[101] Kinderliebe

Nach Klostersitte floß dein wollen Kleid
in grauer Strenge faltenlos zum Fuß,
doch drüber hin, gelöst und quellend reich,
des sanftesten Marienkopfs Gelock.
Braunaugen, wie von stiller Gluten Wehn
erschimmernd, sich verschleiernd – strahlt ihr noch? ...
Ich war wohl acht, du dreizehn Jahre alt.
Was wars, das unsre Lippen jäh verband –
ach eine selige Sekunde nur –
wie erster unaussprechlich süßer Durst
von Mann zu Weib – in weltvergeßnem Kuß –
dem schönsten Kusse, den ich je geküßt ...? ...
Wo weilst du, Liebe, – nun wohl Mutter längst,
doch ewig junge Beatrice mir –?
Gemahnt auch dich noch Hauch versunkner Zeit –
und gabst auch Du dein Herz nie süßer hin?

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Morgenstern, Christian. Kinderliebe. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3FD1-B