12.

Ich empfinde fast ein Grauen
Daß ich, Plato, für und für
Bin gesessen über dir;
Es ist Zeit hinauß zu schauen
Und sich bey den frischen Quellen
In dem Grünen zu ergehn,
Wo die schönen Blumen stehn
Und die Fischer Netze stellen.
Worzu dienet das Studieren
Als zu lauter Ungemach?
Unter dessen laufft die Bach
Unsers Lebens, das wir führen,
Ehe wir es inne werden,
Auff ihr letztes Ende hin,
Dann kömpt ohne Geist und Sinn
Dieses alles in die Erden.
Hola, Junger, geh' und frage
Wo der beste Trunck mag seyn,
Nimb den Krug und fülle Wein.
Alles Trauren, Leid und Klage
Wie wir Menschen täglich haben,
Eh' uns Clotho fort gerafft,
Will ich in den süssen Safft,
Den die Traube gibt, vergraben.
Kauffe gleichfals auch Melonen.
Und vergieß deß Zuckers nicht;
Schaue nur, daß nichts gebricht.
Jener mag der Heller schonen,
Der bey seinem Gold' und Schätzen
Tolle sich zu krencken pflegt
Und nicht satt zu Bette legt;
Ich wil, weil ich kan, mich letzen.
Bitte meine gute Brüder
Auff die Music und ein Glaß;
Kein Ding schickt sich, dünck mich, baß,
Als ein Trunck und gute Lieder.
Laß' ich schon nicht viel zu erben,
Ey, so hab ich edlen Wein;
Wil mit Andern lustig seyn,
Wann ich gleich allein muß sterben.

Notizen
Erstdruck in: Martini Opitii Buch von der Deutschen Poeterey, Kap. VI, Brieg (David Müller) 1624.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Opitz, Martin. 12. [Ich empfinde fast ein Grauen]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-6413-5