines Charakters herausgetreten , indem ich die Unehre duldete und das Unrecht beschönigte .
In Recht und Ehren , um jeden Preis , werde ich diese Irrung zu sühnen wissen . "
" Sie werden es , meine Freundin , " entgegnete der geistliche Herr mit Bedeutung ; " Sie werden jene Irrung sühnen , früh oder spät , wenn auch mit anderen Faktoren als denen , die heute Ihr Gemüt beherrschen .
Also irren heißt leben und in den heimlichen Trieben , die unsere Menschenlogik höhnen , keimt unsere Entwicklung .
Der Regenguß , der unsere Saaten niederschlägt , durchsickert die harte Bodenschicht , und sammelt sich zum Quell , welcher das Wurzelland befruchtet .
Das ist die Logik der Natur .
Und darum lassen Sie mir den Glauben , daß das , was heute Ihr Gewissen niederschlägt , dereinst als ein Jungbrunnen Lonise v. François , Die letzte Reckenburgerin .
II. 7 Ihr Gemüt erquicken wird .
Ich bin ein alter Mann .
Meine Aufgabe ist , diesem Kinde , das zur Stunde vielleicht auch die Mutter verloren hat , so weit meine Kraft noch reicht , den Vater zu ersetzen . "
Der alte Mann schwieg .
Wenn Ihr aber glaubt , daß sein Gleichnis vom Wasserbrunnen , -- Feuer und Flamme wie ich war , -- meinen Zorn gelöscht haben sollte , nun , so irrt Ihr Euch .
Öl hatte es in den Brand gegossen .
Ich kehrte dem gefühlvollen Schwächling den Rücken , der ohne sich zu rühren , das Haus seines Nachbars einäschern sieht und derweil gemütlich die Bausteine für eine Hütte der Zukunft zusammenträgt .
Wir sprachen bis zur Zwischenstation kein weiteres Wort .
Der Propst saß mir still gegenüber , den Kopf des schlafenden Knaben auf seinem Schoß .
In mir jagten sich die Gedanken .
Was geschehen sollte , kam ich noch zur rechten Zeit , was aus mir werden , kam ich zu spät -- ich wußte es nicht .
Aus diesem Tumult weckte mich eine Bewegung meines Begleiters , der während des Pferdewechsels sich zum Aussteigen rüstete , um den Seitenweg nach seiner Anstalt mit dem Knaben einzuschlagen .
Ich merkte die Absicht und sagte höhnend :
" Sie schlucken Elephan ten und seipen Mücken , guter Freund ! "
Worauf er lächelnd antwortete : " Wohl mir , wenn ich den giftigen Stich einer Mücke von Ihnen abwehren könnte , Fräulein Hardine . "
Die Reizung fehlte mir nur noch .
" Ich denke , Herr Propst , " brauste ich auf , " Name und Ruf des Fräulein von Reckenburg -- -- "
" Der beste Name und Ruf , " unterbrach er mich , " der Frieden des edelsten Menschen können getrübt werden , wenn eine Kette von Zufälligkeiten sich törichter , oder böslicher Auffassung in die Hände spielt .
Zwingt ihre Ehe Dorothee Müller , diesen Knaben zu verleugnen , so hat er erweislich weder Vater noch Mutter .
Er ist in Reckenburg , unter den Augen Ihrer vertrauten Dienerin aufgewachsen , durch Sie der Erziehung eines alten Freundes übergeben worden .
Ihre Person wird es sein , an welche seine Erinnerungen , vielleicht seine Erwartungen sich heften , zumal wenn eines Tages ein Umschlag in Ihren äußeren Verhältnissen die Blicke eines größeren Kreises auf Sie lenkt .
Ihre einzigen rechtfertigenden Zeugen , Justine und ich , sind Greise ; die Kirchenregister vernichtet , und die Verwicklungen des Schicksals unberechenbar .
Ich muß es daher als 7 * eine Fügung der Vorsehung betrachten , daß mindestens ein unumstößliches Dokument über August Müllers Abstammung gerettet worden ist .
Kurz vor meinem Abgang von Reckenburg und dem Brande der Kirche nahm ich eine Abschrift des Taufzeugnisses , um es , ohne die Aufmerksamkeit eines Dritten zu erregen , der Mutter des Knaben zu gelegentlicher Verwendung anheimzugeben .
Gedankenlosigkeit verzögerte den ursprünglichen Zweck ; und so lege ich es jetzt , statt in die der Mutter , in Ihre Hand , Fräulein Hardine .
Weisen Sie es nicht zurück ; verwahren Sie es aus Rücksicht für einen treuen Freund , so viel derselbe heute in Ihrer Schätzung verloren haben mag . "
Um weitere verdrießliche Erörterungen abzuschneiden , nahm ich das Attest ; bei ruhigerem Blute sah ich in seiner Erhaltung eine Pflicht , wenn nicht für mich selbst , so doch für den verwaisten Knaben und ich erwähnte bereits , daß Ihr es dieser Handschrift beigefügt finden werdet .
Nach diesem Zugeständnisse mußte nun aber der geistliche Herr sich darein ergeben , von mir nach seiner Anstalt geleitet zu werden .
Die Klosterglocke schlug Mitternacht , als ich ihn , seinen Pflegling im Arm , hinter der Pforte verschwinden sah .
Eine halbe Stunde später schmetterte das Posthorn vor der alten Baderei .
Das Haus , das ganze Städtchen lagen im Dunkel ; alles schlief und es währte mir eine Ewigkeit , bis die Torfahrt geöffnet wurde , und mein Vater in Schlafrock und Nachtmütze unter ihr erschien .
" Dorothee ! " schrie ich ihm entgegen , indem ich mich mit beiden Händen an seine Schultern klammerte . Du kommst post festum , arme Dine , " antwortete der Papa mit kleinlautem Scherz , " die Frau Geheimrätin lassen sich gehorsamst empfehlen ! "
Und nun fragt mich nicht , wie ich an das Bett meiner Mutter und über den ersten Austausch hinweggekommen bin .
Auch nicht , wie lange ich ihr gegenübersaß und in halber Betäubung die Schlußszene unseres häuslichen Dramas gleich einem Nebelbilde an mir vorübergleiten sah .
Erst bei öfterer Wiederholung in den nächsten Tagen prägte sie sich mir ein mit der Schärfe eines persönlichen Erlebnisses .
Die Verlobten waren von ihrem abendlichen Abschiedsgange heimgekehrt mit dem Beschluß , die Trauung am anderen Mittag in der verabredeten Weise stattfinden zu lassen .
Vater und Mutter hatten nicht widersprochen .
Den Gruß ihres alten Freundes im Kloster empfing die Braut mit einem Tränenstrom , der sie zu erleichtern schien .
Als am Sonntagsmorgen der Gottesdienst sich seinem Ende näherte , stieg die Mutter in Dorothees Stube hinauf , ihr kleines Angebinde zu überreichen .
Es war eine Silhouette und Locke ihrer Tochter , die sie einem perlenumrahmten Medaillon hatte einfügen lassen .
Sie fand die Braut fertig gekleidet in ihrem Abendmahlsanzug , Brust und Arme mit einer Garnierung weißer Klosterspitzen , einem Geschenke Fabers , umschlossen .
Das dunkle Bild am schwarzen Bande als einziger Schmuck , hob das Trauerartige der Erscheinung noch mehr hervor .
In diesem düsteren Rahmen aber , in der Blütenweiße des Angesichts , die Augen gesenkt , die Hände wie zu demütigem Flehen über der Brust gefaltet und die Morgensonne die weiche Lockenwelle übergoldend : die Mutter gestand , daß sie unter dem Rosenschimmer des Kindes niemals diese ideale Schönheit geahnt und daß sie gebannt im Anschauen , einen Augenblick auf der Schwelle geweilt habe .
Aber nur einen Augenblick .
Im nächsten durchflog ein Schrecken die Glieder der armen Hochzeits Mutter und ein entsetztes " Herrgott ! " entschlüpfte ihren Lippen .
Eine Braut , Siegmund Fabers Braut , ihr Schützling -- und ohne jungfräulichen Kranz !
Keiner hatte für das unerläßliche Symbol gesorgt , das bis zum Letzten von der Hand der Brautführerin erwartet worden war .
Und wie nun in dieser Übereile , bei sonntägig geschlossenen Läden , es beschaffen ?
Dorothee hat den Aufschrei vernommen , sie sieht die mütterliche Unruhe .
Gleichzeitig hört sie das Rollen eines Wagens immer näher und näher die Straße herauf .
Jetzt hält er vor der Tür .
" Hardine ! " kreischt sie , " Barmherzigkeit , Hardine ! " und stürzt auf ihre Knie .
Aber es ist nicht die ersehnte Kranzjungfer , es sind die Hochzeitskutschen , welche vor dem Hause vorfahren .
Rasche Tritte eilen die Treppe herauf .
Bräutigam und Hochzeitsvater treten ein , eben als die zitternde Braut sich vom Boden erhebt .
Allein der Kranz , der Kranz !
Alles blickte bestürzt --
Alle , mit Ausnahme der totenstarren Braut .
Der glückliche Hochzeiter ist der Erste , sich zu fassen .
" Es muß ja nicht eben Myrte sein , " sagt er lächelnd .
" Im ganzen Süden wählt man beliebige weiße Blüten , gemischt mit irgend einem anderen zarten Grün . "
Er überblickt das Zimmer , das gestern noch einem Garten geglichen hatte .
Sämtliche Töpfe jedoch sind heute in der Frühe hinaus zum Schmucke der elterlichen Gräber getragen worden ; nur in einem Wasserglase sieht er ein paar Zweige , die er achtlos ergreift und der Geliebten reicht .
Die Mutter unterdrückt einen Schauder ; mit einem herzzerreißenden Lächeln flicht sie dieselben Dorothee in ihr goldenes Haar :
es ist ein Strauß Rosmarin , auf eben jenen Gräbern gestern zum Andenken von der Tochter Hand gepflückt .
In dem nämlichen Augenblicke aber bringt triumphierend der gute Papa , der in seinem Eifer in den Garten gelaufen ist , eine Handvoll weißer Tausendschön , an denen noch der Morgentau perlt .
Sie werden zwischen die Zweige gewunden und so mit Frühlingsblumen und Grabesgrün ist der bräutliche Schmuck vollendet .
Siegmund Faber legt einen kostbaren türkischen Schal um die Schultern seiner Verlobten , er führt sie zum Wagen , die Eltern folgen .
Unter den Grüßen und Winken ihrer Mitbürger , die eben dem Gotteshause entströmen , fährt das schöne Kind der Stadt aus seiner dunklen Heimat in den blendenden Glanz der Welt .
Nach einer Stunde hielten die Wagen vor einer Kirche seitab des ersten Dorfes auf der Straße nach Berlin .
Die Bewohner saßen beim Mittagsessen , niemand außer dem Pfarrer und Küster harrte in dem kleinen , öden Gotteshause .
Faber hatte aus Schonung für seine Braut um eine kurze Feier gebeten und so beschränkte sich dieselbe nahezu auf die alte strenge , lutherische Formel und den Segensspruch .
Ohne Sang und Orgelklang waren die Verlobten binnen weniger Minuten Mann und Weib .
Als die Ringe von Neuem gewechselt wurden , die sie acht Jahre lang getragen hatten , glitt der der Braut von der schlaff herabhängenden Hand .
Faber fing ihn auf und steckte ihn an ihren Finger , den er von da ab fest zwischen den seinigen gepreßt hielt .
Sein Ja schallte laut und freudig durch den Raum .
Dorothees Lippen bewegten sich nicht .
Schweigend führte Siegmund Faber seine junge Frau bis an die Kirchhofspforte , winkte den Wagen herbei und eilte zu geschäftlichen Abmachungen in die Sakristei zurück .
Die Eltern nahmen Abschied von dem Kinde , das sie neben dem eigenen von der Wiege ab gehegt hatten .
" Gottes Segen über Sie , teure Dorothee , auch im Namen unserer guten , fernen Hardine , " sagte der Vater , nachdem er seinen Liebling umarmt hatte und ging dann rasch dem jungen Manne nach , um seine Tränen zu verbergen .
Bei dem Namen Hardine war es wie eine Sinnestäuschung , wie ein Wahn , der das junge Weib berückte .
Unter konvulsivischem Zucken stürzte sie zu Boden und umklammerte der Mutter Knie .
" Barmherzigkeit , Hardine ! " schrie sie , " Barmherzigkeit !
Ich wollte ja nicht -- aber ich mußte !
Ich wollte ja reden , -- aber ich konnte nicht . --
Das Kind , das arme Waisenkind !
Barmherzigkeit , Hardine -- Barmherzigkeit -- um des Toten Willen . "
Die letzten Worte wurden kaum noch verständlich gelallt .
Sie taumelte mit gebrochenen Augen rückwärts über ein frisch geschaufeltes Grab .
Faber stürzte herbei und trug die Bewußtlose in den Wagen .
Eine Minute später rollten sie auf der Straße zur neuen Heimat voran .
Viertes Kapitel . 1806 .
Das Geheimnis ist enthüllt .
Ihr wißt jetzt , meine Freunde , wer August Müllers Mutter gewesen ist und welches Verhältnis mir die Lippen band , als die Welt mich dafür genommen hat .
Was weiter nach Außen hin an mir und durch mich geschehen ist , liegt zu Tage , die Geschichte dürfte zu Ende sein .
Weil aber jede Geschichte eine Pointe haben soll , das heißt : weil jedes Schicksal nicht nach Außen , sondern nach Innen hin gipfelt , und weil , ist nur einmal der erste Strich getan , es ein besonderes Vergnügen gewährt , den Grundriß seines Lebensbaues vor lieben Menschen zu entfalten , so will ich den meinigen weiter führen von Stock zu Stock , bis zu der Spitze , die sich vor Euch enthüllen wird , nachdem Ihr den Richtspruch vernommen habt .
Die Schwäche , mit welcher ich jahrelang Dorothees Heimlichkeit geduldet und gewahrt , hatte mein Gewissen frei gelassen .
Nun aber , da eine untilgbare Schuld gegen einen Anderen daraus erwachsen war , drückte sie mich wie ein Alp .
Es gab jetzt einen Menschen , dessen ehrenwerten Namen ich nicht hören konnte , ohne zu erbleichen ; einen , vor dem ich in der Erinnerung die Blicke niederschlug ; den ich belügen oder in seinem innersten Heiligtume vernichten mußte , wenn er mir mit der Frage :
" Handeltest Du rechtschaffen und ehrenhaft gegen den Vertrauenden ? " unter die Augen getreten wäre .
Die Dämonen des Lebens : Unruhe , Zweifel , Furcht und Scham , sie , die ich mehr gefürchtet hatte , als Verlassenheit und Armut , jetzt lernte ich sie kennen .
Der Stolz der Unschuld war vernichtet , alle Sicherheit des Gefühls gebrochen , seitdem die Nachgiebigkeit gegen ein Gefühl mich so weit von meinem Grundwesen vertrieben hatte .
Von Dorothee hörte ich nichts .
Ich hatte nicht erwartet , daß sie mir schriebe und würde ihr nicht geantwortet haben .
Ob sie mit dem Propst in Verbindung geblieben , mochte ich nicht wissen , bezweifelte es aber .
Wir waren fertig mit einander .
Auch zu dem Propst hatte mein Verhältnis sich abgeschwächt , seitdem seine Schlaffheit , wie ich es schalt , mir eine Gewissensschuld aufgebürdet .
Ich suchte ihn auf , so oft ich im Elternhause verweilte , unterhielt eine Art Zusammenhäng zwischen ihm und seiner alten Gemeinde , folgte nicht ganz ohne Anteil seinen Bestrebungen in der Gegenwart ; von unserem gemeinsamen Geheimnis aber war niemals die Rede .
Niemals jedoch , so oft ich ihn besuchte , unterließ er es , mir seinen besonderen Schützling vorzuführen und meine frühere Teilnahme für ihn wieder anzuregen , denn -- und das war wohl der häßlichste Umschlag meiner Stimmung -- der Knabe , an dem ich mit so viel Wohlgefallen gehangen hatte , und der sich gleichmäßig schön und kraftvoll entwickelte , war seit jener Mitternacht , wo ich ihn hinter der Klosterpforte verschwinden sah , meinem Herzen ein Greuel .
Ich erblickte in ihm nicht mehr das Ebenbild seines Vaters , der die Lust und das Leid meines kurzen Lenzes , nicht mehr das Schmerzenskind seiner Mutter , die meine einzige Gespielin gewesen war ; er erinnerte mich nur noch an den Mann , der durch meine Mitschuld um das Glück betrogen wurde , das Pfand einer reinen Liebe an sein Herz zu drücken .
Ungerecht , wie ich war -- auch gegen mich selbst -- grollte ich des Knaben stürmischer , schwer zu zähmender Natur ; er wurde mir zum Wildling Muhme Justines ; zu dem verlorenen Kinde der Sünde und vergeblich suchte der alte Freund aufzuklären und zu entschuldigen .
" Er lügt niemals und er ist beherzt vor allen Anderen , " sagte der Freund ; ich aber sagte :
" Er ist eine Range vor allen Anderen , " und wenn August Müller zwanzig Jahre später erzählt hat , daß das Bild Fräulein Hardines sich ihm durch eine drastische Manipulation eingeprägt habe , so erinnere ich mich dieser Tatsache wahrscheinlich nur darum nicht , weil mir nicht einmal , sondern hundertmal zu solchem Korrektiv die Hände zuckten .
Alles war mir verleidet ; alles vergällt , zumeist der Aufenthalt im Elternhause .
Denn das Haus war die Stätte des Verrats , der mich mein Selbstgefühl gekostet hatte und vor den ehrlichen Augen der Eltern , die nur durch meine Schuld Mitschuldige an demselben geworden waren , konnte ich nicht bestehen .
Ich langweilte mich in dem ohne mich ausgefüllten häuslichen Getriebe und der gesellschaftlichen Plattheit hatte ich mich in dem freien , ländlichen Wesen meiner Reckenburg bis zum Widerwillen entwöhnt .
Denn die Natur , auch in ihrer einfachsten Form , spricht immer neu und geistvoll zu Einem , der nicht bloß eine beschauliche , sondern eine wirkende Stellung in ihrem Bereiche eingenommen hat .
Der Besuch in der Heimat verkürzte sich daher von Jahr zu Jahr ; in den letzten bis auf wenige Tage .
Meine Gegenwart in Reckenburg wurde immer unentbehrlicher ; freilich auch immer undankbarer und gebundener .
Alles stockte , Allem drohte der Verfall unter der wahnsinnigen Goldsucht der Greisin .
Die bewährten Diener und Gehilfen versagten ihren Dienst ; ich mußte kämpfen um jeden Taler , den ich aus den Erträgen den gierigen Händen vorenthielt , ja ich mußte zur Täuschung , zum offenbaren Betrug meine Zuflucht nehmen : heimlich Korn verkaufen , um die Arbeiter zu bezahlen , daß die Äcker nicht brach liegen blieben ; heimlich Holz fällen lassen , um die Forstwärter zu besolden , daß das überhand nehmende Wild nicht Saaten und Schonungen vernichte .
Wenn ich diese dämonische Selbstzerstörung , die Entartung der trefflichsten Anlagen vor Augen sah , oder die von Geschlecht zu Geschlecht wachsende Verwilderung der Gemeinde , welche seit jenem Brande selber des schützenden Daches über dem Gotteshause entbehrte , wenn ich ihre Reden erhaschte von dem Beelze bub , dem das Gespenst im Goldturm seine Seele verschrieben habe , Reden , vor deren Logik die Gegenrede verhallte wie leerer Wind , da fragte ich mich oftmals mit höhnendem Grimm , warum nicht in jedem Tollhaus eine Station für Geiznarren errichtet sei ? und noch öfter kämpfte ich mit der Versuchung , eine gerichtliche Kuratel für meine unzurechnungsfähige Verwandten zu beantragen .
Aber ich kämpfte sie nieder .
Die Frau , die so kraftvoll gelebt hatte , um so kümmerlich zu versiechen , stand in ihrem zehnten Jahrzehnt und nicht auf das Zeugnis hin der Letzten , die ihren Namen trug , sollte sie in den Registern ihres Landes als eine Törin verzeichnet stehen .
Noch war ich stark genug gegen die Verwüstung Stand zu halten , bis ein zögernder Naturlauf die Verwalterin zur Herrin ihres heimatlichen Grundes machen , oder sie für immer von demselben vertreiben mußte .
Jahr um Jahr schlich dahin in diesem Zustande äußerlicher und innerlicher Latenz , wie der Arzt ein lähmendes , lastendes Siechtum nennt und der Krise harrt , die seinen Patienten , sei es im Tode , sei es zu einem verjüngten Leben befreit .
Und dieses heimlich lauernde Elend verspürte das einsame Mädchen in dem Waldwinkel von Reckenburg , mehr noch als an sich selber , an dem gesamten Wesen seiner vaterländischen Zeit .
Mit dem geschärften Sinn eines unbeschäftigten Gemüts sah es , über die eigene Leere hinaus , die schwankenden Bewegungen von Schwäche zu Schuld , sah die Kraft seines Volkes , hier überschraubt , dort versumpfend , einer Katastrophe entgegenschleichen , die es zerreiben , oder aufrütteln mußte zu einer erneuernden Tat .
Ich weiß , was Ihr sagen wollt , meine Freunde , oder mindestens was Ihr sagen dürftet :
Sei es um das lauernde Siechtum der deutschen Welt , wenngleich du auch darin vielleicht die nachträgliche Erfahrung , oder etwa den Kontrast deines rohen Reckenburger Völkchens mit dem zarten Literaturfreunde im Kloster als Zeichen der Zeit deinem Spürsinne zu Gute geschrieben hast .
Nun sei es darum .
Was aber das Pathos deiner persönlichen Latenz betrifft , Fräulein Ehrenhardine , das war wohl nichts anderes als der unbehagliche Zustand jedweden Jungferchen , das allmählich aus den Zwanzigern in die Dreißig hinüberschreitet .
Warum heiratetest du nicht ?
Du warst nicht schön und lieblich , wie wir dir glauben wollen ; aber du warst tüchtig und respektabel und was mehr bedeutet , du warst voraussichtlich die Erbin des " grünen Röcklein " deiner Reckenburger Flur .
So ein Röcklein aber ist kleidsam auch ohne Venusgürtel .
Fehlte es dir an Freiern , oder spieltest du die Amazone ?
Keines von Beiden , meine jungen Querulanten .
Fräulein Ehrenhardine war sattsam ernüchtert , um auch sonder Sehnsucht und Neigung , eine verständige , anständige Heirat für ein besseres Korrektiv ihres Siechtums zu halten als selber den Heimfall ihrer Reckenburg .
Was aber die Schar ihrer Freiwerber anbelangt , oho !
eine väterliche Schwadron hätte sie mit ihren Kavalieren füllen können .
Alt und jung , bekannt und unbekannt , von fern und nah meldeten sie sich , durchdrungen von den Reizen und Tugenden der letzten Reckenburgerin .
Sobald diese Letzte aber , wahrheitsgemäß , die Reize und Tugenden als das einzige verbriefte Kunkellehn der Reckenburgs in Erwägung stellte , da sah sie jenen Zustand der Latenz sich plötzlich auch über die flott avancierte Ritterschaft verbreiten .
Männiglich dämpfte sich die Leidenschaft zu einem rhythmischen Tempo gleich dem der Menuett in der choreographischen Schule Eberhards von Reckenburg : Kavaliers à droite , à gauche , en arrière ! nicht einen ganzen Pas , kaum einen halben und jederzeit mit tiefer Reverenz und graziösem Portebras , -- doch so langatmig wie das Leben in dem Goldturm der Reckenburg .
Als aber , -- um vor der Hand mit dem matrimonialen Kapitel abzuschließen , -- als aber jenes langatmige Leben endlich dennoch ausatmete , und die Reize und Tugenden der letzten Reckenburgerin in dem grünen Röcklein ihrer Heimat strahlten , da wußte sie Besseres zu tun , als die Blöße eines harrenden Ritters unter seinen Falten zu verbergen .
En arrière cavaliers ! hieß es nun ihrerseits ; en arrière au galop !
Und das Herz hat ihr nicht geklopft bei dieser Freierscheuche .
Denn zu ihrem Glück oder Unglück , hatte sie früh nach großen Maßen messen gelernt , und ein verführerischer Antinous , ein Charakter wie Monsieur Per--se zählten nicht zu ihrer späteren Klientel .
Die Herbstereignisse von 1806 trieben mich eilend und voraussichtlich für längere Zeit in das Elternhaus zurück .
Der Kurfürst hatte sich in letzter Stunde für den Krieg entschieden und mein alter Vater mußte zum zweiten Male unter preußischem Banner zu Felde ziehen .
Die Mutter , deren Gesundheit sich seit jenen Trennungsjahren nicht wieder erholt hatte , brach bei diesem zweiten Abschied ohne Widerstand zusammen .
8 * Heute ahnte sie den Todesstreich , den sie damals nur gefürchtet hatte und als der ehrliche Purzel seinen alten Trostspruch wiederholte :
" Gnädige Frau , es passiert ihm nichts , und wenn ihm was passiert , da komme ich gleich und melde Post , " da versuchte sie kein Lächeln , und ihr starres Auge sagte : " ich weiß , daß du kommst . "
Ich teilte diese apprehensive Stimmung nicht .
Die Kampagnen Napoleons waren nicht von der Dauer der Rheinfeldzüge ; die gegenwärtige spielte sich voraussichtlich in unserer Nähe ab , und warum sollte man von vornherein an Gottes Schutz verzweifeln , wenn man denselben schon einmal mit so viel Dank empfunden hatte ?
Ich hoffte den teuren Mann wiederzusehen , bald wiederzusehen .
Desto unbezwinglicher war mein düsteres Vorgefühl des allgemeinen Loses .
Wie einsame Hirten oder Jäger Wolken- und Sternenlauf verstehen lernen , so hatte in meiner geistigen Vereinzelung ich mich gewöhnt , die Blicke aufmerksam auf den umzogenen Horizont unseres Zeitwesens zu richten , und es waren drohende Wetter , die ich aufsteigen sah .
Nun kam ich heim .
Unser Städtchen glich einem preußischen Feldlager .
Der größte Teil der Armee , von der ich Bruchstücke schon während der vorjährigen Mobilmachung hatte kennen lernen , zog durch unsere Straßen , dem unfernen Hauptquartier entgegen .
Mit natürlichem Scharfblick für alles Praktische und als Soldatenkind mit manchen militärischen Bedürfnisfragen vertraut , mußten mir während dieser Eindrücke Bedenken aufsteigen , welche die Folgezeit nur all zu deutlich gerechtfertigt hat .
Mehr aber als diese aktuellen Anschauungen war es eine nachschleichende Erinnerung , welche sich unheilweissagend zwischen den bunten Wechsel drängte .
Ich sah und hörte die cavalière Laune unter den Epigonen aus Friedrichs Heldenschule , die einzige Stimmung , welche öffentlich zur Schau getragen wurde und welche die weniger heißblütigen sächsischen Bundesgenossen häufig genug verletzte ; -- nun man konnte sie belächeln .
Ich wechselte , in flüchtigem Begegnen , ein Wort mit dem heldenmütigen Prinzen , der mich , wenn auch mit genialischerem Gepräge , so lebhaft an den Betrauerten von Valmy erinnerte ; ich verneigte mich vor der Huldgestalt der Königin und las die stolze , siegerische Zuversicht in dem schönsten Frauenauge : -- nun jenes Wort und dieser Blick hätten das Vertrauen beleben dürfen .
Aber ich sah auch an der Spitze der Armee wieder den halbschlüssigen Feldherrn von Zweiundneunzig , wo Friedrichs Ruhmesfahne sich zu senken begann ; heute ein Greis , von Greisen umgeben und gegenüber nicht einer Rotte von Sansculotten , sondern einer siegestrunkenen Armee unter einem Kaiser Napoleon .
Und jener Autorität der Erinnerung sah ich wieder einen König von Preußen freiwillig unterstellt , einen nüchternen , schüchternen Herrn , in dessen ernsten Augen , -- von Allen allein , -- ein Spüren der Katastrophe zu lesen war ; ein Ahnen aller Leiden der Zeit , die er zu spät verstehen lernte .
Die Armee hatte sich seit fast zwei Wochen westwärts den Fluß entlang gezogen .
In der Stadt war keine Besatzung zurückgeblieben , eine bängliche Stille dem lauten Treiben gefolgt : die Stille vor dem Sturm .
Von Stunde zu Stunde erwartete man die Nachricht eines Zusammenstoßes , Niemand aber ahnte , wo der gefürchtete Sieger von Austerlitz , der nach der letzten Kunde , Anfang Oktober , in Würzburg angekommen war , diesen Zusammenstoß suchen , oder ihm begegnen werde .
Auch die Armee ahnte es nicht , wie uns ein erster Brief des Vaters angedeutet hatte .
Die letzte Nachricht über ihn brachte uns der Propst , dessen Sohn in seinem thüringischen Pfarrhause den Freund seines Vaters gastlich beherbergt und ihn wohlbehalten und wohlgemut gefunden hatte .
Der Hauptteil der Sachsen stand bei dem Hohenlohischen östlichen Flügelkorps ; unser Husarenregiment an der oberen Saale bei den Vorposten , welche Prinz Louis Ferdinand führte .
Noch war Jedermann im Dunkel , ob das Korps dem Feinde entgegen auf das rechte Flußufer rücken , oder ob es sich näher an die Hauptarmee bei Erfurt ziehen werde .
Dieser Brief , datiert vom achten Oktober , erreichte uns erst am Nachmittage des elften .
Die Mutter hörte den beruhigenden Inhalt ohne Glauben und fast ohne Anteil .
Sie saß in sich versunken in einem zehrenden Fieber .
Mich durchzuckte ein Ahnen , daß auch ohne vernichtenden Schlag sie diese Prüfungszeit nicht überdauern werde .
Am anderen Morgen durchliefen beunruhigende Gerüchte die Stadt ; Gerüchte , wie sie in solchen Tagen in der Luft zu schwirren scheinen :
Keiner sucht und erfährt ihren Herd .
Ich las sie in den Mienen der Vorüberstürzenden , fing sie auf aus ihren halben Worten , wenn ich auf einen Augenblick die Mutter zu verlassen und auf die Straße zu treten wagte .
Rei sende wollten schon gestern französischen Truppenzügen begegnet sein , die sich auf dem rechten Ufer saalabwärts bewegten ; man sah die verbündete Stellung umgangen , sah in ihrem Rücken den Feind sich im Kurfürstentum festsetzen ; man glaubte sich keine Stunde mehr sicher , dachte ans Bergen seiner Habseligkeiten , an Verproviantierung , an Flucht .
Die Aufregung wuchs , als gegen Mittag die Sage von mehreren , für die Verbündeten unglücklichen Vorpostengefechten , die schon am neunten stattgefunden und die Kavallerie hart mitgenommen haben sollten , verlautete ; sie stieg zum Höchsten , als einige Stunden später -- wie ? durch wen ? ja , Gott weiß es ! die unheilvolle Kunde von Mund zu Mund lief .
Eine Schlacht -- so hieß es -- hatte stattgefunden , der Feind den Übergang gegen den preußischen Prinzen , und demnach auch gegen unser städtisches Regiment erzwungen .
Die Verluste wurden ungeheuer genannt , unter ihnen sogar der Name des heldenmütigen Prinzen .
In dieser Spannung des Lauerns und Horchens neigte sich der Tag .
Die Frankfurter Post traf ein , zwei Stafetten folgten sich rasch auf den Straßen nach Halle und Leipzig .
Immer dichter wurden die Gruppen vor dem Posthause uns gegenüber , immer angstvoller die Gebärden ; mir war , als ob alle Blicke nach unserem Hause gerichtet seien .
Ich ertrug es nicht länger .
Die Mutter saß unbewegt auf dem Schlafstuhle am Fenster ; sie blickte starr auf das Gedränge , aber sie fragte nach nichts .
Ich ließ sie unter Obhut der Magd .
Es dunkelte bereits .
Ich lief hinüber nach der Post ; es waren kaum hundert Schritte , in wenigen Minuten konnte ich zurück sein .
Und in wenigen Minuten war ich zurück , die Botschaft im Herzen , die , ich wußte es , dem einzigen geliebten Wesen , das mir auf Erden geblieben war , wie ein Todesurteil klingen mußte .
Der teure Mann war dahin ! gefallen an der Spitze seines Regiments während jenes letzten , unglücklichen Reitersturmes , der auch dem fürstlichen Führer zum Verhängnis werden sollte .
Wie starrte ich , wie grauste mich , als ich die Schwelle überschritt , die , so lange ich denken konnte , zu einer Stätte beglückten Friedens geführt hatte .
Es waren nur wenige Minuten -- und ich fand sie in eine Sterbekammer umgewandelt .
In ihrem Stuhle am Fenster , so wie ich sie verlassen hatte , lehnte die unglückliche Frau mit schlafen Gliedern und gebrochenem Blick , einer Leiche gleich .
Zu ihren Füßen lag händeringend die Magd , und vor ihr , noch atemlos keuchend , laut schluchzend , mit Blut und Kot bespritzt , den Arm in der Schlinge , stand der Schreckensbote , der mir zuvorgekommen war .
Der ehrliche Purzel hatte Wort gehalten .
Als von allen Seiten die Feinde immer dichter und dichter schwollen , als ringsum die Freunde zu wanken begannen , jetzt auch , nach einem letzten mutigen Angriff , die Schwadronen seines eigenen Regiments auseinanderstoben ; als er den Prinzen , der sie vorgeführt hatte , sein Pferd wenden , und im nämlichen Augenblicke auch seinen Herrn zu Boden stürzen sah :
da hatte er keinen Gedanken mehr , als ihn zu retten und da er ihn tot fand , rettungslos tot , ihn seitab in einem Busche zu bergen , dann aber Kehrt zu machen , der arme Wicht , von dannen zu jagen , als sein Pferd zusammenbricht , zu laufen , atemlos fast Tag und Nacht , bis er " sein Haus " erreicht , und seine Frau , der er Post versprochen hat , der erste Flüchtling , welcher die Kunde des ahnungsschweren Vorspiels von Saalfeld in die Heimat trug .
Das mörderische Wort war nicht über seine Lippen gekommen ; ein erster , einziger Blick auf die ein tretende Gestalt hatte das kranke , weissagende Herz gebrochen .
Ohne Zögern wurden die Mittel angewendet , die bei schlagartigen Lähmungen geboten sind ; sie fristeten das leibliche Leben auf unberechenbare Zeit , das der Seele war tot und blieb es .
Die unglückliche Frau hat keinen Laut mehr vernehmen lassen , und , ich hoffe es , keinen unserer Schmerzenslaute mehr vernommen .
Das ist der wühlendste Schmerz , welchen eine gleich große Sorge im Banne hält .
Die lange Nacht hindurch saß ich , und zählte mechanisch die matten Schläge des Pulses , der jeden Augenblick erlöschen konnte .
Mit grauendem Tage drängten sich Teilnehmende und Neugierige herbei ; ich sah und hörte sie kaum .
Ich saß starr und stumm .
Aus diesem betäubten Zustande sollte ich erlöst werden durch eine Freundestat , die wie keine andere , vorher und späterhin , mein Herz gerührt hat .
Was es heißt , Treue zu ernten , wo die Väter Liebe gesät , ich hätte es in diesen Tagen lernen können .
Und doch habe ich zwanzig Jahre nach ihnen hingelebt , ohne ein gleiches Samenkorn auszustreuen .
Freilich hatte ich keinen Erben , dem es Frucht getragen haben würde .
Es war um die Mittagsstunde , als ich einen Wagen in unsere Torfahrt lenken hörte , -- hörte , ohne es zu beachten .
Ein Wink des alten Soldaten rief mich von dem Bette der Mutter ; er zitterte und weinte wie ein Kind , und der , vor welchen er mich führte , zitterte und weinte wie er .
" Fräulein Hardine , " stammelte Christlieb Taube , " ich bringe Ihnen was von dem gütigsten Menschen , der auf Erden gelebt hat , zu retten war . "
Seinen Leichnam .
Er hatte ihn in dem bergenden Gebüsche entdeckt , als er mit seinem Prediger , des Propstes Sohn , das nahe Kampffeld nach Verwundeten durchsuchte ; hatte ihn darauf im eilig aus rohen Brettern gezimmerten Sarge zwischen die letzten Eichenblätter des Jahres gebettet , im Gotteshause priesterlich einsegnen lassen , und ganz allein im leichten Korbwägelchen , Tag und Nacht fast ohne Aufenthalt , ihn als letzten Trost den Menschen zugeführt , die er seine Wohltäter nannte .
Und da lag er nun , der Mann mit dem braven Herzen , unverändert , wie ich ihn so oft im Leben hatte schlummern sehen ; das gute , kräftige Gesicht durch keinen Zug der Qual entstellt .
Noch hielt er den Säbel fest in der geballten Faust , und nur eine kleine durchbrannte Öffnung im Kollett bezeichnete die Stelle , wo die Kugel in das Herz gedrungen war .
So starb er einen raschen , rühmlichen Reitertod , im Bewußtsein eines gerechten Kampfes , vor den Tagen der Schmach , die jahrelang auf seinem Stande und Vaterlande lasten sollten , und deren endliche Sühne seinem Alter wohl kaum gegönnt gewesen wäre .
Mein teurer Vater , Gott hat es am besten gewußt , auch für Dich ! Niemals im Leben habe ich so geweint , so die Wohltat der Tränen empfunden , als vor diesem Todesbilde .
Als ich den Kopf von seinem Herzen erhob und die Hand des treuen Freundes drückte , der stillbetend am Fußende des Sarges auf seinen Knien lag , da fühlte ich den alten Mut und die gewohnten Kräfte wieder in mir aufgelebt .
Es war , als ob ein Sonnenstrahl sich durch bleiernen Winternebel kämpft ; nur eine Sekunde lang ; bald umfängt uns wieder der nächtliche Schatten .
Aber wir haben uns des unvergänglichen Lichtes dort oben erinnert .
Eine plötzliche Hoffnung durchzuckte mich .
Ob der Anblick des geliebten Mannes nicht den erlahmten Sinn der Mutter erwecken sollte ?
Der herbeigerufene Arzt zeigte kein Bedenken gegen den gewagten Versuch , aber auch keine Hoffnung auf sein Gelingen .
So wurde denn der Sarg in das Zimmer getragen und an Stelle des Sofas , wo der Geschiedene so oft der Ruhe gepflegt , niedergelassen .
Der Mantel bedeckte die steifen Glieder , nur der Kopf lag wie im friedlichen Schlummer .
Auf meinen Armen trug ich die Kranke wie ein hilfloses Kind aus der Kammer und gab ihr dem Sarge gegenüber einen Platz .
Mit welcher Spannung ich in ihren Zügen forschte !
Ach , die starren Blicke richteten sich wohl mechanisch auf des Toten Gesicht , aber kein Zucken verriet eine Freude oder einen Schmerz , nicht das leiseste Zeichen , daß sie ihn erkannte , daß sie ihn nur sah !
Das Herz war tot , vielleicht schon jenseits bei ihm ; nur das Blut wallte noch in der entseelten Maschine .
Wie lange Zeit , ob Stunden , ob Jahre ?
Der Arzt zuckte schweigend die Achseln , als mein trostloser Blick ihm diese Frage stellte .
Wir richteten die Kranke in meinem Dachzimmer ein , um die unteren Räume für den Toten frei und still zu halten .
Peinvolle Verabredungen wegen der Bestattung mußten getroffen werden .
Der alte Soldat hatte keinen Kameraden am Ort , der ihm das Ehrengeleit zu seiner Ruhestätte geben konnte , der letzte Reckenburg keinen Sohn , keinen Blutsverwandten , welcher die erste Handvoll Erde auf seinen Hügel rollen ließ .
Seine Tochter aber sollte ihm auf dem letzten Gange nicht fehlen .
Daß dieser Gang möglichst still und unbemerkt geschehe , wählte ich eine abendliche Stunde , und traf der gute Taube in diesem Sinne die erforderlichen Vorkehrungen .
Er selber grub bis in die Nacht hinein mit dem alten Diener das Grab , für welches sich ein Raum neben der Faber'schen Erbstätte gefunden hatte .
Die alten Hausgenossen sollten auch unter der Erde bei einander bleiben .
Erst nachdem dieser wehmütige Freundesdienst beendet war , machte sich der gute Taube auf den Weg , dem Freunde im Kloster die Trauerbotschaft zu bringen , bei ihm zu nächtigen , und dann am Morgen sein altes Schuldorf wiederzusehen .
Sobald er am Abend von der Begräbnisfeier zurückkehrte , sollte dann die Heimfahrt angetreten werden , Freund Purzel ihn begleiten .
Der arme Schelm war , nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte , halb und halb zu der reumütigen Erkenntnis seiner Fahnenflucht gelangt .
" Ich bin nicht ausgerissen , Fräulein Hardine , " sagte er schluchzend , " bloß versprengt .
" Und meine Wunde ist auch nicht zum Sterben , wie ich dachte , bloß ein Ritz .
Nur meinen Herrn Major zur Ruhe , dann suche ich das Regiment und lasse mich totschießen wie er . "
Taube hatte während der Herfahrt erkundet , daß die Vortruppen von Saalfeld sich nordwärts auf das Groß des Hohenlohe'schen Korps zurückgezogen und mit diesem Stellung bei Jena genommen hatten .
Dort war demnach das Regiment aufzufinden .
Mehrfältigen Aussagen nach hielten jedoch die Feinde bereits den Saalpaß bei Kösen besetzt , und so mußte man sich zu einem Umwege durch das Unstrutthal entschließen .
Welches unselige Verhängnis unserer Armee drohte , wenn jene feindliche Umgehung sich bewahrheitete , durch welche gröblichen Irrungen sie möglich geworden war , daran sollten wir nur zu bald jammervoll gemahnt werden ; in jenen ersten Stunden persönlichen Schmerzes fehlte uns der Vorausblick in die allgemeine Lage .
Christlieb Taube hatte den Weg zum Kloster angetreten , die Magd , nach der Unruhe der verwichenen Nacht , früh ihr Bett gesucht ; Purzel hielt Wacht , das heißt , der arme übermüdete Mensch schlief selbst wie ein Toter neben dem Sarge seines lieben Herrn .
Im Hause herrschte Leichenstille .
Ich saß allein am Bette der Mutter , ob Minuten oder Stunden lang , ich weiß es nicht .
Das Bewußtsein der Verwaisung war in dieser stillen Einsamkeit zum erstenmal deutlich in mir aufgetaucht .
Der Verwaisung !
Denn das Herz , das unempfindlich neben mir pulsierte , war ja nicht das einer Mutter mehr , und Keiner ermißt die Oedigkeit dieses Bewußtseins , als der , welchem , wie mir , mit dem zurückleitenden Faden das einzige Band des Gemüts zerreißt .
Ich war dreißig Jahre alt , ohne Geschwister , ohne Hoffnung auf ein kommendes Geschlecht , die Letzte meines Bluts und Namens , vor mir , neben mir , hinter mir Alles leer , -- -- ja , in Wahrheit , ich war eine Waise .
Und dann , ich war arm ; wie auch die Zukunft sich gestalten mochte , im Augenblick bitterlich arm .
Für meine eigene Person würde ich darin kaum ein Lebenshemmnis gefunden haben .
Ich hatte meinen Posten auf Reckenburg , und mußte ich eines Tages von ihm weichen , " so gehe ich als Kolonistin in einen Hinterwald Amerikas , " hatte ich mehr als einmal lachend dem Propst geantwortet , wenn er in mich drang , die Gräfin an die Pflichten gegen mich zu er inneren .
In meiner gegenwärtigen Stimmung würde ich leicht aus dem Scherze Ernst gemacht , jedenfalls in einer größeren ländlichen Verwaltung meinen Platz gefunden haben .
Im Hinblick auf die Mutter , die ich in ihrer langsamen Agonie nicht verlassen konnte , wurde die Armut zu einer drückenden Sorge .
Die Veränderung meiner Lage war indessen zu neu und erschütternd , als daß ich sie mit klaren Gedanken hätte durchdringen mögen .
Nur wühlend und brütend schlichen die Vorstellungen an meiner Seele vorbei .
Die Lampe glimmte dunkel umschirmt ; das Krankenzimmer mußte kühl erhalten werden ; mich fröstelte , wie es auch den Kräftigsten nach großen Aufregungen in einem Sterbehause fröstelt .
Seit zwei Tagen hatte ich keinen Augenblick geruht , und so überfiel mich jener bleierne Druck , welcher zwischen Schlaf und Wachen die Mitte hält , und in welchem wir uns vergeblich zu besinnen suchen , ob die wechselnden Erscheinungen wirklich vor offenen Augen , oder ob sie im Traum an uns vorüberziehen .
In diesem Zustande war es mir plötzlich , als spüre ich das Streifen eines lebenden Wesens ; ich sah eine verhüllte Gestalt sich über das Krankenbett endlich zwischen ihr und mir zu Boden gleiten .
Dieses Geräusch , diese Berührung scheuchten den Alp .
Es war kein Traum : die rätselhafte Erscheinung lag zu meinen Füßen .
Ich sprang auf , ergriff die Lampe und leuchtete in ihr Gesicht , -- Dorothee !
Dorothee im Krampfe erstarrt , eiseskalt , stieren , glasigen Auges , die Zähne knirschend zusammengepreßt , die Hände in der Gegend des Herzens in das Kleid gekrallt , -- das nämliche Schreckensbild , das die Mutter am Hochzeitstage verlassen hatte .
Alle Nebel des Geistes waren bei dem erschütternden Anblick geschwunden , das eigene Schicksal fast vergessen .
Ich trug sie nach dem Sofa , öffnete das Fenster , flößte ihr von den belebenden Tropfen ein , welche für die Mutter bereit standen .
Sie schien das Bewußtsein nicht verloren zu haben , und es währte nur wenige Minuten , bis die steifen Muskeln sich zu strecken , die Glieder sich zu erwärmen begannen .
Der Puls wurde fühlbar , nur aus den Augen wich erst langsam der starre Ausdruck der Qual .
Sie war noch immer schön ; dieselbe biegsame , jugendliche Gestalt , dieselbe Durchsichtigkeit der Haut in dem gerundeten Kinderangesicht .
Die geschonten Hände , Haartracht und Kleidung , alles was ich sah , zeugten 9 * von Eleganz und Behagen ; alles , was ich kürzlich während der preußischen Besatzung über ihre gesellschaftliche Stellung gehört hatte , sprach von Sicherheit und Ehren : Sie war ein geliebtes , ein glückliches Weib , und wie verlassen , wie elend hatte ich vor wenigen Minuten vor mir selber gestanden .
Und dennoch , -- denn wer beschriebe jenen heimlichen Zug von Zwang , der gleich einem eisernen Stirnband die Unglücklichsten unter uns kennzeichnet ? oder gäbe es einen wehetuenderen Ausdruck , als den der Angst in einem Kinderauge ? -- und dennoch tönte eine Stimme aus meinem Innersten heraus : dieses schöne , gesegnete Weib ist elender , gottverlassener als Du !
Und als hätte diese Stimme ein Echo erweckt , so flüsterten jetzt die bleichen Lippen :
" Hardine , ich bin elender als Du ! "
Der Krampf war gelöst ; sie atmete und bewegte sich frei ; aber sie sprang nicht in die Höhe , wie sonst ; sie errötete nicht , senkte und hob nicht die Lider , schmiegte sich nicht an meine Knie , an meinen Arm , reichte mir nicht einmal die Hand .
Sie ließ das müde Auge in dem meinen ruhen und erhob sich langsam , wie in gewohnter , peinvoller Zurückhaltung .
Eben so ruhig ließ sie sich darauf , meinem stummen Winke folgend , wieder nieder , und nachdem ich neben ihr Platz genommen hatte , erklärte sie , ohne meine Aufforderung abzuwarten , ihr überraschendes Erscheinen .
Sie tat es mit klaren , knappen Worten , wie man berichtet , nicht wie man erzählt .
Ihr Laut war reiner , der Ausdruck reifer geworden , aber der silberne Lerchenklang der Stimme drang wie durch einen Flor .
" Faber , " so sagte sie , " befand sich seit Wochen im Gefolge des Königs bei der Armee .
Ich konnte ohne Entdeckung , und wenn entdeckt , ohne Aufsehen , eine Reise in die Heimat wagen , wegen der Zukunft des Knaben Verabredungen treffen , vielleicht ihn sehen .
Von der letzten Station ab ging ich zu Fuße nach der Anstalt .
Es war Abend geworden .
Der Propst verweigerte es , mich heute noch , kurz vor Schlafengehen , einen Blick auf den Knaben wer fen zu lassen .
Es werde auffallen ; Ahnungen , Erinnert ungen , Entdeckungen wecken .
Der Knabe dürfe nicht an eine Mutter denken , die ihm weder einen Va ter nennen , noch ihn in ein Elternhaus führen könne .
" Ich mußte mich seinem Willen füge n , " fuhr sie nach einer Pause mit fast eisiger Star rheit fort .
" Niemals hätte ich das Herz , mich vor meinem Gatten als seine Mutter zu bekennen . "
" Und was fürchten Sie , wenn Sie es täten ? " fragte ich .
Sie stutzte , nein , ich glaube sie seufzte leise bei dem " Sie " , das ich unwillkürlich gebrauchte .
Doch schien sie rasch über unser verändertes Verhältnis klar geworden und antwortete mit dem Ausdruck reinster Wahrheit :
" Nichts für mich .
Wenn er mich verstieße , ich würde ihm meine Bettlerfreiheit danken ; wenn er mich tötete , ich würde ihn für die Erlösung segnen .
Sie ahnen es nicht , Fräulein von Reckenburg , was es heißt , die Natur verleugnet zu haben .
Aber was ich fürchte , fragen Sie ?
Ich kann es deutlich nicht sagen .
Ein unbestimmtes , vielleicht falsches Vorgefühl des Hasses , -- der Rache , -- da er den Vater nicht mehr erreichen kann , gegen den unschuldigen Knaben , der Feindseligkeit auch gegen -- gegen -- -- "
" Gegen die Schuldgenossen " ergänzte ich .
Sie neigte den Kopf .
" Er ist ein gerechter , ein argloser Mann , und gütig , o viel zu gütig gegen mich , " fuhr sie fort ; " aber denke ich daran , so blinkt es mir vor den Augen wie ein gezückter Dolch .
Er würde es niemals vergeben , und dem Schuldlosen vielleicht weniger als mir , die er sich zu lieben gewöhnt hat .
Alles das mag Selbsttäuschung sein ; auch die Scheu , das ätzende Gift in eine vertrauende Seele zu gießen .
Kann Eine sich selber kennen , deren ganzes Leben eine Lüge ist ?
So sage ich denn einfach :
Ich habe nicht den Mut , die Wahrheit zu bekennen .
Und dann :
ich habe nicht mehr die Kraft , es zu tun .
So oft ich reden will , überfällt mich der Krampf , dessen Zeugin Sie vorhin waren .
Wollte ich schreiben , die Hand würde mir erstarren .
Es ist keine Krankheit ; es wird mich nicht töten ; ich werde alt dabei werden , oder -- oder -- "
Sie deutete auf die Stirn mit einem Ausdruck , der mich schaudern machte .
" Haben Sie Kinder ? " fragte ich nach einer langen Stille .
Sie schüttelte den Kopf .
" Gott ist gerecht , " sagte sie nach einer langen Pause .
" Nein , er ist barmherzig .
Ich würde keinem Kinde eine Mutter sein können . "
" Und Ihr Gemahl ? "
" Vermißt sie nicht , oder zeigt mir nicht , daß er sie vermißt .
Er ist sehr , sehr schonend gegen mich -- und noch immer so besonders , " setzte sie hinzu , indem zum ersten Male etwas , das einem Lächeln glich , über ihre Züge lief .
" Du bist mein Kind , Dorothee , hat er mir mehr als einmal gesagt .
Kein Arzt wünscht einem geliebten Weibe das Martyrium und die Sorgen der Mutterschaft .
Er sieht der Qualen genug außer seinem Hause . "
" Und haben Sie seine Liebe erwidern lernen ? " fragte ich .
Sie sah mich einen Moment groß an , als ob sie über eine wahrhaftige Antwort nachdenke .
Dann sprach sie :
" Ich glaube , daß ich meine kindische Scheu überwunden und ihn lieb gewonnen haben würde , wäre ich sein eigen geworden , damals , als ich keine Ursache hatte , ihn zu fürchten .
Heute aber , wo ich sie habe -- lieben ? -- o nicht einmal wie einen Wohltäter , einen Bruder , einen Freund .
Im Sklavendienst der Sünde erstirbt das Gemüt . "
" Und auch diesen Mangel fühlt er nicht ? "
" Nicht daß ich es jemals gespürt hätte .
Meine kühle Zurückhaltung paßt zu dem Traumbilde , das er sich von mir geschaffen hat .
Ich glaube , daß meine ursprüngliche Natur ihm lästig geworden sein würde .
Entweder , Fräulein von Reckenburg , ist die Liebe ein Rätsel mit vielen Auslegungen , oder dieser Mann ahnt nicht , was lieben ist . "
Wir saßen nach diesen Worten eine Weile schweigend nebeneinander , dann fuhr sie in der Mitteilung fort , die meine Frage unterbrochen hatte .
" Der Propst beredete mich , die Nacht in der Stadt in meinem alten Zimmer zu verbringen .
Dort wollte er mir am Morgen den Knaben unter irgend einem Vorwande zuführen .
Er begleitete mich nur bis ans Stadttor , da ich in seiner Gesellschaft nicht gesehen und vielleicht erkannt werden sollte .
Weder er , noch ich ahnte ja das Schicksal , das dieses Haus betroffen hat .
Ich sah Licht im unteren Zimmer und fand die Haustür unverschlossen .
Ich hätte mich still hinaufschleichen mögen .
Aber konnte ich unbemerkt bleiben ?
So trat ich ein .
Der alte Soldat schlief im Stuhle neben dem verhüllten Lager und erwachte nicht .
Ich hob das Tuch und sah in das tote Antlitz des Mannes , den ich mehr als meinen eigenen Vater geliebt hatte .
Ich stieg die Treppe hinan und beugte mich noch einmal über Eine , die ich verehrt und die der Tod bereits erfaßte .
Nun wollte ich mich ungesehen aus dem Hause entfernen , Ihnen meinen Anblick ersparen , heute , immerdar .
Der Krampf überfiel mich .
Vergeben Sie mir , Fräulein von Reckenburg . "
Ich kann es nicht mit Worten aussprechen , wie dieser Ausdruck dumpfer Resignation mir durch die Seele schnitt .
Was mußte das bewegliche Kind gekämpft haben , um so seiner Impulse Herr zu werden , und was gelitten !
Ich zog ihren Kopf an mein Herz , drückte ihre Hand und sprach : " Der Tote hat Dich lieb gehabt wie sein eigenes Kind -- laß die bösen Erinnerungen zwischen uns gelöscht sein , Dorothee . "
Ein Hauch , so rosig wie in ihrer glücklichsten Zeit , flog über das bis dahin schattenbleiche Gesicht .
Sie beugte sich über meine Hände und warme Tränen rieselten auf sie herab .
Die Wanduhr schlug eben Mitternacht .
" O Fräulein Hardine ! " rief sie , " wenn das Ihr Ernst ist -- und Sie haben ja niemals ein Wort gegeben , das Sie nicht wahr gemacht -- o , so betätigen sie es auch heute , diese Nacht vielleicht zum letzten Male , daß wir im Leben bei einander sind .
Ruhen Sie und lassen Sie mich wachen bei dieser teuren Frau , noch einmal sie pflegen wie sonst .
Sie brauchen Kraft für den morgenden Tag , und ich , könnte ich in seiner Erwartung ruhen ?
Gönnen Sie mir die Wohltat dieses Vertrauens , Fräulein Hardine . "
" Ja , wache bei meiner Mutter , Dorothee , " antwortete ich ohne Besinnen , " ich will in Deinem Bette drüben schlafen . "
Wie auf ein Zauberwort war sie plötzlich wieder die alte Dorle , küßte meine Hand , fragte nach der ärztlichen Vorschrift , richtete geschäftig Alles für die Nachtpflege ein , zündete dann Licht an und leuchtete mir hinüber in ihre Mädchenstube .
Unter der Tür stockte ihr Fuß ; sie sah den Raum sauber in Ordnung gehalten , unverändert , wie sie ihn verlassen hatte .
Im Fenster breitete sich ein Strauch von Rosmarin , den die Mutter aus einem jener Hochzeitszweige aufgezogen hatte .
Sie brach in einen Tränenstrom aus und barg das Gesicht hinter ihren Händen .
" O daß ich niemals , niemals diese Schwelle überschritten hätte ! " schluchzte sie .
Bald aber war sie wieder ruhig und gefaßt , ordnete mein Bett , half mir beim Auskleiden , mischte mir ein Glas Zuckerwasser , alles mit ihrer leise schwebenden Art , küßte dann noch einmal meine Hand und ging hinüber zur Mutter .
Ich aber , als hätte das liebliche Geschöpf mir einen Beruhigungstrank eingeflößt , schlief ungestört bis zum grauenden Morgen .
Als ich das Krankenzimmer betrat , stand Dorothee am Fenster in einem weißen Morgenkleid aus ihrer Mädchenzeit , da sie durch die bunten Farben ihres Reiseanzuges nicht allzu grell gegen unsere Trauer abstechen wollte .
Der reiche Haarschleier war der Zeitmode zum Opfer gefallen ; die kurzen Löckchen ringelten sich natürlich um den feinen Kopf .
Sie stand hinter der Gardine und starrte mit flammenden Augen und eine Fieberglut auf den Wangen hinaus nach dem Knaben , den sie nicht mehr ihren Knaben zu nennen wagte .
Wie sie aber auch starren mochte , der dichte Morgennebel -- der Nebel des vierzehnten Oktober ! -- wehrte jede Umschau .
Sie sprach keinen Laut ; ein leises Zittern durchflog die Gestalt , über welche die Leidenschaft der Erwartung den lebensvollen Hauch erster Jugend ergossen hatte .
Endlich hörte sie Schritte auf der Treppe und ich folgte ihr bis unter die Tür .
Aber es war der Prediger allein , der die Schluchzende in seinen Armen aufgefangen hatte .
" Mein Pflegesohn folgt mir in Kurzem , " sagte er .
" Diese erste Stunde gehöre unseren trauernden Freunden , liebe Dorothee . "
Damit trat er in das Krankenzimmer ; auch einer jener stillgetreuen , Balsamspender für die verwundeten Herzen , auch ein lange entfremdeter , wiedergefundener Freund .
Er wurde uns allen ein Rather und Ordner an diesem unruhvollen Tage ; zumeist aber hatte Dorothee , die in ihrer Erregung häufig die vom Freunde gebotene Vorsicht vergaß , ihm ihr gelungenes Inkognito zu danken .
Christlieb Taube war bis zum Abend über Land , der alte Diener in Begräbnisangelegenheiten früh aus dem Hause entfernt , die Torfahrt für Besucher und Neugierige verschlossen worden .
Der Magd durfte vertraut werden , sie war als Auswärtige mit der Vergangenheit des Hauses unbekannt , und hatte in ihrer blöden Ehrlichkeit von der fremden Leidtragenden in dem Trauerhause kaum Notiz genommen .
Die Freunde hatten unserem Toten Lebewohl gesagt und mich allein an seinem Sarge in der Kammer zurückgelassen .
Ein Geräusch unter der Tür weckte mich aus meiner Versunkenheit ; es war der Prediger , der seinen Pflegling vor die Leiche führte , um dessen Aufmerksamkeit von der heftig erregten Mutter abzulenken .
Wenn er darüber hinaus etwa einen von dem Soldatenhandwerk abschreckenden Eindruck bezweckte , so hatte sein Plan , nach mancher weislichen Pläne Art , die entgegengesetzte Wirkung ; er hatte nur die Begierde , das Soldatenblut in dem Knaben geweckt .
August Müllers Jugenderinnerungen haben Euch , meine Freunde , ein anschauliches Bild der nachfolgenden Szene gegeben .
Laßt mich nur Eins hinzufügen .
Als der Knabe so frisch und fröhlich rief :
" Ich möchte auch für das Vaterland sterben ! " und jener markerschütternde Schrei sich dem Mutterherzen entrang , da fühlte ich meinen ungerechten Groll gegen den " Wildling " schwinden ; ich sah in ihm wieder den Sohn des Freundes , der die Betörungen der Jugend durch ein ritterliches Ende gesühnt hatte .
Und so sollten denn diese schweren Prüfungstage nach allen Seiten hin zu einem friedlichen Abschluß führen .
" Ich werde ihn niemals wiedersehen , niemals ! " mit diesem Aufschrei war die unglückliche Mutter zusammengebrochen , als die Tür sich hinter ihrem Kinde schloß .
Der gestrige Krampf hatte sie überfallen .
Wir trugen sie in ihr Zimmer hinauf und an dem Herzen , unter den Tränen des alten Freundes erwachte sie wieder zum Leben .
" Gott ist der Vater der Fremdlinge und Waisen , " flüsterte sie , das gläserne Auge auf ihn gerichtet , " und Du bist Gottes Priester auf Erden . "
Nach diesen Worten entfernte ich mich , die Beiden zu einer langen Unterredung über des Knaben Zukunft beieinander lassend .
Eine ansehnliche Summe für Lehrgeld und erste Einrichtung des künftigen Forsteleven ist seinem alten Beschützer bei dieser Gelegenheit eingehändigt worden .
Mit mir sprach Dorothee bis zum Abschied keine Silbe mehr ; sie hielt sich ausschließlich im Krankenzimmer und folgte demütig des Freundes Winken .
Das eiserne Band , von dem sie sich für etliche Stunden befreit , drückte schon wieder auf ihre Stirn .
Sie hatte sich von Neuem unter die Wucht ihres Verhängnisses gebeugt und hätte ich heute noch von ihr fordern dürfen : Zerbrich es , oder entfliehe ihm ?
Während dieser Vorgänge hatten sich die ersten dumpfen Gerüchte über die ungeheure Katastrophe dieses Tages in der Stadt verbreitet .
Bauern , welche von den entfernteren westlichen Dörfern zum städtischen Markte kamen , wollten seit dem Morgengrauen unausgesetztes Kanonenfeuer vernommen haben ; Leipziger Kaufleute , die von Frankfurt zurückkehrend , in Naumburg übernachtet hatten , sprachen mit Bestimmtheit von der gelungenen Umgehung Davoust's und einem blutigen Zusammenstoß mit der Hauptarmee , der man gestern auf dem Marsche von Weimar nach Eckartsberga begegnet war .
Man nannte sogar schon das Dorf Hassenhausen als den Punkt , wo der Kampf um den Saalpaß entbrannt war .
Wer von unseren Bürgern ein Fuhrwerk oder ein Pferd auftreiben konnte , wagte sich eine Strecke in abendlicher Richtung voran , um die Wahrheit dieser Angaben und ihre Folgen zu erkunden .
Wieder wogte es unruhig auf dem Markte durcheinander ; aber nicht ein Auge von den vielen blickte hoffnungsvoll , nicht eine Stimme redete beherzt .
Das tragische Vorspiel von Saalfeld hatte die düstersten Ahnungen verbreitet .
Keiner aber fühlte diese Vorahnungen drückender als die , welche in dem Hause der Trauer um das Opfer von Saalfeld den Tag des vierzehnten Oktober in schweigendem Brüten dahinschleichen sahen und wer möchte die wehevollen Stimmungen erschöpfend schildern , die binnen weniger Stunden sich unter dem einen Dache begegnet waren ?
Trauerspiel schob sich in Trauerspiel ; das persönliche in das allgemeine , das vergangene in das zukünftige .
Ein Jeder fühlte im besonderen einen Kummer , eine Sorge , eine Angst und Qual ; jeder Einzelne teilte die des Anderen und über Allen schwebte das Schicksal des Vaterlandes wie eine drohende Wolke .
So brach der Abend herein und das Grabgeleite setzte sich in Bewegung .
Obgleich ich es still , ohne fremde Zeugen gewünscht , hatte ich es nicht hindern können und wollen , daß die Bürgerschaft fast ohne Ausnahme , Fackeln tragend , den Zug eröffnete .
Ehrten sie doch den Tapferen , der für das Vaterland gefallen war , betrauerten sie doch einen alten , werten , langjährigen Heimatsgenossen .
Hinter dem Sarge ging nur ich mit dem Propst , gefolgt von Christlieb Taube und dem alten Diener .
Und so senkten wir den teuren Mann zur Ruhe , Alle in Tränen , Alle in düsterer Beklemmung in der verhängnisvollen Stunde , wo die gleichzeitig in zwei Schlachten vernichteten Armeen , keine der anderen Schicksal ahnend , in wilder Flucht aufeinanderstießen .
Die erste und noch unklare Kunde der Niederlage bei Hassenhausen , -- erst späterhin nannte man sie Auerstedt , -- traf uns , als wir von unserem Trauergange heimkehrten .
Christlieb Taube mit seinem " Versprengten " beschleunigte darauf hin seine Abreise in der schon gestern angenommenen Richtung über Freiburg .
Auch Dorothee wurde von dem Propst bestimmt , mit der Nachtpost die Rückreise anzutreten , denn wer hätte dafür bürgen mögen , daß nicht morgen schon ein wilder Troß von Freund und Feind die Gegend überflutete ?
So folgte dem ersten ewigen Abschied nun eine Trennung nach der anderen und keine wohl ohne das Vorgefühl des Nimmerwiedersehens .
Der ehemalige Lehrer und Bewerber ahnte nicht , daß er mit der Gattin Siegmund Fabers unter einem Dache geweilt hatte .
" Das treue Herz ist schwer zur Ruhe gekommen , beirren wir es nicht von Neuem " , hatte der gemeinsame alte Freund gemahnt und Dorothee sich verborgen gehalten , bis das Wägenchen von dannen rollte .
Ich aber sollte Zeuge sein , daß das treue Herz noch keineswegs zur Ruhe gekommen war .
Ich traf den guten Menschen , nachdem er uns Lebewohl gesagt hatte , seine Tränen trocknend , auf der Schwelle von Dorothees Mädchenstube .
" Die vergißt keiner , der ihr einmal angehangen hat " , sagte er mit gebrochener Stimme .
Ein elegisches kleines Zwischenspiel inmitten so vieler Schreckensbilder !
Dorothee hatte ihre Reisekleider angelegt und ich hielt ihre Hand zum letzten Lebewohl .
Es war für uns beide ein Tag des Schweigens , gewesen ; jetzt bedrückte etwas ihr Herz , für das sie sichtlich um den Ausdruck kämpfte .
" Darf ich reden ? " fragte sie endlich mit niedergeschlagenen Augen und als ich die Frage herzlich bejahte , sagte sie hastig :
" Sie werden eines Tages reich sein , sehr reich , Fräulein Hardine , -- bald vielleicht .
-- Aber für den Augenblick , -- bei der Verwirrung im Lande , -- wenn Sie vielleicht -- vielleicht -- -- "
Ich schüttelte ablehnend den Kopf .
" Sie sollen das Darlehn nicht von mir annehmen , Fräulein Hardine , Sie würden es nicht , ich weiß es .
Aber -- von Ihm .
Er erwirbt so viel und achtet es so wenig .
Er braucht so wenig .
Sie würden ihn glücklich machen , Fräulein Hardine . "
" Nein , Dorothee , -- rief ich übereilt , -- nein .
Von Dir dürfte ich ein Darlehn annehmen , eine Unterstützung , wenn ich ihrer bedürfte .
Von Ihm -- nimmermehr ! "
-- Ich sah sie erbleichen und bereute die böse Mahnung , die mir unwillkürlich entschlüpft war .
Ich zog sie an mein Herz , küßte sie zum ersten Male im Leben und wir trennten uns ohne weiteres Wort .
Wenige Minuten später hörte ich den Postwagen vorüberrollen .
Bei der allgemeinen Verwirrung hatte niemand in der verhüllten , schweigsamen Reisenden , die vielbeneidete einstige Mitbürgerin erkannt .
Ihr flüchtiger Heimatsbesuch ist ein Geheimnis geblieben .
Auch der Propst konnte in dieser drangvollen 10 * Zeit seine Anstalt nicht länger ohne Obhut lassen .
Nach den zwei unruhvollsten Tagen meines Lebens saß ich um Mitternacht wieder allein in dem totenstillen Krankenzimmer .
Wie nun in der nächsten Zeit das allgemeine Unheil , weit über alles Vorahnen hinaus , zu Tage trat , wie die überstolzen Sieger von der Stadt Besitz nahmen , die Landestruppen halb und halb als französische Verbündete zurückkehrten ; wie die gefangenen Preußen verhöhnt , des Notdürftigsten bar in Kirchen und Schuppen gepfercht lagen , das stattliche Schloß , in ein verpestendes Lazarett verwandelt , von Freunden und Feinden ausgeplündert wurde , wie aller Mut , alle Kraft , aller gute Wille daniederlag ; wie Alles sich staunend , geblendet , bewundernd um den unüberwindlichen Kaiser drängte , als er an dem , sieben Jahre später für ihn so verhängnisvollen achtzehnten Oktober durch unser Städtchen gen Leipzig jagte , wie ein Jeder nur noch Heil von der Gnade des Gottgesandten erwartete , -- von diesen Eindrücken des Grauens und Ekels laßt mich schweigen .
Sie haben die Erinnerung durchwühlt , Jahrelang nachdem das persönliche Herzeleid sich in Frieden gelöst hatte .
Zur Stunde freilich dämpften die persönlichen Nöte den Anteil an dem allgemeinen Geschick .
Jenes feindliche Gefolge , das so häufig einem großen Schmerze nachhinkt und nach Tyrannenart sich so hämisch an dem verachtenden Stolze rächt : die Sorge um das gemeine Dasein , die Unruhe um das tägliche Brot , schlummerlose Nächte an einem Siechbette , Scham über die erlahmende Kraft , demütigendes Hoffen auf fremde Hilfe , Zweifel und wie sie ferner noch heißen mögen die marksaugenden kleinen , -- großen Erdenherren , -- sie stiegen an meinem Horizonte auf .
Flüchtig allerdings , nicht zu einem erschöpfenden Ringkampfe der Kräfte , vielleicht nur darum , daß ich sie kennen lerne von Angesicht zu Angesicht , kennen und Anderer Notwehr würdigen lerne , sobald ich eines Tages stärker als Viele gegen sie gerüstet war .
Ich lernte sie kennen ; aber die Lehre habe ich bis nahe an das Greisenalter nicht beherzigt .
Das hilflose Hinsiechen meiner armen Mutter konnte sich Jahre lang fristen , unsere kleinen Ersparnisse reichten aber kaum auf Monate aus .
Der bescheidene Gnadengehalt der Witwe , wenn er in diesen Zeiten überhaupt gewährt werden konnte , würde unsere mäßigsten Bedürfnisse nicht gedeckt , Arbeit von meiner ungeübten Hand schwerlich einen Abnehmer gefunden haben .
Die Kranke hätte , nach des Arztes Ausspruch , ohne Gefahr nach Reckenburg übersiedelt werden dürfen ; aber nicht einmal einer Antwort würdigte uns die Gräfin auf meine Anzeige des erlittenen Verlustes , auf des Propstes wiederholte Darstellung unserer Lage .
Mit Recht hob dieser fürsorgliche Freund hervor , daß auch alle Aussichten für die Zukunft mir entschlüpfen würden , wenn ein Anderer den von mir verlassenen Verwaltungsposten einnehmen und sich geschickt auf demselben behaupten sollte , und wie viel bedeutender , wie viel mächtiger lockend als ich mir bis dahin eingestanden hatte , stellten diese Aussichten sich jetzt mir dar .
Alles in Allem :
ich sah keine Ausflucht aus meiner Bedrängnis und das Pförtchen , das sich mir endlich erschloß , das Pförtchen , welches heute von dem Immergrün der Treue bekränzt , leuchtender vor der Erinnerung steht als das Portal zu dem Goldturme der Reckenburg : damals war es eng und drückend für den stolz gewöhnten Sinn .
Das Asyl , welches die reiche Verwandten in ihrem leerstehenden Palaste verweigerte , die arme Dienerin eröffnete es in ihrer dürftigen Hütte .
Muhme Justine erbot sich , ihre einstige Herrin aufzunehmen und zu verpflegen , während die Tochter in das Amt zurücktrat , das ihrer Gegenwart so dringend bedurfte .
Die treue Seele drängte flehentlich zu schleunigem Aufbruch , sie schilderte ihren kleinen Notpfennig als eine unerschöpfliche Hilfsquelle .
Und ich zögerte nicht , die dargereichte Hand zu ergreifen .
In Eile wurde der Umzug eingeleitet .
Die Übersiedelung der Kranken sollte noch vor dem Christfeste stattfinden .
Gott aber hatte es gnädiger beschlossen .
Er ersparte mir die Scham , meine Mutter von fremder Hand gepflegt zu sehen und er gönnte ihr eine Ruhestatt an der Seite des Mannes , den sie so lange und so beglückend geliebt hatte .
Wenige Morgen vor dem zur Reise bestimmten fand ich sie sanft hinübergeschlummert , und so schloß mein heimatliches Leben mit einem zweiten Grabgeleit .
Aber es war nicht das letzte dieses großen Zerstörungsjahres .
Als ich früh am Weihnachtstage , auf Reckenburg eintraf , lag die Gräfin in hoffnungsloser Qual .
Sie zerriß sich Gewand und Haar , krallte sich mit Todesangst an den Leib der Wärterinnen , schrie um Hilfe , um Luft und Licht .
Ich öffnete die Fenster .
Ein klares Sonnengold strahlte von der weißen Winterdecke zurück , ein erfri Schänder Strom drang in das so lange verhüllte luftlose Gewölbe ; die Christglocken läuteten auf dem Turme , der unversehrt das geborstene Gotteshaus überragte .
Der Kampf der Greisin beschwichtigte sich , ihr Atem wurde ruhig und frei .
Hell und scharf wie allezeit richtete sie den Blick -- aber nicht auf die Geldtruhe neben ihrem Stuhl , sie richtete ihn auf mich , reckte die Hand nach mir zu einem kräftigen Druck und rief mit fast jugendlichem Klang :
" In Recht und Ehren ! "
Es war ihr Sterbewort und ich hatte seinen Sinn verstanden .
In der letzten Stunde des Jahres 1806 senkten wir die sagenhafte Greisin zur Ruhe und das Regiment der letzten Reckenburgerin begann .
Fünftes Kapitel .
Die neue Herrschaft .
Wandelt durch Reckenburg , wenn Ihr in der Chronik meiner nächsten zwanzig Jahre blättern wollt .
Jahre , in denen das , was hinter ihnen lag , unmerklich in nebelhafte Erinnerung verschwamm und mit deren Beginn ich mich gewöhnte , die Geschichte meines eigentlichen Lebens zu datieren .
Es war eine Zeit lediglich der Arbeit , aber einer Arbeit , die alle Bedingungen des Gelingens und darum der Befriedigung in sich trug .
Denn zu einem langgehegten , der natürlichen Neigung entsprungenen Plan gesellte sich ein beharrlicher Wille und das Gebot über die durchführenden Mittel .
Die Reichtümer meiner Erblasserin waren nicht unermeßlich , wie sie die Volksfabel sich ausgemalt hat ; sie hatten seit Jahren nahezu als totes Kapital ge legen .
Aber sie waren für einen bedeutenden Zweck mehr als ausreichend , wenn die Persönlichkeit in Betracht gezogen wird , die frei wie ein König mit ihnen schalten und walten durfte .
Das Eigentum an sich hatte wenig Reiz oder Wert für mich , denn wenn just auch Eicheltrank und Grützbrei meiner Vorgängerin mir weder genutzt noch geschmeckt haben würden , so war mir nach Anlage und Erziehung Einfachheit doch ein Bedürfnis , mehr als ein Gebot .
Meine Werkstatt war meine Flur , und der bisher innegehaltene Erkerbau , ein klein wenig wohnlicher eingerichtet und ausstaffiert mit dem altheimischen Gerät , bot hinlänglich Gelaß für die Stunden der Ruhe .
Ich hegte keine ästhetischen Liebhabereien , keine geselligen Bedürfnisse , welche das Zeitwesen mir ohnehin verleidet haben würde ; ich war ohne beanspruchenden Familienzusammenhang und frei von jener gemütlichen Liberalität , die , weil sie nicht " nein " zu sagen vermag , die reichsten Mittel der Kreuz und Quer zersplittert .
Summa Summarum : Natur und Schicksal hatten mir die Beschränkung leicht gemacht , welche jedes bildende Streben erheischt .
Was aber solchem Streben erst die Befugnis gibt :
Ort und Stunde , auch sie waren mindestens nicht ungünstig für das meine .
Inmitten welterschütternder Ereignisse blieben mir volle sechs Friedensjahre für einen gründlichen Unterbau .
Das Gut lag seitab der großen Heerstraßen und fehlte es auch nicht an Durchzügen , Lieferungen und Aushebungen , trug man seine Lasten auch mit saurem Gesicht , weil sie sich Freunde nannten , die man als Feinde haßte :
mein Bauplan würde unter dem so hart um den Rest seiner Selbständigkeit ringenden Nachbarstaate nicht gediehen sein wie unter dem ruhigen Vasallentum des unseren .
Ihr kennt diesen Plan :
Es galt die reiche Kultur eines herrschaftlichen Grundbesitzes über einen armen Gemeindeverband auszudehnen .
Wenn nun Kanäle und schützende Deiche , bequeme Fahrstraßen , entsumpfte Brüche und wohlregulierte Forsten sich auch über die dörfliche Flur verbreiteten , wenn zu allgemeinen Zwecken Bauholz gefällt , Ziegelöfen errichtet wurden , Lasten von Bruchsteinen stromauf- und abwärts landeten ; wenn Schul- und Gotteshaus aus dem Ruin erstanden und endlich an Stelle der wüssten , ekelerregenden Hüttentrümmer reinliche Dorfschaften sich ausbreiteten , die ich unter dem Gemeinnamen " Reckenburg " zusammenfasse :
so war Alles das , was scheinbar als Resultat gefällig in die Au gen springt , doch nur das Mittel zum Zweck und ein bequemes Mittel für eine freie , volle Hand .
Der Zweck meiner Aufgabe und ihre Schwierigkeit , die hießen : ein erneuertes Menschengeschlecht inmitten der erneuten Flur ; eine kräftige , arbeits- und ordnungstüchtige Bauernschaft in der Gemeinde von Reckenburg .
-- " Majestät Fritz in Pommerellen , " so nannte mich neckend mein guter Propst in seinen ermunternden Briefen ; und in der Tat war es solch ein hungerndes , lungerndes pommerell'sches Völkchen , über das ich das Regiment usurpierte .
Ja usurpierte ; denn nicht mehr die Erbuntertänigkeit , nur die Not und der anlockende Zauber des Eigentums machten sie zu meinen Sklaven .
Die fruchtbringenden Liegenschaften auch der freien Bauern waren in Zeiten der Drangsal an die Herrschaft verschleudert worden , kaum mehr als dürftige Fetzen Haide- und Bruchlandes in den Händen von Wilddieben , Schmugglern und fronpflichtigen , faulen Tagelöhnern zurückgeblieben .
Just aber auf diesem Grundstock des Übels beruhte meine Zuversicht der Heilung .
Denn in den üppigsten Landschaften entartet und auf dem kümmerlichsten Boden fördert sich die Kultur .
Der Acker , der lange Zeit Oel- und Zuckerfrüchte getragen hat , sinkt , ausgesogen , zu einem Haferfelde herab ; ein Forst , welchen vor einem Jahrhundert ein Windbruch verwüstete , steht , bei Fleiß und Geduld , nach wieder einem Jahrhundert in einen Nadelwald und endlich in einen Laubwald umgewandelt .
Und wie die Erde , so der Erdenherr .
Nicht auf dem Lotterbette , sei es des Elends oder der Wollust , aufrecht , im Schweiße seines Angesichtes bildet sich der Mensch .
Diese Fibelweisheit prägte ich in das Gemüt meiner Kolonie nicht mit dem verpuffenden Wort des Missionärs , sondern als Münzmeister mit dem handlichen Stempel , den ich in dem Goldturm der schwarzen Gräfin vorgefunden hatte .
Wer seine dürftige Scholle nach meinen Erfahrungen bearbeitete , seinen Viehstand genau nach denselben verpflegte , erhielt aus herrschaftlichen Beständen Werkzeug , Saatkorn und junge Zucht , erhielt sie wiederholt in Zeiten des Mißwachses oder der Seuche .
Niemals jedoch ohne die Bedingung allmählicher Rückerstattung nach Jahren des Gedeihens .
Wer seines Bodens am frühesten oder fleißigsten Herr geworden war , der erhielt von dem Gutsareal , das sich während der kriegerischen Unsicherheit ohne schwere Opfer noch immer erweitern ließ , zugelegt .
Niemals jedoch ohne die Bedingung einer mäßigen , aber regelmäßigen Rente , welche den Til gungsfonds in sich schloß .
Ungehemmte Arbeitskraft und unbeschränkte Arbeitszeit waren die einzigen Rechte , welche den bisher zu Fronden und Diensten Verpflichteten sonder Klausula überlassen wurden .
Bei diesen Erweiterungen war nun von Haus aus darauf Bedacht genommen worden , daß die Grundstücke eines Besitzers beieinander und seinem Gehöfte so nah als möglich lagen .
Das Dominium durfte behufs dieser Ausgleichung nicht geschont werden .
Ohne Streitigkeiten oder Sporteln vollzog sich dieser wesentlichste Wohlstandsprozeß für den kleinen Grundbesitz lediglich durch meinen Schiedsspruch und allerdings durch meine Opfer .
Wer aber nicht opfern will , soll nicht reformieren wollen .
Alles wurde auf Leistung und Gegenleistung gegründet ; nicht das geringfügigste Erzeugnis verschenkt , nicht die unwesentlichste Verpflichtung erlassen , nicht die herkömmlichste Eigentumsverletzung geduldet .
Selber für die Beeren , welche die Kinder in den Gutsforsten pflückten , für Reisholz und Stoppeln , welche die Mütterchen sammelten , mußte ein Tribut erlegt werden .
Freilich brachte die Schloßfrau , als Zwischenhändlerin ihn bei dem Ankauf zu höchsten Marktpreisen in Anschlag und trieb auf diese Weise ein bewußtes Spiel , indem sie mit der einen Hand gab , was sie mit der anderen gefordert hatte ; aber sie sparte den Leuten Zeit , zerstreute sie nicht durch Handel und Wandel , stärkte den Rechtssinn , der durch kleine Übertretungen am sichersten untergraben wird und ein Ehrgefühl , das mit dem Begriffe des Verdienstes anfängt und mit dem der Duldung endet .
In ähnlicher Weise wurde auch der Neubau der Dörfer nach einem voraus entworfenen Plane allmählich zu Stande gebracht .
Der bisherige Besitzer , der sein hinfälliges Gehöft an die mir gelegene Stelle verrückte , der neue Ansiedler , der es nach meinem Muster aufrichtete , ein Jeder , der sich verpflichtete , sein Anwesen nach einer strengen Polizeiordnung reinlich und zweckmäßig zu erhalten , sie empfingen den Bauplatz , das Material und eine Unterstützung der Arbeitskräfte während der Anlage unentgeltlich , später gegen Zins und ratenweise Abzahlung ; und zwar ohne , daß auch hier bis zur letztgültigen Regulation eine Feder oder ein Schuld- und Grundbuch in Bewegung gesetzt worden wären .
Der einfache Handschlag genügte und die Unerbittlichkeit , mit welcher ich bei jeder hinterhältigen Bauernlist die Aushilfe zurückzog , verbürgte mir die Treue meiner Kontrahenten , bis Ordnung und Redlichkeit zur eingewöhnten Sitte in Reckenburg geworden waren .
Daß in Bausch und Bogen der Schloßsäckel kaum ein schlechteres Geschäft gemacht haben würde , hätte ich von Haus aus gesagt :
" Hinz , hier schenke ich Dir eine Hufe , " oder :
" Kunz , da hast Du eine von meinen Wiesen , " daß die Freude des Empfängers und Gebers gegen die Unruhe des Schuldners und die Wachsamkeit des Gläubigers vertauscht wurden , das wurde nicht in Rechnung gezogen und durfte es nicht werden .
Nicht die Blume der Gemütlichkeit , den Baum des Rechtes und der Ehre galt es zu pflanzen in der Reckenburger Flur .
Zuletzt , doch nicht zum Letzten sei nun auch der Gehilfen gedacht , die mir bei dieser Pflanzung so wacker in die Hand gearbeitet haben .
Ich muß es als einen Glücksfall preisen , daß kurz nach Antritt meines Regiments der damalige Pfarrer , ein deutscher Biedermann und Familienvater , die bequeme Stelle eines städtischen Nachmittagspredigers dem rauhen Posten auf Reckenburg vorzog .
Ein Stündchen Kirchenruhe war den rührigen Stadtbürgern zu gönnen .
Der Mann kam auf den rechten Platz und ich fand für den meinen den rechten Mann .
Ohne die Gemeinde ihrer Verpflichtungen gänzlich zu entbinden , wurde die Stelle von Seiten des Dominiums auskömmlich verbessert , und Ludwig Nordheim , der Zweite , trat auf meine Einladung in dieselbe ein .
Seiner Anlage und meiner späteren Entwicklung gemäß , konnte der Sohn mir nicht ein Freund werden , wie der Vater es gewesen war ; aber der rüstige Mann war mir ein Amtsgenosse , mehr als jener es hätte werden können .
Hatte der Vater sich abgemüht , durch mildes Reden und Tun , das Himmelreich unter uns auszubreiten , so sparte der Sohn kein Donnerwort , um uns die Hölle heiß zu machen .
Jener scheiterte , dieser wirkte ; denn wir zählten zur Zeit mehr Höllen- als Himmelreichskandidaten in der Reckenburger Flur . --
Desgleichen fand sich für die Zucht unserer noch unflüggen Brut ein Meister , der neben dem Bakel auch Axt und Pflugschar instruktiv zu handhaben verstand .
Ich hatte anfangs mit Sehnsucht an meinen getreuen Christlieb Taube gedacht , sparte ihm aber schließlich die Opferung auf einem verlorenen Posten .
Er lebt noch heute zwischen seinen Bergen , pflegt seinen Rosenflor und spielt die Orgel zu Gottes Ehre !
Ohne eigenes Weib und Kind , ist er wie ein Vater geliebt von den Geschlechtern , die er herangebildet hat .
Der Ärmste und der Reichste unter denen , mit welchen ich jung gewesen bin .
Der Glücklichste !
Wiedergesehen habe ich ihn nicht .
Einen anderen Getreuen dahingegen , unseren Purzel , durfte ich noch Jahre lang unter meinen Augen hegen .
Seine Werbezeit war abgedient und ihn graute vor einem Heldentum unter dem Banner des Siegers von Jena , den er , zwar nicht als Patriot , aber als Diener seines geopferten Herrn , ingrimmig haßte .
Mit Behagen fügte er sich daher in die Rolle , die unter dem Anstandstitel " Heiduck " auf Reckenburg fortgeführt wurde , und hat seinen Zopf mit Ehren zu Grabe getragen .
Viele Jahre vor ihm schied die Treueste der Treuen .
Ihr Erdenziel war erreicht , als sie das Kind ihres Herzens auf dem Gipfel ihrer Träume angelangt sah und in dieser stolzen Region keinen kreuzenden Schellenunter mehr zu parieren hatte .
Der schwerste Verlust war der meines einzigen Freundes , des Propstes .
Wiedergesehen habe ich auch ihn nicht .
Sein Kränkeln und mein Schaffen bannten jeden auf seinem Platze .
Sein letzter Brief fiel in den Sommer 1809 und enthielt die Kunde von dem Verschwinden August Müllers aus dem Förster Hause .
Die Sorge um den väterlich geliebten Schützling mag den lange siechen Körper aufgerieben haben .
Ich teilte diese Sorge nicht .
Der soldatische Instinkt des Knaben würde auf die Dauer doch nicht zu bändigen gewesen sein ; und wessen bedurfte unsere Zeit so sehr , als dieses verwegenen Soldatentriebes ?
Hatte er in dem vorzeitigen Rachezug ein vorzeitiges Ende gefunden , -- nun wohlan ! der Boden , dem die Freiheit entsprießen soll , muß ja , so heißt es , mit Märtyrerblut gedüngt werden ; und wie hätte ich nicht eine genugtuende Fügung darin erkennen sollen , daß der Sohn meines Helden von Valmy unter dem Sohne des Feldherrn von Valmy voranstürmte , um die Schmach zu tilgen , die mit dem Tage von Valmy begann !
Als August Müller mir eines Tages plötzlich wieder gegenübertrat , hatte ich ihn viele , viele Jahre lang so gut wie vergessen .
Ob Dorothee von seinem Entweichen unter die schwarze Schar gewußt , oder ob sie dasselbe bloß geahnt hat , habe ich niemals ermittelt .
Seit ich ihr am Begräbnistage meines Vaters Lebewohl gesagt , gehörte auch sie mir zu den Begrabenen .
Es tat mir wohl , von ihr in Frieden geschieden zu sein ; aber wie einst im Unfrieden , so 11 * fühlte ich auch jetzt :
wir waren fertig miteinander .
Kaum daß dann und wann der immer weiter sich verbreitende Ruf ihres Gatten mich an die einzige Jugendgespielin erinnerte .
Bei wenig mehr als dreißig Jahren stand ich gemütlich so einsam wie wohl selten ein Weib .
Ein stark gewurzelter Baum inmitten einer Schonung von niederem Gehölz .
Während meines " fritzischen " Schaffens blieb ich nun aber eine teilnehmende Beobachterin des staatlichen Lebens , dessen Katastrophe mit meinem eigenen neuen Leben zusammengefallen war .
Niemals habe ich an seiner Wiederaufrichtung gezweifelt .
Denn ich erfuhr es in meiner Flur : das Wetter , der reife Ernten knickt , befruchtet eine Frühlingssaat .
In diesem Preußen aber rang ein unverbrauchtes , hart gepflanztes Menschenvolk .
Durch den Grafen , unseren Nachbar , damals auf jenseitigem Gebiet , trat ich auch in eine Art von Verbindung mit den Patrioten , welche in Preußen und Österreich heimlich ihre Fäden spannen , und warum soll ich es verschweigen , daß manche von den Mitteln , die mir ja ausreichend zu Gebote standen , den höchsten Zwecken zugeflossen sind ?
Als aber endlich der heiligste Kampf sich erhoben hatte , mit welchem Festesjubel wurden da zum erstenmal die Prunkgemächer der Reckenburg geöffnet zu einer Pflegestätte für die Verwundeten , deren Großtaten den mir erreichbaren Bezirk erfüllten .
Ja , ja , meine Freunde , die Helden Bülows und Yorks haben mit den altgräflichen Vorräten in Keller und Speicher reinen Tisch gemacht .
Und so rühme ich mich denn auch , als eine der Wenigen meiner heimatlichen Standesgenossen , von der ersten Stunde an mit offenem Visier auf die Seite des befreienden Vorvolks getreten zu sein , rühme mich , daß Niemand freudiger als ich sich einem Staate unterordnete , der sich beherzt zu Recht und Ehren wieder durchgekämpft hatte .
Denn wer so emsig wie ich an seiner Heimat baut , der trachtet danach , sie unter der Hut eines starken Vaterlandes zu bergen .
Nun aber galt es , mancherlei Verwüstungen auszuheilen , welche der Kriegstroß in meinem Bereiche zurückgelassen hatte .
Es galt nicht minder , mich selbst und die Meinen in die Strafe , mancherlei harte Leistungen heischende neue Ordnung einzugewöhnen .
Dann folgten die Hungerjahre von 1816 und 1817 , welche die Vorräte des Speichers und Säckels reichlich in Anspruch nahmen .
Endlich aber trat eine Pause ein , in welcher das Geschaffene nur eben erhalten , oder mäßig über seine Grenzen hinausgeführt zu werden brauchte .
Ein ruhiger Überblick war gestattet .
Da sah ich das Werk denn aufgerichtet , mit welchem mein Dasein gleichsam zu einem Wesen verwachsen war ; sah die fruchtbringende Flur und den Baum des Rechtes und der Ehre Wurzel schlagend in einem neuen Geschlecht .
Mit Zuversicht blickte ich auf den Keimstock der Gemeinde , die sich heute rühmt , seit fast einem Menschenalter keinen Prozeß geführt und keinen Frevel gebüßt zu haben , keinen Spieler und Trunkenbold , kein Mädchen zu kennen , das ohne Kranz zum Altare getreten wäre ; eine Gemeinde , die ihre Rekruten ohne Murren stellt , ihre Waisen ohne Beihilfe innerhalb der Familie zur Arbeit erzieht ; keiner Witwe , keinem Greise den Altenteil verkümmert .
Und ich sage Ja und Amen zu diesem Ruhm .
In der Tat , es war eine ehrsame und rechtschaffene , aber es war auch eine freude- und liebelose Kolonie .
Freude- und liebelos wie die , welche sie gegründet hatte .
Denn -- was ist da zu vertuschen ? -- das , was Ihr ein Herz nennt , meine Freunde , das war für nichts bei meiner Tat .
Ich hatte einen Stoff bearbeitet , wie jeder berufene Handwerker , -- oder sei es Künstler , -- den seinen ; ich hatte meine Kräfte an einer und für eine Gesamtheit entfaltet , -- ich würde sie , und das dünkt mich das Kennzeichen der Liebe , -- ich würde sie um keines Einzelnen Willen beschränkt haben .
Mein Puls schlug nicht höher noch matter bei dem Schicksale eines Einzigen von denen , die ich die Meinen nannte ; ich trug die Neugeborenen zum Taufstein , geleitete die Bräute zum Altar , die Toten zur Gruft ; aber ich empfand wenig mehr dabei , als wenn ich meine Bäume pflanzen und fällen , oder meine Äcker befruchten sah für einen neuen Trieb .
Indem ich eine Bauernschaft zu bilden strebte , hatte sich in mir der echte , rechte Bauernsinn ausgebildet , der den Menschen als ein Produkt der Scholle nimmt ; der Scholle , die ihn nährt , und die er wieder nährt .
Das Werkzeug klapperte und auch die Kirchenglocken läuteten , wie sich gebührt :
Sang und Klang aber schwiegen in der Reckenburger Flur .
Wir tanzten nicht unter dem Maibaum , wir jubelten nicht bei Hochzeit und Kindelbier .
Kein Weihnachtslicht mahnte uns an die frohe Botschaft der Gotteserscheinung in einem hilflosen Kinde .
Bursche und Dirne freiten nicht nach Neigung und Lust , sondern nach Vernunft und elterlichem Willen ; der Bettler schlug einen Bogen um Reckenburg , denn er sah keinen Brosamen von des Reichen Tische fallen , und " arbeite wie wir , so wirst Du Dich wohl befinden wie wir , ein Jeder Sorge für das Seine , " schallte es ihm von der ungastlichen Schwelle entgegen .
In der Tat :
wir waren eine sehr ehrsame , aber eine sehr lieblose Kolonie !
Die unbestimmte Empfindung von etwas Fehlendem in meinem Werk und Leben dämmerte mir zum erstenmal in jener Pause , wo ich mich des Gelingens hätte freuen sollen .
Ich spürte keine Abspannung , aber eine Art unruhiger Langeweile , und es kamen Stunden , wo ich mir sagte , daß wenn ich noch einmal zu leben anfangen sollte , ich nicht als Arbeitsbiene wieder anfangen möchte .
Ich hätte Zerstreuungen suchen können , Umgang , großstädtischen Wechsel , hätte reisen können , künstlerische Liebhabereien pflegen und Gott weiß was sonst noch Alles reiche Leute können .
Aber ich kannte mich hinlänglich , um zu wissen , daß das , was mir fehlte , nicht von Außen in mich getragen , daß es aus dem Inneren herauswachsen müsse .
Was es aber war , das in mir nach einer Vollendung rang , dafür fand ich die Lösung nicht .
Meiner Art gemäß tastete ich bei diesen Untersuchungen nicht nach dem Mond , sondern faßte die Sache , wo sie zunächst auch wesentlich lag .
Ich näherte mich den Fünfzigern , und hatte ich mich bei Zwanzigern auch nicht rüstiger gefühlt , ich wußte , die stärksten Fäden sind es , die am raschesten reißen , und wenn der meine einmal jählings riß , was wurde dann aus dem Gewande meiner Reckenburg , das mit meinem Leibe schier verwachsen war , oder was wollte ich , das aus ihm werde ?
Zwar sah ich manches stolze Segel gebläht , und manche Notflagge aufgehißt , um in den schützenden Hafen einzulaufen .
Aber wie in den Tagen meiner Freierhetze , verdroß es mich auch heute , einer nimmersatten Begierde , oder einem schamlosen Bedürfnis frönen zu sollen .
Ich verlangte freie Wahl und kein Zug der Vergangenheit , kein gegenwärtiges Interesse leitete mich auf eine Spur .
Auch Pläne anderer Art stiegen in mir auf .
Wie wäre_es mit der Gründung eines Asyls für invalide Krieger , oder deren Waisen , für das es , leider Gottes ! zur Zeit nicht an Anwärtern gebrach ?
Oder mit einem Fräuleinstift , für das es , leider Gottes ! keiner Zeit an Anwärterinnen gebrechen wird ?
Aber kennt Ihr einen alten Bauer , -- und ich war solch ein Stück alten Bauers , -- der seine Hufe nicht lieber dem Unbedürftigsten seines Gleichen , als dem bedürftigsten Gemeinwesen verschrieben hätte ?
Mir widerstand eine fiskalische oder kommunale Schablonenverwaltung meiner Flur ; ich mochte sie mir nur denken unter dem Gepräge einer Individualität , wie zuerst die Gräfin und später ich selber es ihr aufgedrückt hatten , ich forderte für den Wandel der Zeiten einen persönlichen Erben , und begann , als Matrone , zu beklagen , daß ich in der Jugend nicht den ersten besten Krautjunker geheiratet , und mir auf dem natürlichsten Wege die Qual der Wahl abgeschnitten hatte .
Was meine äußerliche Stellung anbelangt , so war ich seit dem Frieden nicht durchaus mehr die Einsiedlerin des neuen Turms .
Man wußte in dem materiell erschöpften Staate eine besitzende Hand , in der neuerworbenen Provinz eine aufrichtige Anhängerin zu schätzen ; man suchte meinen Rat bei ländlichen Einrichtungen , kurz und gut : von oben herab , wie von unten herauf erwies man mir allerlei Ehren , und so bildete sich unwillkürlich ein Verkehr , nicht wie er zwischen Mann und Weib , oder gar Weib und Weib , sondern wie er zwischen Mann und Mann Gang und gebe ist ; mich aber würde es gewundert haben , wenn es anders gewesen wäre .
Von Zeit zu Zeit fühlte ich mich nun auch veranlaßt , durch ein Gastgebot dem Ansehen meiner Reckenburg gerecht zu werden ; da gaben denn die gezopften Einrichtungen , -- Heiducken , goldene Kutsche samt Schimmelgespann und tutti quanti , -- gab ihre Harmonie mit der ererbten Ausstattung dem Rufe der Besitzerin ein starkes Relief .
Man zitierte die Reckenburgerin als Aristokratin reinsten Wassers , und man tat es mit Recht .
Je mehr und mehr empfand ich indessen diese obligatorischen Schaustellungen als einen Vorschub der heimlich eingenisteten Langeweile .
Das Herz war hier am wenigsten bei der Sache , und das Verlangen , dem Gebäude , das ich aufgeführt hatte , gleichsam einen Turm aufzusetzen , quälte mich niemals beunruhigender , als nach solcher Unterbrechung des einfachen Tageslaufs .
Hätte ich nur einig werden können über das Wo und Wie !
Wie beim Abschied von der Jugend in den Zeiten der Abhängigkeit , so schlich in denen der schran kenlosen Freiheit Jahr um Jahr vorüber , in welchem nur der Mechanismus eingelebter Ordnungen mich aufrecht hielt und ich war fünfzig geworden , als sich mir überraschend ein Ausblick öffnete , dem ich in jungen Tagen gewiß nicht den Rücken gekehrt haben würde .
Ich habe weiter oben flüchtig des Grafen , unseres Nachbars , erwähnt .
Ihr kennt und verehrt ihn , meine Freunde ; ich brauche daher nicht mehr über ihn zu sagen , als daß ein bedeutender geschäftlicher Verkehr sich zwischen uns erhalten hatte , und daß er schon damals das Vertrauen des Staates und der Stände genoß , wie kein Zweiter unserer provinziellen Ritterschaft , deren Ehrenämter und einflußreichste Stellungen denn auch auf seine Person übertragen wurden .
Und auf keinen mit größerem Recht .
Er war und ist ein Beamter von dem Schlage , der sich in den preußischen Annalen einen klassischen Namen erworben hat , ein Mann von so_unermüdlicher und uneigennütziger Tätigkeit für das Allgemeine , daß seine privaten Angelegenheiten , vor allen die Verwaltung seines bedeutenden Majorats , merklich den Kürzeren dabei zogen .
Ich schätzte den Mann nach seinem Verdienst ; auch die Gräfin gehörte zu den wenigen Weibern , deren Umgang mir nicht beschwerlich fiel .
Denn ich hatte auch darin einen männlichen Geschmack , daß nur die frauenhaftesten Eigenschaften der Frauen mir zu Herzen gingen .
Einer Amtsverwalterin wie Jungfer Ehrenhardine würde ich auf einer wüssten Insel , glaube ich , zehn Schritte fern geblieben sein ; das Kind Dorothee hatte selber als Sünderin den Reiz für mich nicht eingebüßt .
Die Gräfin aber war eine schmiegsame , zärtliche Seele , das Weib " in Gottes Namen , " wie es im Buche steht , und sicherlich würde ich die Sprößlinge dieses anziehenden Paares , drei noch unbärtige Junker , für das Erbe der Reckenburg in nächsten Betracht gezogen haben , hätte ich sie etwas weniger flott und übermütig heranwachsen sehen .
Wohl sagte ich mir entschuldigend , daß bei der zerstreuenden Tätigkeit des Vaters und der gelassenen Umfriedung der Mutter dem jungschäumenden Blute der Zügel gefehlt habe ; unter allen Umständen aber mußte die Zeit einer reiferen Entwicklung abgewartet werden .
Vor Jahr und Tag nun war der Graf Witwer geworden .
Er hatte die Frau sehr geliebt , sich sehr beglückt durch sie gefühlt , und nach ihrem Tode allen geselligen Verkehr , auch den mit mir abgebrochen .
Es schien , als ob er seine Trauer mit ins Grab nehmen wolle , und nichts hätte mich , abgesehen von meinem halben Jahrhundert , mehr überraschen können , als ihn eines Tages bei mir eintreten zu sehen und ohne Präliminarien einen Heiratsantrag von ihm zu vernehmen .
Der Mann war bei gesunden Sinnen und ernsthaft wie ein Cato , heute mehr denn je .
Mich verdroß diese dreiste Begehrlichkeit , wie sie mich von keinem Anderen verdrossen haben würde .
" Ich zähle fünfzig Jahre , Graf , " sagte ich trocken .
" Ich auch , " versetzte eben so trocken der Graf .
" Das heißt : als Mann ein Vierteljahrhundert weniger , " entgegnete ich , und er darauf :
" Unter den herkömmlichen Voraussetzungen einer Ehe allerdings . "
Seine merkwürdige Offenherzigkeit begann mich zu belustigen .
Ich lachte hell auf ; desto ernsthafter blieb mein Bewerber .
" Wollen Sie nur den Gatten , nicht auch den Vater in Anschlag bringen ? " fragte er .
" Ich habe Söhne -- -- "
" Die eher Frauen , als eine Mutter brauchen würden , " unterbrach ich ihn .
" Warum sagen Sie nicht einfach : adoptieren Sie meine Jungen , oder setzen sie zu Ihren Erben ein , Fräulein Hardine ? "
" Einfach , weil diese Einsetzung meinen Wünschen nicht dienen , oder nur zur Hälfte dienen würde , " antwortete der Graf gelassen .
" Ich bin gewiß der Erste , das Ansehen zu würdigen , das meinen Nachkommen aus dem Namen und Erbe der Reckenburg erwachsen würde ; aber näher als der Glanz der Zukunft liegt mir das Bedürfnis der Gegenwart .
Sie trauen mir den Takt zu , meine Gnädigste , daß ich diesem Bedürfnis nicht eine gefühlvolle Einkleidung geben werde .
Das Leben meines Herzens ist abgetan und die Eitelkeit , das des Ihrigen zu erwecken , liegt mir fern .
Aber Freunde könnten wir einander sein ; Rather und Helfer Sie mir , wie ich Ihnen ; ein offenbares Bedürfnis uns gegenseitig befriedigen .
" Sie , Fräulein von Reckenburg , stehen vor einem wohlgelungenen Werke , dessen mechanische Erhaltung Ihnen nicht genügt .
Sie sind keine beschauliche Natur , bedürfen von Stunde zu Stunde der selbsterrungenen Erfolge .
Sie sehen sich allein und suchen unter Fremden nach Einem , der einen ehrwürdigen Namen und eine bedeutende Bestimmung von Geschlecht zu Geschlecht tragen würde .
Nun eine neue organi satorische Wirksamkeit und einen Abschluß für die Zukunft , das ist es , was ich Ihnen zu bieten habe , indem ich Ihnen sage :
" Ziehen Sie sich selber aus reinem , kräftigem Stamm die Sprossen , die Sie dem absterbenden Baume der Reckenburg einimpfen wollen .
" Ich dahingegen -- nun , Sie kennen mich , Sie wissen , was ich im allgemeinen Gebiete leiste , und im eigensten versäume .
Das Leben auf meinen Gütern stagniert , und das meiner Söhne treibt wilde Schößlinge .
Ich sehe es mit der Unruhe des Vaters und Stammhalters , sehe es , -- und vermag es nicht zu ändern , nicht die weitertragenden Entwürfe , den Ehrgeiz , wenn Sie so wollen , zu beschränken .
Ich bin nicht der erste Mann , der sein Haus gegen seinen Beruf zurücksetzt ; jeder Staatsdiener größeren Stils tut es , muß es tun .
Lassen Sie mich hinzufügen , daß ich mich im Augenblicke dringender denn je in diesem Zwiespalt der Pflichten befangen sehe .
Das Oberpräsidium der Provinz , das mir angetragen worden ist , -- als Durchgangsposten zu einem höheren , ich weiß es -- würde mich dauernd aus dieser Gegend entfernen ; aufrichtiger :
es wird mich entfernen , denn ich kenne zum Voraus meine schließliche Entscheidung , und die Frage ist nur , ob ich mit leichtem oder schwerem Herzen scheiden soll . "
Er machte eine Pause .
Auch ich schwieg .
Dann fuhr er fort : " Legen wir unsere Hände ineinander , Verehrteste .
Es ist ein Vertrauen , wie es Ihnen nicht reiner geboten werden kann .
Sie fügen zu der unbeschränkten Verwaltung Ihres Besitztums die des meinigen nach freiem Ermessen .
Die Aufgabe ist nicht zu groß für Sie .
Sie werden , wie dem Vater die Statthalterin und Gehilfin , so den Söhnen die leitende Freundin , der sie so dringend bedürfen .
Wie keine Zweite sind Sie die Frau , welche Knaben den Vater zu ergänzen , und allenfalls zu ersetzen vermag .
Sie sind streng und wachsam , und Sie werden gerecht sein , weil Sie die Anlagen des Mannes nach den eigenen messen dürfen .
Mein ältester Sohn würde die Militärschule verlassen , und sich unter Ihrem erweckenden Einfluß zum Landwirt und Majoratserben ausbilden .
Sie würden für die jüngeren die Lebensstellung ausfindig machen , welche , bei beschränkteren äußeren Mitteln , ihren Anlagen entspricht , und wenn es dem Vater , mit beruhigtem Gewissen , gelingt , seine Bestrebungen für das Vaterland durchzuführen , so wird das Gute , das er wirkt und genießt , in dem Buche Ihrer Segnungen verzeichnet stehen . "
Nun , da sah ich ja einen Turmplan für mein Haus !
Da hatte ich ja einen Familienzusammenhang bei ungestörter Freiheit für mich selbst , eine Tätigkeit der gemäß , an welcher sich meine Kräfte erprobt hatten , und eine zweite in den Kauf , an der sich neue Kräfte erproben konnten , erproben würden , wie ich mir zutrauen durfte .
Denn wenn ich auch schwerlich die Stütze gewesen wäre , an welcher ein schwächliches Pflänzchen sich in die Höhe rankt , zu rauh für eine Töchtermutter :
Zucht und Schnitt verwilderter Schößlinge , die hatte ich an meiner Bauernschaft üben gelernt , und hätte sie wohl auch an einer feineren Rasse bewähren lernen .
Der Mann hatte Recht :
ich war eine Vormünderin , eine Stiefmutter für Knaben .
Warum zögerte ich denn noch , warum sagte ich denn nicht Ja und Amen zu dem guten Wort ?
War die einsame Gewöhnung so mächtig in der Eremitin des neuen Turms ?
Achtete sie die Welt so hoch , deren drastischen Humor eine Altjungfernheirat zu erwecken pflegt ?
Oder gab sie der Flüsterstimme Gehör , die in ihrem Innersten warnte :
" Es ist nicht was Du brauchst .
Du wirst fertig damit , aber Du wirst nicht fertig mit Dir selbst ! "
Spürte sie einen heimlichen , noch unverstandenen Protest gegen eine neue männliche Aufgabe , während das Weib nach seinem verkümmerten Rechte drängte ?
Ich forderte Zeit zur Überlegung , und es vergingen Wochen , in welchen ich den Grafen nicht wiedersah , Wochen der Unentschlossenheit , wie ich sie niemals erfahren hatte .
Endlich aber konnte eine Entscheidung nicht länger verzögert werden .
Denn es nahte der Geburtstag des Königs , an welchem nach einer zehnjährigen Regel , das größte Gastgebot auf die Reckenburg erlassen wurde .
Der gesamte Pomp des reichen Hauses entfaltete sich bei dieser Gelegenheit , selber die altgräflichen Juwelen der alten Tante mußten für die festlichen Stunden den Glanz ihrer Erbin erhöhen .
Selbstverständlich , daß der Graf zu den Geladenen gehörte .
Ich erwartete die Erneuerung seines Antrags .
Die Vernunft hatte gesiegt :
ich war entschlossen , Ja zu sagen .
So oft der dritte August in dieser Weise auf Reckenburg schon verherrlicht worden , es war mir nicht ein einziges Mal eingefallen , daß vor fernen , 12 * fernen Zeiten im Morgengrauen dieses Tages ich einen ewigen Abschied genommen , und das Traumbild meiner Jugend hatte schwinden sehen .
Heute , im fünfzigsten Jahre , sollte der dritte August nun mein Verlobungstag werden .
Sechstes Kapitel .
Mutter und Sohn .
Das war ein saures Mal meine Freunde !
Bei dem Toast , den ich auf Seine Majestät den König ausbrachte , blieb ich stecken ; jede Redensart , die ich Anstands halber wechselte , verfing sich in meiner Kehle mit dem Ja , das ich nicht aussprechen konnte und doch nicht unausgesprochen lassen wollte .
Ein Glück , daß man an die Feste auf der Reckenburg keinen Anspruch als den der vornehmen Langeweile zu stellen gewohnt war .
Nach der Tafel zerstreute sich die Gesellschaft im Garten .
Ich war allein mit dem Grafen auf der Terrasse geblieben .
Er hatte mir schon vor dem Essen gesagt , daß seine Ernennung eingetroffen , eine Entscheidung demnach nicht länger zu verzögern sei .
Ich hatte den letzten Kampf bestanden , ein einleitendes Wort tapfer herausgepreßt und eben wollte ich meine Hand in die seine legen , als ich eine bierbässige Stimme zu meinen Füßen den Namen " Hardine " rufen hörte .
Ihr seid , wenn auch in früher Jugend , Zeugen der nun folgenden Szene gewesen , meine Freunde , habt sie ohne Zweifel späterhin manchmal rekapitulieren hören .
Ich brauche Euch also nur über die Vorgänge in meinem Inneren , die eine so verdächtigende Wirkung hervorbrachten , aufzuklären .
Im entscheidenden Momente unterbrochen , blickte ich auf und gewahrte einen jungen , rüstigen Mann , die Glut des Trunkenbolds auf dem Gesicht ; zu jeder Zeit mir die widerwärtigste Begegnung , bei dieser Gelegenheit aber doppelt ein Greuel .
Unter wüssten , mir kaum verständlichen Reden stieg er die Stufen heran , ein Fuseldunst quoll mir entgegen ; mit der Hand , die ich eben zu einem Verlöbnis ausgestreckt hatte , wehrte ich den dreisten Gesellen von mir ab .
Er taumelte , stürzte und eine Blutspur am Boden trieb mich an , ihn genauer ins Auge zu fassen .
Jetzt erst bemerkte ich die verwitterte Uniform , das kriegerische Zeichen des Legionärs , den verkrüppelten Arm ; ich starrte in die narbigen Züge und eine erschütternde Ahnung überkam mich .
Wie er nun aber , plötzlich ernüchtert , mir mit geballter Faust und drohendem Trotze gegenübertrat , da weckte das stolze Zurückwerfen des Kopfes , der zornig flammende Blick des blauen Auges in meiner Erinnerung ein lange schlummerndes Bild ; seltsamer Weise aber nicht zuerst das des Sohnes , der sich einen Tod auf dem Schlachtfelde gewünscht , sondern das des Vaters , der ihn so früh auf demselben gefunden hatte .
Prinz August , nicht August Müller war plötzlich vor mir lebendig geworden .
Die Vision währte nur einen Augenblick .
Bei den ersten Worten von Vater und Kind hatte ich mir ihre seltsame Begriffsverwirrung erklärt ; durfte ich aber , konnte ich vor dieser gaffenden Gesellschaft den Irrtum lösen ?
Ehe ich noch einen Entschluß gefaßt , hatte sich der Mann zum Gehen gewendet ; ich sah einen aschfarbigen Schatten über seine Züge fliegen , ihn sich zitternd an das Laubengitter klammern ; ich winkte dem Prediger , ihn zu unterstützen , auch der Graf eilte ihm nach in merklicher Verblüffung , bald waren sie in dem Laubengange verschwunden .
Ich war nicht in der Stimmung , mich mit meinen Gästen in Erläuterungen einzulassen ; wir beknixten uns wohl noch später im Schlosse , und entfernten sie sich ohne Abschied : desto besser .
Daß einer von ihnen im Ernst an die Bezichtigungen des Fremden glauben könne , kam mir nicht in den Sinn .
Ich suchte die Stille meines Zimmers .
In Wahrheit ich fühlte mich tief bewegt .
War doch , wie durch einen Zauber , ein lange vergangenes , vergessenes Leben vor mir aufgerüttelt , in dem Augenblick , wo ich über den Rest desselben zu verfügen im Begriffe stand !
Dazu der verwahrloste Zustand des Mannes und seines Kindes , die Täuschung , der er sich hingegeben und deren Berechtigung sein und mein alter Freund mir warnend vorausgekündigt hatte .
So sollte ich diesem Freunde nach einem Menschenalter doch noch seine vielverspottete Fürsorge danken lernen .
Während ich nach August Müllers Taufzeugnis in meinen Papieren kramte , zweifelte ich nicht an meinem Recht , den betörten Mann über seine Herkunft aufzuklären .
Ich zeigte ihm , so meinte ich , das Attest , verschwieg den Namen des Vaters , wie das fernere Schicksal der Mutter , und wenn ich für ein schickliches Unterkommen von Vater wie Tochter Sorge trug und ihre Zukunft sicher stellte , war der Handel abgemacht .
Eben hatte ich nach langem Suchen das Zeugnis gefunden , als der Prediger mit dem Grafen bei mir eintrat .
Der letztere in einer Aufregung , die mich an dem gehaltenen Manne unangenehm befremdete .
" Er liegt im Wirtshause und simuliert eine Krankheit , " rief er mir hastig entgegen .
" Er ist krank , Herr Graf , " -- widersprach der Prediger , -- " das Fieber schüttelt ihn . "
-- " Ein Katzenjammer , wenn nicht das Delirium des Trunkenbolds ! " entgegnete der Graf .
" Ein Glück , daß ich heute noch Landrat des Kreises heiße und ihm seine Papiere abnehmen durfte .
Lesen Sie , Fräulein von Reckenburg ! "
Er übergab mir bei diesen Worten jene mehrerwähnten schriftlichen Kindheitserinnerungen August Müllers , und erging sich , während ich die Blätter überflog , mit zornigen Worten , über das Wirrsal von Verleumdungen , welche sich seit dem Morgen in der Gemeinde verbreitet hatten und über Nacht in der Umgegend verbreiten mußten .
" Ich werde , " so schloß er , " den Vagabunden unverweilt in das städtische Krankenhaus und nach seiner Herstellung , mittels Zwangspasses , über die Grenze transportieren lassen .
Der kürzeste Weg , das Gerede abzuschneiden .
Der Mensch ist verrückt , oder ein Betrüger erster Sorte . "
" Er ist keines von beiden , " versetzte ich ruhig , indem ich die Handschrift , nebst den beiliegenden Attesten in meinem Schreibtische verschloß .
" August Müllers Erinnerungen sind richtig und der Schluß , den er irrtümlich daraus gezogen hat , mag durch sein Elend entschuldigt werden .
Er ist ein Eingeborener von Reckenburg und wir haben die Pflicht , ihn innerhalb der Gemeinde zu verpflegen . "
-- Ich klingelte bei diesen Worten und befahl dem eintretenden Diener , den Hausarzt aufzusuchen und den Kranken im Wirtshause anständig versorgen zu lassen .
" Eine Gnade , die Ihnen bittere Früchte tragen wird , " sagte der Graf , wie mich dünkte mit Hohn .
" Die erste ihrer Art , auf die man sich in Reckenburg wird berufen können . "
Die erste Wohltat an einem Fremdling in Reckenburg !
Die Lehre , so wenig sie in diesem Sinne gemeint war , würde schneidend gewesen sein , hätte ich auf den Ruhm einer barmherzigen Schwester überhaupt etwas gegeben , oder hätte ich wenigstens sie bei ruhigem Blute aufgefaßt .
Aber des Grafen Verstimmung , hatte mich angesteckt .
Ich trug in mir einen wunden Fleck , dessen Berührung ich einst meinem ersten Freunde schwer vergeben hatte , und die ich meinem letzten Freunde nimmer vergeben haben würde .
Um drohenden , weiterführenden Auslassungen wenigstens den Zeugen zu ersparen , bat ich den Prediger , mit dem Doktor Rücksprache zu nehmen und falls er die Verpflegung des Kranken im Wirtshause nicht genügend fände , seine Übersiedelung nach dem Schlosse anzuordnen .
Sobald ich mit dem Grafen allein war , sagte ich :
" Wollen Sie mir , Graf , die bitteren Früchte nicht etwas näher bezeichnen , die mir , nach Ihrem Dafürhalten , aus der Verpflegung eines Fremden erwachsen sollen ? "
-- " Ja , aber welches Fremden ! " rief der Graf , achselzuckend .
" Nach seiner öffentlichen Anklage und dem Zugeständnis , welches Sie eben gemacht -- -- "
" Sie meinen das Zugeständnis , ein verwaistes Kind in einer Anstalt untergebracht zu haben ? "
-- fragte ich .
" Haben Sie ein Zeugnis über den Ursprung dieses Kindes aufzuweisen ? " fragte der Graf dagegen .
" Ich denke mein Wort genügt , " -- entgegnete ich , indem ich den Taufschein , den ich noch in der Hand hielt , zerknitterte .
" So sprechen Sie dieses Wort .
Nennen Sie den Namen der Eltern , der in dem Anstaltszeugnis so geflissentlich verschwiegen scheint . "
" Und wenn ich ihn ebenso geflissentlich auch fernerhin verschweigen wollte ? "
" So würden Sie vor sich selber den Unglimpf eines bis heute makellosen Rufes zu vertreten haben . "
Bis dahin hatte ich meine Standhaftigkeit behauptet ; nun hielt ich mich nicht länger .
" Sie sprechen damit aus , daß ich ein eigenes Kind -- -- "
" Nicht von mir ist die Rede , " unterbrach mich der Graf , jetzt so ruhig , als ich das Gegenteil war .
" Die Welt urteilt nach dem Scheine und mir , als Beamten und Ihrem Freunde steht es zu , diesem bösen Schein entgegenzutreten .
Darum frage ich Sie noch einmal :
Können , wollen Sie mir ein Zeugnis über den Ursprung dieses Mannes geben ? "
" Nein ! " sagte ich .
" Ob ich es nicht geben kann , oder es nicht geben will , gleichviel .
Ich bedarf keiner Freunde , die ein fremdes Zeugnis für meine Ehrenhaftigkeit nötig halten ; und von dem Beamten , der das Recht meines Heimatsgenossen nicht gelten lassen will , erwarte ich , daß er den Gast meines Hauses respektieren werde . "
-- Damit verließ ich ihn .
Ich wußte , daß ich die offene Tür meines Hochzeitssaales zugeschlagen hatte und fühlte es wie einen Stein von meiner Seele fallen .
Bei alledem bebte ich vor innerer Entrüstung .
Dorothee lebte , und ich hatte kein Recht ihr Geheimnis preiszugeben .
Hätte sie selber aber dieses Geheimnis zu meiner Rechtfertigung enthüllen wollen , ich würde das Wort auf ihren Lippen zurückgehalten haben .
Die Leidenschaft hatte meine Auffassung plötzlich geklärt :
Nicht ich , die Mutter hatte über das Schicksal ihres Sohnes zu entscheiden .
Noch in der Nacht reiste ich mit Kurierpferden nach Berlin .
Ich reiste ohne Dienerschaft , weil mir , ebenso um der Menschen Willen , denen ich zueilte , wie für meine eigene Person ein Ausspionieren und Ausdeuten meiner Schritte widerstand .
Bei einbrechendem Abend erreichte ich mein Ziel und begab mich , ohne erst ein Hotel zu suchen , vom Posthause zu Fuße nach der Faber'schen Wohnung , die mir jedes Kind zu bezeichnen wußte .
Gelang es mir , Dorothee noch diesen Abend ohne Zeugen zu sprechen , so war meine Aufgabe erledigt und ich reiste unerkannt noch in der Nacht nach Reckenburg zurück .
Der Zustand des Kranken beunruhigte mich .
Der Arzt , den ich vor meiner Abreise gesprochen , und der eine Übersiedelung nach dem Schlosse widerraten , hatte ihn für eine Lungenentzündung erklärt , Folge schlechtgeheilter Brustwunden und bei der Gewöhnung an starke Getränke doppelt bedrohlich .
Auch ahnte ich , nach langem Stillstand , wieder so eine Art Krisis in meinem Leben , die ich jedenfalls auf meinem Posten erwarten wollte .
Wenn man solch eine Lebensgeschichte durchblättert , in welcher bloß die Hauptaktionen Schlag auf Schlag in hinlänglicher Breite geschildert werden , während man die dazwischen liegende Ausfüllung , die still umwandelnde Arbeit der Zeit nur oberflächlich streift , da denkt man sich leicht die Personen unverändert in dem innerlichen Verhältnis , in welchem sie bei der letzten Szene zu einander gestanden haben .
Und so könntet auch Ihr , junge , lebhafte Menschen , wohl wähnen , daß ich den alten Bekannten mit den alten leidenschaftlichen Empfindungen , oder mit dem Herzklopfen der Schuld entgegenging .
Aber siebenundzwanzig Jahre waren vergangen seit ich Dorothees Heirat erfuhr , wie manches Menschenleben spinnt sich in diesem Zeitraume ab , von der Wiege bis zum Grabe !
Und wenn ich in demselben auch keiner hervortretenden , gemütlichen Wendepunkte zu erwähnen hatte : eine gänzlich veränderte Lebensstellung , eine große , starkempfundene Weltepoche , Nachdenken und umfassende Tätigkeit hatten mich zu einer Anderen , die Menschen von Einst mir zu Fremden gemacht .
Ich würde heute Siegmund Faber ohne Verlegenheit gegenüber getreten sein und ihm erforderlichen Falls Rede gestanden , mit Dorothee aber die Lage der Dinge gelassen , unter Berücksichtigung ihrer Natur und Stellung , besprochen haben .
Ja , wie ich so im Abenddunkel die Flucht der Straßen entlang schritt , da kam mir wiederholt der Zweifel , ob meine erste Entscheidung über das Schicksal ihres Sohnes nicht die richtige gewesen sei ; ob der Totgewähnte nicht ein Toter für sie hätte bleiben sollen ?
Indessen der Affekt hatte mich einmal zu dieser Erweckung des Mutterherzens getrieben , und wir sind ja so leicht geneigt , hinter derlei persönlichen Eingebungen eine ahnungsvolle Fügung vorauszusetzen .
Jedenfalls konnte die Stimmung für meine Botschaft geprüft und eine fernere Maßregel mir überlassen bleiben .
Als ich mich dem Faber'schen Hause näherte , fand ich das Straßenpflaster mit Stroh belegt und bemerkte , daß die Vorübergehenden gruppenweise zusammentraten , oder mit Neugier nach dem matterleuchteten ersten Stockwerk deuteten .
Auch einige unzusammenhängende Bemerkungen fing ich im Vorübergehen auf .
" Hier aus diesem Fenster ! --
Der Mann kam dazu , der arme Mann ! "
Die Haustür war unverschlossen , die Treppe leer , aber dicht mit Teppichen belegt ; alles still .
Erst am Ausgange derselben harrte ein zurechtweisender Diener und im Korridor ließ sich ein leise geschäftiges ängstliches Treiben beobachten .
" Sie ist krank und nicht zu sprechen , " lautete die Antwort auf meine Bitte , der Frau Geheimrätin gemeldet zu werden .
" Auch nicht für eine durchreisende alte Bekannte ? "
" Für Niemand . "
" Auch morgen nicht ? "
" Auch morgen nicht , " beschied der Diener , erbot sich aber , mich dem Geheimrat zu melden .
Ich schwankte einen Augenblick .
Der Zweck meiner Reise war verfehlt , doch hätte ich gerne über den Zustand der Kranken nähere Auskunft gehabt , die mir die sichtlich aufgeregte Dienerschaft nicht geben konnte oder wollte .
Ich entschied mich indessen , den Herrn so spät am Tage nicht stören , dahingegen morgen noch einmal vorfragen zu wollen , gab meine Karte ab und war im Begriff mich zu entfernen , als ein Türvorhang mir gegenüber auseinandergeschlagen wurde und Siegmund Faber mit rascher Bewegung mir entgegentrat .
Fünfunddreißig Jahre hatte ich ihn nicht gesehen und ein fremdartiger Ausdruck von Pein und Weh war seinen Zügen aufgeprägt ; dennoch würde ich , auch an jedem anderen Orte , ihn auf den ersten Blick erkannt haben .
Und auch seine ausgestreckte Hand deutete an , daß er ohne Besinnen in der Matrone , die ihm unerwartet gegenüberstand , das fünfzehnjährige Mädchen wiedergefunden hatte .
Der Lauf der Zeit hatte in ihm wie mir keine entfremdenden Spuren zurückgelassen ; wir waren , wie man es nennt , organisch alt geworden ; ein Vorrecht derer , die nur schwach mit dem Herzen leben .
Ich folgte seinem stummen Winke in das eigene Zimmer .
" Eine jammervolle Stunde , Fräulein Hardine , in der Sie mein Haus zum ersten Male betreten ! " sagte er , indem er meine Hand mit tiefer Bewegung drückte .
" Hoffen Sie noch , Faber ? " fragte ich , zum Voraus hoffnungslos .
Er aber antwortete :
" Hoffen ? ja , ich hoffe , aber nicht auf das Leben , " und als ich leise das Wort " Hirnfieber " nannte , da sagte er :
" Wenn dem so wäre .
Sie würden mich weniger ratlos finden .
Nein , kein Fieber -- -- "
Ich schnitt seine Erklärung mit einer hastigen Bewegung ab ; der Schauder in seinem Blicke hatte meine Ahnung bestätigt .
Ich gedachte der Stunde , wo Dorothee mir diesen Ausgang angedeutet hatte .
Wir standen eine Weile schweigend und lauschten auf die markerschütternden Töne , die aus dem Nebenzimmer drangen .
" Störe ich Sie ? " fragte ich endlich .
" Leider nein ! " antwortete er .
" Nach Außen fehlt mir die Ruhe , und da , wo ich Tag und Nacht nicht weichen möchte , darf ich nur ein verstohlener Zeuge sein .
Die Unglückliche , so scheint es , sieht in mir nur den Arzt , vor dem sie sich allezeit gescheut , nicht den trostlosen Gatten , dem sie bis zum Äußersten ihre Qual liebreich verheimlicht hat . "
" Und wann trat dieses Äußerste ein ? " fragte ich weiter .
" Das Äußerste erst gestern , " versetzte er .
" Seiner Natur nach ist es ein heimtückischer , schleichender Zustand , der vielleicht schon vor unserer Vereinigung begonnen hat .
Alles in Allem , ein Rätsel . "
Ich schwieg mit gesenktem Blick .
Ich allein hätte ihm ja den Schlüssel zu diesem Rätsel reichen können .
Er lud mich darauf zum Niedersitzen ein , nahm an meiner Seite Platz und schilderte mir jenen erstarrenden Krampf , der seit dem Hochzeitstage von Zeit zu Zeit das blühende Geschöpf überfallen habe .
" Bisweilen , " sagte er , " konnte ich die Krise stundenlang voraussehen .
Sie war beklemmt , unruhig , trat wiederholt mit über der Brust gekreuzten Händen auf mich zu , eine Gebärde , durch welche sie schon als Kind eine Bitte so unwiderstehlich auszudrücken verstand ; sie sah mit einem herzzerreißenden Blicke zu mir in die Höhe , vermochte nicht zu reden und kämpfte so fort , bis sie erstarrt , mit stockendem Puls , aber völligem Bewußtsein zu Boden sank .
Da der Zustand jedoch nur selten eintrat , rasch vorüberging und keine gesundheitliche " Störung " hinterließ , nahm ich ihn als eine jener unverfänglichen nervösen Affektionen , denen Frauen in kaum berechenbarer Weise unterworfen sind .
Ich suchte seinen Grund in der jahrelangen Spannung des Brautstandes , in dem dann allzu plötzlichen Wechsel aller Lebensverhältnisse , unter denen sie nur allmählich in Ruhe und Stille heimisch werden könne .
Ich schonte sie , schonte sie vielleicht zu sehr .
Ich verfiel in den Irrtum vieler Ärzte , die das körperliche Leben ihrer Angehörigen nach den bedenklichen Erfahrungen ihres Berufes und das seelische nach ihren 13 * eigenen Bedürfnissen beurteilen .
Weil mir nach einem abspannenden Tagewerk eine Pause des Ausruhens Wohltat war ; weil ich nichts verlangte , als das holdselige Geschöpf , still und vergoldend gleich einem Sonnenstrahl , die Schatten meines Berufslebens streifen zu sehen ; in meinem selbstsüchtigen Behagen übersah ich ihr unausgefülltes Einerlei , vergaß den Widerspruch mit ihrer ursprünglich bewegsamen Natur , vergaß ihn um so leichter , als sie selber niemals klagte , nach nichts verlangte , immer versicherte wohl zu sein und keine Spur des Hinwelkens ihre Worte Lügen strafte .
Sie war und blieb ein blühendes , liebliches Kind , Fräulein Hardine , ein Engel der Demut ; Dorothee , meine Gottesgabe , mein Sonnenstrahl ! "
Der Mann verbarg das Gesicht hinter seinen Händen , ich hörte ein krampfhaftes Schluchzen ; lange vermochte er nicht weiter zu reden und als er endlich von Neuem begann , geschah es mehr zu sich selbst als zu mir .
" Die unterdrückte Natur rächt sich allemal -- allemal ! --
wenn ich sie hätte reisen lassen -- ihr Zerstreuung und Umgang gesucht -- Licht und Luft um sie geschaffen in der weiten Einöde der Stadt : -- nichts , nichts habe ich für sie getan ; mich an ihrem Anblick erquickt , Egoist , der ich war und nun so grausam gestraft ! "
Eine neue Pause folgte .
Nachdem er sich gesammelt hatte , fuhr er rasch , gleichsam geschäftsmäßig fort :
" Unter den erschütternden Ereignissen des Herbstes 1806 hatte ihr Leiden sich gesteigert .
Als ich bei meiner Rückkehr von der Armee unerwartet bei ihr eintrat , umfing ich minutenlang eine Leiche .
Der Zustand kehrte seitdem öfter wieder , dauerte länger , man möchte sagen , er wuchs mit den Qualen und Enttäuschungen des Vaterlandes .
Im Sommer 1809 , als Schlag um Schlag das Scheitern Schills und Braunschweigs , die Niederlage Österreichs bekannt wurden , schien er seinen Höhepunkt erreicht zu haben .
Dann trat eine Pause ein ; die Stille der Resignation , um unter den Opfern der Erhebungszeit von Neuem aufzuwachen .
Ich war der Armee gefolgt und hörte später erst von Anderen -- niemals von ihr selbst -- daß sie sich den Frauenvereinen angeschlossen hatte , die nach den Märkischen Schlachten sich des Dienstes in unseren Spitälern unterzogen .
Armes , zärtliches Kind , das niemals einen Blutstropfen sehen , von einer Wunde nur reden hören konnte !
Tag für Tag trat sie den Gang durch diese Leidensstätten an , ging von Bett zu Bett , starrte angstvoll in jedes Krankenangesicht , als ob sie Einen suche , der nicht zu finden , Einen retten wollte , der nicht zu retten war und brach dann am Ausgange vernichtet zusammen , um anderen Tages den qualvollen Weg von Neuem anzutreten .
" Selbstverständlich würde ich , wenn zur Stelle , diese zwecklose Folter gehindert haben .
Als ich aber nach Jahr und Tag aus Frankreich heimkehrte , fand ich die Spitäler geleert und Dorothee fast unverändert die Alte . Erst während der Tage von Ligny und Waterloo , -- ich befand mich wieder bei der Blücherschen Armee -- soll eine kurze Katastrophe eingetreten sein , die mich auf die heutige hätte vorbereiten können .
Ich war nicht Zeuge derselben und tröstete mich wiederum , daß die eindrucksfähige Kindernatur , die Idiosynkrasie gegen alles , was Tod und Leiden heißt , diese gewaltsame Erschütterung hervorgerufen habe .
Ihr gegenwärtiger Zustand , ohne jeglichen Anlaß von Außen her , spricht jenem Troste Hohn .
Ich stehe wie ein Narr vor diesem Rätsel der Natur .
" Sie dürfen denken , Fräulein Hardine , daß da , wo mein ganzes Lebensglück auf dem Spiele stand , ich dem eigenen Urteil nicht allein vertraute .
Ich habe den Rat meiner anerkanntesten Kollegen in Nähe und Ferne eingeholt .
Einmal aber sträubte sich Dorothee mit einer Heftigkeit , die ihrem sonstigen Wesen völlig fremd war , und ihren Zustand steigerte , gegen jede ärztliche Behandlung ; dann aber wußte auch kein Einziger eine zweckmäßig scheinende Methode vorzuschlagen .
Sie selbst erklärte sich für gesund und sie schien es zu sein .
Ich mußte mich allerseits mit dem Vorwurf hypochondrischer Ängstlichkeit abfertigen lassen .
Höchstens daß man das Postulat der Kinderlosigkeit als die Ursache momentaner körperlicher oder gemütlicher Störungen zu Markte brachte .
Ich bin aber zu sehr Arzt , um ein Freund derartiger Postulate zu sein .
Unsere Kunst ist eine der Exemtionen .
Dorothee war zu zart für ein Martyrium , dem meine Mutter erlag , als sie mir das Leben gab ; und lassen Sie mich hinzufügen , Fräulein Hardine , Dorothee war zu sehr Kind für die Kinderzucht , bei welcher der Vater ihr so wenig eine Stütze zu sein vermochte .
Sie erkannte das auch wohl selbst .
Niemals hat sie eine mütterliche Sehnsucht angedeutet ; ja ich sah sie von einem Schauder befallen , als wir auf einer unserer seltenen gemeinsamen Wanderungen durch die Stadt einer Schar tobender Waisenknaben begegneten .
Als ich ihr nach 1806 -- nicht zu meiner , nur zu ihrer eigenen Ausfüllung -- den Vorschlag machte , eine Soldatenwaise zu adoptieren , da war ein Krampfanfall ihre Antwort , und nachdem die Sprache wieder zurückgekehrt war , sagte sie nichts als mit der flehendsten Gebärde :
" Bitte , bitte -- nein ! "
" Man gewöhnt sich an solchen Zustand , Fräulein Hardine .
Mein Berufsleben wurde immer absorbierender .
Ich war häufig auf Reisen und wenn in Berlin , oft nur minutenweise in meinem Hause anwesend .
Da bemerkte ich es denn kaum , daß sie von Jahr zu Jahr stiller und in sich gekehrter wurde , ja daß wohl Tage vergingen , ohne daß ich einen Laut von ihren Lippen vernahm .
Das Alter macht naturgemäß schweigsam ; und was hätten wir im Grunde uns auch mitzuteilen gehabt ?
Sie erlebte zu wenig und ich zu viel , aber doch nicht das , was zu häuslichem Austausch sich eignete .
Die beängstenden Zufälle hörten allmählich auf , ich fühlte mich beruhigt , -- bis , ja es mögen jetzt drei Monate sein .
" Da konnte ich mir denn nicht länger verbergen , daß die stumme Apathie in eine seltsame Aufregung umgeschlagen war .
Sie ging den ganzen Tag im Zimmer auf und ab und saß die Nächte mit offenen Augen in ihrem Bette , oder ich traf sie wohl auch dann leise auf und niederwandelnd .
Mahnte ich sie zur Ruhe , so gehorchte sie , legte sich und stellte sich schlafend .
Sobald ich aber in meine Kammer zurückgekehrt war und sie sich unbeobachtet glaubte , richtete sie sich auf und begann ihre Wandelgänge von Neuem .
Sie schlummerte nicht , sie fragte nach nichts und antwortete nur mit stummen , aber deutlichen Gebärden ; sie nahm nur gezwungen die notdürftigste Nahrung .
" O , daß das arme Hirn in dieser Zersetzung sich leise erschöpft hätte , aber seit gestern -- -- "
" Seit gestern ? " drängte ich gespannt .
" Seit gestern -- -- "
Ein schriller Schrei aus dem Nebenzimmer unterbrach ihn .
Er sprang auf und lauschte hinter dem Vorhang an der sacht geöffneten Tür .
" Wer faßt es , Fräulein Hardine , " sagte er darauf , als es drinnen wieder still geworden war , " wer erträgt es , die friedfertigste Kreatur enden zu sehen unter den Qualen einer Mörderin , sie mit Gewalt vom Äußersten abhalten zu müssen , -- -- o , Gott , Gott ! gestern in der Dämmerstunde , ein unbewachter Moment und -- sie würde -- -- "
Der Mann konnte nicht weiter ; auch ich stand erschüttert bis ins Mark .
Seit Monden , wo der Sohn , eine Mutter suchend , das Land durchwanderte , und gestern , gestern , da er im Wahn seine Hand nach einer Anderen streckte , -- -- darf man an solche Sympathien glauben , an eine elektrische Strömung des verwandten Blutes ? "
" Dürfte ich sie sehen ? " fragte ich nach einer langen Stille den unglücklichen Mann .
" Sie würde Sie nicht erkennen , schwerlich bemerken .
Aber Sie , wie sollten Sie diesen Eindruck ertragen ?
Fräulein Hardine , -- sie rast ! "
" Führen Sie mich zu ihr , " sagte ich voranschreitend .
Unter der Tür hielt ich an .
" Eine Frage noch : Ist es eine formlose Beklemmung , oder -- -- " Es ist ein fixiertes Wahnbild , " versetzte Faber flüsternd , " das sinnloseste , -- -- oder sollte dennoch eine unterdrückte , mütterliche Sehnsucht -- -- sollte ich zum zweiten Male genarrt -- -- ?
Doch genug der fruchtlosen Grübeleien .
Sie quält sich mit der verzweifelten Idee , eine Kindesmörderin zu sein .
Nicht aber eines eigenen , neugeborenen Kindes , wie es ein häufiger Wahn irrsinniger Frauen ist ; nein , über einen Knaben tobt sie , einen Waisenknaben , den sie , sie selber totgeschossen haben will .
Auf Viertelstunden tritt wohl eine Pause ein ; dann formt sie aus Kissen und Tüchern einen Knäuel , preßt ihn an ihr Herz und liebkost ihn wie eine Mutter ihr Kind : bald aber zerreißt sie mit der Kraft der Raserei den Balg in Stücken , schleudert ihn von sich , schreit auf , sieht sich -- oder wen ? -- in einer teuflischen Umgebung , die sie " die Schwarzen " nennt und kann nur mit Zwangsmitteln zurückgehalten werden , eine gewaltsame Befreiung aus dieser Seelenqual zu suchen .
Und dennoch , dennoch , sollten Sie es glauben , Fräulein Hardine ? das engelhafte Gemüt hat sich auch in diesem Äußersten nicht bemeistern lassen .
Vor dem trostlosen Gatten möchte sie ihre Folter auch jetzt noch verheimlichen .
" Still , still ! " flüstert sie , so oft ich mich nahe .
Da aber die Angst stärker ist als der Wille , wird sie immer unruhiger , windet sich , bäumt sich , stöhnt , bis ich mich entferne und sie wie erlöst aufatmet , um bald von Neuem von dem gemordeten Knaben und den Schwarzen verfolgt zu werden . "
Wir traten in das Krankenzimmer .
Es war tageshell erleuchtet , denn die bedrohenden Gespenster wuchsen in der Dunkelheit .
Zwei baumstarke Wärterinnen versahen den Dienst .
Dorothee saß im Bett in unzähmbarer Unruhe .
Mit der einen Hand stieß sie eine kalmierende Arznei zurück , mit der anderen riß sie die Eisblase ab , die man auf dem Kopfe festzuhalten suchte .
Das einst goldige Haar hing wie eine Silberwelle , von geschmolzenen Eistropfen überperlt , an den Schläfen herab , das Antlitz glich einer schneeigen Blüte und die erweiterten Augen flogen in ruhelosem Flimmer auf und nieder .
Das unglückselige Weib , im fünfzigsten Jahre , in den Banden des Wahnsinns , an der Pforte des Grabes war noch immer schön ; ja , mich dünkte , ich hätte es niemals schöner gesehen als in diesem Aufruhr der heimlichsten Natur .
Ich bedeutete die Wärterinnen , ihr fruchtloses Bemühen aufzugeben ; sie zogen sich zurück und ich setzte mich auf einen Stuhl am Bette .
Der Mann lauschte verborgen im Hintergrunde , kein Atemzug ging durch den Raum .
Eine lange Weile bemerkte sie mich nicht ; sie hatte einen ihrer ruhigen Momente ; geschäftig bündelte sie die Eisblase , die sie sich vom Kopfe gerissen , in ein Tuch und preßte sie an ihr Herz .
" Hu , hu , wie kalt ! " murmelte sie schaudernd , " wie kalt ! "
Ich trat dicht an sie heran , ergriff ihre beiden Hände und senkte meine Augen fest in die ihren .
" Kennst Du mich noch , Dorothee ? " fragte ich .
Und wunderbar ! kaum daß sie meine Stimme vernommen und nur einen Moment forschend zu mir aufgeblickt hatte , rief sie :
" Hardine ! Fräulein Hardine ! "
Der lauschende Mann konnte einen Laut der Überraschung nicht zurückhalten .
Dorothee horchte gespannt .
" Still , still ! " flüsterte sie , indem sie das Bündel unter ihre Decke verbarg .
Als aber alles wieder ruhig geworden war , zog sie es von Neuem hervor , drückte meine Hand darauf und sagte :
" Fühlen Sie , Fräulein Hardine , wie kalt !
Es ist tot , hu , so kalt , so kalt , das arme Kind , tot ! "
" Es ist kein Kind , Dorothee , " sagte ich , " es ist ein kalter Stein , der lange auf Deinem Herzen gelegen hat .
Ich will ihn von Dir nehmen .
Siehst Du , nun ist er fort , nun wird Dir leicht werden , Dorothee .
-- Sie ließ es willig geschehen , daß ich das Bündel von ihr nahm ; aber sie wimmerte immerzu :
" Tod , tot , das arme Kind tot ! "
Einen Augenblick schwankte ich noch ; dann wagte ich es , dem Lauscher zum Trotz , auf alle Gefahr .
Ich drückte die Hand der jammernden Mutter an mein Herz und sprach mit erhobener Stimme :
-- " Das Kind ist nicht tot , Dorothee .
Gott ist ein Vater der Waisen , der Knabe lebt ! "
-- " Er lebt , er lebt ! " schrie sie auf .
" Wer sagt , daß er lebt ?
Wer hat es gesehen , daß er lebt ? "
" Hardine sagt es , " versetzte ich , " Hardine hat ihn gesehen .
Der Knabe lebt ! "
" Er lebt , er lebt ! " rief sie , " Hardine sagt es , Hardine lügt nicht , niemals !
Hardine hat ihn gesehen .
Er lebt !
Wo , wo ?
Führe mich zu ihm , Hardine ! "
" Ja , ich will Dich zu ihm führen , Dorothee .
Ich will Dich mit mir nehmen nach Reckenburg .
Weißt Du noch ? nach Reckenburg , Dorothee . "
-- Eine Minute lang saß sie sinnend , rieb sich die Stirn und murmelte :
" Reckenburg ! Reckenburg ! "
Endlich hatte sie es gefunden .
" In Reckenburg , ja in Reckenburg , da war_es .
Nicht im Waisenhause , nicht bei den Schwarzen .
In Reckenburg lebt er .
Fräulein Hardine hat ihn gesehen .
Fräulein Hardine nimmt mich mit nach Reckenburg ; Fräulein Hardine hält Wort ! "
Sie klatschte in die Hände wie ein Kind .
" Nach Reckenburg ! " jubelte sie , " kommen Sie , Fräulein Hardine . "
" Ich bringe Dich nach Reckenburg , " sagte ich ; aber nicht heute ; erst mußt Du gesund werden , liebe Dorothee . "
" Ich bin gesund , ganz gesund , " versicherte sie , indem sie Anstalt machte , das Bett zu verlassen .
Ich konnte sie nur mit Mühe darin zurückhalten .
" Du bist krank , Dorothee ; " sagte ich bestimmt ; " Du wirst aber bald gesund werden , wenn Du mir folgst .
Nimm diese Tropfen ; lege Dich ruhig hin , drücke die Augen zu und schlafe aus .
Dann gehst Du mit mir nach Reckenburg . "
" Ich will Ihnen folgen , Fräulein Hardine , " sagte sie und nahm ohne Sträuben den Trank , dem sie sich bisher so gewaltsam widersetzt hatte .
Plötzlich wurde sie aber wieder unruhig , spähte ängstlich im Zimmer umher und flüsterte mir in es Ohr :
" Er , er !
Wenn er nun kommt ? wenn er nun merkt ?
Er läßt mich nicht fort , Fräulein Hardine . "
" Sei ruhig ; ich wache bei Dir , " entgegnete ich laut .
" Und er wird Dich mit mir gehen lassen , denn er liebt Dich , Dorothee . "
" Fräulein Hardine wacht bei mir , " lispelte sie schon mit schläfrigen Augen , ließ sich darauf , Gehorsam wie ein Kind , das durchnäßte Haar von mir abtrocknen , warm einhüllen und betten .
Ihre beiden Hände ruhten in den meinen ; sie blickte noch einigemal in die Höhe , als sie mich aber ruhig auf dem Bettrande sitzen und meine Augen wachsam auf sie gerichtet sah , schlummerte sie sanft atmend ein .
Nach einer Weile erhob ich mich leise und trat zu dem , welcher diesem Auftritte unbemerkt gelauscht hatte .
Tränen , vielleicht die ersten des bewußten Lebens , rannen über seine Wangen .
Er drückte meine beiden Hände an sein Herz .
" Die Wohltat einer ersten friedlichen Stunde ! ' , sagte er .
" Welch ein Zauber liegt doch in den frühesten Erinnerungen , in den Menschen , welchen wir am frühesten vertrauten .
O , des Selbstsüchtigen , Verblendeten , der nur nach dem Pendelschlag der Stunde gerechnet hat !
Wenn ich sie vor Jahren Ihnen zugeführt hätte , vor Monaten noch -- -- "
" Und wenn es noch jetzt nicht zu spät wäre , mein Freund ? " fragte ich .
Er aber schüttelte den Kopf und antwortete : " es ist zu spät . "
Ich versprach ihm darauf , die Nacht bei Dorothee zu wachen und bat ihn , für einige Stunden die Ruhe zu suchen , deren er so dringend bedürfe .
" Auch ich werde Ihnen folgen , " sagte er und ging nach einem wehmütigen Blick auf die Schlummernde in sein Zimmer .
Von Viertelstunde zu Vier Tellstunde erschien er indessen lauschend unter der Tür , bis er endlich mit dem Entschluss , schlafen zu wollen , in ein paar Stunden ungestörter Ruhe die erschöpften Kräfte wiederfand .
Ich saß allein bei der Kranken , ihre Hände in den meinen und Gott weiß ! in welchem Aufruhr der Gedanken !
Was für eine Ironie in dem beglückenden Wahne des getäuschten Mannes !
Was für eine Strafe in dem gräßlichen Wahne der täuschenden Frau !
Aber sie lag so still , sie atmete so gleichmäßig leise : sollte es wirklich zu spät sein , Wahrheit und Frieden an Stelle der Irrung walten zu lassen ?
Nein , ich hoffte noch , hoffte noch , als ich mich beim grauenden Morgen erhob , um die Lampen zu löschen und die Fensterbehänge zurückzuziehen .
Als ich aber nach wenigen Minuten auf meinen Platz zurückkehrte , da gewahrte ich jene plötzliche , unbeschreibliche Wandlung , welche jede Hoffnung vernichtet .
Ich hätte Siegmund Faber herbeirufen mögen , zum letzten Lebewohl .
Aber Dorothee schlug jetzt die Augen zu mir auf , nicht mehr im Flimmer des Wahns , nein , die fragenden Kinderaugen aus ihrer schuldlosen Zeit .
Sie tastete nach meiner Hand und flüsterte in mein Ohr :
" Glaubst Du , daß Gott barmherzig ist , Hardine ? "
" Ich glaube es , Dorothee , " antwortete ich bestimmt .
" Auch gegen Eine , die nicht mehr Vater zu ihm sagen darf ? "
" Gegen jedes schwache , irrende Geschöpf , das sich nach seiner Vaterliebe sehnt . "
" Und er lebt , hast Du gesagt , er lebt ? "
" Er lebt und ich werde meine Augen über ihn halten und ihm sagen , daß im Vaterreiche eine liebende Mutter seiner Heimkehr harrt . "
Kaum hatte ich diese Worte gesprochen und Dorothee mit letzter Lebenskraft ihre Lippen auf meine Hand gedrückt , als Siegmund Faber in das Zimmer trat und mit einem herzdurchdringenden Schrei an dem Sterbebette niederstürzte .
Sie schlug das brechende Auge noch einmal zu ihm auf , ein letztes Beben erschütterte den halberstarrten Leib .
" Faber ! " röchelte sie .
" Barmherzigkeit , Faber !
Herr , mein Heiland Barmherzigkeit ! "
Und Alles war zu Ende .
Ich entfernte mich unbemerkt .
Als ich aber nach etlichen Stunden wiederkehrte , um Abschied von dem Freunde zu nehmen , da fand ich ihn noch auf der nämlichen Stelle ; umklammernd die tote Gestalt , die er bis zum Letzten sein Kind und nicht einmal sein Weib genannt hatte .
Doch faßte er sich , sobald er mich bemerkte und begleitete mich aus dem Sterbezimmer , nachdem ich mit einem langen Blicke von dem auch im Tode noch schönsten Weibe Abschied genommen hatte .
" So lange ich lebe , Fräulein Hardine , " sagte er " werde ich Ihnen diese sanfte Erlösungsstunde danken .
Sie war meine Lebensfreude , mein ganzes Glück ! "
Ich trennte mich von Siegmund Faber mit dem heiligen Vorsatz , die Erinnerung an seinen Sonnenstrahl rein zu erhalten vor jedem trübenden Hauch .
Meine Seele war erfüllt von dem Schauerbilde einer beleidigten und sich rächenden Natur , aber auch -- ich sehe Deine Tränen fließen , mein Kind ! --
aber auch von einem Versöhnungsglauben , wie ich ihn niemals stärker an einem Sterbebette empfunden habe .
Sie hatte den Frevel gegen Gottes ewige Ordnung erkannt und mit allen Qualen eines armen Menschenherzens hienieden gebüßt ; der Wahn war dem Leben vorausgeflüchtet , mit dem Flehen , in dem sie geschieden ist , wird sie jenseits begonnen haben und Vater 14 * sagen dürfen , den wiedergefundenen Sohn an ihrer Hand .
In dieser Stimmung nahm ich es als eine trostreiche Erfüllung , daß ich bei meiner Heimkehr nach Reckenburg alsobald an ein zweites Sterbebett berufen wurde , zu einem Scheiden , so klar und gefaßt , wie das tapfere Herz es sich dereinst , wenn auch in mächtigerer Umgebung gewünscht hatte .
" Fräulein Hardine , " rief mir August Müller entgegen .
" Sie sind nicht meine Mutter , ich weiß es jetzt , denn der Tod macht hell .
Vergeben Sie mir die Unehre , welche meine Torheit über Sie verbreitet hat . "
" Du suchtest eine Mutter und irrtest in gutem Glauben .
Du hast mich nicht beleidigt , August , " versetzte ich aufrichtig , indem ich ihm die Hand reichte .
Er drückte sie kräftig , lag eine Weile in Nachdenken versunken und sagte dann : " Eins noch , Fräulein Hardine :
Jene weiße Frau mit dem gelben Haar , die ich bei der Leiche Ihres Vaters sah , ist sie-- ? "
" Sie war Deine Mutter , August .
Sie ist Dir in Liebe vorangegangen .
Ich aber werde an ihrer Stadt für Deine Tochter Sorge tragen . "
Nachtrag des Herausgebers .
Ja , unser tapferer Invalid ' ist tot !
Drei Tage , nachdem er hoffnungstrunken das Waldhaus Muhme Justines . wiedererkannte , ist er dahin , und wohl ihm ! rufen wir ihm nach .
Wir hätten ihm den Todesstreich von einem Türkensäbel gegönnt ; aber zehn Friedensjahre hatten sein Lebensmark aufgezehrt .
Nun starb er rasch , wie er gelebt , gut gepflegt , auf heimischem Grund und sein brechender Blick fiel auf das verwaiste Kind , welches Fräulein Hardine zum Schutz in ihre Reckenburg führte .
August Müller endete glücklicher , als seine brave Lisette auf dem Sterbebett geahnt hatte .
Wohl ihm !
Und wieder sehen wir Fräulein Hardine als einzige Leidtragende seinem Sarge folgen zu der Ruhestätte , die ihm an der Seite der " treuesten Dienerin " bereitet worden war .
Es war dies eine letzte Ehre , welche die Herrin jedem ihrer Gemeindeglieder erwies , und wir , die wir ihre Bekenntnisse gelesen haben , wissen , welchen Erinnerungen sie durch dieselbe gerecht wurde , die Zeitgenossen aber , welche die Wahrheit erst aus diesen Blättern erfahren werden , die schrien im Chor :
" Einem Fremden , einem bettelnden Tagedieb ! dem , der die schwerste Bezichtigung gegen sie verbreitet hat ? "
So war es denn Fräulein Hardine selbst , die , schweigend und handelnd , dieser Bezichtigung Vorschub leistete , in einer Weise , daß ihr goldheller Name dauernd dadurch geschwärzt werden sollte .
Wir wollen uns nicht dabei aufhalten , wie dem starren Erstaunen die kleinlichsten Spürversuche folgten , wie der verbissene Neid triumphierte , Entrüstung , ja Empörung gegen die langjährige Heuchelei laut und öffentlich zur Schau getragen wurde .
Das Haus , zu welchem der Eintritt als hohe Gunstbezeugung erstrebt worden war , sah sich scheu vermieden , gleich einem , in welchem ein ansteckendes Fieber ausgebrochen ist ; der stolze Bau des Rechtes und der Ehre schien in seinem Fundament erschüttert ; keine Hand regte sich , ihn zu stützen , seitdem selber der Graf die Beziehungen zur Recken Burg und alle Zukunftsaussichten aufgab und , schweigend zwar , eben darum aber sprechend genug für die gespannten Lauscher , auf seinen neuen hohen Verwaltungsposten eilte .
Wer hätte nicht in ähnlicher Weise eine wankende Autorität verlassen sehen ?
Gleichwohl würde der geräuschvolle Eifer bei dieser Katastrophe nicht hinlänglich zu erklären sein , wenn der Zeitpunkt derselben außer Acht gelassen würde .
Der übermäßigen Anstrengung aller Lebenskräfte in Not und Kampf waren zehn Jahre einer apathischen Stille nachgeschlichen ; in beschränktem Kreise wieder herstellend und aufbauend , folgte Jeder einem tiefen Ruhebedürfnis .
Aller Abzug in weitere Gebiete war unterdrückt , die staatsbürgerlichen Interessen schwiegen , selber unsere jüngsten großen Erinnerungen schienen wie mit dem Schwamme ausgelöscht .
Mit dem patriarchalischen Behagen verbreitete sich patriarchalische Kleinsucht und Fraubaserei .
Ein weniger bemerkenswertes Ereignis , als der Sturz von Fräulein Hardines Ehrenkrone würde in einer solchen Epoche als eine Haupt- und Staatsaktion verhandelt worden sein , weit mehr , als der Sturz von Königskronen in einer anderen .
Ob Fräulein Hardine diesen Sturz bemerkte ? ob sie ihn einer Beachtung würdigte ?
Kein Zeichen deutete es an .
Sie bewegte sich nach wie vor zuversichtlich in ihrem Tagewerk und scheute sich nicht , das angezweifelte Wesen , das sie demselben eingefügt hatte , immer dichter in ihre Nähe zu ziehen .
Unter allen Umständen tat sie keinen entgegenkommenden Schritt , der eine versöhnliche Stimmung eher als jener hochmütige Gleichsinn angebahnt haben würde .
Wir aber , die sie die Ihren nannte , wir Reckenburger Leute , ei nun , wir kümmerten uns nicht um Klatsch und Matsch .
Wir glaubten_es nicht und wir bezweifelten nicht .
Wie Fräulein Hardine es uns gelehrt , sorgte ein Jeder für das Seine .
Indessen : das heftigste Unwetter verzieht , und auch die Windsbraut um Reckenburg legte sich ; nicht ganz so jählings wie sie herangebraust war , aber hübsch sacht und gemütlich nach deutscher Stürme Art .
Die Hand , die eine Reckenburg zu verschenken hat , behauptet ihre Anziehung ; die Standesgenossenschaft besann sich auf ihre alten Hoffnungen , auch die bürgerliche Klientel auf gelegentliche Berücksichtigung .
Bald ersehnte Jedermann nur einen Anlaß , um öffentlich zu verleugnen , was heimlich von Keinem bezweifelt wurde .
Dieser Anlaß aber ließ nicht lange auf sich warten und es war die Stelle , von welcher man im lieben Vaterlande alle Hilfe beanspruchte , zu der man sich selber nicht entschließen konnte , die Allerhöchste , der man auch die Rettung von Fräulein Hardines Ehrenkrone zu verdanken hatte .
Das Fräulein erhielt das Diplom einer Ehrenchanoinesse des vornehmsten Damenstiftes der Monarchie und damit die Prärogativen einer verheirateten Frau .
Sie machte von dieser Sonderstellung keinen Gebrauch , nannte sich und ließ sich nennen Fräulein von Reckenburg .
Man erzählte sich auch , daß sie eine gräfliche Erhebung ihres Wappenschildes dankbarlichst ausgeschlagen habe .
Sie schien sich darauf zu steifen , als Freifräulein in die Grube zu fahren .
Die königliche Gunstbezeugung wurde jedoch zum Signal , die Verunglimpfung zu bezweifeln , oder großmütig zu decken .
Ein tapferer Veteran der Befreiungskriege ! von plötzlichem Fieberwahnsinn befallen , hatte auf Reckenburg eine Pflegestatt und ein ehrenvolles Grab , seine hilflose Waise hochherzige Versorgung gefunden .
Wehe dem , der Jahr und Tag nach dem verhängnisvollen Königsfeste eine andere Version über die große Katastrophe hätte laut werden lassen !
Fräulein Hardine feierte weder heuer noch jemals später den dritten August mit einem patriotischen Mal ; hätte sie ihn aber gefeiert , sie würde kein geladenes Haupt an ihrer Tafel vermißt haben .
Indessen die Gäste stellten sich auch ungeladen wieder ein .
Visiten , Ratsuchende , Huldigende , Hoffende meldeten sich ; das Lächeln der Unschuld auf den Lippen , so als ob sie nimmer gewichen , und wurden empfangen , so als ob sie nimmer vermißt worden wären .
Scheiden und Meiden schien auf beiden Seiten vergessen ; das alte Fahrgleis zur Reckenburg war wieder hergestellt ; nur daß die Blicke sich je mehr und mehr zwischen der großen und der an ihrer Seite heranwachsenden kleinen Hardine teilten .
Denn wie staunten die ersten Besucher , in der verwahrlosten Landstreicherin schon nach Jahresfrist ein Kind wieder zu finden , gesund und lieblich , wie man je eines gesehen .
Fürwahr , Fräulein Hardine hatte eine glückliche Hand .
Auch ihr trübseliger Schützling war gediehen in der Luft des neuen Turms und auf den Flurwegen , wo sie der Herrin tägliche Begleiterin geworden .
Die Nachbarschaft erwartete in Bälde den Akt einer Adoption , dem die Adelsbestätigung nicht fehlen werde .
Man zählte zum Voraus die Reihe der ritterlichen Jünglinge , die ohne Scheu das Erbe der Reckenburg aus der Hand der Marketenderinnentochter empfangen würden .
Und die Reihe war lang .
Aber nichts von dem Erwarteten geschah .
Fräulein Hardine tat keinen Schritt , um die kleine Plebejerin zu ihrem eigenen Range zu erheben .
Sie machte nicht einmal ihr Testament .
Ihre Pflegebefohlene blieb nach wie vor Hardine Müller .
Auch wurde sie keineswegs herangebildet wie es einer Erbin von Reckenburg geziemt haben würde : keiner vornehmen Kostanstalt , keinem gelehrten Hofmeister , keinen fremdländischen Gouvernanten übergeben .
Der erste Lehrer des Kindes , Pastor Nordheim , blieb auch der letzte und von allen Kunstfertigkeiten der Mode war es späterhin nur die Musik , welche ein tüchtiger Meister der Nachbarschaft in dem talentvollen Mädchen pflegte .
Im Übrigen fügte sich dasselbe bald in das Getriebe des inneren Haushaltes und schien sich in demselben mit gleicher Neigung zu bewegen wie ihre Beschützerin in der äußeren Verwaltung .
Diese Erziehung deutete allerdings nicht auf hochfliegende Pläne für das geheimnisvolle Waisenkind .
Wer hätte jedoch behaupten mögen , daß Fräulein Hardine , welche in so vielen Stücken gegen den Strom zu steuern wagte , einer eigenen Tochter oder Enkelin eine vielseitigere Bildung bewilligt haben würde ?
Daß das Maß des eigenen Wissens und Können es ihr nicht das Genügende schien , um einen großen Besitz und ein bedeutendes Amt zu verwalten ?
Zu diesen wohlgerechtfertigten Zweifeln gesellte sich die Wahrnehmung eines allmählichen Umwandelns des Reckenburgschen Lebenszuschnittes nach der häuslichen Seite hin . --
Der Verlauf war natürlich und folgerecht für Eine , die nichts halb tat , wie unser Fräulein Hardine .
Denn ein Mensch zieht den anderen nach und keiner mehrere als ein Kind .
Die kleine Waise bedurfte der Wartung , des Unterrichts und Umgangs ; sie bedurfte des Raums zur Pflege , zum Spiel , zur Aufnahme nachbarlicher Genossinnen und deren erwachsener Sippschaft , die nicht spröde auf sich warten ließ .
Ein freundliches Gelaß mußte mit den Tändeleien einer Kinder- später einer Mädchenstube ausgefüllt , Gastzimmer und wohnliche Versammlungsräume mußten eingerichtet werden .
Der neue Turm war zu eng und einfach für mehr als Eine ; die anstoßenden Säle waren zu weit und prunkvoll für Weniger als eine Galaversammlung .
Da gab es denn Abteilungen und Zwischenwände ; wärmende Öfen traten an die Seite der unzulänglichen Marmorkamine ; weiche Teppiche bedeckten die kältende Mosaik des Bodens , bequeme Polstermöbel nahmen die Stelle der harten , goldverzierten Sessel ein , duftende Blumengruppen die der modernden Potpourris und wackelnden Chinesen auf den Konsolen .
Musik und Gesang ertönten in dem lange stillen Palast und ein modern gefälliges Gerät bedeckte statt der barocken Silber- und Porzellangefäße die wohlbesetzte Tafel .
Und wie das Haus so die Gartenpracht .
Die gesamte tote Götterwelt , vor welcher die kleine Hardine sich gefürchtet hatte , fiel ohne Gnade ; die drei- und viereckigen , lebendigen Gestalten , über welche sie gelacht , als man sie Bäume nannte , machten unbeschnittenen Strauch- und Baumgruppen Platz ; die steifen Hecken , die glasgesäumten Schnörkelbeete , welche den Tummelplatz der Kinderwelt beengten , verschwanden , und weite Rasenplätze rundeten sich an ihrer Stelle zu beiden Seiten der stattlichen Avenue .
Junge Mädchen lieben Blumen , und so entfaltete sich weiterhin bis zum Waldesrande ein üppiger Flor ; rings um den Gutshof aber dehnten sich Gemüse- und Obstpflanzungen , Glashäuser und Winterbeete , denn das gastliche Haus bedurfte der Leckerbissen , welche die einsame Herrin vordem nicht vermißt hatte .
Anmutige Sitzplätze luden aller Orten zur Ruhe ein , eine einzige große Fontäne inmitten der Terrasse spendete kühlend die Wassermenge , welche die Ungetüme des Lustgartens in zahllosen Fädchen ausgetröpfelt hatten , und die Singvögel des Waldes flatterten bis an den Rand des Bassins , wo freundliche Kinderhände ihnen Futter streuten .
Alles in Allem : unsere Reckenburg , ohne ihren herrschaftlichen Ursprung zu verleugnen , hatte sich in ein Heimwesen mit zeitgemäßem , bürgerlichem Behagen umgewandelt , und wie hätte fortan ein Bedürftiger ohne Labe und Pflege von ihrer Schwelle gewiesen werden sollen , wenn die kleine Hardine für ihn " bitte , bitte " sprach .
Gut geartete Kinder geben ja so gern und die kleine Hardine war ein gut geartetes Kind .
Als in den ersten dreißiger Jahren die Cholera rings im Lande viele Opfer forderte , und mit einem ihrer Katzensprünge nur unser Reckenburg , verschonte , da errichtete das Fräulein ein stattliches Waisenhaus und an dem Einsegnungstage ihrer Pflegetochter wurden fünfzig kleine , vater- und mutterlose Mädchen darin eingeführt .
So ist die kleine Hardine nun ein erwachsenes Dämchen geworden ; und ein wechselnder Verkehr mit Stadt und Land hat sich angebahnt und ausgedehnt auch über Kreise , die sonst nicht zu der Tafelrunde der Reckenburg gezählt worden waren ; innerhalb dieser Kreise werden , bei dem seit den Julitagen angeregteren Zeitwesen , denn auch wohl Stimmungen laut geworden sein , welchen die große Hardine in früheren Tagen schwerlich Gehör geschenkt haben würde .
Kurzum , wohin wir blicken , da ist seit dem Eintritt des kleinen Bettlerkindes in der vertrauten Umhegung allmählich das Alte neu , das Verlebte jung geworden .
Und so sehen wir denn auch nicht mehr die goldene Kutsche mit dem altersschwachen Schimmelzug , sondern ein leichtes Gefährt , mit raschem Zweigespann die Herrschaft und ihre Gäste zu einander führen , und nicht mehr die gepuderten Heiducken , sondern ein flinkes , jugendliches Völkchen versieht den Dienst in dem erneuten Haus .
Die periodischen Galafeste haben aufgehört , aber im Schloß wie Dorf singt und springt die Jugend unter dem Maibaum und dem Erntekranz ; die Schenke streckt einladend ihren Arm in die Luft , die Kegel rollen , die Krüge klappen , wenn auch mit Maß ; wir sind noch immer eine ehrbare Kolonie , aber doch andere Leute geworden wie jene , die den wandernden Invaliden mit Wunderaugen betrachteten und die stattliche Festkavalkade keines Blinzelns würdigten .
Es herbergte sich gut auch bei den Bauern von Reckenburg ; droben aber in den herrschaftlichen Gemächern lockte ein allempfundener Zauber die Gäste herbei , denn die alte Dame lächelte gütig und die junge war schön .
Indessen sie hieß noch immer schlechthin Hardine Müller , sie nahm eine Stellung ein , die sich ebensowohl für die bevorzugte Gesellschafterin , wie für die Verwandten eines großen Hauses geschickt haben würde .
Ausbildung und Beschäftigungsweise hätten sie für das Familienleben bürgerlicher Kreise geeignet gemacht , Anstand und äußere Form möchte ein junger Kavalier nicht unter seiner Würde gefunden haben .
Und eben weil sie so Verschiedenen gerecht schien , sah die Hoffnung jedes Besonderen sich eingeschränkt .
Die Bürgerlichen schreckten die Ansprüche der aristokratischen Pflegemutter ; die Aristokraten schreckte die plebejische Herkunft ohne verbriefte Zukunftsaussicht .
Eine Zeit lang glaubte man an eine Verbindung mit dem ältesten Sohne des Grafen , einem , hübschen , flotten Kavalier .
Der junge Herr besann sich aber anders , er wählte Eine , die ich weiß nicht wie viele Ahnen und nicht , wie die kleine Hardine , zwar zehn Sperlinge auf dem Dach , aber einen sicher in der Hand hatte .
Es war das zweifelhafte Erbe der Reckenburg , welches von zwei Seiten die Bewerber zurückhielt , und so müssen wir leider die Tatsache konstatieren daß die liebliche , vielbewunderte kleine Hardine in ihrem zwanzigsten Jahre sich noch keines Heiratsantrages rühmen durfte .
Alle diese Freierzweifel fanden jedoch eine überraschende Lösung , als just in den Hochsommertagen , wo vor zwölf Jahren die Waise des Invaliden an dem Herde der Reckenburg heimisch geworden war , Fräulein Hardine die Verlobung ihrer Pflegetochter bekannt machte .
Der Auserkorene war ihr erster Kindheitsgenosse , der uns bekannte , freundliche Gymnasiast , der aber nicht das geistliche Erbamt auf Reckenburg übernommen , sondern nach dem Tode seines Vaters vor ein Paar Jahren die juristische Laufbahn mit der ökonomischen unter Fräulein Hardines Augen vertauscht hatte und jetzt als deren Gehilfe die Reckenburg verwaltete .
Manche heimliche Hoffnung wurde durch diese Verbindung zerstört , manche neu belebt .
Man nahm sie als einen Akt der Verleugnung , wo man einen der Adoption gefürchtet hatte .
Nun und nimmermehr konnte dieses Prototyp einer Edelfrau den Stammsitz ihrer Väter , das Erbe , welches deren Namen in die Zukunft leitete , auf die Familie eines Mannes übertragen , der als Bediensteter in ihrem Lohn und Brote stand .
Wer reines Blut in seinen Adern fühlte , brachte ein Hoch aus auf die alte Reckenburgerin .
In wenigen Wochen waren Ludwig Nordheim und Hardine Müller ein Paar .
Die unruhige Spannung aber steigerte sich , als schon am Tage nach der Hochzeit sich die Neuigkeit verbreitete , daß das Fräulein von Reckenburg ein Testament übergeben habe .
Sie hatte es ohne notariellen Beistand abgefaßt , Siegelung und jedwede gerichtliche Einmischung in die zur Zeit ihres Todes bestehende Verwaltung untersagt , bis nach dreißigtägiger Frist die Eröffnung stattgefunden haben werde .
Mit dieser letzten Klausel mochte es allerdings Weile haben .
Die Testatorin war an Geist wie Körper kerngesund , kein Haar auf ihrem Haupte ergraut , der stolze Nacken nicht um eine Linie gekrümmt .
Sie zählte sechzig Jahre , vielleicht auch mehr , aber sie schien auf ein Jahrhundert angelegt .
Manche unserer heimischen Zeitgenossen werden sich daher des allseitigen Staunens , ja Erstarrens erinnern -- dem Herausgeber zittert heute noch die Hand , nun er bei diesem Wendepunkt angelangt ist -- als am 21. September 1837 sich die Kunde von dem Tode der letzten Reckenburgerin gleich einem Lauffeuer über die Landschaft verbreitete .
So fern sie irgend einem gemütlichen Zusammenhänge außer ihrer Flur gestanden , die Blicke und Gedanken von Hoch und Gering hatten sich Geschlechter hindurch mit einem allzu lebhaften und mannigfaltigen Interesse auf die beiden ungewöhnlichen Schloßherrinnen geheftet , um sich nicht wie von einem persönlichen Schicksale betroffen zu fühlen , als jetzt die Stelle , die sie eingenommen , plötzlich verödet war .
Wer sollte diese Stelle fortan füllen ?
Einzelne , wie Korporationen forschten ängstlich nach dem leisesten Faden , welcher zu der bewährten Segensquelle leiten konnte .
Jedweder sah sich zu einer Hoffnung berechtigt um so mehr , als keiner zu einem Anspruch berechtigt war , und nur Glück oder Gunst ihm ein großes Los in die Hand spielen konnten .
Aber es waren nicht diese Glücksjäger allein .
Ein umfänglicher Gemeindeverband hatte eine Oberherrin verloren , die sich sein Gedeihen zur Aufgabe eines langen Lebens gesetzt ; eine große Zahl Beamteter die gerechteste Gebieterin , auch die Armut eine milde Versorgerin , seitdem durch die Hand eines Bettler 15 * Kindes die Tugend der Barmherzigkeit eine Sitte auf Reckenburg geworden war , und es ist nicht zu viel gesagt , daß Tausende mit beklommener Brust der Stunde entgegensahen , die über die Wahl des Erben von Reckenburg entscheiden sollte .
Keiner aber empfand diese Beklemmung tiefer als das junge Paar , dessen sorgloses Glück durch den jähen Tod einer Wohltäterin so dunkel getrübt worden war .
Erst seit dieser Stunde fühlten Ludwig und Hardine voll und ganz das Bedeuten ihrer frühen Verwaisung , fühlten sie das Bangen der Heimatlosigkeit .
Ein warmes , weiches Nest hatte sie bis heute geborgen ; wo aber sollte die Hütte ihrer Zukunft stehen ?
Und es war nicht nur die zweifelhafte Zukunft , nicht nur der Kummer der Gegenwart , es war auch das Geheimnis der Vergangenheit , welches die Herzen der armen Kinder so ängstlich zusammenzog .
Sie allein von den Vielen , welche der letztgültigen Entscheidung über ihre Heimat mit Spannung entgegensahen , sie allein wußten , daß gleichzeitig das Rätsel sich lösen sollte , welches der Waise des Invaliden eine Freistatt in derselben eröffnet hatte .
Als an jenem unglückseligen Morgen die jungen Gatten frohen Muts zum gewohnten Frühgruß in das Zimmer ihrer mütterlichen Freundin traten , fanden sie dieselbe nicht wie alle Tage für ihren Geschäftsbetrieb gerüstet .
Das Bett war unberührt , sie selber aber saß im Nachtkleide zurückgesunken in dem Lehnstuhle , der schon in ihrem Vaterhause gestanden hatte .
Auf dem Schreibtische vor ihr lag die alte Erbbibel aufgeschlagen bei dem achten Kapitel des Römerbriefes und die Worte des vierzehnten Verses , " denn welche der Geist Gottes treibt , die werden Gottes Kinder heißen , " waren sichtbarlich frisch unterstrichen .
Neben der Bibel aber fanden sie ein Manuskript , dessen Aufschrift mit den gewohnten kräftigen Handzügen lautete :
" Mein Geheimnis .
Ohne Zeugen zu lesen von Ludwig und Hardine Nordheim am Abend vor der Eröffnung meines letzten Willens . "
Erst spät in der Nacht schien das Siegel auf diese Mitteilung gedrückt worden zu sein , denn die Lackstange wie das Reckenburg'sche Wappen zeigten Spuren des kürzlichen Gebrauchs und die einzige Kerze , welche dem scharfen Auge und der schlichten Gewöhnung der Matrone noch immer genügte , war tief herabgebrannt .
Noch hatte sie die Flamme sorge lich gelöscht , dann mit gefalteten Händen , im Rückblick oder Aufblick , mochte sie noch eine Weile geruht haben und so entschlummert sein .
Nicht wie die Kinder beim ersten Eindruck hofften , um wiederum zu erwachen , nein , eingeschlummert für immer .
Ein Herzschlag hatte sie getötet .
Kein Zeichen von Kampf oder Krampf entstellte die ruhigen Züge , ein leises Lächeln umspielte die Lippen und auf den Wangen war der letzte rötliche Hauch noch nicht entflohen .
Das tote Antlitz sah sich schöner an als einst das lebende .
Noch zeigte es das milde Entzücken des Heimganges , jenen Adel der letzten Stunde , welcher den Schmerz der Überlebenden zu ewigem Troste verklärt .
Die letzte Reckenburgerin war geschieden vor dem Hinsiechen einer Kraft , in bewußtem Frieden mit Gott , mit seiner Welt und mit sich selbst .
Heute aber lief die Monatsfrist zu Ende , die sie bis zur Enthüllung ihres langbewahrten Geheimnisses anberaumt hatte .
Die Sonne des Oktobertages neigte sich und wir empfinden den feierlichen Ernst , mit welchem wir die jungen Gatten , in tiefe Trauerkleider gehüllt , die Terrasse hinabsteigen und schweigend den Ulmengang bis zum Waldesrande verfolgen sehen .
Eine langgehegte Neigung des Herzens hatte Ludwig und Hardine zusammengeführt und die Liebe , sagt man ja , wählt blind .
Aber auch der scharfprüfende Blick ihrer Beschützerin würde kaum zwei Menschen gefunden haben , welche , wie diese beiden , zur gegenseitigen Ergänzung geschaffen schienen .
So klaren Auges , von so kraftvoller Struktur und Färbung , wie die des jungen Mannes , so hoch aufgerichtet wie ihn , würden wir uns einen leiblichen Sprossen des Reckenburger Stammes haben vorstellen können .
So sicher seiner selbst und rasch zur Tat mußte der Gehilfe sein , welchen Fräulein Hardine sich in ihrem Amte erwählt hatte .
Der frohmütige Gymnasiast , der schon bei der ersten Begegnung das Herz des wandernden Invaliden gewonnen hatte , war ein ganzer Mann geworden und ein guter Mann .
Hardine aber , wie sie sich jetzt so dicht an den einzigen Beschützer schmiegt , dessen Schulter der weiche , goldglänzende Scheitel kaum erreicht , jeder Blick des großen , feuchtschimmernden Auges eine Frage , jede Biegung der anmutigen Glieder , jede Blutwelle unter der durchsichtigen Haut der Ausdruck eines liebebedürftigen Gemüts :
so gleicht sie der jungen Birke , deren Laub im leisesten Hauche zittert und deren zarter Schaft zusammenknicken würde , wenn Sturm und Wetter sich nicht an dem hochragenden Wipfel des schützenden Eichenbaumes brechen sollten .
Es war einer von den seltenen Tagen , deren Sonnengold und Farbenspiel wir so dankbar als letzte Gunst des Jahres genießen .
Ludwig und Hardine erstiegen einen Hügel , der , zwischen Garten und Forst , meilenweit über die Flußaue einen Ausblick bietet .
Die Herbstspinne hatte die Stoppeln der Felder mit einem silbernen Netze verhüllt , die Zeitlose einen Violenschimmer über die noch immer saftgrünen Wiesen gebreitet .
Leise drangen die Glocken der abweidenden Herden herauf ; die Spätlingsdüfte der Reseda mischten sich mit der Würze des Waldes , der in allen Schattierungen des absterbenden Laubes und der immergrünen Nadeln die Landschaft umrahmt .
Breit und ruhig wallte der Strom , ein Spiegel reinster Himmelsbläue , bis er fern im Westen im Glanze der sinkenden Sonne verschwand ; gegen Morgen aber stand die feine Sichel des Mondes gleich einem Diadem über dem schwärzlichen Tannenforst und aus dem Grunde stiegen schon jene weißen Dunstschleier in die Höhe , welche an die Ahnungen unserer Seele erinnern , wenn Sang und Duft der Jugend erloschen sind .
Keine Jahresfärbung steigert die einfachen For men unserer Landschaft zur Schönheit wie die des Herbstes , und war es zum Lebewohl , war es zu einem heimatlichen Glückauf , daß sie heute ihren blendendsten Schmelz entfaltet hatte ?
Ludwig und Hardine hatten eine Weile schweigend das reichgesättigte Bild überschaut .
Jetzt unterbrach der junge Mann die Stille ; er faßte der Gattin Hand und sprach mit einem Lächeln und herzerschließenden Klang der Stimme : " Ja , es ist eine liebe Heimat , und es müßte köstlich sein , sich aus eigenem Antriebe in ihr ein Bürgerrecht zu erwerben .
Aber trockene Deine Tränen , meine Hardine .
Gehören wir nicht Eines dem Anderen ? sind wir nicht durch Sie zu froher Tätigkeit gewöhnt ?
Du wirst auch anderwärts glücklich sein , mein liebes , sanftes Weib ! "
" Überall , Ludwig , überall mit Dir ! " flüsterte sie , indem sie den hellen Kopf an seine Brust gleiten ließ .
Nach einer Pause aber setzte sie hinzu , und ein Schauer überrieselte die schwanke Gestalt :
" Es ist ja nicht das , Ludwig , nicht das allein -- -- "
Sie stockte , er aber sagte :
" Nein , es ist nicht das , und ich weiß , was es ist , Hardine .
Kein bangeres Geheimnis als das des Blutes .
Liegt die Zukunft verhüllt , die Vergangenheit wollen wir klar überblicken , wollen die Ahnen kennen , denen wir die Wohltat des Daseins zu danken haben .
Und darum -- ? "
" Darum ! " hauchte die junge Frau .
" Darum , " fuhr Jener fort mit einer stolzen Zuversicht , als gälte es einen Zweifel an der eigenen Ehre zurückzuweisen , " darum sage ich Dir , was auch die nächste Zukunft enthüllen mag , nun und nimmer einen Makel auf dem hehren Bilde dieser Frau , die uns beiden eine Mutter geworden ist . "
Die Gattin beugte sich und küßte des Mannes Hand , zum Dank , daß er ihr ein frohes Bewußtsein bekräftigt habe .
Dennoch flossen ihre Tränen noch immer .
" Und mein Vater , Ludwig , " schluchzte sie , " mein armer Vater -- "
" Dein Vater , " versetzte Ludwig , " klammerte sich in dem Schiffbruche des Lebens an den Strohhalm einer Erinnerung , eines Wahns , um sich selber und sein hilfloses Kind vor dem Versinken zu erretten . "
Die junge Frau schluchzte krampfhaft .
Ihr Mann küßte sie auf die Stirn und zog sie neben sich auf eine Bank , über welche ein Ebereschenbaum seine schweren Traubenzweige hängen ließ .
" Fasse Dich , mein Kind , " sagte er .
" Uns bleibt noch eine Stunde .
Laß uns die Enthüllungen , welche wir vermuten , durch unsere Erinnerungen vorbereiten .
Niemals würde ich mir solch eine Aussprache selber mit meinem geliebten Weibe gestattet haben , so lange ihre Augen über uns wachten .
Ich fühlte ihre heimliche Mißbilligung .
Heute aber , wo ihr eigener Wille das Geheimnis brechen wird , heute frage ich Dich :
" Hat sie je gegen Dich der Vergangenheit erwähnt ? "
" Niemals , niemals , Ludwig , " beteuerte die junge Frau .
" Und auch gegen mich nur mit einem einzigen , ernsten , aber nicht enthüllenden Wort , " sagte Nordheim , von der Erinnerung bewegt .
" An jenem glückseligen Morgen , wo sie meine langgehegten Wünsche zum Ausdruck und zur Erfüllung brachte , da fragte sie mich :
" Kennst Du die Abstammung des Kindes , Ludwig , dessen Schutz Du von heute ab übernimmst ? "
Und als ich die Frage bejahte , fuhr sie fort :
" Sie ist in Ehren geboren ; ihr Vater war ein tapferer Soldat , dessen Wunden die späteren Verirrungen decken .
Sei auch Du ein tapferer Soldat und scheue nicht die Wunden in dem immer hin schweren Kampfe des Lebens . "
Das ist das einzige Mal , daß sie das Andenken August Müllers in mir wach gerufen hat . "
Ludwig sprach eine lange Weile über jene erste traurige Zeit .
Das Gedächtnis des lebhaften , neugierigen Schülers hatte manches erfaßt und erfahren , was dem blöden , kleinen Mädchen entgangen oder entfallen war .
Er scheute sich nicht , sie an ihres Vaters verwahrlosten Zustand und selber an ihren eigenen zu erinnern , wie sie ein zitterndes , halbnacktes Vögelchen , fast stumpfsinnig von Entbehrung und Elend , der Frau unter die Augen getreten sei , die ihren Abscheu vor jeder Art von Verkommenheit bisher noch zu keines Menschen Gunsten verleugnet habe .
" Ich kann uns diesen Rückblick nicht ersparen , mein liebes Herz , " sagte er , " auf daß wir die Frau verstehen lernen und ihre Tat .
Frage Dich nun selber , ob solch eine Erscheinung , mit dem unerhörtesten Anspruche sich zudrängend und sich des schmählichsten Unglimpfes nicht entblödend , ob sie die bisherige Natur , die bisherigen Grundsätze unserer Freundin erschüttern , oder ob sie dieselben schärfen mußte ? "
Weiterhin sprach er von den Folgen jener Begegnung .
Erst in dieser Stunde erfuhr Hardine , mit welchem Opfer die an Ehrerbietung gewöhnte Matrone ihr Geheimnis bewahrt habe und beider Wesen beugte sich vor diesem schweigenden Heldenmut , den die junge Frau mit dem ihr geläufigsten Worte " Liebe " nannte .
" Nein , " so schloß Ludwig seine umsichtige Betrachtung , " nein , es war nicht , was Du Liebe nennst , Hardine , nicht ein natürlicher Zug , welcher dieser Frau ihrer strengen Lebensregel und der hochgehaltenen Meinung der Welt Trotz bieten hieß .
Und es war auch nicht der übernatürliche Trieb des Christen , der Schmach und Verfolgung als eine Seligkeit auf sich nimmt . "
" Und was dann , Ludwig ? " hauchte die junge Frau , " was dann ? "
" Ein Geheimnis , wie sie es selber nennt , ein Geheimnis , das , wenn es sich löst , uns lehren wird , daß wir die Macht besitzen , auch gegen unsere Neigung das Rechte zu tun .
Gewissen heißt sie , jene himmlische Macht , auf welcher in erster Ordnung alles Menschliche sich gründet .
Diese Frau erfüllte eine Pflicht .
Sie erfüllte sie voll und ganz nach ihrer großgeschaffenen Natur .
Und wenn im Laufe der Zeit der rückwirkende Segen der Liebe ihrer Tugend entquoll , so sind wir zweimal ihre Schuldigen ge worden :
zuerst um des Kampfes Willen , welchen sie bestand , und dann um des Sieges Willen , welcher sie zu unserer Mutter machte . "
Ludwig Nordheim erhob sich nach diesen Worten , ergriff die Hand seiner Gattin und fuhr nach einer Pause mit warmer Bewegung fort :
" Und darum , meine Hardine , ehe wir das letzte Wort aus ihrem Munde vernehmen , lege Deine Rechte in die meine zu einem unverbrüchlichen Entschluß .
Was diese Frau uns enthüllen oder vorenthalten wird :
wir wollen es verehren als die Offenbarung einer Mutter ; was sie uns heißen oder verbieten wird , wir wollen ihm gehorchen , als dem Gesetz einer Mutter .
Sollen wir arm und auf uns selbst gestellt in die Fremde ziehen , wir zweifeln nicht : es war die Weisheit einer Mutter , welche den Stachel der Not zu unserer Reife erkannte .
Zeigt sie uns einen Pfad :
wir wandeln ihn ; eröffnet sie uns ein Amt : wir warten sein , stark durch den Rückblick auf sie .
Endlich aber , meine Hardine :
wenn unter ihrer Hand ein Bild sich entschleiern sollte , welches die Enkel verehren möchten und vor welchem sie errötend die Augen niederschlagen , so zählen wir unser Geschlecht von dem Tage an , wo diese Frau dem losgelösten Kinde eine Freistatt in ihrem Herzen er öffnet hat ; und wir wollen unsere Häupter hoch tragen , gerade darum , denn die freie Liebe einer Mutter hat sich zwischen uns und den mächtigen Schatten gestellt . "
Er schwieg .
Die Gattin hatte ihre beiden Hände in seine Rechte gelegt und er hielt sie eine Weile mit kräftigem Drucke umschlossen .
Es war Abend geworden ; das letzte Rot verglüht , der erste Stern am Horizonte aufgestiegen ; die weißen Nebelgestalten der Aue drangen immer dichter und dichter zu den dunklen Föhrenwipfeln empor .
Noch einen Abschiedsblick in die Runde , dann wendeten Ludwig und Hardine sich rasch und gingen schweigend , aber mit lebhafteren Schritten , als sie gekommen , dem Schlosse zu .
Ohne Aufenthalt betraten sie das einfache Turmgemach , das noch unverrückt die Spuren des entschwundenen Lebens trug .
Fräulein Hardine hatte im Laufe des Sommers einem namhaften Künstler zu dem einzigen Bilde gesessen , welches von ihr existiert und welches jetzt , seiner Bestimmung gemäß , in dem Ahnensaale der Reckenburg das letzte Feld einnimmt .
Von der kinderlosen Erbauerin war dieser Platz dem fürstlichen Gemahle zugedacht , um die Reihe mit einem Purpur abzuschlie ßen .
Nun weilt der Beschauer sinnend vor der schlichten Gestalt , welche der Künstler gut gemalt , aber besser noch aufgefaßt hat .
Wir haben eine lange Reihe hinter uns .
Zu Anfang die nach Natur und Kunst ziemlich grobschlächtigen ritterlichen Damen und Herren in Schaube und Barett , in Koller und Panzerhemd .
Dann , zahlreich vertreten , der Kavalier und sein Gespons , in Lockenperücke und Zopf , uniformiert und besternt , Puder , Toupet und Schönpflästerchen , tanzmeisterliche Haltung und Höflingspas .
Endlich die kleine Figur der Gräfin mit dem scharfen Vogelprofil , ein neunperliges Krönchen in der hochgetürmten Frisur , wie sie vor den Ruinen der alten Burg den Bauplan des neuen Schlosses in der beringten Hand entrollt .
Die Spanne eines Jahrhunderts liegt zwischen diesem Bilde und dem , welches die Reihe schließt .
Und welches Jahrhunderts !
Mit Siebenmeilenstiefeln rennt die gewaltigste Umwälzung , welche die Weltgeschichte kennt , an unserem Geiste vorüber .
Der Fuß tut einen Schritt , -- und wir stehen vor der Gestalt Fräulein Hardines .
Alle Frauen der Galerie und selber die Mehrzahl ihrer männlichen Vorgänger überragend , ist sie in einer Waldeslichtung und im Vorwärtsschreiten dargestellt , den Blick mit ruhiger Zuversicht in die Gegend gerichtet , von welcher das Licht in die Szene fällt .
Schlicht gescheiteltes Haar , ein jagdgrünes Gewand , in der Hand einen Eichenzweig :
so wie wir ihr täglich auf ihren Flurgängen begegnet sind .
Auf der Brust als einzigen Schmuck , das schwarzweiße Ordenszeichen der Befreiungsjahre .
Ist es auch nur der Lauf und Ablauf eines Geschlechts , die Gesamtheit spiegelt sich uns in diesem Einzelbilde .
Unser Herz war beklommen , nun schlägt es getrost .
Wir fühlen uns gemahnt an jene Menschheitspfeiler , welche an die Grenze zweier Zeiten gestellt , aus der alten hinaus die Brücke in eine neue schlagen ; gemahnt durch das gute Bild von unserem Fräulein Hardine . Dieses Bild war erst nach dem Tode der Dame von dem Maler abgeliefert und von den Kindern , mit einem Asternkranze umrahmt , für die heutige Weihestunde über dem Lehnstuhle befestigt worden , auf welchem die Teure den letzten Atemzug ausgehaucht hatte .
Dem Bilde gegenüber nahmen sie ihren Platz vor dem altväterlichen Eichentische , auf welchem die Bibel bei dem achten Kapitel des Römerbriefes aufgeschlagen geblieben war .
Hardine zündete die Kerzen an und legte ihre zitternde Hand in die ihres Gatten .
Nach einem tiefen Atemzuge löste er die Siegel des Schriftstückes , und ohne Unterbrechung als die eines liebreichen Blickes auf die still weinende Frau , oder auf das Bild in der Höhe las er den Inhalt , den wir dem Leser vorausgegeben haben bis zu dem Tode des Invaliden .
Das Geheimnis der Vergangenheit war enthüllt , dem Geiste nach so , wie Ludwig Nordheim es der Gattin vorausgekündigt hatte .
Nur wenige Blätter blieben noch in seiner Hand ; er ahnte daß sie das Gesetz für ihre Zukunft enthalten müßten und nach einer langen , langen Pause las er den letzten Abschnitt von der Geschichte der seltenen Frau .
Siebentes Kapitel .
Der Jungbrunnen .
Das Schlußkapitel meiner Geschichte haben wir miteinander durchlebt , liebe Hardine .
Es wird Dir wenig erzählen , dessen Du Dich nicht erinnertest , und soll nur ein Fazit sein von dem , was wir uns gegenseitig schuldig geworden sind .
Du glaubst , es sei eine warme Hand gewesen , welche die Waise von der Leiche des Vaters unter ein heimisches Dach geführt hat .
Wie oft habe ich mit Scham den Dank Deiner Tränen auf dieser Hand empfunden !
Mein Kind , es war ein sehr frostiges Geleit , und es hat lange gewährt , bis ich -- Dich lieben etwa ? -- o nein , bis ich Deinen Anblick nur ertragen lernte .
Es war ein Moment in meinem Leben , in welchem die letzte matte Spur von dem , was die Men 16 * schen Anzügliches für mich gehabt hatten , zu erlöschen drohte .
Das Schicksal , dessen Zeuge ich gewesen , hatte mich erschüttert , nicht erweicht .
Aus Liebe war Dorothee zur Sünderin geworden ; aus Liebe der Mann , der sein ganzes Leben auf sie gestellt hatte , ein Betrogener ; in einem unbestimmten Drange der berechtigtsten Empfindung August Müller zu einem Ehrenräuber und Verleumder ; und ich selber , hatte ich nicht in der Jugend den sicheren Ankergrund meines Lebens einer gefühlvollen Anwandlung preisgegeben , um im Matronenalter den Geifer der Welt als gerechte Strafe dafür einzuernten ?
" Das Herz macht uns zu Schwächlingen und Toren ! " rief ich mit einer Bitterkeit , wie ich sie niemals gekannt hatte .
Denn ich spürte den allseitigen Abfall von meiner Person um so tiefer , da ich ihn nicht zu spüren schien , und da ich mich bis zum Letzten gegen seine Möglichkeit gesträubt hatte .
Keiner dieser Menschen auch nicht der Graf , war meinem Gemüte ein Verlust ; nicht erst an ihrer Schätzung hatte sich mein Selbstgefühl entwickelt .
Aber Ehre und Ehrerbietung , gleichen sie nicht der Luft , die den Atem in der Brust unterhält , den Atem , der um so stärker ringt , je schwächer der Pulsschlag des Herzens den inneren Kreislauf belebt ?
Alle diese Menschen , auch das wußte ich recht gut , führte über kurz oder lang Eitelkeit und Eigennutz mit dem Schein der Ehrerbietung zu mir zurück .
Aber ich wußte auch , daß das Grundwesen der Ehrerbietung für alle Zeit vernichtet war .
Und die Ehre ist nicht selbstgenügsam wie das Gewissen , sie lebt nur durch und in dem Widerstrahl .
Es ist ein einsames Feuer , das in dem Wartturme brennt , aber es leuchtet dem Schiffer zu seinen Füßen , und erlischt es , steht der Turm als ein zweckloses Gehäuse .
Wie solch ein ausgelöschter Leuchtturm kam ich mir vor .
Und was hatte ich als Entgelt dafür , daß der Ehrenname der Reckenburg unter Spott und Hohn verhallen sollte ?
Eine Aufgabe für den tatkräftigen Sinn ?
Eine Herzenslust , ja , nur die Erinnerung daran , -- für welche schon Manche Ruf und Ruhe in die Schanze geschlagen hat ?
Nun , die Versorgung eines Bettlerkindes war kein Heldenstück für die reiche Frau , die ohne Opfer , Hunderten ein Gleiches hätte erweisen dürfen ; aber eine Herzensfreude war sie noch weniger , als ein Heldenstück .
Wenn es noch ein Knabe gewesen wäre !
Ein frischer , fröhlicher Gesell , wie Ludwig Nordheim etwa , der sich zu einem tüchtigen Arbeiter auf meinem Felde heranziehen ließ .
Aber ein Mädchen !
was sollte mir und meiner Reckenburg solch ein schwächliches , zerbrechliches Ding , das bestenfalls Stricknadel und Kochlöffel regieren lernte ?
Und ein verkümmertes , trübseliges Geschöpf obendrein , in dem kein Zug mich an das Paar erinnerte , das mir den Jugendsinn der Schönheit erweckt und bisher allein befriedigt hatte .
Gründete ich dem Kinde eine bürgerlich behagliche Existenz , für welche ich es , nach seiner körperlichen Erholung , in einer braven Predigerfamilie erziehen ließ , so war mein gegebenes Wort und damit meine Aufgabe gelöst .
Die Sorge für diese körperliche Erholung hatte ich meiner Kammerfrau übertragen , auf die ich mich verlassen durfte , wie auf mich selbst .
Denn " gleiche Herren , gleiche Diener , " das Axiom galt seit der Neubegründung der Reckenburg .
Das Kind wurde gekleidet , genährt , gebadet , gepflegt auf ein Titelchen nach der Vorschrift des Medikus oder meinem eigenen Befehl , mit der nämlichen Akkuratesse , wie meine Wäsche gebügelt , oder meine Zimmer entstaubt wurden ; aber auch nicht einen Funken über den Diensteifer hinaus .
Ich konnte dessen versichert sein , ohne nachzuschauen .
Indessen schaute ich nach , so oft ich vor und nach meinen Flurwegen auch die Gesindestuben im Parterre revidierte .
Es fehlte an keiner Schuldigkeit und das Kind war sichtlich gesund .
Aber es hockte müde , mit leeren , wässerigen Augen im Ofenwinkel , oder in einer sonnigen Ecke auf der Terrasse , sprach ungefragt kein Wort , und legte gleichgültig das Spielzeug bei Seite , das man ihm in die Hand gegeben hatte .
" Das Kind ist idiot ! " sagte ich , indem ich ihm den Rücken wendete .
Monate waren in dieser Stimmung vergangen , die häßlichsten , weil hoffnungslosesten meines Lebens .
An einem Novembermorgen erhielt ich das königliche Patent , das mich zur gnädigen Frau erheben sollte .
Ich erkannte die gute Absicht , eine verpfuschte Sache wieder ins Schick zu bringen , schrieb meine Danksagung und legte den huldreichen Akt zu den Akten .
Später als andere Tage trat ich daher meinen Flurgang an .
Auf der Terrassentreppe saß das Kind .
Seine Augen , gewöhnlich halbbedeckt und schläfrig geradeaus gerichtet , waren heute groß zum Himmel aufgeschlagen , an welchem die Sonne noch hinter einem Nebelflor um den Durchbruch kämpfte .
Der Blick frappierte mich ; ich ging schweigend vorüber , aber nach etlichen Schritten kehrte ich um , und fand das Kind noch in dem nämlichen Aufschauen , unbekümmert , daß der schwarze Neufundländer , mein häufiger Begleiter , seine Bekanntschaft suchte , indem er das Frühstücksbrötchen aus den kleinen Händen zu sich nahm .
Ich konnte den Blick nicht los werden .
Es war zum erstenmal , daß meine Gedanken sich mit dem Kinde beschäftigten .
Ich kürzte meinen Morgengang ab , kehrte des nämlichen Wegs zurück und stand still vor einem Bildchen , das , wäre ich ein Maler gewesen , ich augenblicklich skizziert haben würde .
Die Kleine saß noch auf derselben Stelle , und der große , schwarze Hund geduldig neben ihr .
Sie hatte die Ärmchen um seinen Hals geschlungen , und den Kopf in sein zottiges Fell gewühlt .
Die Sonne , die jetzt klar und fast sommerwarm niederschien , breitete einen Goldschimmer über das lose flatternde Haar ; ich bemerkte erst jetzt , daß es sich anmutig kräuselte , daß auch die steckenartigen Glieder sich gebleicht und gefüllt hatten , und die Bäckchen , die im Augenblick ein leises Rot überhauchte , sich kindlich zu runden begannen .
Ein friedliches Behagen prägte sich aus über der kleinen Gestalt .
Bei meinem Nahen hob sie die Augen zu mir auf , belebt und dunkelblau ; sie lächelte zum erstenmal unter meinem Dach , -- vielleicht zum erstenmal im Leben .
" Das Kind friert .
Es braucht Wärme ! " sagte ich , und von dem Tage ab wohnte und schlief es in meinem Erkerturm , der gegen die Mittags- und Abendsonne gelegen und allein von der langen , glänzenden Zimmerflucht warm , und allenfalls wohnlich eingerichtet war .
Nun aß ich mit der Kleinen an einem Tisch , nun sah ich sie Morgens und Abends in ihrem Bett , nun merkte ich auf die Entwicklung des zarten Keimes .
Lange freilich noch nicht mit der bewußten Liebe des Gärtners , der ein Samenkorn zum Pflänzchen auferzieht , aber doch mit einer Art von neugierigem Verlangen : ob es wohl zur Blüte kommen wird ?
Sie wurde täglich weißer , runder , gefälliger anzusehen .
Manchmal rief ich überrascht : die Dorle !
Aber sie drehte sich nicht wie die Dorle , lachte nicht , schwatzte nicht , spielte nicht wie sie , und der große , schwarze Hund war ihr einziger , aber treuergebener Freund .
Ich hatte mit dem Prediger einen Unterrichtsversuch verabredet , der nach Neujahr mit dem schwächlichen Geiste angestellt werden sollte .
Am Nachmittag des Weihnachtsheiligabends kam er zu mir , die Kleine zur Christbescherung einzuladen , die sein Sohn , als Feriengast , heimlich aufgebaut hatte .
Im Schlosse wurde nicht beschert ; das Dienstpersonal erhielt sein ausbedungenes Geldgeschenk und ein stehendes Festgericht .
Im Übrigen glich der Freudenabend der Christenheit allen anderen Abenden des Jahres .
Der junge Herr Ludwig hatte den Vater begleitet und blieb bei dem Kinde , während ich mit jenem in Gemeindeangelegenheiten noch einen Gang durch es Dorf machte .
Als wir zurückkehrten , saß der junge Herr im Fenster , durch welches die Sonnenstrahlen schräg in das Zimmer fielen , und das Kind saß auf seinen Knien , die Händchen in den seinen , den Kopf an seine Brust gelehnt , und die Augen leuchtend zu ihm aufgeschlagen ; er hatte eben eine hübsche Legende vom Christkindchen zu Ende gebracht .
Mir war es niemals eingefallen , der Kleinen ein Märchen oder Stücklein zu erzählen ; wüßte auch wahrlich nicht , wie mir eines hätte einfallen können .
Ich ließ das vorrätige Spiel- und Naschwerk nach der Pfarre tragen , und begleitete , obgleich nicht mit eingeladen , das Kind hinunter .
So lange ich meine Winter regelmäßig auf Reckenburg verlebt , also seit sechsunddreißig Jahren , hatte ich keine Christbe Scherung angesehen , und fürwahr , es muß ein Zauber aus dem lichterglänzenden Tannenbaum strahlen , ein Zauber , der eine heilige Familienfreude weckt .
Die zäheste alte Jungfer wird zur Mutter , während sie die Christlichter brennen sieht , und die Würze der Nadeln mit der des Wachsstocks , der Früchte und Süßigkeiten gemischt , dies unvergleichliche Weihnachtsgedufte ihr in die Nase steigt .
Und wie feierlich spielte und sang nun Herr Ludwig am Klavier :
" Vom Himmel hoch da komme ich her ! " und wie künstlerisch hatte er seinen Lichterbaum aufgeputzt , wie geheimnisvoll die Bescherung verteilt , wie lieblich das Christkindchen in der Mooskrippe gebettet !
Eine muntere Schar aus dem Schul- und Forsthause war als Festgenossenschaft eingezogen , und -- wißt Ihr_es noch ? -- wie die kleine Hardine wett mit ihr Ringelrund um den Weihnachtstisch tanzte , wie sie spielte , lachte und ihrem Meister nach " o Tannenbaum , o Tannenbaum " zwitscherte , so frisch und fröhlich , wie der Anderen keins ?
Als sie aber spät Abends an der großen Hardine Hand über die im Mondlicht glitzernde Schneedecke , durch das totenstille Dorf , in das totenstille Schloß zurückkehrte , da erzählte sie ihr Wort für Wort die Geschichte vom Christkinde , die sie heute zum erstenmal von freundlichen Lippen gehört und im Bilde geschaut hatte und in dem alten Herzen regte sich zum erstenmal das Ahnen der Gotteserscheinung nicht bloß in dem Einen gnadenreichen , aber in jedem hilflosen Menschenkinde .
" Die Kleine ist nicht idiot , " sagte ich , als ich vor Schlafengehen sie mit purpurnen Wangen und raschem , kräftigem Atem in ihrem Bettchen liegen sah , " aber sie braucht Erregung und Freude . "
Trotz der Sabbatfeier stellte am ersten Festtage ein Lehrmeister auf Schloß Reckenburg sich ein .
Nordheim junior , als Substitut für seinen vielbeschäftigten Herrn Papa .
Und als der Substitut am Feste Epiphanias seine Würde niederlegte , da wußte das Wunderkind zwölf Märchenstücklein und sämtliche Buchstaben , wie auch Grundzahlen am Schnürchen herzusagen .
Der Fortschritt erlahmte ein wenig unter der Methode des älteren Professors , regelmäßig aber während der festlichen Ferienzeit rannte er mit Siebenmeilenstiefeln voran , namentlich in der rhetorischen Kunst .
Als das verhängnisvolle Königsfest jährig wurde , da dachte ich nicht mehr daran , die kleine Anwärterin des Kochlöffels in einer braven Predigerfa milie zu versorgen , sondern dankte Gott , daß ich sie , als Schatz des neuen Turmes , hüten durfte .
Nun aber war es erstaunlich , welche niegekannte Bedürfnisse ich dem bescheidenen Kinde Tag für Tag zu befriedigen fand , wie mit jeder Befriedigung der Hunger nach neuen Bedürfnissen wuchs , und wie das nüchterne , einförmige Leben allmählich so bunt und mannigfaltig wurde rings um mich her .
Das Kind braucht Behagen und Freiheit , es braucht Gespielen und Freunde , Blumen und Vögel , Sang und Klang ; es braucht Almosen für die Armen und Obdach für die Waisen , die es sich nachgelockt hat ; alles in Eins gefaßt : das Kind braucht Liebe !
Wenn wir das Leben bedeutender Menschen , wie es die Geschichte , oder der Dichter uns vorführt , überschauen , so finden wir in heißen Jugendkämpfen , in Lust und Leid ein aneignendes Streben , ein Drängen aus der eigenen Persönlichkeit heraus und in die der Anderen hinein , bis denn am Ende , nach mancher Verirrung , befriedigt oder entsagend , das Ich zur Ruhe kommt , die Heldenmäßigen selbstvergessend für eine Gesamtheit wirken , Denker und Dichter beschaulich das Ganze , wie das Einzelne an sich vorüberziehen lassen .
Aber nicht bloß bei diesen Auserwählten , auch im Alltagslauf zeigt sich wohl eine beschränktere , aber keine abweichende Entwickelungsart : Freude , Wünsche , Sehnsucht , Anschluß in der Jugend , und im Alter Entsagen , Vereinsamen , bescheidenes Zurückziehen in den Beruf , in den Mechanismus der Stunde und bei den Glücklichsten unter uns : in die Religion .
Mich hatten Natur und Schicksal den entgegengesetzten Weg geführt .
Kaum den Kinderschuhen entwachsen , trat ich ohne Tanz und Spiel , ohne Genossen , ohne Streit , außer dem flüchtigen mit einem Traumgespinst , ohne weitabführende Irrung , trat ich in einen männlichen Beruf , in ein Wirken für Andere mehr als für mich selbst , und fühlte mich durch dieses Wirken beglückt bis in die Matronenjahre hinein .
Erst in dem Alter , wo Andere weiße Haare tragen , regte sich der versäumte Jugendsinn , regte sich ein unbestimmtes Bedürfen , das über das Schaffen hinaus , mich einem natürlichen Zusammenhäng verbände .
Und dieses späte , kaum verstandene Bedürfen , es wird gestillt wie durch ein Wunder .
Aus der gesamten , reichen Welt , die mir die Auswahl bietet , ist es die verlassenste , die armseligste Kreatur , ein Stein des Anstoßes auf meinen Weg geschleudert , die sich mir an das Herz schleicht , es umspinnt , es weckt , es füllt bis auf die letzte Falte ; die alle Ansprüche verdrängt , alle Wünsche überbietet , die ohne es zu ahnen , die alte Umgebung verwandelt , die verlebte Gewohnheit umbildet , die breite Fülle der Gegenwart , junge Geschlechter , natürliche Freuden und das Walten der Liebe an die Stelle der erstarrenden Regel setzt .
Meine liebe Hardine , wer ist dem Anderen mehr schuldig geworden , die hilflose Waise , die in dem Hause der reichen alten Frau eine Kindesstelle fand ; oder ist es die reiche , alte Frau , die durch das Bettlerkind Jugend , Liebe und Freude hat kennen lernen , die durch dieses Kind eine beglückte Mutter und erst ein Weib geworden ist ?
In einen einsamen Born , kühl und durchsichtig wie ein Kristall , da ist einmal ein Staubkorn gefallen , das Samenkorn einer Blüte , die Niemand blühen sah .
Lange , lange Jahre hat es auf dem Grunde geruht , und plötzlich treibt es verwandelt empor , und es trübt sich der klare Spiegel .
Aber des Himmels Lichter brechen sich farbig in der verdunkelten Fläche ; ein erster grüner Keim drängt über sie hinaus ; bald ragt ein Blatt in die Höhe , bald eine blaue Blume von anlockendem Duft ; es lebt und webt in dem ein samen Born , es ist Frühling in ihm und über ihm geworden , rings umher Farbe und Würze , Vogelsang und wärmender Sonnenstrahl .
Es klingt wie ein Märchen , was dem alten Born geschah .
Und darum , meine Kinder , -- nicht weil ein fremdes Schicksal der Entschleierung harrte , -- darum habe ich meine Geschichte ein Geheimnis genannt , und habe " die Logik der Natur " verehrt als eine Hilfe der Gnade .
Die kleine Welt , welcher unsere Reckenburg ein gewohnter Zielpunkt geworden war , konnte deren allmähliche Neuerung nicht entgehen , und männiglich hat man in dem Fremdling , der sie unbewußt hervorlockte , die Erbin nicht nur des über kurz oder lang herrenlosen Besitzes , sondern auch des erlöschenden Namens der Reckenburg vorausgesetzt .
Es ist mir aber niemals in den Sinn gekommen , dem alten Baume , der nach Gottes Willen absterben sollte , dieses neue Reis aufzupfropfen .
Ich habe einen alten Adel als einen zuverlässigen Stützpunkt geehrt ; ich achte einen neuen Adel gleich einer Seifenblase .
Junge Geschlechter mögen nach haltbareren Basen trachten .
Nun und nimmer aber würde ich mit dem Klange eines Namens eine Täuschung verewigt haben , welche durch eine vorlaute Hoffnung geweckt , durch ein halb pflichtmäßiges , halb trotziges Schweigen genährt worden war .
Die letzte Reckenburgerin will auch nicht mit dem Scheine einer Unehrlichkeit in die Grube steigen .
Ebensowenig aber dachte ich daran , die Last eines großen Besitztums so schwachen Schultern , wie den Deinen aufzubürden .
Ich war durchaus nicht gewillt , mein Werk als eine Quelle des Behagens auch dem geliebtesten Menschen zufließen zu lassen .
Es war ein Amt , ein Treugut , das ich übertrug , und Du bist ein Weib , Hardine , dessen Kraft erwächst aus der Kraft des Herzens , dem es sich zu eigen gibt .
" Das Kind braucht Liebe , " sagte ich .
" Liebe es denn frei aus seinem Gemüte heraus , ohne bindende Pflichten , als die , welche diesem Gemüte entkeimen .
Es geschah daher nicht geflissentlich , daß ich die Zweifel über Dein zukünftiges Verhältnis zur Reckenburg unterhielt ; nein , ich hegte diese Zweifel selbst .
Du warst geartet und erzogen , um Dich jedem Zusammenhänge der gebildeten Stände einzufügen , und man durfte voraussetzen , daß meiner Pflege Louise François , Die letzte Reckenburgerin .
II. 17 Tochter zu einer sicheren Bewegung in diesem Zusammenhänge die materielle Ausstattung nicht gemangelt haben würde .
Einen reichen Mann , oder einen armen , einen alten Namen , oder einen neuen , einen beschaulichen Charakter , oder einen tätigen : das Herz hatte freie Wahl , das Erbe der Reckenburg war unabhängig von derselben .
Es soll indessen nicht verhehlt sein , daß ein Zusammentreffen der beiden Abschlußakte meines Lebens , daß namentlich eine Verbindung mit dem gräflichen Hause , mir als Wunsch vor der Seele stand , und bleibe es dahingestellt , ob der alte Namensklang nicht einen heimlichen Zauber übte .
Es hält gar schwer , mit eingelebten , geistigen Gewöhnungen , Vorurteile genannt , tabula rasa zu machen , und es ist auch gar nicht nötig so mit Schaufel und Harke sein Stückchen Lebensboden zu planieren ; wenn nur in der entscheidenden Stunde das Urteil stirnhoch über dem Vorurteil und das Herz auf dem rechten Fleck steht .
Heimlich also , es ist möglich , lockte der alte Namensklang , unter dem der neue verschwinden sollte ; laut aber , das ist gewiß , sprach das Verlangen , eine getäuschte Erwartung nachträglich in Erfüllung zu bringen .
Ich schätzte den Grafen mehr als jemals in seinem erweiterten staatsmännischen Wirkungskreise ; ich kannte ihn als den Einzigen in meiner Umgebung , der , so rücksichtslos er sich gegen einen bösen Schein gebärdet , nicht einen Augenblick an mir gezweifelt hatte .
Ich sah das Wohlgefallen des stattlichen , jungen Kavaliers an meiner Hardine , und wenn ihr Herz sich dem seinigen zuneigte , warum sollten die Vorteile , welche die Eltern erstrebt hatten , am Ende nicht durch die Kinder zu erreichen sein ?
Meine arglose Hardine , Du hast meine Wünsche und Bestrebungen in dieser Richtung nicht bemerkt , und heute danke ich Gott , daß Du sie nicht bemerktest .
Denn als es mir klar wurde , wie des Grafen Standessinn vielleicht schwach genug war , um sich vor dem verbrieften Reckenburgischen Erbe in meines Kindes Hand zu beugen ; aber zu stark , um sonder Erröten dieses Kind in ein Vaterhaus zu führen , als ich den jungen Herrn nur in seinen Schwächen als den Sohn , seines Vaters kennen lernte ; endlich aber , als ich sah , wie Hardines Lippen bei der unerwarteten Fahnenflucht lächelten , und wie sie gleich darauf den Blick vor eines Anderen Blicke senkte , da fiel die letzte Binde vor meinen Augen und mindestens die eine Hälfte meines Abschlußaktes war im Stillen festgesetzt .
17 * Ludwig Nordheim , mein Heimatskind , war der Enkel meines milden Freundes , und der Sohn meines kräftigen Mitarbeiters ; ich hatte mit Vertrauen Beider Grundlagen sich schon im Knaben zu einer heiteren Harmonie vereinigen sehen , und gar wohl den Reiz eines ersten Märchenerzählers auch in einem anderen Herzen gespürt .
Aber sie waren Kinder dazumal , Jahre der Entfernung , der Entfremdung vielleicht , darüber hingegangen , und als er in die Heimat zurückkehrte , war es um Abschied zu nehmen von dem Grabe seines Vaters und auf sich selbst gestellt , sich einen Weg durchs Leben zu schlagen .
Eine tüchtige Kraft , einen frohen Willen , die treue Liebe zu der heimatlichen Flur , und -- jenes Erröten meines Kindes , was brauchte ich mehr , um ihn zu fragen , ob er der alternden Frau ein Gehilfe in ihrem Tagewerke werden wolle ?
Und was brauchte er mehr , um Ja zu sagen und manchen frischen Trieb in das sich verjüngende Gehege einzupflanzen ?
Nun aber erst , in dem freudigen Zusammenspiel der Herzen , wurde es um mich her so warm und lebendig , so bunt und neu .
Die Gegenwart erschien mir so lieblich ; ich mochte an die Veränderungen der Zukunft gar nicht denken .
" Es hat noch Zeit , " sagte ich , zögerte von Tage zu Tage mit einem abschließenden Plan , und Gott weiß , wie lange ich noch gezögert haben würde , wenn nicht ein Strahl von Außen , -- oder nenne ich es von Oben ? --
das behagliche Selbstvergessen durchbrochen hätte .
Erinnerst Du Dich noch , Ludwig , des Nachmittags , es ist heute sechs Wochen , als Du zu mir tratest mit den Worten :
" Da bringt die Zeitung den Nekrolog des berühmten Doktor Faber .
Ich wußte nicht , daß er Ihr Landsmann gewesen ist , auch Ihr Zeitgenosse könnte er noch gewesen sein .
Haben Sie ihn gekannt , Fräulein von Reckenburg ? "
Du wurdest im nämlichen Augenblick zu einem Geschäfte abgerufen , und das ersparte mir eine Antwort , für welche mir der Atem gestockt haben würde .
Der erste und noch der einzige Jugendgenosse war vor mir dahingegangen !
Ich nahm das Blatt zur Hand und überlas den Artikel .
Er war gestorben nach rascher Krankheit den dritten August .
Der dritte August !
Ihr wißt , was dieser Tag mir bedeutete .
Darf man an solche Schicksalsdaten glauben ? soll man sie als ein verwirrendes Spiel des Zufalls von sich weisen ?
Entscheidet nach Eurem Gemüt , aber -- die Glocke schlägt Eins , -- seltsam ! --
es ist der zwanzigste September , der Tag von Valmy , an dem ich diese Aufzeichnungen zu Ende bringe .
Und weiter las ich : der Mann , wie zwölf Jahre früher seine Gattin , war geschieden ohne Erben , ohne verwandtschaftlichen , oder nahe befreundeten Zusammenhäng .
Kein ehrfürchtiges Gefühl wurde demnach verletzt , wenn ich Dir , Hardine , und dem , welchen Du liebtest , jetzt sagte :
" Die Gattin dieses Mannes war Deines Vaters Mutter . "
So hatte denn der alte Zauberer Tod die alten Gestalten noch einmal vor mir wach gerüttelt , und die ernsthafte , vergangene Zeit drängte sich in meine heitere Gegenwart hinein .
Wunderbar aber , wie sich so Bild nach Bild im Zusammenhänge entrollte , da erschien mir auch das Deine , Hardine , plötzlich in einem neuen Licht .
Wohl war ich durch Deinen Anblick so manchmal an die reizende Dorothee erinnert worden .
Ich sah ihren lockigen Goldscheitel auf Deinem Haupt , manchen ihrer Züge , die fragenden Kinderaugen .
Aber Deine Augen fragten nach etwas Anderem , als die ihren , Deine Gestalt war größer , die Farbe matter , und der stille Ernst der Bewegungen machte das ähnelnde Bild zu einer besonderen Erscheinung .
Nein , es war nicht die Enkelin Dorothees , es war einfach das Kind , das sich in das sehnende Herz genistet hatte .
An jenem Abende nun sah ich in meinem Kinde , -- zwar auch nicht die Enkelin Dorothees -- aber zum erstenmal die Enkelin des Mannes , zu dessen Erbe die alte Reckenburgerin den Stammsitz ihrer Väter neu geschaffen hatte , des Mannes , der , hätte er gelebt , der geliebten Mutter seines Sohnes in diesem Erbe eine Heimat bereitet haben würde .
Mir war zu Sinn , als ob ich nur ein Treugut für die rechtmäßige Besitzerin verwaltet habe .
Unter diesen alten Erinnerungen und neuen Vorstellungen schlief ich endlich ein und -- träumte .
Ich bin in meinem Leben , weder wachend noch schlummernd , viel von Traumgesichte behelligt oder beseligt worden , und ich brauche auch nicht zu versichern , meine Kinder , daß ich mich für nichts weniger , als eine Visionärin halte .
Ich war an jenem Abend bewegt wohl , doch ohne Aufregung , kerngesund eingeschlafen , und kerngesund , wie noch in gegenwärtiger Stunde , wachte ich am anderen Morgen auf ; aber mit dem deutlichen Bewußtsein eines Traums .
Welches Traums ?
Mich dünkt , ich hätte ihn malen können , könnte ihn heute noch malen , und doch war es etwas Unbeschreibliches , Unendliches , das man nur fühlt , nicht sieht .
Soll ich sagen ein wogendes Meer ? oder eine blendende Wolke , die von einem Throne niederwallte und wie mit einem durchsichtigen Schleier vier Gestalten überwob , die Hand in Hand auf ihren Knien lagen und ihre Blicke in die Höhe richteten ?
Diese Gestalten aber , ich sah sie so deutlich , wie ich sie je im Leben gesehen hatte , es waren Siegmund Faber , Dorothee , ihr Sohn und ihres Sohnes Vater .
Und eine Fünfte trat zu ihnen , um zwischen dem Letzten und Ersten die Kette zu schließen , diese Fünfte aber war ich selbst .
Der leuchtende Schleier überwallte auch mich und es flüsterte unter seiner Hülle wie Luftgesäusel :
" Denn welche der Geist Gottes treibt , die werden Gottes Kinder heißen . "
Unter diesem Geflüster erwachte ich , und es währte eine Weile , bis ich mich besann , daß nur die Fontäne in der Morgenstille plätscherte , und daß das leuchtende Meer , das mich umwogte , die aufsteigende Sonne sei , welche die Nebel der Aue übergoldete .
Rasch erhob ich mich nun .
Mein Puls schlug ruhig und kräftig , wie alle Tage , wie diese Stunde noch .
Aber es war etwas in mir lebendig geworden , das mich unaufhaltsam vorwärts trieb .
Hatte ich bis heute gesagt : " Es hat Zeit ! " heute sagte ich :
" Es ist Zeit ! " und ich wußte ohne Besinnen , für was es Zeit geworden war .
An jenem Morgen , Ludwig , nahm ich das längst geahnte Wort von Deinen Lippen , und am Abend begann ich diese Aufzeichnungen .
An dem Tage aber , an welchem ich das Kind meines Herzens für Zeit und Ewigkeit Deiner Mannestreue übergeben hatte , an diesem Tage schrieb ich mein Testament .
Es wird dasselbe Euch eröffnet werden , sei es in Wochen , sei es in Jahren , an dem Morgen , nachdem Ihr diese Blätter gelesen habt , und Ihr werdet nur die wenigen Worte darin finden :
" Die Erbin meiner gesamten Hinterlassenschaft ist meine Pflegetochter , Hardine Nordheim , geborene Müller . "
Ich lege das Erbe der Reckenburg in die Hand der Enkelin , wie meine Vorfahrin es in die Hand des Ahnen gelegt haben würde .
Ich lege es in die Hand der Gattin meines bewährten Mitarbeiters .
Ich lege es aber auch in die Hand des Kindes , das in dem einsamen Weibe die Liebe einer Mutter erweckte , und ich lege es vor Allem in die Hand der Waise , mit welcher der Geist der Liebe seinen Einzug in meine Flur gehalten hat .
Ich tue es ohne bedingende Klausel , denn ich bin der Herzen meiner Kinder in ihrem Amte gewiß .
So sei denn dieses Vermächtnis die Krone über dem Werke des abgestorbenen Geschlechts .
Sein Wahrspruch walte in dem jungen Stamm unter den umwandelnden Strömungen der Zeit , und der Geist der Gottesgemeinschaft wirke und wachse zum Segen von Kind auf Kindeskind .
Mitternacht war vorüber , als dieses Schlußwort verhallte .
Mit erhobenen Händen knieten Ludwig und Hardine vor dem Bilde der letzten Reckenburgerin zu einem erneuerten , heiligen Versprechen .
Und bis heute sind sie ihrem Gelöbnis treu geblieben .
Ende .
- License
-
CC-BY
Link to license
- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). François, Louise von. Die letzte Reckenburgerin: Teil 2. Bildungsromankorpus. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0q8.0