Gründlichkeit

Wie viel, im Reich des Geistes gar,
Hängt ab von Ort und Zeit,
Was falsch einst, gilt uns heut für wahr,
Für dumm, was sonst gescheit.
Und mancher, den die eigne Zeit
Verspottet und verlacht,
Lebt' er in unsern Tagen, heut,
Sein Glück wär längst gemacht.
So jener Mathematikus
Im heiteren Paris,
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Setzt ins Theater nie den Fuß,
Da Zahlen nur gewiß.
Doch einst die Freunde brachten ihn
Ins Schauspielhaus mit Glück,
Man gab ein Schauspiel von Racine,
Des Meisters Meisterstück.
Da wird denn rings Begeistrung laut,
Man weint, man klatscht, man tobt,
Was man gehört, was man geschaut,
Wird eines Munds gelobt.
Nur unser Mathematikus
Sah stieren Augs das Spiel,
Bis ihn der Freunde Schar am Schluß
Befragt: wies ihm gefiel,
Ob ihn ergriff der Dichtung Macht,
Des Unglücks Jammerruf?
Doch er erwidert mit Bedacht:
»Mais qu'est ce que cela prouve?«
Da tönt Gelächter rings umher,
Das Wort durchläuft die Stadt
Und ein Jahrhundert oder mehr
Lacht sich die Welt nicht satt.
O armer Mann, du kamst zu früh
Und nicht am rechten Ort;
In unsers Deutschlands Angst und Müh
Erkennt man erst dein Wort,
Wo man Ideen nur begehrt,
Von Glut und Reiz entfernt,
Man, bis zum Halse schon gelehrt,
Noch im Theater lernt –
Dort ruft ein jeder Kritikus,
Was auch der Dichter schuf,
Wie jener Mathematikus:
»Mais qu'est ce que cela prouve?«

Notes
Entstanden 1856.
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TextGrid Repository (2012). Grillparzer, Franz. Gründlichkeit. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-EE99-0