Achter Brief
Berlin, Juni 1869.
Es sind nun sechs Monate her, daß man hier in Berlin das erste Asyl für obdachlose Frauen errichtet hat, und die Sache ist so einfach und so zweckmäßig als möglich angefangen worden. Das Comité, welches sich diesem guten Werke unterzog, hatte nur über geringe Mittel zu verfügen, man konnte also nicht daran denken, ein eigenes Haus für das Asyl zu erwerben, sondern mußte froh sein, daß man in den alten Gebäuden ein Unterkommen fand, welche, an der Ecke der Dorotheenstraße, zunächst der Weidendammerbrücke, gelegen, bis dahin, wie ich glaube, zu Artillerie-Werkstätten benutzt worden waren.
Man hatte zu der Eröffnung des Asyls eine Anzahl Einladungen ausgesendet, aber die Zahl der herbeigekommenen Personen war gering, und es waren, mich ausgenommen, nur Männer anwesend. Ich weiß nicht, ob den anderen Frauen, die ihres Obdaches sicher sind, das Unternehmen nicht so segensreich und so nothwendig erschien, als mir, aber ich war von dem Mangel an Theilnahme von Seiten der Frauen überrascht, da die [70] Berlinerinnen wohlthätig und auch rührig und neugierig sind und bei solchen Anlässen sonst nicht leicht zu fehlen pflegen. Zu sehen und zu hören war dabei freilich nicht viel – im Sinne einer schaulustigen Gesellschaft.
Die Gebäude sind alt und unansehnlich, der Flur und die Treppe, die zu dem Asyle führen, abgenutzt und niedrig; sie führen ja aber auch zu keinem Vergnügungsorte! Den Frauen, die hier Zuflucht suchen, genügt es, unter Dach und Fach zu sein; und die ganze Einweihung ging denn auch in phrasenloser, erquicklicher Einfachheit von Statten. Man nahm den großen wohlgeheizten Raum in Augenschein, in welchem eine Anzahl – ich meine, es waren einige zwanzig – eiserne Betten aufgeschlagen waren. Jedes hatte eine Decke über dem Netzwerk, eine andere zur Bedeckung. In einer kleinen Nebenstube standen einige bequemere Betten mit Matratzen und weichen Kissen für kranke Ankömmlinge vorsorglich bereit, und mir gaben die offenbar aus den verschiedensten Haushaltungen stammenden Bettzeuge und Steppdecken zu denken, denn ich sah im Geiste all' den Ueberfluß vor Augen, der sich als »alte Sachen« als »eine wahre Last« in den Häusern aller nur einigermaßen Begüterten unablässig aufstapelt und mit dessen bloßer Fortschaffung aus unseren Häusern in die der Armen, noch so wesentlichen Bedürfnissen abgeholfen werden könnte, wenn wir nicht auch dazu oft zu träge und zu achtlos wären.
Ein altes, gut aussehendes Ehepaar, das die Aufsicht [71] in dem Asyle führt und die Reinigung der Zimmer wie die Beköstigung besorgt, zeigte uns die Küche. Die Kochgeräthschaften, die Näpfe zum Essen, die Waschapparate waren zweckentsprechend. Kleiderrechen, Pantoffeln zum Wechseln der nassen Fußbekleidung fehlten nicht, und auch die Hausordnung war wohl bedacht. Dem Reglement nach sollten nach zehn Uhr keine Personen mehr aufgenommen werden und nach neun Uhr Morgens Niemand mehr in dem Asyle verweilen. Jedem sollte beim Kommen und beim Gehen eine warme Suppe verabreicht werden, Jedem das Recht fünfmaliger Wiederkehr gestattet und Niemand genöthigt sein, seinen Namen oder sein Herkommen anzugeben, sofern er nicht darauf ausging, von den Vorstehern des Asyles Hülfe für sein Unterkommen zu begehren. – Nur eine Einrichtung schien mir gleich damals nicht zweckmäßig. Man wollte nicht gestatten, daß die Ankommenden ihre Kleider ablegten – während man doch mit Nähgeräthschaften versehen war, um ihnen Gelegenheit zum Ausbessern ihrer Sachen zu gewähren. Die Ankömmlinge Nacht über in staubigen oder schmutzigen und nassen Kleidern zu lassen, war eine Härte gegen sie und ein Nachtheil für die Luft und Reinlichkeit im Asyle; und das hat sich denn auch als ein Fehler und ein Uebelstand herausgestellt.
Von den dort anwesenden Comité-Mitgliedern kannte ich persönlich nur Eines, den Banquier und Reichstags-Abgeordneten Consul Gustav Müller, und wir sprachen [72] mit antheilvoller Neugier davon, ob das Asyl sofort und von welcher Art von Frauen es zunächst benutzt werden würde.
Es war am dritten Januar und in den Tagen feuchtes, nebliges Wetter, bald etwas Frost, dann thauender Schnee und eine böse Naßkälte. Abends, als ich vor Schlafengehen noch nach dem Thermometer sah, blickte ich in die Straße hinunter und dachte: wie gut ist's, daß das Asyl jetzt da ist; vielleicht hätte irgend ein armes Weib heute in diesem Wetter auf irgend einer schmutzigen, nassen Thürschwelle, hungernd und vor Kälte zitternd, die Nacht in aller seiner Noth und Sorge durchwachen müssen, das nun in dem Asyle gesättigt und von der Wärme eingeschläfert, doch für ein paar Stunden aller seiner Noth vergessen kann; und mir fielen im Gegensatze ein gut Theil der mir befreundeten Frauen ein, die gar nicht genug Mitgefühl und Theilnahme dafür bekommen können, wenn sie nach arbeits- und sorgenlosen Tagen, mit sanftem Mittagsschlaf, auf ihren weichen Pfühlen in der Nacht nicht so viel schlafen können, wie sie gern möchten! – Ich war eingeschlafen mit dem Gedanken an das Asyl und wachte damit auf, denn man braucht den Blick nur einmal fest und ausschließlich auf irgend eine Stelle der allgemeinen Noth zu richten, um es mit Erschrecken inne zu werden, mit welcher Sorglosigkeit, ja, mit welchem Leichtsinn wir an alle den Abgründen des Elends vorbeigehen, von denen wir umgeben sind.
[73] Die Zeitungen brachten nach einigen Tagen eine Nachricht über den Besuch des Asyles. Die Zahl hatte in den ersten Tagen zwischen eins und fünf geschwankt, dann war sie schnell gestiegen. Im Monat April haben nach dem letzten Ausweis achthundertvierundachtzig Personen in dem Asyle Zuflucht gesucht; am ersten sechsundzwanzig, am zweiten achtundzwanzig, am dritten neunundzwanzig, am vierten fünfunddreißig. Das Bedürfniß dafür ist also im hohen Grade vorhanden und man denkt jetzt auch bereits an die Vermehrung dieser Anstalten für Berlin – so für Frauen als für Männer.
Da die Comité-Mitglieder es sich zur Pflicht gemacht haben, abwechselnd die Aufsicht in je einer Nacht zu führen, hatte ich meinen vorhin erwähnten Freund gebeten, mir gelegentlich Auskunft über die Verhältnisse der Personen zu verschaffen, die sich zuerst in das Asyl flüchten würden. Einzelne dieser Angaben, wie die Hausverwalter sie erfahren und angegeben haben, setze ich hierher, um dem nur zu verbreiteten Vorurtheile zu begegnen, daß es in der Regel nur selbstverschuldetes Elend sei, welches den Menschen bis zur Obdachlosigkeit hinunter bringen könne.
Eine der ersten Obdach suchenden Frauen war eine fünfundsiebenzigjährige Greisin. Sie hatte keine Angehörigen mehr und hatte sich mit Stricken, das sehr schlecht bezahlt wird, eben nur vor dem Verhungern schützen können. Eines Abends, als sie ausgegangen war, [74] ihre Arbeit abzutragen, war sie auf der Straße ausgeglitten und gefallen und man hatte sie, da sie sich schwer beschädigt, in die Charité gebracht. Dort war sie sechs Wochen lang geblieben und endlich als geheilt entlassen worden. In ihrer ehemaligen Schlafstelle angekommen, hatte sie diese bereits an eine andere Frau vermiethet gefunden und nun nicht gewußt, wo sie sich bergen und wo sie bleiben sollte, da sie zu schwach war, sich nach einer anderen Schlafstelle umthun zu können. Man hatte sie über fünf Nächte in dem Asyle beherbergt, da sie nur mühsam und langsam gehen konnte und also Tage und Tage gebraucht hat, bis sie Leute fand, die sich mit einer so alten und so hinfälligen Person beladen wollten. Denn wer zahlt die Miethe, wenn sie plötzlich stirbt? Wer giebt ihr zu essen, wenn sie nichts mehr hat?
Ein ander Mal meldeten sich ein paar derbe junge Mädchen, die Beide von Auswärts nach Berlin gekommen und mit sehr guten Zeugnissen über ihr bisheriges Wohlverhalten ausgerüstet waren. Sie hatten »in der großen Stadt ihr Glück versuchen wollen, wo man doch eher etwas vor sich bringen könne«, hatten gute Sachen und Kleider mitgebracht, und da sie frisch und »reputirlich« aussahen, hatte sich gleich auf dem Bahnhofe eine Frau zu ihnen gefunden, die sich als Vermietherin ausgegeben und sie für das Erste mit zu sich genommen hatte. Die Sachen der Mädchen waren von der Frau ebenfalls in Obhut genommen, sie war mit ihnen durch viele Straßen [75] gegangen, endlich war man in einem Keller angelangt, da hatten Männer beim Bier gesessen, geraucht und Karten gespielt. Die Frau hatte die Mädchen aufgefordert, es sich bequem zu machen, es war ihnen auch zu essen und zu trinken gegeben worden und sie hatten kein Arg gehabt, bis ihre Beschützerin ihnen gesagt hatte, sie möchten sich doch nicht so in die Ecken drücken, sie betriebe eine Gastwirthschaft, es wären lauter anständige Herren, die bei ihr verkehrten, sie sollten sich denen doch angenehm zu machen suchen, dann könne sie sie vielleicht selbst in ihrem Dienst behalten. Die anständigen Herren wurden dann auch gesprächig und – zudringlich; und die beiden armen jungen Dinger liefen in ihrer Herzensangst davon, ohne zu wissen, wie die Frau geheißen, die sie angelockt, ohne auch nur zu ahnen, in welchem Stadttheil deren Wohnung gelegen hatte.
Dann kamen ein ander Mal um Mitternacht zwei junge Näherinnen. Obschon die Stunde des Reglements vorüber war, bat der in der Nähe stationirte Schutzmann selbst für sie um Aufnahme, da er sie nicht für absichtliche Nachtschwärmerinnen hielt, und sie weinten und flehten so sehr, daß man ihnen nachgab, besonders, da sie ehrlich gestanden, daß sie für diese Nacht durch ihre Schuld auf der Straße geblieben wären. Es war Sonntag, sie waren in einen Verein zum Tanz gegangen, hatten beim Tanze die Zeit verpaßt. Hausschlüssel gab (sehr vernünftiger Weise) ihr Hauswirth ihnen nicht, einlassen [76] wollte er sie um die späte Stunde nicht – oder man hörte ihr Klopfen und Rufen wohl auch nicht – so war es tief in die Nacht geworden. Der Gedanke, auf der Straße zu bleiben, der Polizei in die Hände zu fallen, für immer verdächtigt zu werden, hatte sie ganz außer sich gebracht; und man sagte mir, sie wären am Morgen wie Kinder, dankend und wieder dankend, aus dem Asyle fortgegangen.
Da war ferner eine polnische Jüdin mit einem Kinde, die ihrem Manne hatte, ich weiß nicht, wohin, nachgehen wollen und unterwegs erkrankt war; eine andere Näherin, die durch Krankheit in ihrem Erwerbe zurückgekommen war und deren Hauswirth, während sie außer dem Hause auf Arbeit ausgegangen war, zum Ausgleich für die fällige Miethe ihre wenigen Sachen fortgenommen und sie Abends nicht mehr in das Haus gelassen hatte. Dann kam ein junges hübsches Frauenzimmer aus Potsdam, das man listig aus seinem Dienst fortzugehen überredet und das noch in viel bedenklichere Lage als jene ersterwähnten Mädchen gebracht worden war; kurz, Noth und Verlegenheit und Hülflosigkeit von aller Art – und das Alles hatte sich gleich in den ersten acht Tagen so herausgestellt.
Seitdem hat der »Asyl-Verein« sich fest begründet und seine Statuten veröffentlicht; aber von der Gründung eines Männer-Asyles hat man vorläufig noch abstehen müssen, da das Frauen-Asyl erweitert und, wie es voraus [77] zu sehen war, Vorrichtungen für Bäder und Kleider-Desinfection eingerichtet werden müssen. Es ist nur zu wünschen, daß dies gute Unternehmen Theilnahme und damit Hülfe findet, denn das Asyl kann in Hunderten von Fällen zu einer wahrhaften Lebensrettung in körperlicher wie in moralischer Beziehung werden. Es ist auch eine sehr gute Einrichtung, daß man die sämmtlichen Mitglieder des Vereins, und man wird Mitglied schon durch den bescheidenen Jahresbeitrag von fünfzehn Silbergroschen, so weit ihre Zeit und ihre Kräfte es gestatten, der Reihe nach zu einer Nachtwache in dem Asyle heranziehen will; denn ein Mal im Jahre das wirkliche Elend in seiner harten Unerbittlichkeit vor Augen zu haben, ist uns Allen in der Regel heilsam, wie es überhaupt höchst wichtig ist, daß die Menschen aus den verschiedenen Lebensbereichen in möglichst anspruchsloser Weise mit einander in Berührung gebracht werden, und wichtig vor allen Dingen für diejenigen, die es gewohnt sind, ihr Auge von dem Elende ihrer Mitmenschen abzuwenden und sich mit der Geldgabe, die ihnen oft nicht schwer fällt, von dem Anblick, ja, von dem Gedanken an die Noth und an das Unglück frei zu kaufen, das nur zu oft die Unterlage des Gebäudes ist, in welchem sie sich die Tempel ihres Genusses errichten. Wie viele menschliche Existenzen eine große Stadt alljährig unter ihre Füße tritt, das ist sicherlich schwer zu berechnen – aber die Zahl muß groß, sehr groß sein – und die [78] Gegensätze sind oft furchtbar grell, daß man davor erschrickt. Hungernde, frierende Kinder vor den hellerleuchteten Speisehäusern; sind noch nicht das Schlimmste!
Da ist es denn nicht genug zu würdigen, daß vielfachem Hunger durch die außerordentliche Energie der Frau Lina Morgenstern in einer höchst wirksamen Weise mittelst der »Berliner Volksküchen von 1866« entgegen gearbeitet wird. Frau Morgenstern hat die Geschichte der Entstehung dieser Küchen und die Grundsätze, nach denen sie verwaltet werden, in einfacher und klarer Weise in der Broschüre »Die Berliner Volksküchen« dargestellt, die es in hohem Grade verdient, von allen denen gelesen zu werden, welchen es um wirkliche sociale Verbesserungen Ernst ist. »Ende Mai 1866, als der Krieg bereits vor der Thüre stand, als Handel und Gewerbe schon darnieder lagen,« wurde der Plan zur Eröffnung der Volksküchen von der hülfreichen Frau gefaßt; verschiedene warmherzige Männer und Frauen boten die Hand zu dem Unternehmen, man brachte fünftehalbtausend Thaler zusammen, der Fabrikant Jaques Meyer, der bei keinem gemeinnützigen Unternehmen fehlt, errichtete auf seinem Grundstücke in der Köpnickerstraße ein Gebäude zur Volksküche, das er dem Verein überließ und deren Verwaltung er selber übernahm; der Fabrikant Heckmann schenkte sechs kupferne Kessel, jeden zu hundert Quart; und da in diesem Augenblicke, noch ehe der Bau der ersten Küche vollendet war, die Cholera sich in ungewöhnlicher Schnelle[79] in Berlin verbreitete, erlangte Frau Morgenstern die Erlaubniß, zunächst die Küchen der städtischen Armenspeisungs-Anstalt zu benutzen, welche nur im Winter ihre Almosen vertheilte. In fünf Tagen war, mit Hülfe der verwitweten Frau Anton Gubitz, das Unternehmen im Gange. Am neunten Juli wurden die ersten hundert Portionen Suppe, nicht als Wohlthat, aber für den genauesten Kostenpreis und in vorzüglicher Güte vertheilt – und heute, da ich dieses schreibe, beköstigen sich aus den zehn über Berlin vertheilten Volksküchen täglich achttausend bis zehntausend Personen mit einer so reichlichen, kräftigen und wohlthätigen Kost, daß sie auch der Gutgewöhnte mit Behagen essen und die der Einzelne unter keiner Bedingung für den Preis von einem und einem halben Groschen auch nur annähernd gut herstellen könnte.
»Die Volksküche hat den Zweck,« sagt Frau Morgenstern in ihrer kleinen Schrift, »gute, nahrhafte und reichliche Speise zu so billigen Preisen zu liefern, als der Einzelne oder die Familie sie zu beschaffen außer Stande sind.«
»Ihr Ziel ist Selbsterhaltung, ihre Grundlage freiwillige, uneigennützige, auf jede Geldspeculation verzichtende Verwaltung und Controle der Unternehmer.«
»Daher kann die Volksküche nur gedeihen, wenn sie von einem Verein von Humanisten, nicht von einzelnen Speculanten ausgeht; Ausnahmefälle, wo Einzelne Unternehmer [80] einer Volksküche sein können, sind: Fabrikanten, die zum Wohle für und in Uebereinstimmung mit ihren Arbeitern, anschließend an ihre Fabrik, eine Volksküche anlegen.«
Nach diesem Grundsatze besteht das Personal jeder Küche nur aus wenigen besoldeten Frauenzimmern: der Markenverkäuferin, der Wirthschafterin, der Köchin und so vielen Hülfsfrauen, als für jedes Lokal eben unerläßlich sind. Die Cassenverwaltung, die ganze Controle der Anstalt, ja, selbst die tägliche Vertheilung der Speisen wird von den Männern und Frauen, welche das Unternehmen aufrecht halten, unentgeltlich besorgt. In jeder Küche theilen täglich vier Damen die Speisen aus, und bisher hat ihre bloße Anwesenheit genügt, die Ordnung in dem Lokale aufrecht zu erhalten, und hier und da vorkommende Streitigkeiten zwischen den Speisenden mit ruhiger Zurede zu beschwichtigen. Als ich in der Volksküche in der Kochstraße war, fand ich eine bejahrte Frau, zwei junge Frauen und ein ganz junges Mädchen aus unseren Lebenskreisen, mit dem Vertheilen, das heißt mit dem Verkauf der Speisen beschäftigt, welche sie den Gästen gegen die von denselben am Eingange erstandenen Blechmarken je in ganzen oder halben Portionen aushändigten. Es war ein sehr heißer Tag und obschon die Volksküche in einem Souterrain gelegen, war es drückend heiß. Die Tische waren dicht mit Männern besetzt: Arbeiter in besserer und schlechterer Tracht, einige Soldaten, verschiedene [81] Leute, die wie niedere Beamte aussahen, Dienstmänner, einige Knaben und hinter einem Verschlage eine kleine Anzahl älterer und jüngerer Frauenzimmer. Die Männer, die ich die Treppe hinunter kommen sah, rauchten zum großen Theil, thaten aber die Cigarren fort, so wie sie in die Speiseräume traten, die nicht anders, nicht besser und nicht schlechter eingerichtet sind, als jene »Keller,« in denen diese Classen sonst für den doppelten Preis nicht halb so gut zu essen pflegten. Es ging still und anständig bei dem Essen her, die Leute gingen fort, so wie sie sich gesättigt hatten; aber die aufgebenden vier Frauenzimmer sahen doch mehr oder weniger angegriffen aus, was sie zu ihrer Ehre jedoch nicht abhält, ihr Amt mit Freuden zu verrichten. Sie leisten damit auch mehr, weit mehr, als vielleicht manche von ihnen deutlich weiß und übersieht. Für jeden Wochentag sind in jeder Küche dieselben Frauen thätig, für Aushülfe ist gesorgt, am Sonntage aber tritt noch ein besonderer Wechsel ein, damit nicht immer dieselben Personen ihrer Sonntagsruhe verlustig gehen.
Es ist lehrreich und zugleich erhebend zu lesen, wie man Anfangs Mühe gehabt hat, die Arbeiter an die Benutzung der Volksküchen zu gewöhnen, weil ihr Ehrgefühl sich dagegen sträubte, in das Local der Suppen-Anstalten zu gehen, in welchem bisher nur Almosen gegeben worden waren. Ich dachte dabei an die armen an den Klostertreppen von Rom den Küchenabhub vor [82] aller Welt Augen verzehrenden Bettlermassen und freute mich, daß es bei uns anders ist. Auch die Einrichtung, nach welcher man Anfangs in den Küchen die Speisen nur zubereitete und sie aus der Küche abgeholt werden mußten, sagte dem Bedürfniß und der Gewohnheit des Volkes nicht zu, und erst seit man die Volksküchen zugleich in Speisehäuser verwandelt hat, in denen Jeder, ohne alle Ausnahme Zutritt hat, der am Eingange seine Marke für eine ganze oder halbe Portion eingelöst und bezahlt hat und aus denen eben so ein Jeder sich so viel Portionen, als er will, in seine Behausung holen lassen kann, erst seitdem sind die Anstalten dasjenige geworden, was sie jetzt sind: eine unschätzbare Erleichterung für den Unbemittelten, der billig und zugleich kräftig zu essen wünscht; und daneben eine der heilsam verbrüdernden Ketten zwischen den mehr und weniger Begüterten, zwischen den mehr und weniger Gebildeten. Ich habe, wie gesagt, eines der Speisehäuser besucht und die Speisen gekostet; viele meiner Bekannten haben das zu anderen Zeiten gethan, aber überall und immer ist die Haltung der Gäste gut und immer sind die Speisen so vortrefflich gewesen, daß auch ein verwöhnter Gaumen sie mit Lust genießen konnte. Der alte Grundsatz, das »l'union fait la force!« bewährt sich denn auch hier und bestärkt mich in meiner alten Ueberzeugung und in meinem oft gethanen Ausspruche, daß unsere ganze jetzige Art des bürgerlichen Haushaltens für alle nicht eben wohlhabenden [83] Familien eine eben so thörichte als unverantwortliche Verschwendung ist; die mit jedem Jahre für die Mehrzahl unmöglicher werden und eben dadurch ihr Ende nehmen wird.
Die eigene Küche ist in zahlreichen Fällen ohne alle Frage ein sehr unersprießlicher Luxus, und es ist bei mir seit langen Jahren eine feste und wohlbegründete Ueberzeugung, daß eine große Anzahl von Familien weit besser essen, zweckmäßiger wohnen, ihre Kinder mehr in die Luft führen und besser erziehen könnten, wenn sie auf das sogenannte Glück des eigenen Heerdes verzichten wollten, das oft nur in der Idee ein Glück und im alltäglichen Leben der unbemittelten Familien, die gute brauchbare Dienstboten nicht bezahlen können, häufig eine Quelle von immer neuen Verdrießlichkeiten ist. Ich habe die Unzweckmäßigkeit eines eigenen Heerdes oftmals an dem Beispiele eines Hauses erklärt, in welchem auch wir früher acht Jahre eine Wohnung inne gehabt haben. Das Haus hatte im Vor- und Hinterhause zusammen sechszehn Wohnungen von je drei kleinen Stuben, einem Cabinet und einer Küche. Es waren Wohnungen für kleine Familien, für Leute, die nicht eben viel auszugeben wünschten, und in keiner dieser Wohnungen war die Familie über vier Personen stark. Die Meisten waren kinderlose Leute, ein paar unverheirathete Damen, ein alter Junggeselle, so daß die Zahl der zu Bedienenden in dem Hause sicherlich nicht über fünfundfünfzig Personen [84] betrug. Aber damit diese fünfundfünzig Menschen bedient wurden, ihre fünfundfünfzig Tassen Kaffee, ihren Mittag von Suppe und Fleisch, und Abends ihren Thee hatten, standen sechszehn Köchinnen, die mindestens vierhundertundachtzig Thaler Lohn erhielten, in sechszehn Küchen an sechszehn Heerden und brannten sechszehn Feuer drei, vier Mal am Tage, während eine einzige Köchin bei einem Feuer, mit mäßiger Hülfe, eine solche Beköstigung für fünfzig Menschen vollkommen so gut, ja, besser hätte liefern können. Und dabei würde jede dieser Familien durch Ersparung des Küchenraumes ein viertes Zimmer und jede der sechszehn Mägde die Zeit gewonnen haben, in dem Haushalt einen großen Theil der Verrichtungen zu übernehmen, denen sich jetzt die Hausfrau auf Kosten des Verkehrs mit Mann und Kindern unterziehen mußte. Abgesehen aber davon, wird und muß jede erfahrene Hausfrau es einräumen, daß man in einem Haushalt von wenig Menschen, mit gleichem Geldaufwande, theurer und schlechter ißt, als in einem großen Haushalt. Man kann keine großen Fleischstücke verbrauchen, und die kleinen sind oft schlecht; man kann einen großen Braten nicht verwenden, und vollends die Abgänge zu benutzen, ist in kleinem Haushalte nicht möglich. So behaupte ich denn ganz entschieden, daß ein sehr großer Theil unserer Mittelstände mit vierfachem Geld-, Zeit- und Müheaufwand lange nicht so gut ißt und essen kann, als der Arbeiter es jetzt für einen und einen halben Groschen in der Volksküche [85] bekommt; und es sind theils die Unbildung mancher Frauen, die ein heimliches Bewußtsein davon haben, daß sie ihrem Manne nichts sein können, als Haushälterinnen, theils falsche Romantik, theils träges Vorurtheil, die vor dem Gedanken zurückschrecken, die oft recht ärmliche eigene Küche gegen allgemeine Kochanstalten zu vertauschen, die aber, gerade so wie die Volksküchen, von einer wohlgeleiteten Association von Frauen besorgt und überwacht werden müßten.
Ich höre aber, während ich dieses schreibe, auch schon alle die Einwendungen erheben, die man bei diesem Vorschlage mündlich gegen mich erhoben hat. Die Poesie des Familienlebens soll darunter leiden – wenn man nicht jährlich so und so viel Thaler unnöthig für Feuerung, für Abnutzung der Kochgeräthschaften u.s.w. bezahlt, wenn die Hausfrau nicht täglich so und so viel Zeit mit ihrer Magd am Heerde zubringt, sondern statt dessen ihre Kinder in die Luft führt oder für den Erwerb arbeitet. – Das nicht im Hause gekochte Essen soll nicht so schmackhaft sein! – Aber gerade die unbemittelten bürgerlichen Familien gehen, wenn sie sich eine Güte thun wollen, in eine Gastwirthschaft, und viele Reichen lassen bei Anlässen, in denen sie recht gut speisen wollen, ihre Mahlzeiten bei den Köchen außerhalb ihres Hauses zubereiten! – Das Gasthausessen soll nicht so nahrhaft sein als das Essen – aller der Registrator-, Lehrer- und Rathsfamilien mit dreihundert bis Tausend, bis [86] Fünfzehnhundert Thaler Gehalt, deren armen, bleichsüchtigen und scrophulösen Kindern man die dürftige Ernährung ansieht! – Es wäre zum Lachen mit diesen Einwendungen, wenn es nicht ein Elend wäre! – Aber es ist nicht schwer, der Quelle dieser falschen Vorstellungen nachzukommen. Den Hausfrauen schweben die »Menage-Küchen« vor, aus denen man sich das Essen, in kleine Schnipsel zertheilt, für fünf, sechs, sieben Silbergroschen à Person nach Hause bringen läßt und von deren Gewinn sich ein armer Mann zum Hotelbesitzer und Rentier emporschwingen will. Sie begreifen es noch nicht, daß sie mit halb so viel Zeit, als sie jetzt auf ihren kleinen Haushalt wenden, Haushälterinnen für die Gesammtheit werden und dabei die Ihren viel besser ernähren, den Männern und sich das Leben erleichtern und – nebenher in Ausnahmefällen, wenn ihr Herz sie dazu drängt – zu Hause doch noch backen und kochen könnten, was sie immer wollten; denn einen Kochofen kann man in jeder Stube leicht placiren. Und sie werden es vielleicht auch nicht begreifen, bis der steigende Lohn der Dienstboten, die steigenden Preise der Wohnungen und der Feuerung sie zu ihrem eigenen und zu ihrer Kinder Heil zu einer rationelleren Haushaltung zwingen werden.
Ich? – nun, ich liebe meinen eigenen Heerd, weil ich die Küche verstehe (was bei den Frauen und namentlich bei den jungen Frauen gar nicht immer der Fall ist, denn »das Süppchen«, das sie dem geliebten Manne [87] bereiten, ist oft herzlich schlecht), und wir können den Luxus des eigenen Heerdes zufällig bezahlen. Aber wir haben in Rom von einem Speisewirthe, bei dem ich die Speisen wählte, thatsächlich feiner, besser und billiger gegessen, als ich es mir für zwei Menschen in unserem Hause herstellen kann, und unser Beisammensein, unsere Häuslichkeit und unsere Zufriedenheit haben niemals einen Abbruch erlitten, wenn ich oft halbe Jahre lang auf Reisen keinen Kochtopf und kein Wiegemesser und keinen Heerd mit Augen gesehen habe.
Es drängt uns Alles zur Association auch nach dieser Seite hin; und dabei ist in diesem Briefe noch nicht einmal hervorgehoben, wie für die Armen, die Anspruchslosen, noch besser gesorgt werden kann, wenn der Haushalt der Begüterten im Großen geführt wird. – Vorurtheile besiegt man indessen immer langsam; aber anbohren und immer wieder bohren und dagegen arbeiten, das muß man eben deshalb! – Und eben deshalb – schrieb ich diesen Brief!
[88]