8.
Genie

Camoëns

Camoëns, der Musen Liebling,
Lag erkrankt im Hospitale.
In derselben armen Kammer
Lag ein Schüler aus Coimbra,
Ihm des Tages Stunden kürzend
Mit unendlichem Geplauder.
»Edler Herr und großer Dichter,
Was sie melden, ist es Wahrheit?
Daß gescheitert eines Tages
Am Gestad von Coromandel
Sei das undankbare Fahrzeug,
Das beehrt war, Euch zu tragen?
Daß Ihr, kämpfend in der Brandung,
Mit der Rechten kühn gerudert,
Doch in ausgestreckter Linken
Unerreicht vom Wellenwurfe
Hieltet Eures Liedes Handschrift?
Schwer wird solches mir zu glauben.
Herr, auch mir, wann ich verliebt bin,
Sind Apollos Schwestern günstig;
Aber ging' es mir ans Leben,
Flattern meine schönsten Verse
Ließ' ich wahrlich mit dem Winde,
Brauchte meine beiden Arme!«
Antwort gab der Dichter lächelnd:
»Solches tat ich, Freund, in Wahrheit,
Ringend auf dem Meer des Lebens!
Wider Bosheit, Neid, Verleumdung
Kämpft ich um des Tages Notdurft
[183]
Mit dem einen dieser Arme.
Mit dem andern dieser Arme
Hielt ich über Tod und Abgrund
In des Sonnengottes Strahlen
Mein Gedicht, die Lusiaden,
Bis sie wurden, was sie bleiben.«

Notizen
• 8. Genie Entstanden 1860, Erstdruck 1875.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Meyer, Conrad Ferdinand. Camoëns. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-360D-4