[1] Erstes Buch
1769–1798
[1][3]Dem Ende einer langen Reise nahe, deren letztes Ziel undurchdringliche Wolkenschleier noch vor dem Blicke verbergen, steht der Wanderer atemholend still, überdenkt den weiten Raum, welchen er schon zurückgelegt, den kleinen Rest, welcher noch zu durchlaufen ist, erwartet diesen, er mag nun länger oder kürzer sein, vertrauensvoll aus Gottes Hand, und erlaubt sich, die einzelnen Punkte jener langen Bahn, vom Anfange her, so getreu es sein Gedächtnis gestattet, sich zurückzurufen. Manche Erinnerung wird ihn beschämen, einige werden ihn erfreuen, alle aber sollen dazu dienen, ihn zum Danke gegen die Vorsicht, die ihn mit väterlicher Huld geleitet, anzuregen, und dann den nächsten Lieben, welche er noch in Mitte ihrer Bahn zurückläßt, ein Andenken an den vorausgegangenen Waller zu werden.
Erwarte ja niemand in diesen Blättern merkwürdige Vorfälle, sonderbare Schicksale, oder hervorragende Punkte der allgemeinen Geschichte des Vaterlandes zu finden, an welche das Leben der einzelnen sich oft kettet und, von jenen mächtigen Fittichen getragen, der Erinnerung ferner Zeiten zueilt. Mein Leben war höchst einfach, und Gellerts Vers:
– er ward geboren,
Er lebte, nahm ein Weib, und starb;
umschreibt im eigentlichsten Sinne den ganzen Kreislauf meiner Schicksale. Diese Armut an jedem hochwichtigen Ereignisse, an jeder bedeutenden äußeren Bewegung ist mir nie lästig oder als eine Ungunst des [3] Schicksals vorgekommen, vielmehr habe ich von jeher mein wahrstes Glück in der Stetigkeit und Gleichförmigkeit meiner Verhältnisse gefunden.
Darum auch können diese Blätter nicht leicht durch den Druck bekannt gemacht werden, denn erstens würde die Lesewelt, welche Unterhaltung und Aufregung sucht, von der Einfachheit der Erzählung ermüdet werden, und zweitens ist es der eigentliche Zweck dieser Schrift, wahr zu sein und meinen nächsten Geliebten zu zeigen, wie ich das geworden, was ich war, durch welche Einwirkungen, Umgebungen, Belehrungen, Irrtümer und Hindernisse mein Geist und Gemüt die Richtung erhalten haben, die ihnen jetzt eigen ist. Bei diesen Auseinandersetzungen müssen Personen, Bücher, Zeitumstände und vor allem Zeitgeister geschildert und deutlich gemacht werden, von denen aufrichtig und nach gerechter Würdigung zu reden, jetzt nicht mehr erlaubt ist. Ein Büchelchen, das die Zeiten Kaiser Josefs II. und der Begriffe, welche in jenem merkwürdigen Dezennium in Österreich gang und gäbe geworden sind, mit Wahrheit, wenn auch nicht mit durchgängiger Billigung erwähnen und die Wirkung schildern will, die jene Zeit auf ein junges, lebhaftes Gemüt ausübte, dessen geistige Entwicklung von 10 bis 20 Jahren gerade in jene Periode fiel, ein solches Buch darf keine Hoffnung nähren, wie harmlos es übrigens sein möge, jetzt in Österreich gedruckt zu werden. Auch ist mein Selbstbekenntnis zunächst nur für meine Familie bestimmt. Sollten bis zu meinem Tode die Umstände im Vaterlande sich ändern und wieder einige Gedanken und Preßfreiheit bis dahin in Österreich möglich sein, so steht es der Willkür meiner hinterlassenen Lieben frei, welchen Gebrauch [4] sie von dieser Arbeit machen wollen, die ihnen gewidmet ist.
Noch eine Absicht habe ich mit dieser Wiederholung meines Lebens. Sie soll mir, und wenn sie andere lesen, auch diesen dienen, den Gang zu beobachten, welchen die göttliche Gnade mit einem irrenden Geschöpf genommen, um es durch unmerkliche und unzuberechnende Einwirkungen und Erleuchtungen allmählich von den Pfaden der Welt und des beginnenden Unglaubens zum Heil zurückzuführen. Je mehr ich diesen Fügungen nachsinne, je mehr erfüllen sie mich mit Dank gegen Gott und mit Verwunderung, wie ein schwacher Glaubensfunke sich inmitten einer ganz irreligiösen Zeit und Umgebung in mir erhalten, nach und nach an geringen und scheinbar zufälligen Ereignissen verstärken, entzünden, und allmählich zu einem wohltätigen Lichte erweitern konnte, welches nicht allein mein Inneres jetzt beglückend erleuchtet, sondern mit Gottes Hilfe auch den Rest meines Lebensweges erhellen und mir das dunkle Tal des Todes minder furchtbar machen soll.
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Wenn je eine Art von Ahnenstolz nicht bloß erlaubt, sondern geziemend ist, so ist es der auf die Tugenden, die Rechtlichkeit und nützlichen Leistungen seiner Voreltern und Eltern, und in dieser Hinsicht wird man es mir zugute halten, wenn ich am Eingange meines eigenen Lebenslaufes etwas weitläufiger von meinen Eltern spreche. Da es ohnehin die Bestimmung dieser Blätter hauptsächlich ist, zu zeigen, wie ich durch Umgebung, Umstände und eigene Anlagen die Bildung erhalten, die jetzt meine Persönlichkeit ausmacht, so stehen [5] hier wie überall die Eltern billig obenan; denn ihre Denk- und Handlungsweise hat ja den ersten und bleibendsten Einfluß auf alles, was Kinder sind und werden.
Meines Vaters Eltern waren wohlhabende Personen des Mittelstandes. Der Großvater, der ein kräftiger, kluger Mann gewesen sein muß, liebte die Kunst, und verwendete den Überschuß seiner Einkünfte und seiner Muße (er war Beamter des Stadtmagistrats) auf eine Sammlung von gar nicht unbedeutenden Gemälden, der er in seinem eigenen Hause ein geziemendes Lokal baute und einrichtete, und die ich noch wohl gekannt habe. Einige der besten Stücke wurden später in die k.k. Bildergallerie verkauft, wo sie noch zu sehen sind. Dieser Großvater starb aber in der Blüte seiner Jahre, als mein Vater ein halberwachsener Knabe war, und die Witwe, eine rasche, tätige Frau, erzog den Sohn nun allein. Sie verstand Latein, und war überhaupt für jene Zeit gebildet genug, so daß auch des Sohnes vorzüglicher Geist sich unter ihrer Leitung glücklich entfalten konnte. Die Liebhaberei des Großvaters war in gewisser Hinsicht auf seinen Sohn übergegangen, nur daß sie bei dem lebhaften Gefühle meines Vaters sich noch reger und als ausübende Kunst entfaltete; denn er zeichnete und malte fast ohne alle Anleitung sehr artig. Zugleich erwachte der Geist der Poesie in ihm, und die Musik ward seine Lieblingsunterhaltung. So von allen schönen Künsten angezogen, mit ihren damaligen Leistungen vertraut, zeichnete er sich ebenfalls in seinen Studien aus, und gern hätten die Patres der Jesuiten, unter denen er, wie damals alle jungen Leute, studierte, und welche ihre Zöglinge sehr wohl zu würdigen verstanden, ihn beredet, in ihren Orden zu treten. Dazu aber bezeigte mein Vater keine Lust, [6] das Leben lächelte ihm zu freundlich im Geleite der Musen, und im Besitz eines unabhängigen, wenn auch nicht großen Vermögens. Er studierte die Rechte, und wurde bei der Böhmischen Hofstelle angestellt, deren Chef, der damalige Oberstkanzler Graf Rudolf von Chotek, den eben so geschickten als sittlichen jungen Mann, den heitern, gebildeten Gesellschafter bald auszeichnete und mit vorzüglicher Achtung behandelte.
Von meiner Mutter Eltern weiß ich nur wenig. Ihr Vater war aus dem Hannoveranischen gebürtig und Offizier im k.k. Regiment Wolfenbüttel. Wahrscheinlich war seine Frau bei der Geburt dieses Kindes oder bald darnach gestorben. Meine Mutter hatte sie nie gesehen und erinnerte sich auch keines andern Geschwisters. Der Vater hatte das kleine, kaum fünfjährige Mädchen bei sich, zog mit ihm und dem Regimente – mühsam genug, wie man denken kann – auf ungarischen Dörfern umher, und kam zuletzt, da das Regiment in Wien Garnisonsdienste tun sollte, mit demselben nach Wien. Hier erkrankte er schwer und starb nach kurzer Zeit, das unmündige Kind unter lauter fremden Menschen, fremden Glaubens (denn mein Großvater war protestantisch), im fremden Lande zurücklassend. »Du armes Kind, was wird aus dir werden!« waren seine letzten schmerzlichen Worte zu der kleinen Charlotte (so hieß meine Mutter) gewesen, die sich ihrem kindischen Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hatten. Aber die Vatersorge und des Vaters Gebet hatte seinen Weg zu Gottes Thron gefunden, und der allgemeine Vater unser aller bewies sich auch als solcher an der verlassenen Waise. Er bereitete ihr auf wunderbare Weise ein Los, wie sie es bei Lebzeiten ihrer Eltern kaum hätte hoffen dürfen.
[7] Eine Kammerdienerin oder Kammerfrau der verstorbenen, hochseligen Kaiserin Maria Theresia – Tochter Karls VI. – befand sich abends in einer Gesellschaft zu Wien, in welcher auch einer oder einige Offiziere des kürzlich eingerückten Infanterieregiments waren. Zufälligerweise kam die Rede auf dasselbe, und der eine Offizier sagte, daß sie bereits das Unglück gehabt, einen aus ihrer Zahl – den Oberleutnant Hieronymus – zu verlieren, und daß er nichts als ein fünfjähriges, ganz hilfloses Mädchen hinterlassen habe, für das einstweilen seine Kameraden Sorge tragen müßten.
Als die Kammerfrau abends ihre Gebieterin auskleiden half, und die gütige Monarchin sich herablassend nach den Tagesbegebenheiten ihrer Frauen erkundigte, erzählte jene das Gespräch mit dem Offizier von Wolfenbüttel 1. Die Kaiserin hörte aufmerksam zu, ihr menschenfreundliches Herz wurde in Mitleid für das verlassene Kind gerührt: Ich will das Mädchen holen lassen, sagte sie, – sorgt dafür, daß sie mir gebracht werde.
Meine Mutter war im protestantischen Glauben geboren worden, dem auch die meisten Offiziere des Regiments zugetan waren. Der Befehl der Kaiserin ließ sie nichts anders erwarten, als daß das Kind, dessen sie sich annehmen wollte, in der katholischen Religion erzogen werden würde. Trotz der gerühmten Toleranz ihrer Konfession suchten sie aus allen Kräften dies zu verhindern, und verbargen das Mädchen mehrere Tage lang vor den Nachsuchungen, welche die Leute der [8] Monarchin nach demselben anstellten. Endlich fand man es auf, in einem Hause einer Vorstadt Wiens; es wurde nach Hof gebracht, dort unter Aufsicht eines alten, aber sehr würdigen Fräuleins von spanischer Herkunft, Isabellas Düplessis, in den wenigen Fertigkeiten unterrichtet, die man dazumal von einem Mädchen forderte, und mit noch einigen Fräulein zum persönlichen Dienst bei der Kaiserin bestimmt.
Meiner Mutter ungewöhnlich lebhafter und durchdringender Geist fühlte bald die Schranken, welche die Beschränktheit ihrer Umgebungen demselben anlegte. Sie dürstete nach Kenntnissen, nach gründlichen Erklärungen der Dinge oder Begebenheiten, die sie um sich sah, und sie benutzte die Besuche einiger älterer, gebildeter Männer, welche in das Haus ihrer Erzieherin kamen, um von ihnen Antwort auf die Fragen zu erhalten, welche sich ihr während der Zeit aufgedrängt, und die sie sich deshalb aufzuschreiben pflegte. So strebte ihr Geist weit über ihre Lage, über ihre Gefährtinnen hinaus, und bildete sich meist aus sich selbst.
In diesem Alter war sie auch oft die Spielgefährtin der kaiserlichen Prinzessinnen und lernte in diesem ungezwungenen Beisammensein jene nahe und genau kennen, welche einst die ersten Throne Europas einzunehmen bestimmt waren. Etwas später, da man die ungewöhnlichen Fähigkeiten dieses Kindes beurteilen lernte, wurde sie zur künftigen Vorleserin der Kaiserin bestimmt, und zu dem Ende der Obersthofmeisterin Gräfin Fuchs (nach dem Brauch jener Zeit Gräfin Füchsin genannt) übergeben, bei welcher sie sich im Lesen von Druck- sowohl als Handschriften üben mußte.
[9] Als sie ihr dreizehntes Jahr erreicht hatte, fand man sie geschickt und klug genug, um ihren nicht leichten Dienst anzutreten, und schon dies bürgt für ihre hohe Geisteskraft und Fähigkeit. Sie hatte in dieser Stelle teils mit andern Fräulein ihres Ranges, welche insgesamt den Titel kaiserlicher Kammerdienerinnen trugen, die Toilette und persönliche Bedienung ihrer Gebieterin zu besorgen, teils allein das Amt, der Regentin vorzulesen. Diese Lektüre bestand aber nicht in Romanen oder Unterhaltungsbüchern; es waren Geschäftsschriften, Berichte, Depeschen, kurz Staatsangelegenheiten, über welche die Monarchin selbst entschied, und in denen sie mit unermüdlicher Anstrengung täglich viele Stunden arbeitete, wobei meine Mutter ihr vorlas und überhaupt oft Sekretärsdienste verrichtete.
Natürlich waren wichtige Geheimnisse in den Händen des jungen Mädchens, aber ein frühreifer Geist, bei dem vielleicht die einsame Stellung, ohne Blutsverwandte, ohne Freunde, auf einer Höhe, die von vielen beneidet ward, noch die angeborne Urteilskraft vermehrte und den Beobachtungssinn schärfte, dieser wahrhaft männliche Geist gab meiner Mutter die Kraft, die Verschwiegenheit, die ganze würdige Haltung, welche ihr Platz forderte, und welche ihr das Vertrauen der Fürstin bis an deren Tod sicherte.
Maria Theresia führte ein äußerst tätiges und sehr regelmäßiges Leben. Um fünf Uhr im Sommer, im Winter wahrscheinlich später, stand sie täglich auf, und eine Klingel rief ihren Zofen. Es war Etikette, daß keine anders als frisiert, im seidenen Kleide (man kannte damals unsere Perkals, englische Leinwand usw. nicht), ja selbst im Reifrocke, der aber zum Negligée [10] nur von kleinem Umfang war und Hanserl genannt wurde, vor der Fürstin erscheinen durfte. Dies machte sehr frühes Aufstehen auch den Kammerdienerinnen, wenigstens denen, welche für diesen Tag im Dienste waren, notwendig. Die Toilette der Kaiserin war der mühsamste, wie der unbelohnendste Teil des Dienstes, den meine Mutter zu versehen hatte. Da sie ihn aber mit ebensoviel Geschmack als Schnelle und Geschicklichkeit versah, so ward ihr die Pflicht, ihre Monarchin täglich zu frisieren, dahingegen die andern Fräulein im Dienste abwechselten und manchen Tag ganz frei hatten. Diese ganz freien Tage wurden auch meiner Mutter nach ihrer Tour, nur daß das Frisieren am Morgen und das Vorlesen auf die Nacht jeden Tag ihr ausschließendes Geschäft blieb, in welchem keine andere sie ablösen konnte, weil keine es so zu verrichten verstand wie sie.
Dieses Frisieren und die Verfertigung des Kopfputzes war denn aber auch für meine Mutter eine nur zu ergiebige Quelle von Verdruß und Kränkungen. Man kennt das Wort, welches über Elisabeth von England gesprochen wurde: »Selbst die größte Königin ist doch eine Frau.« Dieses Wort, obgleich Maria Theresia, ihren moralischen Eigenschaften nach, als Frau weit über Elisabeth stand, traf sie doch auch, und sie unterlag dem allgemeinen Los unsers Geschlechtes. Ihre Gestalt, die aber wirklich von höchster Schönheit war, und die Ausschmückung derselben durch vorteilhaften Putz beschäftigte sie etwas mehr, als man gemeinhin von einer Frau, die mit so vielem Geist, mit so viel männlichem Starkmut so weite Länderstrecken zu beherrschen verstand, hätte vermuten sollen. Nur muß man zur Steuer der Wahrheit hinzusetzen, daß[11] diese Freude an ihrer Schönheit, und die Zeit, die sie ihr widmete, nie ihren wichtigeren Pflichten Eintrag tat; noch viel weniger aber Gefallsucht oder eine größere Aufmerksamkeit für das andere Geschlecht zur Quelle hatte. Maria Theresia stand in dieser Rücksicht fleckenlos vor ihrem Zeitalter, und, was noch weit mehr sagen will, auch vor ihrer Umgebung, ihren dienenden Frauen, im höchsten Glanz frommsittlicher Würde und ehelicher Treue da. Wie ein Mädchen aus den mittleren Ständen, bei denen mehr das Herz als eigennützige Rücksichten die Wahl des Gatten bestimmt, und man für sich und nicht für seine Väter liebt (wie Haller sagt), hatte sie den Gemahl gewählt, den schönen, liebenswürdigen Jüngling, der mit ihr erzogen worden oder sich doch während seiner Jugend am Hofe ihres Vaters aufgehalten hatte. Weder Landesmacht noch große Vorteile brachte ihr in politischer Hinsicht die Ehe mit dem Prinzen Franz von Lothringen, der später das Großherzogtum Toskana erhielt. Aber er und sein Bruder Karl lebten am Hofe Kaiser Karls VI., und seine zwei Töchter, Maria Theresia und Marianna, neigten sich in Liebe zu den beiden Brüdern. Theresia teilte den Thron ihrer reichen Erbstaaten mit Franz von Lothringen, und Marianna brachte ihrem Gemahl das Gouvernement der Niederlande. Nie hat Maria Theresia je einen andern Mann schön oder anziehend gefunden, und meine Mutter, eine Frau von so vielem Geiste, daß ich keine in dieser Rücksicht mit ihr zu vergleichen weiß, eine Frau, die in ihrer ganzen Denkart so weit von blindem Enthusiasmus als Schmeichelei und Schranzenwesen entfernt war, die die Fehler und Schwächen ihrer Gebieterin wohl sah und sehen mußte, [12] weil sie dreizehn Jahre um sie lebte, hat in Rücksicht weiblicher Würde und ehelicher Treue Marien Theresien immer als das Vorbild ihres Geschlechtes gepriesen.
Ihre trübsten Stunden hatte meine Mutter also bei der Toilette der Kaiserin oder bei der Verfertigung ihres Putzes, denn dazumal wußte man nicht so viel von Marchandes de mode, und die Fräulein, welche die Monarchin bedienten, waren auch größtenteils ihre Putzmacherinnen. Oft – sehr oft mußte eine Haube vier- bis fünfmal anders gesteckt werden, bis sie nach dem Geschmacke der Gebieterin war, und wer diese Art von Arbeit zu beurteilen versteht, wird wissen, daß ein öfteres Auf- und Andersmachen der Sache gar nicht förderlich ist, ja meistens die Schönheit der Stoffe und des Zubehörs ganz zerstört. Ebenso ging es mit der Frisur. Auch an dieser zupfte, rupfte, änderte die hohe Frau so viel und so lange, bis sie verdorben war und neu gemacht werden mußte, was denn bei der damaligen Art des Haarputzes gemeiniglich dahin führte, daß der ganze Bau zerstört, die Haare ausgekämmt und nicht selten neu in Papilloten gewickelt und gekräuselt werden mußten. Daß die Gebieterin dabei übellaunig wurde, daß die Zofen das entgelten mußten, ist ebenso natürlich – und die Erinnerung an alle die trüben Stunden, welche Putz und Toilette ihr gemacht hatten, mag wohl schuld gewesen sein, daß meine Mutter selbst in den Jahren, wo sie noch wohl Freude daran hätte haben können, sich vorteilhaft und ihrer sehr niedlichen Figur gemäß anzuziehen, sich schon ganz matronenhaft, und, wie ich mich aus den Bildern meiner Kindheit wohl entsinne, beinahe altfränkisch kleidete. Auch auf mich [13] hatten jene Erinnerungen Einfluß, denn ich mußte wie in allem, so besonders bei meiner Toilette sehr hurtig zu sein lernen, und es wurde mir für die damalige mühsame Art des Anzuges und der Frisur ungemein wenig Zeit gegönnt, um beides an mir zu bewerkstelligen.
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Eine viel minder verdrießliche, wenn gleich auch anstrengende Art des Dienstes, war das Vorlesen der Geschäftsschriften in den verschiedenen Sprachen, welche in den weiten Provinzen der Erbstaaten geredet wurden; deutsch, italienisch, französisch (in den Niederlanden) und lateinisch (in Ungarn). Da Französisch damals noch viel mehr als jetzt die Sprache der höhern Stände, ja der gebildeten Welt überhaupt war, so war sie denn auch an Maria Theresias Hof die herrschende, zumal da ihr Gemahl, Kaiser Franz I., als geborner Lothringer kaum Deutsch verstand und es nie sprach, auch seinetwegen viele Personen in den Hofdiensten Lothringer oder Niederländer waren. Meine Mutter hatte das Französische daher von ihrer Kindheit an wie eine zweite Muttersprache, ja wie ihre eigentliche gelernt und sprach und schrieb es mit gleicher Fertigkeit. Auch das Italienische war ihr geläufig. Damals wurde es überhaupt viel am Hofe und in Wien gesprochen, und der Dichter des Hofes war stets ein Italiener; früher unter Kaiser Leopold, Apostolo Zeno, später der hochberühmte Metastasio, eigentlich Trapassi genannt, den ich noch persönlich gekannt habe. Alle Schauspiele, welche dem Hofe zu Ehren oder bei feierlichen Gelegenheiten gegeben wurden, waren italienische Opern, an deren Schlusse jedesmal in einer kleinen Strophe, welche den Namen[14] Licenza führte, ein Kompliment angebracht war, welches den Inhalt der Oper mit einer schmeichelhaften Anwendung auf die gegenwärtige Feierlichkeit verband.
Diese beiden Sprachen waren meiner Mutter also sehr geläufig, und sie redete sie wahrscheinlich zierlicher und korrekter als ihre Muttersprache; denn damals galt noch von den meisten Einwohnern Wiens in den höheren Ständen, was ein Dichter von sich sagt:
Ich spreche Wälsch wie Dante,
Wie Cicero Lateinisch,
Wie Pope und Thomson Englisch,
Wie Demosthenes Griechisch,
Wie Diderot Französisch
Und Deutsch – wie meine Amme.
Selbst die Kaiserin bediente sich des ganz gemeinen österreichischen Jargons, und folgende zwei Anekdoten, die ich oft aus dem Mund meiner seligen Mutter hörte, werden dienen, jene Zeit zu charakterisieren, von der ich spreche. Ein Fräulein aus Sachsen wurde als Kammerdienerin bei der Kaiserin angestellt, und meine Mutter, welche ihr damals schon mehrere Jahre gedient hatte, bekam den Auftrag, die Neue, so hieß jede Letzteingetretene unter den Fräulein, zum Dienst abzurichten. Das sächsische Fräulein nahm also in zweifelhaften Fällen immer ihre Zuflucht zu meiner Mutter, als ihrer Lehrerin. Eines Tages kam sie ganz verlegen und ängstlich zu ihr, und bat sie, ihr zu sagen, was sie zu tun habe. Ihre Majestät die Kaiserin habe das Blabe Buich verlangt. – Meine Mutter mußte lächeln, sie gab der Sächsin ein blaues Buch, in welchem die Kaiserin eben zu lesen pflegte, mit dem Bedeuten, es der Monarchin zu überreichen. Lange wollte die andere es nicht glauben, daß mit jener Bezeichnung ein blaues Buch gemeint sein sollte; – [15] indes meine Mutter beharrte darauf, Fräulein M** übergab das Buch, und sieh! – es war das rechte. Diese Anekdote erklärt hinreichend, warum in den glänzenden Zirkeln Französisch oder Italienisch und nie Deutsch gesprochen wurde.
Kurz vor der Geburt einer ihrer jüngsten Prinzessinnen stritt die hochselige Kaiserin mit einem Grafen Dietrichstein scherzhaft darüber, ob das zu erwartende Kind ein Prinz oder eine Prinzessin sein würde. Der Graf behauptete das erste, die Kaiserin das zweite. Es wurde eine Wette eingegangen; – die Kaiserin behielt recht, das Kind war eine Erzherzogin, und Graf Dietrichstein mußte bezahlen. Da half er nun, im Geschmacke jener Zeit, sich mit einer sehr artigen Galanterie. Er ließ sein Bild in kniender Stellung von Porzellan verfertigen, und diese Gestalt reicht mit der einen Hand der Kaiserin ein Blatt, worauf folgende Verse Metastasios standen:
Perdo, è ver, l'augusta figlia
A pagar m'ha condannato,
Ma s'è ver che a te somiglia,
Tutto il mondo ha guadagnato.
Die ganze Idee, welche vermutlich von Metastasio herrührte, ist ebenso zart als schmeichelhaft, und macht seiner Erfindungskraft Ehre; dennoch kann man nicht umhin, wenn man sich jenes Geschenk lebhaft vergegenwärtigt, das porzellanene Figürchen, aller Wahrscheinlichkeit nach, weil es Porträt war, mit Staatskleid, Perücke und Degen, welches da kniend ein beschriebenes Blatt überreicht, komisch zu finden. Doch das Ganze zeigt den Geschmack und Ton jener Zeit, wo die schöne deutsche Literatur sich kaum mit ihren ersten Strahlen in Norddeutschland zu zeigen[16] anfing, bis zu uns aber noch nicht gedrungen war, und alles, was las und Sinn für Bildung hatte, bloß französische oder italienische Literatur kannte.
Latein war die vierte Sprache, welche in den Geschäftspapieren, die meine Mutter ihrer Monarchin vorlesen mußte, vorkam. Die Kaiserin verstand sie vollkommen, redete sie vielleicht auch mit ihren ungarischen Magnaten und rief ihnen in diesen Akzenten jenen unvergeßlichen Tag zurück, an dem sie, von den Mächten von halb Europa bekriegt und mit dem Verlust aller ihrer, von eben jenen Mächten garantierten Staaten bedroht, die schöne, junge, unglückliche Fürstin, den königlichen Säugling auf dem Arm, auf dem Reichstag ihrer treuen Ungarn erschien, sie zum Beistand aufforderte, und solchen Enthusiasmus in ihnen erregte, daß Greise und Helden begeistert und gerührt die Säbel zogen, und einstimmig, alle für ihren König Maria Theresia zu sterben, schwuren. Gar gern erinnerte sich die große Frau jenes Tages, wo sie den dreifachen Triumph: der verfolgten Tugend, des recht mäßigen Königtums und der Schönheit gefeiert hatte. Immer blieb sie der ungarischen Nation vorzüglich gewogen, und jener Anstrengungen, die sie damals machte, um ihr den Thron ihrer Väter zu erhalten, dankbar eingedenk.
In dieser Sprache nun (im Latein) gab die Kaiserin selbst meiner Mutter die notdürftigste Anleitung, damit diese ihr verständlich vorlesen konnte. Vieles begriff meine Mutter durch das verwandte Französisch und Italienisch, das übrige erklärte ihr, soweit es nötig war, ihre Gebieterin. So las sie denn derselben viele Stunden und Stunden, besonders abends und nach dem sehr mäßigen Nachtessen, welches die Kaiserin [17] in ihren Zimmern allein zu sich nahm, die Geschäftspapiere ihrer verschiedenen Staaten vor. Diese Lektüre dauerte fort, nachdem die Monarchin sich schon entkleiden lassen und zu Bette gelegt hatte, und selbst dann noch, bis der Schlaf sie überwältigte. Dann erst bekam meine Mutter die Erlaubnis, sich zu entfernen.
Wohl umgaben Glanz und Herrlichkeiten meine Mutter in ihrer Jugend, aber ihr Dienst war, wie man aus dem obigen sieht, nichts weniger als leicht, und manche Angewöhnungen der Monarchin machten ihn noch beschwerlicher. So z.B. konnte diese, als eine große, starkgebaute Frau, gar keine Wärme vertragen, wie sie denn überhaupt, trotz ihrer hohen Geburt und des königlichen Glanzes, der schon ihre Wiege umgab, in Rücksicht ihres Körpers nichts weniger als weichlich oder in ihren Gelüsten fordernd war. Geheizt durfte bei ihr fast gar nicht werden, die Furcht vor Zugluft kannte sie nicht, sie wußte nicht, was ein Rheumatismus sei, und selbst im Winter stand oft ein Fenster neben ihrem Schreibtisch offen, durch das der Wind meiner Mutter den Schnee auf das Papier warf, aus welchem sie vorlas. Eine Anekdote mag zum Belege des hier Gesagten dienen. Die Kaiserin, welche wirklich fromm und eine Christin im edelsten Sinne des Wortes war, ging, solange es ihr körperliches Befinden erlaubte, jährlich mit der Frohnleichnamsprozession. An einem solchen Tage, als sie zu dem Ende von Schönbrunn nach der Stadt gefahren war, kam sie gegen Mittag, furchtbar erhitzt und ermüdet von dem heißen Juniustage, von der Schwere und Größe ihrer Person und dem langen, meist der Sonne ausgesetzten Gange durch die halbe Stadt, nach Schönbrunn zurück. [18] Sie ließ sich sogleich ganz entkleiden – und setzte sich dann in der Mitte eines Kabinetts nieder, in welchem Fenster und Türen geöffnet werden mußten, mit nichts als einem Mieder, Rock und Pudermantel bekleidet, trank Limonade, aß Erdbeeren in Eis gekühlt und ließ sich von meiner Mutter die Haare auskämmen, die so naß waren, daß meine Mutter mehr als einmal ihre Hände trocknen mußte. Das alles schadete der kräftigen, noch immer blühenden Frau nicht im geringsten, aber es machte auch, daß sie sehr wenig Rücksicht auf Bedürfnisse oder Wünsche solcher Art bei ihrer dienenden Umgebung nahm, und Abhärtung, Nichtachtung seiner selbst und Unempfindlichkeit gegen schädliche Einwirkungen, welche sie, die kaiserliche Frau, besaß, bei dem dienenden Personale teils voraussetzte, teils forderte. Und so wie sie, hart gegen sich selbst, jede körperliche Verweichlichung oder Schwächlichkeit haßte, war ihr auch jede sittliche Schwäche und übergroße Weichheit zuwider. Ihrer eigenen Kraft und so mancher Gelegenheit sich bewußt, wo sie durch diese und durch ihren Mut sich aus gefährlichen Lagen gerissen und schwere Leiden mit Selbstverleugnung getragen hatte, forderte sie Ähnliches von ihren Umgebungen und mochte kein weinerliches Wesen und keine zu große Empfindlichkeit um sich leiden.
So bildete sich im steten Umgang mit dieser wahrhaft großen Frau, von ihrer Zufriedenheit oder ihrem Tadel geleitet, von ihrem Beispiele ermutigt, meiner Mutter von Natur kräftiger Geist und gesunder Körper auf eine Weise aus, der sie noch in ihren hohen Jahren zum Gegenstand der allgemeinen Achtung und des Erstaunens für viele machte. Bei einem schlanken, [19] zierlichen Körperbau, von mittelmäßiger Größe, besaß meine Mutter eine ungewöhnliche Fülle von Lebenskraft und Gesundheit, welche wohl das Erzeugnis einer unverdorbenen Natur, einer abhärtenden Erziehung und ihrer eigenen Behutsamkeit und strengen Mäßigkeit war, so daß sie für den Einfluß der Witterung, der Zugluft, veränderter oder unverdaulicher Speise ganz und gar unempfindlich war, und bis in ein sehr hohes Alter, ihre Sehkraft ausgenommen, welche gegen das Ende ihres Lebens sehr schwach wurde, alle ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten unvermindert erhielt.
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Maria Theresia forderte viel von ihren Dienerinnen; doch umgab sie sie dafür auch mit Glanz, Wohlstand und Ansehen, wodurch die einzelnen sich nicht bloß geehrt und nach Maßgabe ihrer Denkart auch beglückt fühlten, sondern wodurch ihnen auch ein Begriff ihrer eigenen Würde eingeflößt wurde, der vielleicht besser als die strengsten Verhaltungsbefehle dazu diente, sie vor fremder Zudringlichkeit und eigener Vernachlässigung zu bewahren. Sie standen unter einer Art von häuslicher, ja mütterlicher Aufsicht, mußten es melden, wenn sie ausgehen wollten und bemerken, wohin; dann wurde ihnen eine Hofequipage zu diesem Behuf angespannt oder irgendeine angesehene Frau, die aber dazu eigens bei der Monarchin die Erlaubnis nachsuchen mußte, durfte das Fräulein in ihrer eigenen Equipage abholen und mußte sie auch wieder ebenso zurückführen. Auf andere Art oder in einem Fiaker war durchaus den Kammerdienerinnen nicht erlaubt, auf den Straßen zu erscheinen. [20] In früherer Zeit wurden sie sogar mit sechs Pferden geführt, späterhin nur mit zweien. In Gesellschaften gebührte ihnen der Rang einer Hofrätin, und wenn keine solche gegenwärtig war, nahm das Fräulein vom Hofe vor den übrigen verheirateten Damen den Ehrenplatz auf dem Kanapee ein.
Ihren Tisch hatten sie vom Hofe, ihre Besoldungen waren mäßig, aber die Freigebigkeit der Monarchin, die vielen Teilungen ihrer Garderobe ersetzten ihnen das reichlich, und sie fanden bei Ordnungsliebe und Sparsamkeit stets die Mittel, sehr geschmackvoll und glänzend angezogen zu sein und doch etwas zurückzulegen. An den Tagen, an welchen sie den Dienst nicht hatten, war es ihnen auch vergönnt, auf ihren Zimmern Bekannte, selbst Männer, nicht bloß vom Hofe, sondern auch aus der Stadt, zu sehen, nur mußte die Kaiserin davon benachrichtigt und dies Personen von unbescholtenem Rufe sein.
Auf diese Art entspannen sich denn manche Bekanntschaften, und auch die mit meinem Vater. Es war in der traurigen Zeit des Siebenjährigen Krieges, als Schrecken, Angst und Siegesruhm so oft in Wien und in der kaiserlichen Burg wechselten. Wohl erinnere ich mich noch an ein paar Züge, welche meine Mutter mir aus jener Zeit erzählt hat. Als König Friedrich mit seinen glücklichen Waffen immer weiter vorwärts drang, bereits in Mähren stand und Olmütz zu belagern anfing, da war am kaiserlichen Hofe eben die Zeit gekommen, auf eines der Lustschlösser zu ziehen. Es wurde also in den Kammern gepackt und zur Landfahrt zugerüstet. Meine Mutter war an den Koffern beschäftigt, um die Garderobe und täglichen Bedürfnisse ihrer Gebieterin einzupacken. Eben vorher [21] war die Schreckensnachricht von jener Belagerung gekommen. Ohne zu klagen, ohne sich weiter zu äußern, sagte die Monarchin, indem sie, durchs Zimmer gehend, die Reiseanstalten betrachtete, zu meiner Mutter: »Nimm etwas mehr mit, vielleicht gehen wir weiter«.
Der Kurier von der Schlacht bei Hochkirch traf am Theresiatage, den 15. Oktober, hier ein, abends ziemlich spät, als schon die Prinzen und Prinzessinnen des kaiserlichen Hofes sich nach der Cour und Assemblée bei der Monarchin in ihre Zimmer zurückgezogen und angefangen hatten, sich auszukleiden. Die frohe Siegesbotschaft wurde schnell von der Kaiserin in alle Kammern ihrer Kinder gesendet und wunderlich geputzt, – jene Erzherzogin mit den Edelsteinen im Haare, aber im Nachtkleide, diese im Reifrocke und Galakleide mit zerstörter Frisur; Prinzen halb in Uniform, halb im Hausrocke, kamen sie eiligst wieder in den Zimmern ihrer erlauchten Mutter zusammen, um ihr, nach der Feier des Namenstages, noch zu der Feier des Sieges Glück zu wünschen.
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Während dieser und ähnlicher abwechselnden Szenen entspann sich das zärtliche Verhältnis meiner Eltern. Mein Vater hatte unterdes die Stelle eines Sekretärs bei der böhmisch-österreichischen Kanzlei erlangt, er durfte allerdings als Freier auftreten, aber ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen, wollte ihm noch immer nicht gelingen. Schon sehr oft war die Hand meiner Mutter von glänzenden und auch von minder bedeutenden Freiern gesucht worden. Außer den persönlichen Annehmlichkeiten einer sehr zierlichen [22] Gestalt, anmutiger Gebärden und eines ausgezeichneten Geistes, war auch die Aussicht auf besondere Gunst und Unterstützung von Seite der Monarchin, welche ihrer geschätzten Dienerin und Vorleserin, und um ihretwillen auch dem künftigen Gemahl nicht wohl fehlen konnte, ein Hauptreiz, welche Freier lockte. Aber sie alle, welche bei der Monarchin selbst, die in so vielem und würdigem Sinn Mutterstelle bei ihren Untergebenen vertrat, ihr Gesuch anbringen mußten, sahen sich bisher abgewiesen. Bei den meisten, ja fast bei allen, war meiner Mutter Herz gleichgültig geblieben. Nur einer, ein geborner Ungar, dessen Porträt sie noch lange Jahre nachher besaß, und dessen in Rousseaus Konfessionen als eines höchst interessanten und liebenswürdigen jungen Mannes erwähnt wird – hatte ihr Herz tiefer gerührt. Nicht bloß der Wille der Monarchin, auch ungünstige Verhältnisse in der Familie des jungen Ungars zerrissen das Bündnis. – Er starb bald darauf; meine Mutter gedachte seiner nie ohne Rührung. Bei meinem Vater, der ihre ganze Achtung und innige Neigung erworben hatte, fürchtete sie ebenfalls, die Einwilligung der Kaiserin nicht zu erhalten. Diese hatte gegen jede Verbindung, welche meine Mutter eingehen sollte, etwas einzuwenden. Freilich ist wohl kein Bündnis, kein Verhältnis in der Welt jedem Wunsche und jeder Forderung so ganz gemäß, daß sich nicht mit mehr oder minderem Anschein etwas dagegen aufbringen ließe. Bei der Monarchin aber mag wohl die Abneigung, sich von der so geschickten, so verschwiegenen und verständigen Dienerin zu trennen, deren Stelle nur schwer zu ersetzen gewesen sein würde, jenen abschlägigen Antworten zu Grunde gelegen [23] haben. Meine Eltern mußten sich in Geduld fassen.
Im Jahre 1765 reiste der Hof nach Innsbruck, um die Vermählung des zweiten Prinzen, des nachmaligen Kaisers Leopold II., mit einer spanischen Prinzessin zu feiern. Für meine Mutter war diese Reise in ein gebirgiges Land eine ganz neue und sehr willkommene Begebenheit. Sie freute sich der ihr fremden, wilden Natur, und manches romantische Plätzchen, manche schöne Einsamkeit regte in ihrer, allmählich des Hoflebens müden Seele, den Wunsch auf, an einer solchen Stelle sich selbst und ihren geheimen Neigungen leben zu können. – Der Kaiser Franz, ein noch kräftiger, blühender Mann, fand für seine Wißbegierde und Liebe zur Altertumskunde viel interessanten Stoff an so vielen geschichtlichen und archäologischen Schätzen, welche Innsbruck, noch mehr aber das Bergschloß Ambras enthielt, woselbst sich damals noch die ganze merkwürdige Sammlung befand, welche dem Erzherzoge Ferdinand, dem Gemahl der schönen Welserin, ihr Entstehen verdankt und welche später, als Tirol auf kurze Zeit einer fremden Macht geräumt werden mußte (1805, hierher nach Wien transportiert und seitdem im k.k. Belvedere aufgestellt wurde.
Vorzüglich erfreute das Münz- und Antikenkabinett sich der Vorsorge und Aufmerksamkeit des Monarchen, der einen sehr tüchtigen und der ganzen Welt rühmlich bekannten Gelehrten, Herrn Duval, zum Vorsteher desselben ernannt hatte. Duval habe ich noch gekannt und erinnere mich des langen, hagern, alten Franzosen recht wohl, der meine Eltern öfters besuchte, von ihnen mit großer Achtung und Liebe behandelt wurde und gegen uns Kinder so freundlich[24] war. Er war aber selbst im hohen Alter noch eine kindliche Natur, und er, der arme Hirtenknabe, der hinter seinen Schafen einhergehend und Bücher lesend, die er sich von seinem sauer ersparten Lohn kaufte, so von Kaiser Franzens Vater, dem Herzog von Lothringen, auf der Jagd gefunden, befragt und aufgenommen wurde, den der Herzog dann studieren ließ, weil er dessen ungemeine Fähigkeiten erkannte – behielt noch bis ins späte Alter die ungetrübte Heiterkeit des Geistes, die unerschöpfliche Gutmütigkeit seiner Kindheit und Jugend bei. Meine Mutter liebte er väterlich, nannte sie seine »Bibi« und unterzeichnete seine Briefe an sie immer mit dem, auf ein französisches Sprichwort (que 99 moutons et un Champagnard font 100 bêtes) gegründeten Ausdruck: le suplément des 99 moutons. – Er war aus der Champagne gebürtig.
Um diesem, seinem lieben Duval, nun auch eine Ausbeute von seiner Reise mitzubringen und das Wiener Münzkabinett zu bereichern, ließ sich Kaiser Franz die Schätze des Innsbrucker zeigen, und beschloß, die Dubletten desselben mitzunehmen und dafür von Wien zu senden, was dem Innsbrucker fehlte. Aber damit war der damalige Direktor des Kabinettes in Innsbruck nicht zufrieden (seinen Namen zu nennen, wäre unbescheiden, aber die Anekdoten sind zu hübsch, um vergessen zu werden). – Mit nichten, antwortete er dem Kaiser, ich habe die Münzen auf meinem Inventar, ich muß dafür haften. Vergebens suchte ihn der Kaiser auf den wissenschaftlichen Standpunkt zu stellen, von dem aus er einen solchen Tausch zu betrachten hätte – der gute Direktor hielt sich an sein Inventarium, bis endlich der Monarch, der merkte, mit welchem Manne er es zu tun habe, ihm [25] vorschlug, die auszutauschenden Münzen zu wägen und dem Innsbrucker Münzkabinette indes so viele (neugeprägte) Dukaten dazulassen, als jene Goldgewicht hätten, bis sie durch die aus Wien zu sendenden ausgelöst werden würden. Das beruhigte den Direktor; er gab Goldgewicht für Goldgewicht und war nun überzeugt, seine Pflicht gegen die ihm anvertrauten Schätze vollkommen erfüllt zu haben. Eine zweite Antwort, die derselbe gelehrte Mann meiner Mutter gab, dient zum Beleg jener ersten. Im Antikenkabinett, welches die Fräulein der Kaiserin auch zu besehen gekommen waren, fiel meiner Mutter ein Stück auf, das ihr nicht echt, keine wirkliche Antike zu sein schien. Sie äußerte diesen Zweifel gegen den gelehrten Herrn Direktor. O, mein Fräulein! erwiderte dieser, dies Stück ist gewiß antik – ich bin nun schon vierzig Jahre in diesem Kabinett angestellt und habe es bereits vorgefunden.
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Das Beilager wurde gehalten, die Feierlichkeiten waren vorüber, der Hof dachte an seine Rückreise nach Wien, da ging am 18. August der Kaiser, von seinem ältesten Sohne, dem Erzherzog Josef, damals schon römischem König, abends aus seiner Loge im Theater, um in seine Gemächer zurückzukehren. Auf dem Gange hinter den Logen rührte ihn plötzlich ein Schlagfluß. Er sank in die Arme seines Sohnes und gab auf der Stelle seinen Geist auf. Dieser Sohn mußte der Überbringer der schrecklichen Nachricht an seine Mutter, an seinen Bruder sein, der einer Unpäßlichkeit wegen sich in seinen Zimmern gehalten hatte. Hier zeigte sich's, wie meine Mutter sagte, welche tiefe, [26] innige Liebe Maria Theresia für ihren Gemahl hatte. Sie war ganz vernichtet, sie fand keine Tränen und ein krampfhaftes, gewaltsames Schluchzen, welches die ganze Nacht durch währte, erfüllte ihre Umgebung mit der lebhaftesten Sorge für die Gesundheit und das Leben der hohen Frau. Erst gegen Morgen, nach einer Aderlaß, welche der Arzt verordnete, brach ihr tiefer, großer Schmerz in erleichternde Tränen aus. – Eine ihrer ersten Handlungen aber war, meiner Mutter zu befehlen, daß sie ihr die Haare abschneide. – Von diesem Augenblicke an, als ihr Gemahl sich ihrer, trotz ihres reiferen Alters, noch immer großen Schönheit nicht mehr erfreuen konnte, freute auch sie sich ihrer Gestalt nicht mehr. Sie legte allen bunten Putz und alles Geschmeide ab, teilte ihre Garderobe unter ihre Frauen, ließ ihr Schlafzimmer mit grauer Seide ausschlagen, ihr einsames Lager mit grauen Vorhängen umgeben und zeigte so auch in ihrem Äußern, daß das Leben und die Welt für sie ihren Reiz verloren haben. An jedem 18. des Augusts, dem Todestage ihres Gatten, besuchte sie seine Grabstätte, schloß sich dann in ihr Zimmer ein, beichtete, fastete und brachte den Tag in schmerzlichen Erinnerungen und frommen Gebeten zu. Rührend ist das Grabmal, welches sie ihrem Gemahl nach seinem Tode und sich selbst im voraus in der kaiserlichen Gruft bei den Kapuzinern errichten ließ, und wo sie mit dem ersten und einzigen Gegenstand ihrer Liebe, auf einer Art von Paradebette ruhend, vorgestellt ist. Die Wahrheit solcher Gefühle, welche allein ihren Wert ausmacht, zeigt sich am siegreichsten und überzeugendsten vor den nächsten und beständigen Umgebungen. Sind diese von der Wirklichkeit und Tiefe des Schmerzes überzeugt, so ist wohl kaum mehr daran zu zweifeln.
[27] So steht Maria Theresia, welche als Regentin einen der ersten Plätze in der Reihe der großen Monarchen einnimmt, als Frau nicht minder groß und erhaben vor uns. Schön, wie wenige ihres Geschlechts, Erbin großer Staaten, liebenswürdige Frau, mit tausend Talenten, unter andern auch mit einer wunderlieblichen Stimme begabt, die sie im Gesange oft zur Freude des Hofes hören ließ – und dem ersten und einzigen Gegenstand ihrer jugendlichen Zärtlichkeit treu bis in den Tod. – Es war mir auch eine sehr werte und erfreuliche Erscheinung, diese Regentin von der Feder einer weiblichen und liebevollen Hand, der Mistreß Jameson in ihrem Buche: The Female Sovereigns, ganz nach ihrem wahren Wert erkannt und geschildert zu sehen, so daß sich ihr Bild weit über Katharina II. und sogar über Elisabeth von England erhebt.
Diese Treue und Liebe wird noch herrlicher, wenn man weiß, daß die erste bei weitem nicht in dem Maß vergolten wurde, in welchem sie es verdient hätte. Kaiser Franz hatte verschiedene Liebschaften, die man teils kannte, teils nicht. – Seine Gemahlin wußte wohl darum, sie zog die eine davon an ihren Spieltisch; – sie litt dadurch, aber sie liebte den Wankelmütigen nichtsdestoweniger mit gleicher Glut bis an seinen Tod. Ein Wort, das sie einst zu meiner Mutter sprach, mag wohl aus der tiefen, innern Überzeugung entstanden sein, daß ihres Gemahls Standpunkt und Verhältnis zu ihr und seinen Staaten nicht das eigentlich rechte und vielleicht die Quelle manches Mißtones zwischen ihnen war. »Laß dich warnen,« sagte sie einst, »und heirate ja nie einen Mann, der nichts zu tun hat«.
[28] War es, daß die Haare der Monarchin den Manen ihres Gemahls und ihrem Schmerz zum Opfer gefallen waren und ihre Toilette nicht mehr so viel Sorgfalt erforderte; war es die eigene Vereinsamung, die ihr Herz für das Traurige eines solchen Geschickes bei andern empfindlicher machte – kurz, noch während des Trauerjahres erhielt meine Mutter die Erlaubnis, mit ihrer Hand zu schalten, und mein Vater erreichte das Ziel seiner heißen und lange genährten Wünsche. Als meine Mutter ihren Bräutigam der Monarchin vorstellte, war diese erstaunt, in meinem Vater einen zwar noch jungen (er zählte 35 Jahre, meine Mutter 26), aber sehr gesetzten, einfachen und wahrhaft deutschen Mann zu finden. Ich glaubte immer, äußerte sie hernach zu meiner Mutter, du würdest dir so einen galanten Herrn, einen Chevalier aussuchen. – Demnach gewann dieser einfache Mann späterhin durch seine erkannte Rechtlichkeit, seinen Diensteifer und seine vorzüglichen Geistesgaben die ausgezeichnete Huld seiner Monarchin, wovon diese Blätter unzweifelhafte Proben aufzeigen werden.
Die Heirat meiner Mutter war also beschlossen und wurde mit aller, damals am Hofe üblichen Feierlichkeit vollzogen. Die Verlöbnisse bestanden damals noch; – jenes meiner Mutter wurde acht Tage vor der Trauung gehalten. – Während dieser Zeit legte sie die Trauer ab, welche sie mit dem ganzen Hof noch um den verstorbenen Kaiser trug, und ging bunt. Am Tage der Hochzeit mußte sie sich in ihrem Brautstaat vor der Kaiserin zeigen, welche zu dem eigenen, nicht unbedeutenden Geschmeide, womit meine Mutter geschmückt war, einige Geschenke fügte und ihr dann noch eine Perlenschnur von unschätzbarem Werte [29] um den Hals band, die jedoch die Braut nach der Feierlichkeit der Trauung wieder zurückgeben mußte, da sie unter das Geschmeide der k.k. Schatzkammer gehörte und nur bei solchen Gelegenheiten gebraucht wurde. In der sogenannten Kammerkapelle wurde die Zeremonie vollzogen, die Obersthofmeisterin der Kaiserin führte als Brautmutter die Braut an den Altar und nahm während der Trauung in einem Betstuhl Platz. Als der Geistliche an die Stelle kam, wo er die Braut auffordert, das ja auszusprechen, mußte diese (so gebot es die Etikette), ehe sie antwortete, sich mit einer Verneigung gegen die Obersthofmeisterin wenden, sie gleichsam um die Erlaubnis dazu ersuchen. – Die Obersthofmeisterin erhob sich, drehte sich gegen das Oratorium, in welchem sich die Monarchin befand, und wiederholte die Verbeugung und die stumme Anfrage. Hierauf nickte die Kaiserin bejahend, die Obersthofmeisterin überlieferte durch ein ebensolches Zeichen die Einwilligung der, Mutterstelle vertretenden, hohen Frau, die Braut verbeugte sich dankbar, wendete sich dann gegen den Priester und sprach ihr Ja aus.
Nach der Trauung folgte meine Mutter ihrem Gemahl in sein Haus, wo indes seine Mutter, bei welcher er wohnte, alle Anstalten zur Mittagstafel und Bewirtung der Hochzeitsgäste getroffen hatte; – und dann ihrer Schnur die Führung des ganzen Hauswesens übergab.
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Hier begann nun für meine Mutter eine ganz neue Lebensweise, ja, sie fand sich eigentlich in einer neuen Welt, nicht bloß durch den bedeutenden Unterschied, den die Verheiratung in das Leben jedes [30] Mädchens bringt, sondern hauptsächlich dadurch, daß sie sich plötzlich aus den glänzenden, geräuschvollen Räumen eines der ersten Höfe Europas und aus der unmittelbaren Nähe einer regierenden Monarchin in die Stille und Dunkelheit einer wohlhabenden, aber im Vergleich mit ihren frühern Gewohnheiten doch sehr beschränkten Haushaltung versetzt sah. Dennoch scheint dies so sehr mit den geheimen und lange genährten Wünschen ihres Herzens übereingestimmt zu haben, daß ich sie nicht allein dieser Epoche nie mit Trauer oder düsterer Erinnerung erwähnen hörte, wie man sonst wohl später sich an trübverlebte Stunden erinnert, sondern sie vielmehr mit Freude von dem Zeitpunkte sprach, wo sie endlich einer glänzenden und von vielen beneideten Sklaverei los ward und sich selbst angehören durfte. Es scheint, habe ich oben gesagt, denn ich war natürlicherweise keine Zeugin jener ersten Jahre der Verheiratung meiner Eltern, indem ich nicht einmal ihr erstes Kind war, und wie ich in die Jahre trat, wo Kinder etwas bemerken und beurteilen können, umgab meine Eltern schon wieder ein großer Glanz und eine Bemerktheit, welche meiner Mutter, wenn sie unmittelbar auf ihre Vermählung gefolgt wären, den Unterschied zwischen ihrem Hof-und häuslichen Leben weniger hätten fühlen lassen müssen.
Ich erblickte das Licht der Welt in einem Jahre mit dem merkwürdigsten Manne unserer Zeit, mit Napoleon, und um drei Wochen später als er. Oft hatte mir meine Mutter in frühern Jahren erzählt, daß damals (1769 ein sehr heißer Sommer gewesen und ein Komet am Himmel gestanden habe, den sie in den warmen Sommernächten, wo ihr beschwerlicher Zustand [31] (sie trug Zwillinge) ihr wenig zu schlafen erlaubte, oft betrachtete. Späterhin erinnerte ich mich dieses Umstandes, und daß dieser Komet, wenn man ja zwischen der Erscheinung dieser himmlischen Körper und unsern irdischen Angelegenheiten einen Zusammenhang annehmen will, gar wohl auf die Geburt jenes furchtbaren Helden gedeutet werden könne. – Meine Mutter hatte, ganz gegen die damalige Sitte der Frauen in ansehnlicheren Familien, beschlossen, ihre Kinder selbst zu nähren und in jedem Sinne ihre Mutterpflichten zu erfüllen. Den ältesten Sohn hatte sie bereits gestillt und sich sehr wohl dabei befunden. Jetzt, wo sie und jedermann glaubte, daß sie zwei Kinder auf einmal haben würde, hatte sie Lust und fühlte sich stark genug, beide zu nähren. Sie kam stets viel nach Hofe und sah oft ihre kaiserliche Gebieterin, diese aber, die ihre ehemalige Dienerin noch immer mit huldreicher Sorgfalt betrachtete, verbot ihr ausdrücklich, mehr als ein Kind zugleich zu stillen, und so überließ meine Mutter die Wahl, welche ihr schwer gewesen sein würde, der Vorsicht, indem sie beschloß, das Erstgeborne selbst zu tränken. Das war nun zu meinem Glücke ich, und obwohl ich, wie man mir später erzählte, so klein und schwach auf die Welt kam, daß man, an meinem Leben verzweifelnd, mir die Nottaufe gab, so gedieh ich doch an meiner Mutter Brust zu einer solchen Fülle von Kraft und Gesundheit, daß ich noch bis jetzt, bereits eine Siebzigerin, von keiner eigentlichen Krankheit weiß und nie, selbst nicht im Wochenbette, länger als 6–7 Tage hintereinander im Bette bleiben mußte. Kein chirurgisches Instrument, nicht einmal eine Lanzette zum Aderlassen, hat meinen Leib berührt, und ich kann, kleine Unpäßlichkeiten [32] und eine außerordentliche Reizbarkeit der Nerven und der Organisation überhaupt ausgenommen, welche sich in spätern Jahren offenbarte und mir große Behutsamkeit und Mäßigkeit zur Pflicht macht, sagen, daß ich stets vollkommen gesund war.
Mein Zwillingsbruder, ein starker, schöner Knabe, bekam eine Amme und starb noch vor dem ersten Jahre; denn die Amme wurde krank und verschwieg es. Auch mein älterer Bruder muß nicht lange nach meinem Erscheinen im elterlichen Hause gestorben sein, denn ich erinnere mich seiner durchaus nicht, obwohl mein Bewußtsein in einzelnen Bildern bis an mein drittes Lebensjahr reicht. Damals lebten jene zwei Kinder nicht mehr, aber ein viertes, auch ein Knabe, Franz Xav. mit Namen, wuchs neben mir empor. Ich wußte später, daß er um drei Jahre jünger sei als ich, und ich erinnere mich wohl, ihn noch auf dem Arm der Wärterin gesehen zu haben. Zwei Szenen aus jener frühen Zeit stehen auch noch einzeln vor mir und haben sich wie dämmernde Punkte in einer dunkeln Vergangenheit erhalten. Eines Morgens, es war ein Sonnabend, saß ich in meiner Eltern Schlafzimmer auf einem Schemelchen zu meiner Mutter Füßen, als mein Vater eintrat und ihr seine Erhebung zur Hofratsstelle ankündigte. Gewiß war dies Ereignis meinen Eltern sehr wichtig, und die Bewegungen, welche es im Hause verursacht haben mag, werden die Ursache sein, warum eine Veränderung unserer Lage, mit der ich damals, im 3. bis 4. Lebensjahre, gar keinen Begriff verbinden konnte, so bleibenden Eindruck auf mich gemacht hat. Das zweite Ereignis war verschiedener Art. – Ich stand im Zimmer meiner Großmutter, welche das Haus bewohnte, das an das unsrige [33] stieß, und deren Wohnung, weil beide Häuser ihr eigentümlich gehörten, durch eine Kommunikationstüre mit der unsrigen zusammenhing; – da trat der Bediente mit erschrockener Miene in das Zimmer der alten Frau (ich sehe sein Gesicht noch, er diente meinem Vater noch viele Jahre darnach) und erzählte, daß er eben von den »obern Jesuiten« käme: Da sieht es aus! rief der alte Jakob, die Aufhebung ist da, die kaiserlichen Kommissarien sind eben gekommen. Diese Nachricht war nun freilich für meine Großmutter, wie für sehr viele Menschen in jener Zeit, ein Donnerschlag; sie hatte einen Jesuiten zum Beichtvater, war überhaupt eine sehr fromme Frau und nach den Begriffen jener Zeit der Geistlichkeit sehr ergeben. Auch bei dieser Begebenheit muß das Betragen der Umstehenden den Eindruck auf mich gemacht haben, den eine Nachricht an sich nicht hätte hervorbringen können, von deren Wichtigkeit ich nichts verstand – und diese Szene wie die vorhergehende meinem Gedächtnis eingeprägt haben.
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Ich war ein sehr lebhaftes, munteres Kind – oft wurde mir gesagt, daß ich besser zum Knaben getaugt hätte, und ich erinnere mich mancher Ermahnungen, mancher beschämenden Auftritte, wo diese unbesorgte Lebhaftigkeit mich zu Übereilungen hingerissen oder zu einem Betragen getrieben hatte, das für ein Mädchen viel zu wild und entschieden war. Drei Jahre voraus und jene natürliche Unstetigkeit und Heftigkeit gaben mir lange Zeit ein großes Übergewicht über den jüngern und sanftern Bruder. Ich lernte leicht, faßte schnell, hatte ein vortreffliches Gedächtnis, lauter Naturgaben, um die ich kein Verdienst [34] hatte – an welchen ich aber meinen Bruder übertraf, der mit einem, wie es sich später wohl zeigte, viel richtigerm Verstande eine etwas langsamere Fassungskraft verband. Mir ward jene Leichtigkeit oft schädlich. – Ich lernte höchst ungern. – Auf einem Stuhle sitzen, acht geben und mit einerlei Gegenstand mich beschäftigen, das alles waren mir unerträgliche Dinge. So benützte ich jene Fassungskraft und mein gutes Gedächtnis, nahm mein Spielzeug oder ein Märchenbuch mit zur Lektion, hörte, während ich spielte oder las, mit halbem Ohr auf das, was der Lehrer erklärte und fertigte ihn, wenn er mir meine sehr ungehörige Spiellust verweisen oder die Gerätschaften derselben wegnehmen wollte, damit ab, daß ich ihm genau wiederholte, was er soeben gesprochen und auf diese Art meine Lektion doch zu wissen schien. – Freilich war es nur ein Schein und kein rechtes Erkennen, ich hatte es aber einmal dahin gebracht, beim Lernen spielen zu dürfen und ließ mir dies Vorrecht nicht nehmen. Noch erinnere ich mich eines Verses – des ersten, den ich in meinem Leben gemacht, den meine Ungeduld bei der Lehrstunde mir eingegeben. – – Die Stunde war von 12–1 Uhr, und meine Sehnsucht und Aufmerksamkeit viel mehr auf die Uhr als auf das Lernen gerichtet. – In dieser Stimmung setzte ich mir folgende Reime im Geiste zusammen:
Ührchen, Ührchen, geh' geschwind,
Mach', daß bald der Sand verrinnt,
Laß den Sand verrinnen,
Laß Ein Uhr beginnen,
Ührchen, Ührchen, geh' geschwind.
Doch nicht bei jedem meiner Lehrer ging dies mutwillige Spiel an. Ich hatte deren einige, welche [35] auch sonst noch in der Welt, besonders der literarischen, ausgezeichnet waren, und ich freue mich jetzt, nach mehr als einem halben Jahrhundert ungefähr, von diesen Männern sprechen und ihnen meinen Dank bezeigen zu können. Als ich mein sechstes Jahr erreicht hatte, wurde ich, zum Unterricht in der Religion, der Leitung des damaligen Katecheten an der Normalschule, Josef Gall 2, übergeben, der späterhin Pfarrer, dann Domherr, Oberaufseher der Schulen und endlich im Jahre 1788 Bischof in Linz wurde. Noch jetzt lebt das Andenken dieses, als Mensch, Priester, Pädagog und Kirchenoberhaupt gleich würdigen Mannes, in vielen Herzen, besonders der Oberösterreicher, welche unter seinem Hirtenamte ihre Schulen ungemein verbessert, die Pfarreien mit würdigen Männern besetzt und im ganzen Lande, dessen einzelne Teile der wahrhaft apostolische Bischof abwechselnd jährlich in den Visitationen durchreiste, echte Gottesfurcht und Sittlichkeit verbreitet sahen. Dieser vortreffliche Mann war mein Lehrer in der Religion, zu welchem Unterrichte er späterhin den in der Naturgeschichte und Naturlehre fügte, zwei Zweige der Belehrung, die für ein gottesfürchtiges wie für ein kindliches Gemüt sich gar wohl und erbauend an den Religionsunterricht schließen lassen, was denn Gall auch tat. Bei seinen Lektionen war keine Rede von Spielerei, und doch war er nichts weniger als streng, vielmehr heiter, gelassen und überaus gütig gegen seine Untergebenen, denen er bald mit Erzählung interessanter Geschichten oder natürlicher Erscheinungen oder mit dem Geschenke eines nützlichen Buches Freude zu machen und überhaupt [36] ihre Liebe und Ehrfurcht in gleichem Grade zu erwerben wußte.
Ein zweiter, ebenfalls nicht unberühmter Mann war mein Klaviermeister Steffann, ein Böhme von Geburt, der ebenfalls in dieser Eigenschaft als Klavierlehrer früher die kaiserlichen Prinzen und Prinzessinnen unterrichtet hatte. Steffann komponierte mit Glück, seine drei Sammlungen von deutschen Liedern machten damals (vor 50–52 Jahren) Epoche und brachen dem einfachen deutschen Gesange so zusagen eine neue Bahn. Steffann war ein humoristischer, ganz eigener Mensch, der zu den Wunderlichkeiten, welche bei Künstlern und besonders Musikern gewöhnlich sind, noch einige besondere fügte. Aber er verstand seine Kunst gründlich und hatte einen unerschöpflichen Fond von guter Laune. So imponierte er mir nicht durch sittliche Würde wie Gall, aber er flößte mir Achtung ein und wußte durch Güte und Ernst, durch Späße und Verweise meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Mir fiel es nicht ein, zu spielen oder etwas anderes zu sinnen, solange die Lektion dauerte, und ich galt auch bald für eine seiner besten Schülerinnen, obgleich Musik eigentlich meinem Geiste nicht zusagte, der sich mehr in klaren Vorstellungen als in unbestimmten Anregungen gefiel und dessen Anlagen und Natur mich von jeher die Malerei der Musik hatten vorziehen lassen.
Ich bekam auch Unterricht im Zeichnen, aber hier war die Wahl meines Lehrers nicht glücklich. Der Mann war unstreitig sehr geschickt in seinem Fache, welches Baukunst und Blumenzeichnung war, beides aber, besonders das erste, sprach mich ganz und gar nicht an. Dieses Handhaben des Zirkels und Lineals,[37] diese Unausweichbarkeit der Formen, diese Beschränkung aller Phantasie und Willkür war meinem überaus unsteten, lebhaften Wesen entgegen. Besser freuten mich die Blumen; hier war der Erfindung, der Freiheit zu ändern, doch einiger Raum gegönnt; aber mich hätte die Landschaftszeichnung am meisten angezogen, und diese verstand mein Lehrer nicht, und die Anleitung, welche er mir nach Büchern geben wollte, schlug nicht an; denn sie war nicht lebendig und wahr.
Späterhin wurde es mir klar, warum dieser Unterricht und dieser Meister gewählt worden waren. – Meine Eltern und einige verständige Freunde derselben, denen meine zweckmäßige Ausbildung am Herzen lag, fanden, daß mein allzu lebhafter und unsteter Geist, sowie meine Phantasie, welche schon die Schwingen zu regen begann, des Zaums und Gegengewichts einer ernsten, zu gründlichem Denken und anhaltender Aufmerksamkeit führenden Beschäftigung bedürfe. Jener Lehrer war zugleich auch Professor der Mathematik. Er sollte mich nebst dem Zeichnen nach seiner Art auch Geometrie lehren; – nicht damit ich einst Mathematik verstehen und damit prunken könne, sondern damit ich richtig denken, schließen und die schwärmende Einbildungskraft zügeln lerne. Daß dieser Unterricht nicht nach meinem Geschmacke war, wird man nach dem Vorhergehenden wohl leicht ermessen; indessen war er mir doch heilsam, und erleichterte mir späterhin das Begreifen, sowie das Durchdringen und Ordnen manches schwerer verständlichen Buches oder Vortrags.
Es wird hier passend sein, etwas von den Freunden, welche das Haus meiner Eltern besuchten, sowie von der innern Einrichtung dieses Hauses und seinen [38] äußeren Verhältnissen zu sagen, weil alles dies unmerklichen, aber steten und daher bedeutenden Einfluß auf die Bildung und Richtung meines Innern hatte.
Meines Vaters ausgezeichnete Geistesgaben, seine strenge Redlichkeit, sein Eifer, sein unermüdeter Fleiß hatten bald nach seiner Verheiratung die Aufmerksamkeit der Monarchin auf den Gemahl ihrer Vorleserin, der zugleich einer der tüchtigsten Beamten war, gelenkt. Sie erhob ihn zur Stelle eines Hofrates und geheimen Referendars, schenkte ihm viel Vertrauen, sah ihn oft, ließ sich von ihm in Privataudienzen wichtige Dinge vortragen und hörte seine Meinung, seinen Rat, zuweilen auch, wenn es die Umstände geboten, seinen Widerspruch mit Zutrauen und Geduld. Noch besitzen wir in unserer Familie einen Schatz von einzelnen Blättern, auf welchen von meines Vaters Hand Vorträge, Anfragen, Gutachten geschrieben sind, wie er sie der Monarchin vorlegen mußte und auf welche sie dann eigenhändig eine Antwort, Entscheidung, Entschließung usw. schrieb. Sie stellen ein Verhältnis des Staatsbeamten zu seiner Monarchin, und zugleich des innigstergebenen Dieners und Freundes zu seiner huldreichen Fürstin dar, das ebenso würdig als zart, ebenso rührend als erhebend ist und wovon ich im Verlauf einige Proben geben werde, welche gewiß dazu beitragen, den Charakter der großen Maria Theresia in seinem schönsten Lichte zu zeigen.
Diese Gunst der Monarchin verbreitete einen bedeutenden Glanz über unser Haus, welches durch die (für jene Zeit) beträchtliche Besoldung eines kaiserlichen Hofrates und das eigene Vermögen meines Vaters auf einem sehr hübschen Fuß eingerichtet war. Damals genossen die kaiserlichen Beamten, welche bei [39] Hofstellen dienten, noch der sehr wichtigen Wohltat der freien oder Hofquartiere. So wie mein Vater also Hofrat ward, konnte er auch Anspruch auf eine freie Wohnung machen, da ihm ohnedies die in seinem eigenen oder seiner Mutter Haus »im tiefen Graben« zu klein geworden war. Es war wahrscheinlich 1775 oder 1776, daß wir die Wohnung, in der meine Geschwister und ich geboren worden, gegen eine stattlichere und viel geräumigere im Hause zum großen Christoph vertauschten, welches jetzt freilich ein ganz anderes Ansehen hat als damals, wo es, nur einen Stock hoch, mit eisernen Gittern vor allen Fenstern, einem hölzernen Kommunikationsgang im Hofe, einer freien, unbedeckten Treppe usw. im Äußern und Innern einer alten Schloßruine ähnlicher sah als einem Wohnhause in Wien. Doch der Zimmer waren viel, sie waren hoch, groß und stattlich, und damals hatte man von vielen Bequemlichkeiten und Bedürfnissen, die jetzt in jeder Wohnung gefordert werden, keinen Begriff. Auch waren die Menschen stärker und gesünder. Luftzug, kalte Gänge, die zu passieren waren, Fenster oder Türen, die nicht allzu wohl schlossen, hier und da eine feuchte Wand usw. wurden nicht geachtet und, weil sie keinen schädlichen Einfluß hatten, kaum bemerkt. Ich weiß, daß meine Eltern ganz zufrieden mit ihrer Wohnung waren. Die großen Zimmer, welche Sälen glichen, boten ihnen ein gewünschtes Lokal für die Bildersammlung meines Großvaters und für die zahlreichen Gesellschaften, welche sich in unserm Hause zu versammeln anfingen. Hier wurde ein Theater errichtet, worauf wir Kinder kleine französische Stücke: Zeneïde ou la fée und L'isle déserte, nebst einer kleinen deutschen Idylle aufführten, welche [40] Herr von Ratschky (wenn ich nicht irre) nach dem Programm des niedlichen Noverreschen Ballettes: Blanc et rose geschrieben. In allen diesen Stücken wurden mir die muntern, mutwilligen Rollen zugeteilt; – es war mir damals nicht möglich, tiefe oder warme Empfindung zu zeigen, so wenig als später, als wir dreizehn, vierzehn Jahre darauf ebenfalls diese Art geselliger Unterhaltung versuchten.
Auch große Musiken wurden gegeben, und obwohl ich ein ganz winziges Geschöpf von etwa 7–8 Jahren war, ließ mein Vater mich doch kleine Konzerte, die mein Klaviermeister Steffann eigens für mich komponierte, mit vollem Orchester produzieren. Natürlich wurde das Kind, die Tochter vom Hause, beklatscht, belobt, bewundert, und ich hielt mich bald für eine bedeutende Künstlerin.
Um diese Zeit erregte eine Erscheinung, welche sich auch später, und in unsern Tagen oft wiederholt hat, das erstemal ungeheures Aufsehen in Wien. Es war dies der Magnetismus oder eigentlich Mesmerismus; denn Dr. Mesmer war es, der, damals ein schöner, kräftiger, junger Mann (die meisten Magnetiseure, die ich kennen gelernt, vereinten diese Eigenschaf ten) seine Kunst durch die Wiederherstellung des Augenlichts bei dem blinden Fräulein von Paradis zeigen wollte. Fräulein Therese von Paradis war damals ein Mädchen von 17–18 Jahren, nicht hübsch, aber voll Geist, Herzensgüte und Talent, besonders für Musik, was denn, mit ihrem Unglück zusammengenommen, ihr eine sehr anziehende Persönlichkeit gab, und ihr auch noch in späteren Jahren die Achtung und Liebe aller derjenigen erwarb, welche zu dem engeren Kreise ihrer Freunde gehörten, und unter welche auch ich mich zählen durfte.
[41] Damals war ich ein Kind, und auf keine Weise ihrer Bemerkung wert; auch lernte ich sie erst später, als jene Geschichten schon vorüber waren, persönlich kennen; aber ich erinnere mich wohl der überaus lebhaften Debatten, welche jeden Abend im Zirkel meiner Eltern, wo sich viele geistreiche, gelehrte Männer und gebildete Frauen versammelten, über diesen Gegenstand gehalten wurden. Die Gesellschaft teilte sich in Gläubige und Ungläubige. Zu den ersten gehörten hauptsächlich die Landsleute Mesmers (Schwaben) und jene Personen, welche, damals wie jetzt, ihrer Phantasie gern viel Spielraum gönnten, und sich lieber von dem Neuen und Ungewöhnlichen fortreißen ließen, als es untersuchten und prüften. Zu den zweiten zählte man viele gebildete Personen und einige Gelehrte und Professoren, namentlich von Well und Jacquin (Vater; der Sohn, der später rühmlich in dessen Fußstapfen trat, war damals ein Knabe, nur um ein paar Jahre älter als ich), und meine Eltern. Vor allen erklärte sich meine Mutter, deren scharfsichtiger Geist so wie ihre Achtung vor der Wahrheit sie schon a priori jedem Unerklärlichen, Geheimnisvollen abgeneigt machten, stets laut dagegen, und wollte diese Heilung, welche die andere Partei als schon entschieden annahm, nicht eher als möglich zugeben, bis sie nicht selbst sich überzeugt hätte, daß das Fräulein sehe. Sie fuhr also mit einem Anhänger der glaubenden Partei selbst in die Gartenwohnung, in welcher damals die Familie Paradis lebte, und Mesmer, der ebenfalls daselbst wohnte, noch verschiedene andere Kranke in der Kur hatte. Mein Vater begab sich an einem andern Tage dahin. Diese magnetische Behandlung des blinden Fräulein war das allgemeine Stadtgespräch, und ganz [42] fremde Menschen suchten Zutritt in dem Hause, um sich von dem Wunder zu überzeugen, daß eine Person, welche seit ihrem zweiten oder dritten Lebensjahre, infolge der zweckwidrigen Behandlung eines Hautübels, das Augenlicht verloren hatte, dies jetzt, nach so vielen Jahren, durch magnetische Einwirkungen wieder erhalten sollte haben. Aber weder mein Vater noch meine Mutter kamen gläubiger von diesen Besuchen zurück. – Beide konnten sich nicht überzeugen, daß Fräulein Paradis wirklich sehe, so manche Probe, so manches Kunststückchen ihr Magnetiseur und Freund sie auch machen ließ; und der Erfolg bestätigte meiner Eltern Wahrnehmungen. Nach einigen Wochen fielen sehr unangenehme Szenen zwischen Mesmer und der Familie Paradis vor, welche damit endigten, daß der erste sie und bald auch Wien verließ, um in Paris seine magnetischen Kuren fortzusetzen, und noch viel mehr Aufsehen und Anhänger zu machen als in Wien; die unglückliche Blinde aber in dem Zustande blieb, in welchem sie vor der Kur gewesen.
Bald nach dieser Geschichte wurde ein Mann in meiner Eltern Hause eingeführt, der bedeutenden Einfluß auf die Ausbildung und Richtung meines Geistes nahm – Herr L.L. Haschka, ein damals sehr junger, und, so viel ich mich erinnere, liebenswürdiger Mann, der nun seit ein paar Jahren bei der Aufhebung des Jesuitenordens, dessen Mitglied er gewesen, wieder in die Welt getreten, und den geistlichen Stand, da er keine Profeß abgelegt, völlig verlassen hatte. Mit ihm zogen, möchte ich sagen, die Musen in unser Haus, und meines Vaters Liebe für die schönen Künste kam jener Richtung, welche Haschka in sich trug, gern entgegen. Meine Mutter liebte zwar die Poesie durchaus[43] nicht, aber sie hörte doch gern gute Gedichte lesen, und erfreute sich daran, wenn Haschka, und auch später andere Musensöhne Wiens, die nach und nach mit uns bekannt wurden, ihre Werke bei uns lasen. Haschka bemerkte bald meine günstigen Geistesanlagen, er fing an, sich mit mir abzugeben, er ließ mich Gellertsche Fabeln auswendig lernen (Deklamieren war damals nicht Mode), ich durfte zuhören, wenn neue bedeutende Sachen gelesen wurden. Ich fing bereits damals an, die Empfindungen, von denen ich mich entweder wirklich beseelt fühlte oder die ich nach Willkür in mir hervorzurufen versuchte, zu Papier zu bringen, und, freilich ohne eigentlichen Begriff von Versen, Rhythmus und Form, so eine Art von Rhapsodie zu schreiben 3. Ich weiß, daß das eine dieser Blätter mit den Worten begann: »Die Tage sind dahin, an denen ich mich freute«, wie denn überhaupt eine Art von elegischem Gefühl mich, trotz meiner sehr glücklichen Lage und munteren Stimmung, in einzelnen Augenblicken zuweilen übermannte, und mich eine vergangene, schönere Zeit, die meist nur in meiner Einbildung existiert hatte, beklagen ließ. Vermutlich war es die kindische Freiheit und Zwangslosigkeit meiner ersten Jahre, welche im Vergleich mit den, nun beginnenden ernsteren Beschäftigungen des Lernens, Arbeitens und einer strengen Aufsicht, mir wie ein goldenes Zeitalter erschien, und mir meine Gegenwart in düsterem Lichte zeigte.
Im Herbst 1777 starb meine Großmutter, die lange gekränkelt hatte, wie sie denn überhaupt eine traurige Existenz hatte, und durch einen schlecht geheilten[44] Beinbruch gelähmt, seit vielen Jahren ihr Leben zwischen ihrem Bett und ihrem Kanapee teilte. Sie besaß auch deshalb eine Hauskapelle, in welcher Messe für sie gelesen werden durfte, und eine Kusine meines Vaters, ein bejahrtes, unverheiratetes Fräulein, lebte bei ihr und pflegte ihrer. Bei dieser Großmutter und dieser Tante blühten uns Kindern sehr schöne Stunden; denn hier durften wir uns manches erlauben, was meine Eltern mit Fug und Recht nicht duldeten, und hier erhielten wir auch allerlei Näschereien, die eben zu Hause uns mit eben so viel Recht nicht gegeben wurden. Den Grund dieses Verbotes einzusehen, waren wir viel zu jung, ich sieben, der Bruder vier Jahre alt, und wenn wir gleich zu Hause uns nichts weniger als unzufrieden fühlten, behagte uns doch jene größere Zwangslosigkeit, die Süßigkeiten, das Spielzeug, welches wir geschenkt erhielten, gar sehr. Diese Großmutter verstand auch Latein, die Tante machte (in größter Stille, denn sie schämte sich dessen) gar nicht schlechte Verse für jene Zeit, und hatte ein paar Trauerspiele in ehrenfesten Alexandrinern in ihrem geheimsten Schranke liegen, die in spätern Jahren, als sie mit großem Vergnügen in ihrer Nichte ein poetisches Talent wahrnahm, nur ich allein, und unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu sehen bekam.
Froh und freundlich wie helle Punkte glänzen mir aus dem Dunkel tiefer Vergangenheit diese bei der Großmutter und Tante verlebten Stunden entgegen. Sie stehen jetzt noch nach viel mehr als einem halben Säkulum deutlich vor meinem Geiste, ich könnte auch die Stelle jedes Stuhles, jedes Buches in dem einfachen Zimmer bezeichnen, so wie ich ein paar Sprüche wohl behalten habe, die ich oft bei passender Gelegenheit, [45] wenn ich kindisch und täppisch nach allem langte, was nicht für mich gehörte oder wenn ich nach etwas fragte, was ich nicht verstand, von der Großmutter hörte und deren einer meinem kindischen Verstande lange wie ein unbegreifliches Rätsel erschien. Lern was, so kannst du was, stiehl was, so hast du was und laß jedem das seine.
Diese gute, freundliche Großmutter war nun tot, die Tante bezog unser Haus, und meine Eltern verließen nun auch die Wohnung beim großen Christoph, und erhielten eine sehr schöne und äußerst geräumige in einem Hause »am Graben«, in welchem sich auch eine Hauskapelle befand. Hier, wo eine Enfilade von vier bis fünf Zimmern bloß zum Empfange von Gesellschaften bestimmt war, und noch viele andere Gemächer zur Bewohnung der zahlreichen Hausgenossen vorhanden waren, erweiterte sich unser häusliches Leben sehr. Meine Eltern boten jenem Herrn Haschka, der von seinem ersten Eintritt ins Haus sich als eine bedeutende und angenehme Erscheinung gezeigt hatte, Quartier in ihrer Wohnung an; es wurde für meinen Bruder ein Hofmeister und für mich ein Mädchen angenommen, das aus gutem Hause, aber arm und einige Jahre älter als ich, mir zur Gespielin und gewissermaßen zur Aufseherin bestellt war. Wir hatten viele Domestiken, Equipage, Reitpferde, eine nach damaligen Begriffen elegante Wohnung, täglich abends zahlreiche Gesellschaft, sehr oft Gäste zu Mittag, und meist ein paar Freunde zum Souper.
So gestaltete sich unser Leben glänzend und angenehm. Vielleicht bestand aber die größte Annehmlichkeit desselben (wenigstens dünkt es mich jetzt so) in dem Umstande, daß die höhere Geistesbildung meiner [46] Eltern, welche sie vor den meisten ihrer Standesgenossen auszeichnete, ihnen den Umgang mit geistreichen, gebildeten und sogar gelehrten Personen wünschenswert, ja zum Bedürfnisse gemacht hatte. Mein Vater malte sehr hübsch in Pastell, er dichtete artige Lieder, welche damals (vor 70–80 Jahren) mit gefälliger Musikbegleitung allgemein bekannt und gesungen wurden. Eins derselben erhielt eine besondere Zelebrität, es fing also an:
Als in jüngstvergangnem Jahr
Leipzigs Ostermesse war,
Hatte in des Marktes Mitte
Amor eine Krämerhütte,
Und bot freundlich jedermann
Herzen zu verkaufen an; usw.
Überdies liebte und trieb er Musik mit großem Eifer, und fand bei vielen und wichtigen Geschäften doch immer noch Zeit für die Erholungen, welche die schönen Künste ihm boten.
Meine Mutter, im Gegensatze von ihm oder um den Kreis der Bildung, der sich in unserm Hause fand, zu vervollständigen, hatte einen ausschließenden Hang zu ernsten Wissenschaften. Sie verachtete, möchte ich beinahe sagen, Dichtkunst und überhaupt schöne Künste, sie hielt blutwenig von der Geschichte, die ihr zu wenig ausgemachte und unzweifelhafte Wahrheit bot. Sie strebte nur nach dieser, wollte nur diese finden, hören und ihr folgen. Gewiß ein edles Streben, nur leider! daß es dem Menschengeiste in seinen irdischen Beschränkungen so ganz und gar nicht möglich ist, außer der Mathematik sich irgend einer unbestrittenen Wahrheit zu versichern, und endlich doch alles aufs Glauben und Dafürhalten hinausläuft! Dieser Geistesrichtung gemäß, interessierte sich meine Mutter [47] für Naturgeschichte, Naturlehre, sogar Astronomie, welche letztere Wissenschaft für sie großen Reiz hatte, und endlich für Untersuchungen in einem Fache, das gewiß wenig Männer, und vielleicht außer ihr noch nie eine Frau beschäftigt hat. Sie strebte nämlich, durch die Bekanntschaft mit den Religionen und Mythen aller alten und neuen Völker, mit den Traditionen, den Geschichten der Vorwelt, den Mysterien, Tempelgebräuchen usw. zur ursprünglichen und höchsten Erkenntnis in Rücksicht der Gottheit, unseres Verhältnisses zu ihr, der Geologie und Kosmogonie zu gelangen. Zu diesem Behufe las und exzerpierte sie eine Menge Bücher in allen Sprachen, und ich besitze noch mehrere Blätter, auf welchen, sie einige Andeutungen der Resultate ihrer Forschungen aufgezeichnet hat. Das männliche Geschlecht kam bei allen diesen Untersuchungen nicht zum besten weg, und meine Mutter war sehr geneigt (wie ich später hörte, als ich imstande war, solche Begriffe zu fassen, und ihr oft Bücher vorlas, welche in diesem Sinne geschrieben waren, z.B. Sur les droits des femmes, par Mme. de Wolstonecraft das System aufzustellen, daß die Frauen ursprünglich von der Natur und Vorsicht zur Herrschaft bestimmt seien, und dieses Vorrecht durch eine Art von Usurpation des männlichen Geschlechtes, welches uns an physischen Kräften übertrifft, verloren habe. Doch das ist eine Abschweifung, welche eigentlich nicht hierher, sondern in die spätere Zeit meiner aufblühenden Jugend gehört; aber sie floß zu natürlich aus dem Vorhergesagten, um ganz unterdrückt zu werden, und ich werde mich nur später darauf berufen.
Ich kehre zu dem Punkte zurück, auf dem sich unser Haus in den Jahren 1777, 78, 79 befand. Haschka, [48] der durch seinen lebendigen Geist, durch sein Dichtertalent, durch seine Rechtlichkeit und echte Freundschaft, wohl aber auch durch ein Betragen, das ich jetzt, nach 50 Jahren darüber nachdenkend fordernd und um sich greifend nennen möchte, mit jedem Tage mehr Ansehen und Gewicht in unserer Familie bekam, führte nach und nach die damaligen Schöngeister von Wien bei uns ein. Alxinger, sein treuester Freund, wurde bald eben dies für meine Eltern, und war täglich bei uns; Leon (ebenfalls Dichter und später Kustos der k.k. Bibliothek) ward durch Haschka als Hofmeister meines Bruders ins Haus gebracht. Durch diese beiden lernten wir Ratschky, Denis, Mastalier, Blumauer usw. kennen, und durch die Professoren Well (den Botaniker und Naturforscher), Jacquin, Abbé Eckhel, Sonnenfels, Sperges, Maffei (lauter Namen, welche die Literargeschichte Österreichs mit Achtung nennt) wurden auch die ernstern Wissenschaften in unsern Kreis gezogen.
Mein Geist war lebhaft, meine Phantasie beweglich. Die schönen Künste lebten und herrschten in unserm Hause, Dichter umgaben uns beständig, Musiker, Maler von einiger Bedeutung, welche nach Wien kamen, ließen so wie Gelehrte anderer Art sich bei meinen Eltern einführen, deren Haus vor vielen der Hauptstadt sich auszeichnete. Alles, was von neuen Dichterwerken im In- und Auslande erschien, wurde sogleich bei uns bekannt, gelesen, besprochen. Herr v. Leon, unser Hofmeister, damals ein junger Mann von 23–24 Jahren, fand Vergnügen an der lebhaften Weise, womit mein Geist alles auffaßte, was Dichtung hieß, so z.B. die Bürgerschen Romanzen, die ich bald auswendig wußte. Wenn ich gut gelernt hatte, [49] las er mir zur Belohnung eine Szene aus Götz von Berlichingen, ein Stück aus Werther, Woldemar oder einer andern Dichtung vor; und ich kannte diese Bücher, wußte manches davon auswendig, ehe ich imstande war, ihren Wert auch nur im geringsten zu fassen und zu beurteilen. Ob dies wohl klug gehandelt war bei einem Kinde, dessen Phantasie ohnedies zu lebhafte Sprünge machte, will ich dahingestellt sein lassen; es diente aber, nebst den Einwirkungen, welche von allen Seiten auf mich eindrangen, sehr dazu, den Keim zur Dichtung, der in mir lag, zu erwecken. Ich versuchte mit zehn Jahren, einige gereimte Zeilen zusammen zu setzen (denn mit einem bessern Namen verdienen so rohe Anfänge nicht genannt zu werden), und so entstand mein erstes Liedchen, auf dessen erste Zeilen ich mich noch besinne:
Wie lieblich ist der Morgen,
Wie schön ist's auf der Flur!
Es schwinden alle Sorgen,
Die Freude lächelt nur usw.
Daß dies nichts als Reminiszenzen aus der Unzahl von gelesenen und gehörten Gedichten waren, die täglich und stündlich in meinem Kopfe spukten, ist klar, und wenn wir die ersten Versuche so mancher, besonders der sogenannten »Naturdichter« betrachten, die denn auch auf gewisse Weise noch Kinder sind, wie ich es war, so wird sich finden, daß ihr Dichterberuf, so wie meiner damals, wohl in weiter nichts als einer glücklichen Kombinationsgabe und gutem Gedächtnisse besteht. Indessen – mein Liedchen wurde angehört, gelobt, bewundert und sogar in Musik gesetzt. Was geschieht nicht von Seiten der Freunde und Bekannten für die Kinder eines verehrten und ansehnlichen [50] Hauses! Das sollten sich manche gegenwärtig halten, die, von den Lobsprüchen der Haus- und Tischfreunde irregeführt, so leicht dahin gebracht werden, in den Äußerungen und Leistungen ihrer Sprößlinge etwas Außerordentliches zu sehen.
So schwach diese Versuche waren, so dienten sie doch, verbunden mit meinem lebhaften Geiste und meinem unvergleichlichen Gedächtnisse, dazu, die Aufmerksamkeit der Männer von Bildung und Wissenschaft, die das Haus meiner Eltern oft besuchten, vor allen die unsers Hausgenossen Haschka auf mich zu lenken. Er fand es der Mühe wert, sich mit dem Kinde, das etwas zu werden versprach, abzugeben; er bestimmte täglich eine gewisse Zeit, wo ich auf sein Zimmer kommen mußte, und wo er mir, so wie meinem Bruder, Unterricht in den Regeln der deutschen Sprache gab – damals noch aus Gottscheds Grammatik; denn Adelung war noch nicht erschienen.
Hier aber stößt meine Erinnerung auf einen dunkeln Fleck in der Entwicklung meines Selbsts, auf einen häßlichen Zug des Übermutes und liebloser Eitelkeit. Ich könnte ihn verschweigen, denn er ist zum Glücke auf keine Weise mit in die weiteren Fortschritte meiner Bildung verflochten; aber ich würde unwahr zu sein, und diesen Bekenntnissen einen Teil ihres Wertes für unbefangene Seelen, die auch aus Fehlern anderer lernen können, zu entziehen glauben, wenn ich den meinigen nicht gestände, da ich doch auch einiges zu meiner Entschuldigung anführen kann.
Ich glaube schon einmal berührt zu haben, daß mein Bruder, der um drei Jahre jünger war als ich, von der Natur zwar, wie es sich später zeigte, einen sehr scharfen, richtigen Verstand, aber kein so schnelles [51] Auffassungsvermögen erhalten hatte, als ich. Auch sein Gedächtnis war nicht so hervorstechend, und eine gewisse Langsamkeit in geistigen und körperlichen Bewegungen, verbunden mit einer nicht ganz deutlichen Aussprache, machten ihm das Lernen schwer und daher oft unangenehm. Die Lehrer, die wir (das Zeichnen und Klavierspielen ausgenommen) gemeinschaftlich hatten, waren daher stets mit mir viel besser zufrieden, obgleich sie, wenn sie sich die Mühe genommen hätten, etwas tiefer zu untersuchen, manchesmal gefunden haben würden, daß eben jene große Leichtigkeit der Auffassung mein Erlernen oft oberflächlich und vergänglich machte. Indessen, ich glänzte, ich ward vorgezogen, als Beispiel aufgestellt, und – ich übernahm mich, was eine natürliche Folge davon war. Man wollte meines Bruders trägen Geist aufstacheln, ihn zur Nacheiferung reizen, und wenig fehlte, man hätte mein Herz verdorben. Ich hielt mich für viel was Vorzüglicheres als meinen Bruder, ich erlaubte mir, ihn zu bespötteln, zu necken, lächerlich zu machen, und diese Bestrebungen eines eitlen, lebhaften Kindes wurden leider nicht streng und strafend gerügt, wie ich mich wohl erinnere.
Noch weiß ich nicht, wodurch ich so viel Gnade vor Gott gefunden, daß er mich nicht tiefer fallen, und mich sogar die fortgesetzte Liebe dieses, von mir nicht immer schwesterlich behandelten Bruders nicht verlieren ließ. Es ist wohl dies der größte Beweis von der Trefflichkeit des schönen Herzens dieses teuern und unvergeßlichen Bruders, daß keine Art Widerwille oder Bitterkeit gegen die stets vorgezogene und über ihn erhobene Schwester, die noch dazu sich dieses Vorzugs nur zu sehr bewußt war, sich in diesem Herzen festsetzte, [52] und eine innige Geschwisterliebe uns bis an seinen Tod verband.
Eine feste Stütze hatte dieser Bruder im Hause an jener Tante, der Kusine meines Vaters, welche seit dem Tode der Großmutter bei uns lebte, und auch auf mich eine bleibende Einwirkung anderer – eigentlich poetischerer Art übte. Geliebt ward ich nicht sehr von ihr, wenigstens dazumal nicht; denn sie sah in mir den Gegenstand, um dessentwillen ihr Liebling Xaver zurückgesetzt wurde; aber sie war mir gut als dem Kinde ihres teuern Verwandten, meines Vaters, und da sie viel zu billig und gutmütig war, um unter Geschwistern einen gehässigen Unterschied zu machen, so genoß ich manche Freude mit, und erhielt manches werte Geschenk von ihr, weil sie eben ihren Liebling, meinen Bruder, damit erfreuen wollte. Aber diese Vorliebe meiner Tante für den Knaben, den Eltern und Lehrer mit großer Strenge behandeln zu müssen glaubten, und die daraus entspringenden Mißverhältnisse veranlaßten öfters unangenehme Szenen im Innern unserer Familie.
Während sich die Dinge auf solche Art im häuslichen Zusammensein gestalteten, ging das äußere, glänzende Leben seinen Gang fort. Jeden Abend war Gesellschaft. Angesehene Beamte mit ihren Familien, Kavaliere, einige Damen, Gelehrte und Künstler besuchten unser Haus. Mein Vater gab öfters große, glänzende Konzerte, zu welchen die schöne Welt sich drängte und bei welchen ich – obgleich noch ein Kind – mich auf dem Flügel (damals kannte man noch keine Pianoforte) hören ließ. – Aber eben diese Auszeichnungen, die sichtbare Gunst der Monarchin, welche mein Vater genoß, der glänzende Fuß, auf dem unser [53] Haus eingerichtet war, die Menge der Besucher desselben, erregten Aufsehen, Mißgunst, Feinde. Von vielen Seiten standen sie gegen meinen Vater auf; vieles wurde versucht, um ihm die Gnade der Kaiserin zu rauben; aber seine unerschütterliche Treue und Redlichkeit bestanden alle diese Proben. Die Monarchin verkannte den Wert seiner Dienste nie, und bis an ihren Tod währte das Vertrauen und die, ich möchte sagen, freundschaftliche Zuneigung, die sie ihm so wie meiner Mutter schenkte, und für welche wir noch in jenen Blättern, von denen ich oben sprach, rührende Beweise, von ihrer Hand geschrieben, besitzen.
Meine Mutter besuchte den Hof oft. Ihre Stellung in der Welt erlaubte ihr zwar nicht, in den Kreisen des Adels und bei jenen Gelegenheiten zu erscheinen, wann dieser sich um die Monarchin versammelte, und nur einmal im Jahre, am Neujahrstage, war es damals den Frauen der höheren Staatsdiener erlaubt, sich zum Handkusse bei der Kaiserin einzufinden. Das unterließ denn meine Mutter nie, und noch sehe ich das Kleid vor mir, von schwerem, weißen Seidenstoff, mit bunten und goldenen Blumen reich durchwirkt und mit goldenem Besatz verschönert, das sie an solchen Tagen trug. Aber sie fuhr oft in die Burg, nach Schönbrunn oder Laxenburg, um in der Kammer, wie man es nennt, der Monarchin aufzuwarten, und bei diesen Besuchen nahm sie uns, ihre Kinder, öfters mit. So sah ich denn den glänzenden Hof der regierenden Frau, sie und viele ihrer schönen Kinder, die damaligen Erzherzoge Max und Ferdinand, die Erzherzoginnen Marianne, Christine, Elisabeth usw. oft. Lebhaft steht die Gestalt der großen Frau vor mir, die, trotz ihres vorgerückten Alters und ihrer durch die [54] Blattern damals ganz zerstörten Schönheit, eine Majestät, mit Huld und Freundlichkeit verbunden, besaß, welche unwiderstehlich anzog. Wie manches Mal redete sie freundlich zu mir, ließ sich herab, mir Spielzeug zu schenken und dessen Gebrauch zu zeigen. In Laxenburg und wohl auch in ihren andern Schlössern hatte sie, da ihr das Treppensteigen sehr beschwerlich zu werden anfing, sich eine Maschine machen lassen, welche in einem Kanapee bestand, auf dem sitzend sie mittelst eines leichten Mechanismus in das obere Stockwerk hinaufgehoben oder in das untere hinabgelassen werden konnte. Höchst wunderbar und unterhaltend war es mir, wenn sie zuweilen sich mit meiner Mutter auf eines jener Sophas setzte, mich zwischen ihnen beiden stehen hieß, und ich mich nun wie durch Geisterhände emporgehoben und in ein anderes Zimmer versetzt fand. Noch jetzt, nach mehr als 50 Jahren erscheinen jene Bilder, die Gestalten jener fürstlichen Personen, vor allen die Gestalt der huldvollen, großen Kaiserin mir hell und deutlich. Ich wollte die Zimmer, in die ich damals oft geführt wurde, noch finden, und den ganzen silbergrauen Aufputz ihres einsamen Witwengemaches beschreiben. Hier saß sie einmal, nach einer glänzenden Schlittenfahrt, welche meine Mutter auch in den Zimmern der Kaiserin mit angesehen hatte, Knötchen schürzend (ihre gewöhnliche Handarbeit, welche dann zur Verzierung von Kirchenornaten verwendet wurden), am Fenster, und ich befand mich allein in der Stube bei ihr. Da rief sie mich und gab mir einen Auftrag an eine ihrer Kammerdienerinnen im vordersten Zimmer. Ich – ein Kind von 8–9 Jahren, eilte dann geschäftig hinaus, sehr geehrt durch den Auftrag, glitschte aber auf dem Parkett [55] aus, und fiel im vordersten Zimmer der Länge nach hin. Sogleich schickte die gütige Monarchin ihre Kammerfrau, um zu sehen, ob mir nichts widerfahren wäre, ließ mich zu sich hineinführen, befragte mich selbst, und da das ganze geschehene Unglück in einem zerbrochenen Fächer bestand, den ich in der Hand gehabt hatte, schien sie sehr erfreut, und schenkte mir einen andern, den ich noch als Andenken jenes kleinen Vorfalls und der Huld Maria Theresias heilig verehre.
Allmählich aber kamen auch trübere Stunden und mancherlei Verdrießlichkeiten, ja endlich manches Unglück. Unser Hausstand war durch die Tante, Herrn Haschka, einen Hofmeister und meine Gesellschafterin vermehrt. Wie wahr ist das, was in den – mir übrigens gar nicht zusagenden – Wahlverwandtschaften Charlotte darüber sagt: wenn wir andere in unser Haus, an unsern Tisch nehmen, unser Leben mit ihnen gemeinschaftlich verbringen sollen! Mögen es noch so gute Menschen sein – jene vier Personen waren es sicher, vor allen die gute Tante – aber es sind andere als wir, sie haben andere Ansichten, andere Gewohnheiten, andern Geschmack. – Sollen sie dies alles nicht uns zum Opfer bringen, und sich ganz verleugnen, so müssen wir von den unsrigen abhandeln lassen, wir müssen, ihre Individualität erkennend, und wie billig ehrend, die unsrige beschränken; – das tut niemand gern und so bringt ein solches Zusammenleben selten allen Teilen Freude. Auch bei uns erzeugten sich einige Mißtöne, ich bemerkte wohl hier und da etwas, aber ich war zu sehr Kind, um darauf zu achten. Wichtiger war mir die Erscheinung eines Schwesterchens, das nach dem ersten Winter, welchen wir in jener Wohnung am Graben verlebten, das Licht [56] der Welt erblickte. Es war ein bildschönes Kind, das einer unsrer werten Hausfreunde zur Taufe hielt, und das den Namen einer innigen Freundin und Verwandten meiner Eltern, einer Frau von Häring, welche sich Rosine nannte, erhielt. Meine Mutter nährte das Kind selbst, es gedieh trefflich, und es ward beschlossen, daß es so wie mein Bruder im Frühling des nächsten Jahres zu Hetzendorf im k.k. Lustschlosse geimpft werden sollte.
Die Blatternimpfung war damals, in den Siebziger-Jahren des vorigen Säkulums, so neu, so allgemein anregend, aber im Anfange auch von vielen so gefürchtet und verdächtigt, wie dreißig Jahre später die Vakzine.
Die Kaiserin, überzeugt von der Nützlichkeit dieser Methode, suchte durch Befehl, Ermahnung und Beispiel ihr überall Eingang zu verschaffen. Sie etablierte in einem ihrer Lustschlösser, zu Hetzendorf, in der Nähe von Schönbrunn, eine solche Anstalt, in welcher jeden Frühling mehrere Familien des Adels und angesehenen Mittelstandes aufgenommen und sämtlich auf kaiserliche Kosten bewirtet wurden, wenn sie sich entschlossen, ihre Kinder daselbst von den kaiserlichen Leibärzten impfen zu lassen. Man kann denken, wie gern und häufig sich Eltern fanden, die um diese Vergünstigung nachsuchten, ihre Kinder vor dem gefährlichsten Feind, den Blattern, auf eine so ehrenvolle als angenehme Art zu sichern; denn, so wie ich in meiner Kindheit oft vernahm, glich jener Jmpfséjour in Hetzendorf einem fröhlichen Badeaufenthalt, wo mehrere, sonst sich fremde Familien in einem angenehmen Lokal auf dem Lande versammelt, in wechselnden Zerstreuungen und Unterhaltungen lebten. Beinahe [57] täglich fuhr die Monarchin von Schönbrunn hinüber, um nach dem Fortgang ihrer Anstalt zu sehen. Sie veranstaltete kleine Feste für die Kinderchen, Lotterien, Spiele usw., kurz, sie sorgte als allgemeine Mutter auch für alle.
Den Winter nun vor dem Frühling, wo jene Impfung meiner jüngern Geschwister stattfinden sollte (ich selbst hatte bereits an der Mutter Brust natürlich und glücklich geblattert) erkrankten diese plötzlich; – es zeigten sich die Blattern, und zwar von der bösesten Art. Mein Bruder, damals ein bildschönes Kind von vier bis fünf Jahren, war lange in Lebensgefahr, er sah kaum, durch Geschwulst und Blasen entstellt, einem Menschen gleich; und meine Mutter, die ihn mit der größten Sorge pflegte, stand unnennbare Angst um ihn aus. Das jüngere Schwesterchen aber starb, und als der Knabe sich zu erholen anfing, lag jene im Sarge. Dies war für meine Eltern eine sehr traurige Zeit. Die gütige Kaiserin nahm auch hier warmen und tröstenden Anteil an den Leiden meiner Eltern. Wir besitzen noch unter jenen, schon erwähnten Blättern eines, worauf, nachdem mein Vater ihr den Tod dieses Kindes gemeldet, sie ihm folgendes schriftlich erwidert:
»ich empfinde beeder Ältern Schmertz, wie glücklich ist die Kleine, hat ihre Carrière bald gemacht in unschuld. Von dem muß man sich occupiren, nicht von dem Verlurst; was haben wir mit unserm langen Leben vor Nutz und Freud, was für Verantwortung? da ist zu zittern. Gott erhalte ihm seinen Kleinen« 4.
Diese trübe Zeit verging denn auch. Meiner Eltern Schmerz beruhigte sich allmählich. Bruder Xaver [58] war vollkommen genesen, und obwohl seine hübschen Züge zerstört waren, so daß, wer ihn früher gesehen, ihn jetzt kaum mehr erkennen konnte, war seine Gesundheit doch weiter nicht erschüttert. Er gedieh, so wie ich, recht fröhlich; Schwester Rosine war ein Engel im Himmel. Unsere Lernstunden gingen wieder den gewohnten Gang, und ebenso die Lebensweise meiner Eltern. Der kleine Preußenkrieg – der Zwetschkenrummel vom Volke genannt – der sich in dieser Zeit, 1778–79, erhob, hatte so wie auf das allgemeine, so auch auf das innere Leben unserer Mitbürger keinen sichtbaren Einfluß. Aber die Gesinnungen des Thronfolgers, Kaiser Josefs, die in vielem von denen seiner Mutter verschieden waren, schienen damals immer deutlicher hervorgetreten zu sein, und manches Mißverständnis, manche Unzufriedenheit zwischen Mutter und Sohn erregt zu haben. Es war eben die alte und neue Zeit, die sich hier grell und stark von einander trennten, und so wie sie einander nicht begreifen konnten, konnte auch keine Vereinigung zwischen ihnen stattfinden. Mein Vater kannte dies alles sehr genau, und in jenen Blättern liegt mancher Beleg dazu, wenn die lebens- und arbeitsmüde, fromme Herrscherin selbst davon spricht, daß sie das nicht mehr sei, was sie gewesen, und daß ihr Wort, ihr Wille nicht mehr gelte wie früher.
Noch ein Jahr verging auf diese Weise. Mein Geist entwickelte sich allmählich, und so wie er sich selbst und seine Umgebungen besser zu verstehen anfing, übte Phantasie und Dichtkunst mehr Macht über denselben. Ich hatte hin und wieder einen Roman, ein Schauspiel zu lesen bekommen. Ich schrieb nun selber eins oder zwei, die jedes, ungefähr einen Bogen stark, [59] barer Unsinn waren, wie ich mich noch erinnere; aber genug, ich fühlte den Drang, etwas zu dichten und meine Gedanken zu Papier zu bringen. Haschka ließ mich viele Gedichte auswendig lernen, mein Kopf war voll Verse, Bilder, Reime; – und aus dieser aufgehäuften Masse fremden Gutes entwickelte sich da und dort etwas eigenes, so zum Beispiel ein Jahr später ein kleines Gedicht auf die Wiedergenesung einer Gespielin, jenes Mädchens, das meine Eltern mir zur Gesellschafterin gegeben hatten, welches Gedicht die Herren Poeten, die unser Haus besuchten, aus Rücksicht für meine Eltern – denn das Zeug verdiente die Ehre nicht – in einen Wiener Musenalmanach aufnahmen. Nun war also mein Name schon gedruckt, obgleich ich kaum zwölf Jahre zählte. Doch ich kehre zum Faden der Erzählung zurück.
Im Herbste 1780 fing die Kaiserin an, viele Beschwerden von einem heftigen Husten zu fühlen. Die Ärzte machten bedenkliche Mienen; – man glaubte die reißenden Fortschritte einer längstbegonnenen Brustwassersucht zu erkennen, welche der Monarchin schon seit vieler Zeit das Treppensteigen, Atemholen usw. beschwerlich gemacht hatten. Die Stadt wurde bestürzt, in allen Familien regten sich, je nachdem ihre Stellung zum Hofe oder dem öffentlichen Leben war, je nachdem sie mehr der milden, wohltätigen Wärme des sinkenden Gestirnes oder dem feurigen Glanze des aufsteigenden zugewendet waren, verschiedene, aber lebhafte Besorgnisse, Hoffnungen, Erwartungen; aber in unserm Hause und wohl noch in vielen der älteren Diener Maria Theresias herrschte die tiefste Niedergeschlagenheit. Der Zustand der Kaiserin verschlimmerte sich schnell; in wenigen Tagen wurde von höchster [60] Gefahr und bald darauf von Hoffnungslosigkeit gesprochen. Ich erinnere mich noch dieser ängstlichen Tage sehr wohl, sie lasteten selbst auf uns Kindern durch den Reflex des Kummers unserer Eltern und Freunde; denn wir konnten die Bedeutung der großen Veränderung, welche dem Vaterlande bevorstand, und ihre Folgen nicht einsehen. Während alles um sie her trauerte, behielt nur sie ihre ruhige Fassung bei. Sie hatte als Christin im höheren Sinne gelebt; sie war mit der Idee ihres Todes vertraut, und jenseits erwartete sie der unvergeßliche, geliebte Gemahl und mehrere vorangegangene Kinder. Ihr Zustand erlaubte ihr nicht, im Bette zu bleiben, so brachte sie die wenigen Tage der sehr verschlimmerten Krankheit bis zu ihrem Tode auf ihrem Kanapee sitzend, mit Kissen gestützt, zu. Kaiser Josef verließ die verehrte Mutter in diesen düstern Tagen fast nicht mehr, und zeigte ihr ungeheuchelten Schmerz und kindliche Achtung. Man erzählt, sie habe, völlig vertraut mit dem Gedanken, in kurzem aus diesem Leben zu scheiden, und jede wohlgemeinte Täuschung in dieser Ansicht von sich abwehrend, sich zuerst als Christin mit Beobachtung aller vorgeschriebenen Gebräuche zum Tode bereitet, und sich dann vorgenommen, die Annäherung des letzten Augenblicks mit ruhiger Fassung zu beobachten; daher habe sie ihrem Leibarzt, B. v. Störck, in einer geheimen Unterredung befohlen, wenn er glaube, daß der Augenblick des Scheidens eintreten werde, ihr dies durch ein, den übrigen Anwesenden unmerkliches Zeichen zu erkennen zu geben. Es wurde beliebt, daß B. v. Störck, der sich stets bei der erhabenen Kranken befand, oft ihren Puls fühlte, und die wenigen möglichen Erleichterungen und Hilfsmittel [61] verordnete, sie, wenn er jenen Zeitpunkt eingetreten glaubte, fragen sollte: ob sie vielleicht Limonade befehle? und daß die Kaiserin dann schon wissen würde, was dies zu bedeuten habe. Ich kann die Echtheit dieser Anekdote nicht verbürgen, weil meine Mutter natürlicherweise nicht mehr im unmittelbaren Hofdienst um die Person der Monarchin war, und mein Vater wohl täglich mehrere Male sich in der Kammer der Kaiserin persönlich nach ihrem Befinden erkundigte, aber die vielgeliebte und hochverehrte Frau in der kurzen Zeit ihres letzten Übelbefindens, das nur wenige Tage währte, nicht mehr sah. Indessen, wenn jene Geschichte mit der Limonade auch nur eine Erfindung war, so zeugt sie doch von der Ansicht und Vorstellung, welche man sich im Publikum von der Kraft und frommen Heiterkeit ihres Geistes machte.
Am 29. November 1780, zwischen 8 und 9 Uhr abends, als eben einige treue Freunde meiner Eltern bei ihnen versammelt waren und alles mit banger Sehnsucht den Nachrichten entgegensah, die man heute noch vom Hofe erwartete, trat – ich erinnere mich dessen sehr lebhaft – der Gemahl jener Verwandten, nach deren Vornamen meine selige Schwester war getauft worden, Regimentsrat von Häring (wie man damals sagte), einer der genauesten Freunde unsers Hauses, ins Besuchzimmer, und seine düstere Miene zeigte schon, daß er nichts Gutes zu verkünden habe. Jetzt ist wahrscheinlich die Kaiserin gestorben, sagte Herr von Häring. Ich bin durch die Burg gegangen, es ist ein Hin- und Herlaufen, eine Bestürzung unter den Leuten, die auf nichts anderes schließen lassen. So sehr meine Eltern auf diesen Schlag vorbereitet waren, so entstand doch die heftigste Erschütterung. [62] Mein Vater eilte nach Hofe; – es war nur zu wahr, was unser Verwandter vermutet hatte. – Maria Theresia war verschieden und eine neue Zeitrichtung trat an die Stelle der bisher befolgten.
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Ich stehe nun mit meinen Erinnerungen an einem Abschnitte, den man mit Recht einen Wendepunkt in der Geschichte, besonders in der Österreichs, nennen kann, an dem Regierungsantritt Kaiser Josefs II.
Sprünge geschehen nicht, weder in der physischen noch in der moralischen Welt, und jeder folgende Zustand des Einzelwesens wie des Ganzen liegt lange vorbereitet und eingehüllt im Vorhergehenden, so daß er selten mit überraschender Neuheit plötzlich hervortritt, sondern sich meistens nur nach und nach entfaltet und jene Veränderungen sichtbar erscheinen läßt, welche gleichsam unsichtbar schon länger vorhanden waren. So war es auch damals mit jener Periode der Denk- und Preßfreiheit, Aufklärung, Neuerung und Philosophie, deren Wurzeln weit zurück in vergangenen Dezennien zu suchen waren. Indes trat sie, obwohl lange vorbereitet, bei Gelegenheit des Regentenwechsels auffallender hervor, und schien von diesem mehr abhängig, als wirklich der Fall war.
Wir in unserm Hausstande fühlten sogleich eine Wirkung dieser Neuerungen. Kaiser Josef schaffte die sogenannten Hofquartiere ab, nämlich die Wohnungen, welche die Hausbesitzer Wiens seit undenklichen Zeiten den kaiserlichen Beamten hatten einräumen müssen und wofür sie nur einen sehr unbedeutenden Zins erhielten, weil man vermutlich in alter Zeit glaubte, daß die Hauseigentümer, um des Vorteils[63] willen, das Hoflager beständig in ihrer Stadt zu besitzen, für die Beamten ein Übriges tun können. Meine Eltern suchten sich also eine Wohnung auf eigene Kosten und fanden diese in einer sehr angenehmen Lage auf dem Neuenmarkt, wo wir sehr hohe, große, freundliche Zimmer hatten, eine Wohnung, ganz geeignet, um darin viele Leute zu empfangen, Feste zu geben usw. – eine Lebensart, die sich in meiner Eltern Hause ununterbrochen fortsetzte, obgleich der Tod der allgeliebten Maria Theresia und die ganz veränderte Stellung, in welcher die vor vielen begünstigten Räte des Vorfahrs jederzeit zum Nachfolger zu stehen pflegen, einen Umschwung der Dinge in dieser Rücksicht für meinen Vater hätte können besorgen lassen. Hier aber, glaube ich, galt seine und meiner Mutter Persönlichkeit zu viel und diese erhielt das Ansehen des Hauses, wenn schon keine besondere Gunst des Monarchen dasselbe auszeichnete, so daß denn dies nach wie vor der Sammelplatz bedeutender und zahlreicher Besuche war.
Eine der ersten fühlbaren Wirkungen des neuen Regierungssystems war eine viel unbeschränktere Preßlizenz, und Josef II. suchte eine Art von Stolz darin, selbst was über seine Person gesagt oder geschrieben wurde, ungeahndet öffentlich erscheinen zu lassen. Die unmittelbare Folge davon war eine Unzahl kleiner oder größerer Broschüren, Pamphlets usw., welche nun erschienen, und in welchen sich die Schriftsteller mit und ohne Witz, mit oder ohne Grund über alte Gebräuche und Mißbräuche aussprachen. Eine der ersten, wo nicht ganz die erste, war eine Betrachtung über die kostspieligen Leichenfeierlichkeiten, die denn ganz in dem materiellen Geist jener Zeit, der sogenannten [64] Aufklärung, als töricht, als eine unnütze Verschwendung, als eine aus der Gewinnsucht der Geistlichen entstandene Spekulation dargestellt wurden. Vielen Anklang fanden solche Äußerungen in der Erkaltung der meisten Gefühle so wie im Eigennutz der Erben und Verwandten des Verstorbenen. Auch ließ jenes Leichengepränge merklich nach. Man fand es bürgerstolz, unaufgeklärt, altfränkisch, kostspielige Leichenzüge zu veranstalten, Gräber und Grüfte zu ehren, zu schmücken; – und siehe da! sechzig Jahre darnach liest man in jeder Zeitung von irgend einer hochfeierlichen Bestattung eines oder des andern ausgezeichneten Mannes und sieht den Luxus, der in unsern Tagen mit eigenen Grabstätten und Denkmälern auf den, gleichsam in Gärten verwandelten Friedhöfen herrscht.
Weil nun eben alles besprochen werden durfte, war auch des Sprechens kein Maß und kein Ziel. Jeder, der die Feder führen konnte (das waren aber doch vor fünfzig Jahren nicht so viele wie jetzt), ergriff sie in dieser Periode, um, wie ihn sein Herz oder sein Witz oder vielleicht sein böser Wille trieb, irgend ein tadelnswürdiges Vorurteil, einen schädlichen Mißbrauch zu rügen oder wohl auch nur seine Geistesüberlegenheit zu zeigen oder seiner Galle Luft zu machen. Das auf diese Weise Besprochene ward nun von seiner ehemaligen sichern Stellung oder Höhe herabgerissen und nicht selten schonungslos mit Füßen getreten. Manchem geschah recht, manches Schädliche wurde fortgeschafft, manches Hemmende beseitigt, aber auch nur zu viel Gutes, Nützliches, ja Heiliges mit eingerissen. Von unbedeutenden Mißbräuchen und Lächerlichkeiten kam man auf das Wesentlichere. An allen [65] alten Einrichtungen, Vorrechten, Ordnungen, endlich selbst am Glauben und den Dogmen der Religion wurde gerüttelt. Predigerkritiken erschienen, welche, wie jetzt die Theaterkritiken, die Leistungen der verschiedenen Prediger an jedem Sonntag würdigten. Mancher wahre Tadel wurde ausgesprochen, aber das Publikum verlor die Achtung vor dem Manne, aus dessen Mund es das Wort Gottes vernehmen sollte, und den es nun öffentlich in die Schule nehmen und oft bitter oder spöttisch tadeln hörte. Der tadelnde Witz, der sich an allem üben durfte, verschonte auch die Person des Monarchen nicht, dessen freisinnige Großmut ihm diesen Weg eröffnet hatte. – Alles, was Josef II. mit hohem und humanem Sinne seinen Völkern Gutes erweisen wollte und wirklich erwies, wurde von allen Seiten beleuchtet, jede Schwäche, jede möglich schlimme Deutung aufgegriffen, und je bitterer die Satire war, je willkommener war sie dem Publikum, das nur selten untersuchte, ob denn der Tadel auch gegründet, ob die Auffassung nicht einseitig, nicht von Gehässigkeit eingegeben sei, sondern zufrieden war, wenn es mitschimpfen und mitlachen konnte. Ich will hier nur an den Richter Schlendrian (eine ebenso witzige als oberflächliche Satire auf das Gesetzbuch Kaiser Josefs und die Monachologie erinnern, worin Hofrat Born, einer der glänzendsten Köpfe jener Zeit, ein großer Naturkundiger und Mineralog, die verschiedenen Mönchsorden mit Linnéschen Bezeichnungen als Käfer und anderes Ungeziefer sehr witzig, aber sehr unanständig darstellte.
Aus Frankreich kamen uns (wie denn aus Frankreich von jeher viel Schädliches über die Welt gekommen ist: stehende Heere, die wir Louis XI. verdanken; [66] das Papiergeld, die Revolution, die Modesucht usw.) um diese Zeit auch eine Menge Bücher, welche den Geist des Spottes, des Unglaubens, der Opposition in jeder Rücksicht, der sich so mächtig in Österreich zu regen anfing, nährten; wie le Système de la nature von Mirabeau, les Ruines von Volney und viele andere. Unter dem Deckmantel der Philosophie, der Wahrheitsliebe, der unparteiischen Forschung wurde der Maßstab, die Sonde, das anatomische Messer an alles Schöne, Edle, Heilige gelegt. Durch die fünf Sinne allein sollten und konnten, nach den Ansichten jener Weisen und Aufklärer, dem Menschen seine Vorstellungen von der äußern Welt kommen; was sich also nicht in den Bereich derselben ziehen, wessen Evidenz oder Dasein sich nicht dem nüchternen Verstande mit beinahe geometrischer Genauigkeit erweisen ließ, wurde bezweifelt oder bespöttelt oder ins Reich der Träume verwiesen. Mit religiösen Zeremonien hatte man angefangen, zur Religion selbst schritt man fort, ihre Dogmen wurden untersucht, der Glaube als etwas des denkenden Menschen Unwürdiges verworfen. So kam es endlich dahin, daß man nicht bloß alle positiven, sondern alle natürlichen Religionen im allgemeinen wegphilosophiert hatte. Da erschienen Bücher wie der Horus, Bahrdts Bibel im Volkston, worin der Autor versucht, die Wunder des neuen Testaments auf natürliche Art zu erklären, nur geht es damit, leider! wie mit der strengen Beobachtung der »trois unités« in der ältern französischen Tragödie, worin man denn auch, um diesen Forderungen nachzukommen, die größten Unwahrscheinlichkeiten gelten, und z.B. ein verliebtes Rendezvous in einem Vorhof, eine Verschwörung auf der Gasse vorgehen lassen muß. Ebenso [67] setzt der Verfasser der Bibel im Volkston Verabredungen, Zusammentreffen von Umständen, Mißverständnisse, unbegreifliche Verblendungen oder Selbsttäuschungen voraus, damit das wegraisonnierte Wunder auf die wunderbarste Weise natürlich hat geschehen können. Er nimmt seine Zuflucht zu einem jungen Ägyptier (Haram genannt, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht), der mit Christus und dessen Verwandten Johannes dem Täufer im Bunde, vermittelst seiner aus Ägypten gebrachten Wissenschaften (die ein bißchen an Freimaurerei erinnern) alle diese sogenannten Wunder möglich oder sie den Leuten glaubbar macht. Noch unzählige andere, teils philosophische, teils poetische Erzeugnisse des jungen aufsprudelnden Geistes, in deutscher, französischer und englischer Sprache, erschienen jetzt. Den weggespoteten Religionsgefühlen warf man bald alles nach, was in der bürgerlichen Welt bisher geehrt und geachtet worden war, wenn man sich dessen zureichenden Grund nicht philosophisch vordemonstrieren konnte: Vaterlandsliebe, Anhänglichkeit an seinen Fürsten, Ehrfurcht vor dem Alter usw., dies alles wurde mit dem Worte Vorurteil gebrandmarkt. Es wurde gezeigt, daß die Scholle, auf der uns der Zufall das Licht der Welt hatte erblicken lassen, durchaus kein Recht auf unsere größere Liebe und Achtung habe als eine andere. Patriotismus wurde als eine Engherzigkeit; Anhänglichkeit an das angestammte Fürstenhaus als Schwäche und Aberglauben; Achtung und Liebe für das Alte, weil es eben alt und wohlbekannt ist, als lächerliches Vorurteil behandelt. Das ganze Mittelalter versank auf diese Art hinter uns in einen Abgrund von Nacht und Unscheinbarkeit, und wenn man sich erinnert, auf [68] welche Art Friedrich II., der sogenannte Große, den Fund des Liedes der Nibelungen aufnahm, so darf man sich nicht wundern, wenn in Österreich bei den Aufhebungen der Klöster der Archive wenig oder gar nicht geachtet, Altertümer an Manuskripten, Gerätschaften, Arbeiten, Malereien als Produkte barbarischer Zeit geringgeschätzt, um Spottpreise verauktioniert oder wohl gar vertilgt wurden, nachdem man höchstens von alten, vielleicht unschätzbaren Dokumenten die goldenen Kapseln der Siegel abgeschnitten, die Schriften verbrannt oder in die Papierstampfe gegeben, die Kapseln aber als Pagamentsilber behandelt hatte. Ich erinnere mich auch sehr wohl eines Aufsatzes von Herrn von Kotzebue in einer Sammlung kleiner Schriften (wenn ich nicht irre, so hieß sie: die jüngsten Kinder meiner Laune), worin die Ehrfurcht für das Alter, die Unterordnung unter die Erfahrung desselben usw. als Begriffe dargestellt wurden, welche für unsere Welt nicht mehr paßten und sich nur traditionell aus einer Zeit herschrieben, in der noch keine Schrift, viel weniger der Druck existiert hatte und folglich die Alten, die einzige Quelle der Erfahrung, gleichsam die lebendige Tradition, Geschichte und Nachschlagebücher waren.
Doch so viele Schattenseiten man auch an jener Zeit nachweisen kann, in welcher die ersten Erschütterungen an dem Gebäude der bürgerlichen Ordnung und Stetigkeit gemacht wurden, das uns nun bald überall, infolge jener fortgesetzten Bemühungen, über den Köpfen einzufallen droht, so war sie doch auch eine Zeit frischen, schönen, regen Geisteslebens und vielleicht das goldene – nie wiederkehrende Zeitalter der deutschen Literatur, zumal im ästhetischen Fache.[69] Überall zuckten die Funken lebhafter Geistestätigkeit auf, leuchteten hier mit mildem Lichte, das sich segensreich weiter und weiter verbreitete, blendeten dort wie gewaltige Blitze, fuhren auch manchmal wie täuschende Jrrwische hin und lockten den Nachfolgenden in Sümpfe. Wird es wohl nötig sein, hier auf Klopstock, Lessing, Goethe, Wieland, Schiller, Herder hinzuweisen? Wir in Österreich hatten unsern Denis, Sonnenfels, Jünger, Alxinger und viele andere, deren Leistungen leider jetzt vom Zeitenstrom weggespült sind, so wie man kaum mehr eines Gellert, Rabener, Hagedorn gedenkt und nur jene größern Namen stehen geblieben sind, die ich oben genannt. In allen Zweigen des Wissens regte sich eine lobenswerte Tätigkeit, man durfte frei denken und so dachte man wohl, wie Haller singt. Auch in die geselligen Kreise drang eine muntere Freudigkeit statt früherer Steifheit und veralteter Formen. Das Theater, welches Kaiser Josef seines unmittelbaren Schutzes würdigte, trug sehr viel zu diesen geselligen Freuden bei. Unsere Bühne ward unter der Leitung des Monarchen im deutschen Schauspiel bald eine der ersten Deutschlands, in der italienischen Oper vielleicht die erste damals existierende, Jtalien nicht ausgenommen; denn der Kaiser hatte auf seinen Reisen die Theater dieses Landes kennen gelernt, die besten Sänger und Sängerinnen selbst engagiert und von unserer Oper gingen die seconde und terze donne nach Italien zurück, um als erste überall aufzutreten. Schröder kam nach Wien, spielte zuerst Gastrollen und wurde sodann samt seiner Frau engagiert. Brockmann kam nach Wien, Lange war in der Blüte seiner Kraft, die beiden Jacquets, Katharina und Anna [70] (nachmals Adamberger und Mutter der liebenswürdigen Schauspielerin unserer Zeit), Madame Sacco und viele andere machten die Leistungen unserer Bühne höchst glänzend, und das Publikum nahm auf eine Weise an dem Theater Teil, die von der jetzigen ganz verschieden ist. Es suchte geistigen Genuß, nicht bloßen Zeitvertreib, es wollte sein Gefühl anregen lassen, nicht bloß den Verstand im Tadeln üben. Es kam mit frischer Empfänglichkeit ins Theater, faßte jede Schönheit des Dramas sowohl als der Darstellung auf, verlangte nicht mit Übersättigung nur nach schnellem Dahineilen der Handlung und wurde durch eine tiefere psychologische Entfaltung der Motive nicht gelangweilt. So gab es sich dem Eindruck hin, den Dichter und Schauspieler hervorzubringen strebten und dies geistig bewegliche, für jede Schönheit empfängliche Publikum (nicht bloß hier, sondern in ganz Deutschland) erweckte in schöner, aber sehr natürlicher Wechselwirkung die dramatischen Genies, die sich gern einer so lohnenden Arbeit unterzogen, sowohl als Dichter wie als Schauspieler. Aus jener Periode stammen, nebst den obengenannten, Iffland, Fleck, Koch, die Unzelmann und viele andere, deren Namen mir nicht eben beifallen. In jener Periode traten Iffland und Schröder als Schauspieler und Schauspieldichter, Kotzebue und Jünger als Schauspieldichter auf, deren Stücke noch jetzt den Kern unserer Repertoire bilden und trotz des ganz veränderten Geschmackes oft lieber gesehen werden als die Erzeugnisse neuerer Zeit. So bewegte sich die gesellige Welt, geistig angeregt, aufs lebhafteste und genügendste in stetem Wechsel der Leistungen und Empfängnisse, und mitten in diesem freudigen Treiben [71] der Geister wuchs ich empor und trat in die Periode, wo das Kind zur Jungfrau entblüht, das Herz zu fühlen, der Geist mit klarem Bewußtsein um sich zu blicken vermag.
Ich hörte und sah vieles, was von meinen früheren Ideen sehr abstach. Ich war religiös erzogen, und alle von der Kirche vorgeschriebenen Gebräuche waren bis zu jener Zeit im Hause sowohl als auch von mir beobachtet worden. Allmählich aber drang die neue Gesinnung auch bei uns ein. Gar manche der Freunde, die unser Haus besuchten und übrigens achtungswerte Menschen waren, dachten über die Religion sehr frei. – Nicht allein, daß sie sich in ihrem Herzen von jeder positiven Satzung losmachten und eigentliche Deisten, oft nicht einmal dies, sondern Materialisten und Atheisten waren, gab es auch viele unter ihnen, die unbesonnen genug waren, diese Gesinnung ungescheut im Gespräche laut werden zu lassen, sich von allen äußerlichen Beobachtungen der Religion, allen Vorschriften der Kirche los zu machen und in philosophischer Ruhe bequem dahin zu leben. Diese Gesinnungen, diese Beispiele sah ich täglich vor mir, und obwohl sie mich wohl zuweilen durch ihre Grellheit verletzten, so drang doch einiges davon auch in meinen Geist ein, erregte mir Zweifel, Unsicherheit und erkältete auf jeden Fall mein Gefühl. –
Gottes Gnade war es, deren Walten über mir ich recht sichtbar erkenne, wenn ich der Entwicklung meines Geistes und den Einwirkungen, die er von Zeit zu Zeit erhielt, nachsinne, daß Haschka, welcher, wie schon gemeldet, bei uns wohnte und sich meiner geistigen Ausbildung eifrig annahm, mir (vielleicht durchaus nur aus ästhetischen Rücksichten) die Noachide, [72] Miltons verlornes Paradies, die Insel vom Grafen Stolberg u. dgl. zu lesen gab und, um mein von Natur glückliches Gedächtnis durch Übung zu stärken, zuerst alle Fabeln und Erzählungen von Gellert, Hagedorn, Lichtwer, dann aber auch die geistlichen Lieder des ersten sowohl als anderer Dichter auswendig lernen ließ. In jenen geistlichen Epopöen erschienen mir die Gottheit, die Engel wieder in dem würdigen hohen Licht, worin ich sie im gesellschaftlichen Leben gar nicht oder höchst selten betrachtet sah, und mein Herz ergriff eifrig diese durch die Phantasie ihm dargebotenen Vorstellungen, welche mit dem tiefsten Grunde meiner Seele so wohl zusammenstimmten. Ich behielt die schönsten von Gellerts Liedern auswendig (ich weiß sie noch jetzt großenteils), bediente mich seines Morgen- und Abendliedes zu meiner täglichen Andacht und hielt mir viele seiner frommen Sprüche gegenwärtig, so z.B. das schöne Lied: Du klagst und fühlest die Beschwerden des Standes, worin du dürftig lebst, in welchem wirklich ein Schatz von Erfahrung und Trost für jeden liegt; so endlich aus einem andern die Stelle: Denk an den Tod in frohen Tagen, kann deine Lust sein Bild vertragen, so ist sie gut und unschuldsvoll. Wohl sprang ich freudig und mutig auf keinem Ball herum, ohne mir nicht mehr als einmal während des Abends jenen Vers des frommen Mannes zurückzurufen und die Reinheit meines Genusses an diesem Prüfstein zu untersuchen. Gott sei Dank! ich fühlte nie Schrecken oder Angst bei dem Gedanken an einen möglichen nahen Tod.
Aus jenen Epopöen ging noch eine Vorstellung lebendig in meine Seele über – die der Engel und meines [73] Schutzengels insbesondere. Meine Religionsbegriffe stimmten gar wohl damit überein, und so erkor ich mir den Engel Ithuriel, der im Milton vorkommt, wo er den Satan als Kröte am Ohr der Eva entdeckt und ihn, mit seinem Speere berührend, zur Entdeckung und Flucht zwingt, zu meinem Schutzengel oder vielmehr ich gab dem Geiste, dessen Schutz mich der Schöpfer bei meiner Geburt übergeben, diesen Namen. Dann erkor ich mir einen der schönsten Fixsterne – (späterhin erfuhr ich, daß es die, fast im Zenith stehende Lyra ist), in welchem ich mir Ithuriels Residenz dachte. Um aber auch ein deutliches Bild von ihm in meiner Phantasie zu bewahren, wählte ich mir einen überaus schönen Engel in Jünglingsgestalt, der auf einem Bilde in unserer Dorfkirche (zu Hernals, wo meine Eltern jeden Sommer zubrachten) der heiligen Barbara den Palmzweig aus den Wolken reicht. So also sah mein Schutzgeist aus, wohnte in dem schönen Stern, den ich in hellen Nächten über mir funkeln sah, umschwebte mich, beobachtete mich und war betrübt oder ungehalten, wenn ich Fehler beging. Jeden Abend examinierte ich mich nach Gellerts Selbstprüfung: Der Tag ist wieder hin, gleichsam in Gegenwart meines Schutzengels und glaubte zu fühlen, ob er freundlich oder strenge dabei aussah.
Zuweilen erschien er mir im Traum – unendlich schön, von weit mehr als menschlicher Größe, eine Krone von Rosen im hellbraunen Haar (jener auf dem Altarblatt war ganz blond) und meine Seele versank in Entzücken, Demut und Hingebung vor ihm; denn – wie ich jetzt wohl einsehe – die erwachenden Gefühle der Jungfrau mischten sich in die religiösen Vorstellungen, und der künftige Geliebte verschmolz mit dem [74] schönen Schutzgeist. Wie vielen Anteil aber auch diese Täuschung an jener Verehrung meines Engels und an mancher religiösen Erhebung gehabt haben mochte, so erkenne ich doch, daß es sichtbare Waltung der Vorsehung war, die meinen, durch den Zeitgeist erschütterten Glauben und das Bessere in mir auf solche Weise bewahrte. Ich schrieb mir auch – in meinem dreizehnten oder vierzehnten Jahre – ein kleines Gebetbuch zusammen, in welches ich viele der Gellertschen Lieder eintrug und bediente mich dessen in der Kirche und zu Hause.
Kurz vor dieser Zeit hatte Haschka angefangen, mich in der lateinischen Sprache zu unterrichten, die ich mit vieler Lust ergriff und worin ich schnelle Fortschritte machte. Herr von Leon, der früher meines Bruders Mentor gewesen war, hatte unser Haus verlassen und eine Anstellung an der k.k. Hofbibliothek erhalten, die er auch bis zu seinem, erst vor einigen Jahren erfolgten Tode behielt. An seine Stelle kam ein anderer junger, aber sehr tüchtiger Mann, der später ebenfalls ein kaiserliches Amt erhielt und bis an seinen Tod ein treuer Freund unsers Hauses war. Dieser setzte den Unterricht im Lateinischen bei mir fort, indem ich die Lehrstunden meines Bruders besuchte, da Herr Haschka infolge mancher kleinen Mißverständnisse unser Haus verlassen hatte, obgleich er uns immerfort und fleißig besuchte.
Man hatte damals angefangen, Kinder und junge Leute mehr an Luft und jede Witterung zu gewöhnen. Es wurde also auch bei uns Sitte, daß ich, so oft es nur möglich war, mit meinem Bruder in Begleitung des Hofmeisters spazieren ging. Auf diesen Gängen, die im Winter nur durch die Straßen der Stadt geschahen, [75] kamen wir denn sehr oft auf den Michaelsplatz, wo damals Artaria die erste, sehr schöne Kunsthandlung eröffnet hatte. Obwohl noch halbes Kind, fand ich doch viel Vergnügen an Gemälden und Kupferstichen, es war mir also sehr angenehm, wenn unser Weg bei Artaria vorüberführte und ich Gelegenheit fand, die Bilder zu betrachten. Bald aber zog eines vor allen meine Aufmerksamkeit an sich und machte einen tiefen Eindruck auf mein Herz. – Es war dies das berühmte Blatt (von Woollet, wenn ich nicht irre): der Tod des Generals Wolf in der Schlacht bei Quebeck. Die edle Gestalt des jungen sterbenden Helden, der erhabene Ausdruck seiner Züge, der im Sterben noch die Siegesfreude und das God be thanked bezeichnet, womit er die Nachricht empfängt, daß die Feinde flohen, die Trauer der ihn umgebenden Gefährten, die die Größe dieses Verlustes anschaulich machte, alles dies ergriff mich tief und General Wolf, der die Weltbühne zehn Jahre vor meiner Geburt verlassen hatte, ward der geheime Gegenstand einer – wahrlich schuldlosen Neigung und manches zärtlichen Gedichtes, das ich seinem Andenken weihte. – Alle Tage wußte ich es nun einzuleiten, daß wir bei Artaria vorüberkamen und ich mein Ideal zu sehen bekam; in unserm Garten errichtete ich ihm in einem schattigen verborgenen Winkelchen ein Denkmal, einen kleinen Erdhügel, auf den ich ein Kreuz pflanzte und ihn mit Blumen und Bändern schmückte, und so erhielt sich diese Geisterliebe eine Weile in meiner Phantasie.
Ich war stets gern im Sommer auf dem Lande, das heißt, in dem Garten meiner Eltern auf dem benachbarten Dorfe Hernals gewesen. Die freie Natur,[76] Bäume, Blumen, das Gebirg in der Ferne, schöne Sonnenuntergänge und Mondnächte sprachen mein Gefühl an und es war mir immer leid, wenn wir im Herbste in die Stadt zurückkehrten. Ungefähr in dieser Zeit des Erwachens meiner Empfindungen erschien Vossens Luise, nämlich der Geburtstag, der Brautabend und der Morgenbesuch, jedes einzeln in den damaligen Hamburger Musenalmanachen.
Mir ging eine neue Welt in diesen Dichtungen auf. Das war es, was tief und unverstanden in mir gelegen hatte, dieses stille, ländliche Leben, diese genügende Begrenzung, dieser Frieden, dieses häusliche Glück! In solchen Szenen konnte ich auch das meinige finden, und ein Arnold Ludwig Walter 5 schwebte mir in seinem würdigen Ernst, seinem frommen Sinn, seiner priesterlichen Hoheit als das Wünschenswerteste vor Augen, was ein Mädchen erreichen konnte. Daß es gerade ein Geistlicher war, erhöhte bei mir seinen Wert. Ich hatte Sophiens Reisen von Memel nach Sachsen gelesen und wieder gelesen; denn der Roman hat sicher große Vorzüge und es ist schade, daß er so vergessen ist. Auch hier stand ein pastorlicher Held, Herr Eduard Groß, vor allen übrigen glänzend, kräftig und edel da. – Ja! eines solchen Mannes, gerade eines Geistlichen Frau zu werden, in ländlicher Stille mit ihm zu leben, die Heiligung zu fühlen, die sein gottverwandter Sinn, sein frommer Wandel um sich verbreitet, ihm anzuhängen, ihm freudig zu gehorchen, mich kindlich von seiner Tugend und Frömmigkeit leiten zu lassen, erschien mir als das schönste Los, das ich erstreben konnte; und diese Richtung, die damals meine Empfindungen nahmen [77] oder vielmehr wie sie sich aus meinem Innern entfalteten, blieb so ziemlich der Typus, der ihnen für immer eingedrückt war.
Nun gab mir Haschka Unterricht in den schönen Wissenschaften, und Batteux war unser Lehrbuch, aus welchem ich Auszüge zu machen angehalten wurde, so wie aus Erxlebens Physik, in welcher mich Haschka ebenfalls unterwies. Überhaupt mußte ich viel schreiben, übersetzen, aus dem Lateinischen und Französischen, und Auszüge aus den Lehrbüchern, Exzerpte aus Gedichten machen. Ich halte dies für eine sehr nützliche Übung für junge Leute, und glaube, daß ich ihr vieles verdanke; denn ich gewöhnte mich, den eigentlichen Sinn, den Kern jedes Vortrags aufzusuchen, zu fassen und deutlich darzustellen, was mir später von vielfachem Nutzen war, und jene Exzerpte oder Anthologien leiteten mich dahin, die Schönheiten eines Werkes zu studieren, zu empfinden, und mir gleichsam eigen zu machen.
Nachdem ich diesen Unterricht nach Batteux ziemlich gefaßt hatte, fing ich an, mich in Fabeln und Idyllen zu versuchen. Geßner, Voß, Virgil, eine deutsche Übersetzung des Theokrit wurden mir in die Hand gegeben, und ich schrieb eine Menge Zeugs in Geßnerscher poetischer Prosa oder in Hexametern nieder, das längst untergegangen ist, weil es kein besseres Schicksal verdiente, das aber doch dazu diente, mich im Stil und Vortrag zu üben.
So erreichte ich mein fünfzehntes Jahr und mithin eine bedeutendere Epoche meines Lebens. Meine Eltern waren mit der Familie jener Frau von Häring, der Patin meines verstorbenen Schwesterchens, nicht bloß weitläufig verwandt, sondern seit langem durch Bande [78] herzlicher Freundschaft verbunden. Herr von Häring hatte zwei Söhne und zwei Töchter, die alle um einige oder auch viele Jahre älter waren als ich, wie denn die ältere Tochter nicht mehr als ein ganz junges Mädchen einem Bankier »von Schwab« die Hand gab, als ich kaum zehn oder elf Jahre zählte. Der jüngere Sohn, ein sehr hübscher Jüngling, eben falls um 8–9 Jahre älter als ich, hatte mir immer freundlich begegnet, und sein meisterliches Violinspiel meine Aufmerksamkeit auf ihn geheftet, ohne daß ich etwas weiteres dabei dachte. Nun war er ein paar Jahre auf Reisen gegangen, hatte Frankreich, England, einen großen Teil von Deutschland gesehen, und wurde mit großen Hoffnungen von seiner hohen Ausbildung und moralischen Vortrefflichkeit im Vaterhause und in dem ganzen Freund- und Verwandtschaftskreise zurück erwartet.
Er kam an und einer seiner ersten Gänge war zu den treuen Freunden seiner Eltern, zu uns. Ich hatte wenig oder gar nicht an ihn gedacht; aber ich wurde doch sehr frappiert, als er eines Abends, da eben wie immer Gesellschaft bei uns war, eintrat. Seine natürlich vorteilhafte Gestalt hatte sich noch angenehmer ausgebildet. Er war von mehr als mittlerer Größe, blond, mit blauen Augen, bedeutenden Zügen und ernster würdiger Haltung, hatte durchaus nichts Gecken- oder Stutzerhaftes, vielmehr etwas Gehaltnes, das fast bis ans Strenge ging. Eine Nadel in meiner Stickerei ging mir über dem Anschauen des hübschen Jünglings verloren, und als ich sie am Boden suchen wollte, kam er selbst – o welcher Zuwachs an Verwirrung! – mir zu helfen. Von dem Augenblicke an, war meine Unbefangenheit dahin, und wenn ich mich gleich recht wohl erinnere, daß von jenem »Blitz, der[79] in zwei Herzen zugleich einschlägt«, von jenem »Vorgefühl, daß jetzt das Schicksal unsers Lebens entschieden sei«, gar nichts in meiner Seele war, vielleicht schon darum nicht, weil jene Ideen, Geburten einer spätern phantastischern Zeit, damals nicht Mode waren, so weiß ich doch noch recht gut, daß ich glaubte, Herr v. Häring könnte so ziemlich dem Ideal entsprechen, das ich mir von einem vollkommenen Manne entworfen hatte.
Auch er schien von ähnlichen Gefühlen für mich beseelt; sei es nun, daß ich ihm wirklich gefallen oder daß die Betrachtung der mancherlei Vorteile, welche eine Verbindung mit der Tochter des angesehenen und vermöglichen Hofrates Greiner bringen konnte, ihm selbst einleuchtete oder von seinen Verwandten, die auch die unsrigen waren, angeraten wurde – genug, er näherte sich mir auf entschiedene, nicht zu mißverstehende Weise, und mein jugendliches Herz war ganz glücklich in diesem Gefühl einer ersten, tugendhaften, und von beiden Familien gut geheißenen Liebe. Daß Häring trotz seiner Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit sich immer in einer gewissen ruhigen Haltung gegen mich zu behaupten wußte, die von einem lebhaftern Geiste manchmal zu Übereilungen hingerissen wurde; daß er diese Übereilungen liebreich, aber offen tadelte; daß er überhaupt hier und dort manches zu hofmeistern an mir fand, irrte mich lange nicht. Mein Ideal war ja ernst, besonnen, weise, viel etwas besseres als ich selbst, und so nahm ich jede Zurechtweisung demütig und willig hin. Noch ein zufälliger Umstand trat hinzu, um dies untergeordnete Verhältnis auszubilden. Häring besaß die Musik, in der auch ich mich nicht ohne Beifall übte, in sehr hohem Grad. Er hatte vor seiner Reise [80] die Violine meisterlich gespielt, und diese Fertigkeit während jener Jahre in der Fremde noch ungleich höher ausgebildet. So stand er in dieser Rücksicht als vollendeter Virtuose vor mir, der den Dilettanten kaum ahnen ließ. Er akkompagnierte mir nun beständig, er studierte die herrlichen Werke Mozarts und Haydns mit mir ein; er hielt mich streng, ließ mir den kleinsten Fehler in Takt oder Betonung nicht hingehn, und meine Neigung für ihn, so wie mein hoher Begriff von seiner Vortrefflichkeit machten mich zur gelehrigen Schülerin und gaben diesen Musikübungen einen namenlosen Reiz. Sehr oft unterhielten wir uns, ein bißchen kindisch, ich muß es zugeben, damit, irgend einem gehaltvollen Tonstücke jener Meister einen Redesinn, eine dramatische Handlung oder Situation unterzulegen, die wir dann durch dasselbe vollkommen ausgedrückt zu hören vermeinten. Das war eine gar zu angenehme Unterhaltung für mich, und daß unsere Meinung sehr oft nicht zusammentraf, daß Häring in demselben Tonstück, das mir ein Gewitter darzustellen schien, eine Schlacht zu er kennen glaubte, oder, wo ich eine Klage der Sehnsucht fand, einen verliebten Vorwurf hörte usw. – schien mir natürlich; denn jene Bedeutungen waren gar zu willkürlich, um sehr bezeichnend zu sein. Nur gefiel es mir nicht, daß seine Auslegungen oft gar zu trocken und prosaisch klangen.
Auch in der englischen Sprache, die damals, vor 50 Jahren, Mode zu werden anfing, die Häring schon früher mit Fleiß und Genauigkeit getrieben, und in England, wo er mehr als ein Jahr lebte, zu großer Fertigkeit gebracht hatte, wurde er mein Meister. Wir lasen zusammen englische Gedichte, Romane usw. Er gab mir ordentliche Pensa auf, die ich übersetzen [81] mußte, und deren Fehler er korrigierte; aber hier waren meine Progressen denen in der Musik nicht gleich. Das Studium einer Sprache hat stets etwas Trockenes, Härings Methode wußte diese Trockenheit nicht zu mildern, mich fing das an zu langweilen, und ich dachte zuweilen, daß er die nicht häufigen Stunden, in welchen wir ungestört beisammen sein konnten, mit etwas Besserem als grammatikalischen Übungen ausfüllen könnte. So blieb die englische Sprache bald beiseite liegen, und erst lange Jahre darnach, als Walter Scotts und Byrons Schriften die ganze lesende Welt in Deutschland in Bewegung setzten, suchte ich mein fast ganz vernachlässigtes Englisch hervor, und trieb es mit Eifer, um jene Meisterwerke im Original genießen zu können.
Nach und nach suchte Häring statt der englischen Lektionen eine andere Beschäftigung in unsere Stunden des Beisammenseins einzuführen. Er brachte mir Bücher, mitunter gute, und las sie mir vor. Hätte ich sonst keine Gelegenheit gehabt, meinen Geist auszubilden, so wäre diese Bemühung meines Freundes immer dankenswert gewesen. So aber konnte sie in dieser Richtung kein großes Verdienst ansprechen; denn im Hause meiner Eltern und unter ihrer ebenso liebevollen als sorgfältigen Leitung mangelte es mir weder an Gelegenheit, noch an Zeit und Aufmunterung, meinen Geist mit den mannigfaltigsten Kenntnissen zu schmücken. Außer den Dichtern: Denis, Leon, Haschka, Alxinger, Blumauer usw., welches damals berühmte Namen waren, besuchten auch Männer von strengen Wissenschaften häufig unser Haus, wie ich schon früher angeführt. Überdies reiste beinahe kein fremder Gelehrter oder Künstler nach Wien, der nicht Empfehlungsschreiben an Haschka oder unmittelbar [82] an meine Eltern hatte, und sich von jenem vorstellen oder durch seine Briefe einführen ließ. So kamen der berühmte Reisende Georg Forster, die Professoren Meiners und Spittler, Becker, Gökkingk, der Schauspieler Schröder aus Hamburg, viele Musiker, Kompositoren, wie Paisiello, Cimarosa, zu uns; und daß die einheimischen Künstler Mozart, Haydn, Salieri, die Gebrüder Hickhel (Kammermaler des Hofes), Füger und andere nicht fehlten, versteht sich von selbst. Im Umgange mit diesen Menschen, deren bloßes Gespräch schon an sich selbst Unterricht für einen empfänglichen Geist war, von manchem unter ihnen aber, wie von Haschka, Leon, Alxinger, Maffei usw. wirklich in verschiedenen Gegenständen des Wissens angeleitet, bedurfte ich keiner Nachhilfe von Seite meines Freundes, ja, seine Bemühungen, allerlei Bücher mit mir zu lesen, oder mich im Englischen zu unterrichten, schienen mir in der Stellung, in welcher ich mich befand, überflüssig und unpassend; denn meine Phantasie hatte sich angenehmere Bilder von herzlichen Mitteilungen und süßem Gekose entworfen, welches die Stunden unsers Beisammenseins hätte ausfüllen, und ihm kein Verlangen nach einer trockenen Lehrstunde nähren lassen sollen, die mir wie ein Lückenbüßer der Langweile vorkam.
Allmählich drängten sich mir auch andere Bemerkungen auf. Nicht Häring allein, auch andere junge Männer, die unser Haus besuchten, brachten mir ihre Huldigungen; denn damals war es noch Sitte, daß die Männer in Gesellschaft sich um die Frauen und Mädchen bemühten, und jede, die einige äußere oder innere Vorzüge besaß, einen kleinen Hof um sich sah, der, [83] wenn auch ohne bestimmte Aussicht oder Hoffnung, sich bestrebte, der verehrten Königin gefällig zu sein. Diese nun fanden alles, was und wie ich es tat, gut und liebenswürdig, während Häring stets etwas an mir zu tadeln und zu hofmeistern hatte, das, wie eben der erste Zauber verschwunden war, greller hervortrat, mir manche Stunde des Beisammenseins verbitterte, manche unangenehme Erörterung herbeiführte, und mich in eben dem Maße gegen ihn kälter machte, in welchem ich mich immer mehr von seiner Kälte überzeugt glaubte. Dazu kam noch die Beobachtung, daß diese Kälte meistens nur erschien, wenn wir allein waren; vor den Leuten aber einem aufmerksamern, wärmern Benehmen wich, das mir zugleich so eingerichtet vorkam, um die Welt an Sicherheit und Unveränderlichkeit unsers Verhältnisses glauben zu machen.
Herr v. Alxinger, der warme und treue Freund unsers Hauses, hatte etwa um diese Zeit oder etwas früher eine allerliebste poetische Epistel an mich gedichtet, in der er mir sehr heilsame Lehren, besonders in Rücksicht auf sein Geschlecht, gab, und worin es unter andern heißt:
Von zwanzig Jünglingen, die sich
Wie Satelliten um Dich drehen,
Liebt auch vielleicht nicht Einer Dich.
Den blendet der Dukaten Schimmer,
Die Deiner warten, den reizt deines Vaters Rang,
Den lockt Dein Witz, den Deiner Saiten Klang,
Und Jener liebt in Dir nur bloß das Frauenzimmer.
(Dieser letzte Vers drückt dieselbe Idee aus, welche Grillparzer 40 Jahre darnach in die Worte hüllte:
– aber nicht, weil es die Rose,
Weil es – eine Blume ist).
Ich merkte mir diese Stelle sehr wohl, so wenig Schmeichelhaftes sie auch für meine Eitelkeit enthielt. [84] Sie drückte sich meinem Gedächtnisse ein; ich fing an, Härings Betragen daran zu prüfen, und ob ich gleich nicht entscheiden will, welche der dort aufgeführten Bezeichnungen gerade auf ihn paßte, so trat doch die Vermutung, daß ich nicht geliebt sei, wie ich es hätte sein sollen, wie ich es wünschte, wie ich es, wenigstens im Anfange selbst getan hatte, immer deutlicher hervor, und bildete sich durch jede Beobachtung, jeden Zwist mit meinem Freunde, jede seiner Zurechtweisungen bestimmter aus.
Noch eine Wahrnehmung gesellte sich dazu, die vollends mein Gemüt von ihm wandte. Ich habe früher schon erwähnt, daß mein religiöses Gefühl, trotz des Zeitgeistes und des ganz entgegengesetzten Tones, der um mich herrschte, sich ziemlich lebendig in mir erhalten, und ich sehr gewünscht hatte, bei näherer Bekanntschaft mit meinem Freund über jene Gegenstände, die mir so wichtig waren, zu sprechen, mich von ihm belehren, mein Gemüt durch ihn erheben zu lassen. Statt dessen machte ich nach und nach die höchst unerfreuliche Entdeckung, daß auch Häring dem Zeitgeiste wie fast alle jungen Leute huldigte, daß er beinahe nichts glaubte, und die kirchlichen Gebräuche, gegen welche meine Eltern stets Ehrfurcht beobachtet, und mich dazu angehalten hatten, nicht bloß geringschätzte, sondern verhöhnte. Er brachte meiner Mutter allerlei Bücher, z.B. das Système de la nature, Les liaisons dangereuses, und las sie ihr vor – wo ich denn auch dort und da ein Stückchen zu hören bekam. Das tat mir alles im Anfange sehr weh; ich versuchte es, mit Häring darüber zu sprechen, ihm die Schädlichkeit und Falschheit seiner Ansichten zu zeigen, aber ich kam übel an. So wie der Spötter und Leugner bei jedem [85] Streite immer das leichtere Spiel hat, so ging es auch hier. Ich war zu wenig in diesem Fache tief unterrichtet, und meine Religion zu sehr Sache des Gefühls, des Glaubens, was sie wohl im Grunde überall sein muß, um in dem Streit mit einem entschiedenen Widersacher auszulangen, der nun einmal alles Positive der Religion verwarf, und vielleicht, ich erinnere mich dessen nicht mehr genau, sogar an den Atheismus streifte. Diese Erörterungen griffen schmerzlich in mein Inneres ein. Sie wurzelten meine erste, mir einst so werte und beglückende Liebe gänzlich aus, und erschütterten noch überdies meine Ruhe, indem, teils aus Härings Ansichten, teils aus Büchern, teils aus den Gesprächen, die ich häufig um mich führen hörte, Zweifel und Unsicherheit in mein Herz drangen.
Drei Jahre hatte nun meine Verbindung mit diesem Manne gewährt; ich hatte mein achtzehntes Jahr erreicht, und jeder Tag ließ es mich deutlicher erkennen, daß wir zwei nicht für einander geschaffen waren; dennoch schleppte die Sache sich noch eine Weile hin, da Häring keine Lust und ich nicht Entschlossenheit genug hatte, um förmlich zu brechen. Eine Verkettung von Umständen trat wohltätig ins Mittel. Härings Aussichten, bald zu einer Stellung in dem Handelshause seines Schwagers »von Schwab«, in dem er angestellt war, zu gelangen, welche ihm, wie wir seit langer Zeit hofften, die Möglichkeit geben sollte, mir seine Hand zu bieten, und einen kleinen, aber anständigen Haushalt zu beginnen, trübten sich plötzlich. Aus widerwärtigen und sehr gemeinen Streitigkeiten mit den übrigen Interessenten ging nur allzu deutlich Härings prekäre Stellung in ihrer Mitte hervor. Mein Vater und noch ein Freund der gesamten Familie nahmen sich [86] endlich ernstlich der Sache an, jene Streitigkeiten wurden beigelegt, Häring behielt seine Anstellung; aber dieser Vorfall hatte meinen Eltern die Überzeugung gegeben, daß mein Schicksal als Härings Frau ganz von den Launen und dem Eigensinne einer gewissen Person abhängig sein würde, welche in jenem Streite eben die Hauptrolle gespielt, und durch einen plötzlichen Umschwung der ganzen Verhältnisse gezeigt hatte, welche Macht sie über dieselben besaß, und wie alles sich ihrem Willen würde beugen müssen!
Diese Aussicht in die Zukunft machte meinen Eltern für mein Glück bange, und da ihnen in unserm gegenseitigen Betragen die Erkaltung unserer Neigung längst bemerklich geworden war, so fing meine Mutter an, ernsthaft über diese Angelegenheit mit mir zu sprechen. Sie gab mir zu bedenken, daß man bei einer Heirat die innere Zufriedenheit oder wenigstens äußere Vorteile beabsichtigen müsse. Sie machte mich darauf aufmerksam, daß meines Freundes Zukunft in ökonomischer Hinsicht nichts weniger als gesichert sei, wie die erst abgetane Geschichte bewiesen hatte, und sie fragte mich dringend, ob ich denn Liebe genug für ihn fühlte, und auch der seinigen gegen mich auf einem solchen Grade sicher sei, um, falls wir künftig vielleicht durch feindselige Einwirkungen, welche bei Härings Lage nur zu wahrscheinlich waren, in beschränkte Umstände geraten sollten, für die äußern Vorteile durch inneres Glück entschädigt zu werden.
Da stand ich nun, und wußte nichts genügendes zu antworten, ja ich mußte die Frage meiner Mutter, die ich nur als zu gegründet erkannte, wenn ich aufrichtig sein wollte, geradezu verneinen. Nein! Ich fühlte diese Liebe, die für alles entschädigen konnte, [87] längst nicht mehr, und Häring hatte sie, wenn ich der Sache recht nachsann, wohl nie gefühlt. –
Unsere Trennung wurde also beschlossen. Sie tat mir weh, so klar ich auch überzeugt war, daß unsere Verbindung keinem von beiden mehr Glück bringen würde. Mein Herz hatte die alten Bande liebgewonnen, weil sie eben alt waren, und es kostete manchen Kampf, bis endlich die Vernunft siegte, und ich meinem Freunde schriftlich meinen Entschluß erklärte. Eine Weile glaubte ich in manchen Augenblicken an den Schmerz, den er zeigte; – allmählich aber erkannte ich, daß seine Ruhe und Behaglichkeit zu fest gegründet waren, um durch meinen Verlust erschüttert zu werden, und daß sein Bestreben eigentlich nur dahin ging, vor der Welt noch stets als mein Liebhaber zu gelten. Um dies zu erreichen, drängte er sich auffallender als je an mich, und wie ich, geärgert durch dies absichtsvolle Benehmen, mir erlaubte, es ihm fühlen zu lassen, entdeckte ich zu meinem großen Mißfallen und Ärger, daß er mein nachlässiges, ja manchmal unartiges Benehmen gegen ihn ganz geduldig hinnahm, sich, wenn wir allein waren, alle Kälte, alle Bitterkeit von mir gefallen ließ; aber in den Gesellschaften unserer Bekannten und Verwandten, wo wir uns, trotz unseres Bruches, zu sehen nicht vermeiden konnten, meinen Liebhaber zu spielen fortfuhr.
Wie sehr mich dies Betragen empörte, wird man leicht erachten, wenn man bedenkt, wie hoch meine erste Meinung von Härings moralischem Wert, wie schwärmerisch überhaupt meine Meinung von der Würde des Mannes war, der eine gebildete, feinfühlende Frau wirklich beglücken könne; wenn man weiß, daß ich ziemlich viele Romane gelesen, mir aus diesen [88] Ideale abgezogen, und endlich in der eigenen Phantasie lebendige Farben und Wärme genug gefunden hatte, um diese Bilder aufs Glänzendste auszumalen. Nun war auch jeder Kampf zu Ende, jede Rücksicht beseitigt. Ich erklärte Häring mündlich, aber mit großer Ruhe und Kälte, es sei alles zwischen uns geendet; ich wolle aber, daß die Welt es auch erfahre. Ich bäte ihn daher, sein Betragen darnach einzurichten, so wie ich meinerseits mich auch demgemäß gegen ihn verhalten würde. So erhielt ich endlich meine völlige Freiheit, und daß wir beide nach wie vor uns in den Zirkeln unserer Bekannten trafen, auch wohl zuweilen miteinander musizierten, späterhin auch auf unserm Haustheater miteinander spielten, ohne den geringsten Schmerz zu fühlen, war wohl der triftigste Beweis von der vollkommenen Gleichgültigkeit und Kälte, die in uns beiden herrschten. Es war wirklich ein seltsames Verhältnis!
Dies erste Band war nun gelöst oder vielmehr es war, wie eine Gerätschaft, die sich abnützt, auseinander gefallen. Mein Herz war unbeschäftigt, meine Phantasie hatte während der ganzen drei Jahre geschlummert, gleich als ob die Prosa, welche das Gemüt meines Freundes beherrschte, sich auch mir mitgeteilt und alle meine dichterischen Anlagen getötet oder eingeschläfert hätte. Sie fingen an, sich wieder zu regen, ich dichtete Lieder, Idyllen, ich träumte mir eine schöne Ideenwelt, und lebte in der wirklichen auch ganz vergnügt, indem ich an allen Freuden und Unterhaltungen, die teils unser eigenes Haus, teils die Häuser unserer Freunde oder öffentliche Feste mir darboten, lebhaften Anteil nahm.
Aber in der Tiefe meines Herzens oder – vielleicht meiner Phantasie lebte das Bedürfnis, einen ausschließenden [89] Gegenstand meiner Neigungen zu finden, an welchen diese Phantasie mit ihren Bildern sich heften konnte. Da brachte der ausbrechende Türkenkrieg einen jungen Mann, den ich früher kennen gelernt, und dessen Erscheinung nicht spurlos an mir vorübergegangen war, obwohl ich damals, meines Verhältnisses zu Häring wegen, keinen andern Gedanken in mir aufkommen ließ, nach Wien und in meine Nähe. Er war der Sohn eines hochgestellten Offiziers, eines alten Bekannten meiner Eltern, noch vom Hofe der Kaiserin her, und selbst schon Offizier. Ein paar Jahre früher hatte dieser junge Mann auf dem Lande in unserer Nachbarschaft bei Härings Eltern während der Ferien gewohnt, und sich durch Feldmessen, geometrische und mathematische Studien für seinen Beruf vorbereitet. Er war ein zierlicher Dichter, überhaupt sehr gebildet, von zartem Wuchs, feiner Gesichtsbildung, und, was für mich stets anziehend war, mit einem sehr wohlklingenden Sprachorgane begabt. In den Bäumen jenes Gartens, in welchem er damals wohnte, standen mancherlei Verse, die mir galten. Häring selbst hatte sie mir gezeigt, und sich wohl auch ein bißchen über den Dichter lustig gemacht. Bei mir waren diese Bemerkungen nicht auf die Erde gefallen. Baron K., den ich Fernando nennen will, war überhaupt der Aufmerksamkeit in vielem Betracht würdig, und wurde seitdem auch von mir nicht ohne Interesse betrachtet. Wir sahen uns zuweilen, wo er mich stets mit zarter Ehrfurcht auszeichnete, und als er zum Regimente abging, einen sehr bewegten Abschied von mir nahm. Während dieser Abwesenheit löste sich mein Verhältnis zu Häring ganz auf, und als Fernando bei Eröffnung des ersten türkischen Feldzuges wieder nach Wien kam, sah ich [90] ihn mit ganz andern Augen. Indessen blieb vor der Hand alles zwischen uns, wie es war, nur daß mein Herz und meine Einbildungskraft an allen Bulletins, die damals von den Diesseitigen und Jenseitigen (wie man unpassender Weise in den schlechtgeschriebenen Extrablättern Freund und Feind nannte) erschienen, sehr lebhaften Anteil nahm, und ich mich stets von dem Stande des Hauptquartiers, in welchem damals Fernando bei dem, später durch verschiedene Schicksale merkwürdigen Generalquartiermeister Baron von Mack als Adjutant stand, zu unterrichten suchte.
Schon diese Anstellung, das Vertrauen, welches ihm Baron Mack schenkte, und der Gebrauch, den er von den Fähigkeiten des jungen Offiziers machte, bewiesen sehr für Fernandos Geschicklichkeit und Wert, und erfreuten mein Herz, das nun in Liedern und Dichtungen freudig aufging, und mit dem bewegtesten Anteil die Zeitungsnachrichten ergriff. Um diese Zeit erschien Goethes Egmont. Wie so lebhaft konnte ich mit Clärchen sympathisieren, und das Liedchen, zu dem ich mir selbst eine Melodie auf dem Klaviere ausgesonnen hatte, singen:
Die Trommel gerühret,
Das Pfeifchen gespielt!
Mein Liebster bewaffnet
Dem Haufen befiehlt!
Das Leben in meiner Eltern Hause gestaltete sich um diese Zeit sehr angenehm, wie denn überhaupt in ganz Wien damals ein fröhlicher, für jedes Schöne empfänglicher, für jeden Genuß offener Sinn herrschte. Der Geist durfte sich frei bewegen, es durfte geschrieben, gedruckt werden, was nur nicht im strengsten Sinne [91] des Wortes, wider Religion und Staat war. Auf gute Sitten ward nicht so sehr gesehen. Ziemlich freie Theaterstücke und Romane waren erlaubt und kursierten in der großen Welt. Kotzebue machte damals ungeheures Aufsehen; – sein Menschenhaß und Reue, seine Indianer in England, seine Sonnenjungfrau, meisterlich von dem damaligen Personale: Madame Sacco, Adamberger (Mutter), Katharine Jacquet, Madame Nouseul, den Herren Lange, Brockmann, Müller, Dauer, Schütz usw. vorgestellt, waren eine geistige Angelegenheit des Publikums, und nicht wie jetzt bloße Ausfüllung der Avantsoiréen; denn damals gab es dies Erzeugnis der Langweile und Abstumpfung noch nicht, und selbst die höchsten Klassen der Gesellschaft widmeten in der Regel bloß den spätern Nachmittag und Abend bis etwa zehn Uhr der Geselligkeit.
Alle jene obengenannten Stücke, sowie Gemmingens deutscher Hausvater (nach Diderot), der Ring von Schröder, viele andere, die im Strom der Vergessenheit versunken sind und eine Menge Romane und Erzählungen (ich weise vor andern auf Meißners Skizzen hin) waren auf lauter unanständige Verhältnisse gegründet. Ohne Arg und Anstoß sah, bewunderte, las sie die Welt und jedes junge Mädchen. Ich hatte alles dies mehr als einmal gelesen oder gesehen, der Oberon war mir wohlbekannt, so wie Meißners Alcibiades. – Keine Mutter trug ein Bedenken, ihre Tochter mit solchen Werken bekannt zu machen, und vor unsern Augen wandelten der lebenden Beispiele genug herum, deren regellose Aufführung zu bekannt war, als daß irgend eine Mutter ihre Töchter in Unwissenheit darüber hätte erhalten können.
[92] Sehr viele, ja die meisten jungen, hübschen Frauen unter dem ersten und zweiten Adel hatten verliebte Verhältnisse mit andern Männern, oft mit solchen, die ihren eigenen Frauen untreu, aber dabei wohl überzeugt waren, daß auch diese sich ihrerseits zu entschädigen nicht versäumten. Bei vielen war es Sache des Herzens oder der Eitelkeit, der Mode, wenn man will, bei manchen lag eine niedrigere Absicht zugrunde und man nannte die Summen, für welche jene oder diese ihre Treue, ihre Ehre, ihr Bewußtsein an irgend einen reichen Wollüstling verkauft hatte. Bei manchen Ehen war der eigene Mann verworfen genug um den Handel selbst zu schließen, bei den meisten, wenn auch dies Ärgste nicht geschah, schloß er freiwillig die Augen vor dem Aufwand, der in seinem Hause herrschte und den seine Einkünfte zu beschaffen, nicht imstande waren, den er sich aber wohl gefallen ließ und mitgenoß.
In andern Ehen, wenn auch die Frauen ihre sittliche Würde behaupteten und ein geregeltes Leben führten, gingen die Männer ihren Abwegen außer dem Hause nach und tyrannisierten im Hause Frau, Kinder und Gesinde. Solche Männer wählten sich daher vorzugsweise gern sehr beschränkte Frauen, deren Einsicht und Wissen sich nicht weiter als auf Küche und Haushalt; erstreckte und diese Ehemänner, die keinen Begriff von häuslicher Glückseligkeit und weiblicher Würde hatten, vielmehr dies alles verachteten und verlachten, wie sie Religion und Sitte verlachten, gehörten meistens zum Orden der Freimaurer.
Ein charakteristisches Merkmal jener Zeit unter Kaiser Josef waren die Bewegungen, welche durch die sogenannten geheimen Gesellschaften in der geselligen [93] Welt hervorgebracht wurden. Der Orden der Freimaurer trieb sein Wesen mit einer fast lächerlichen Öffentlichkeit und Ostentation. Freimaurerlieder wurden gedruckt, komponiert und allgemein gesungen. Man trug Freimaurerzeichen als joujoux an den Uhren, die Damen empfingen weiße Handschuhe von Lehrlingen und Gesellen, und mehrere Modeartikel, wie die weißatlassenen Müffe mit dem blauumsäumten Überschlage, der den Maurerschurz vorstellte, hießen à la franc-maçon. Viele Männer ließen sich aus Neugier aufnehmen, traten dann, wenn der frère terrible nicht gar zu arg mit ihnen umsprang, in den Orden, und genossen wenigstens die Freuden der Tafellogen. Andere hatten andere Absichten. Es war damals nicht unnützlich, zu dieser Bruderschaft zu gehören, welche in allen Kollegien Mitglieder hatte, und überall den Vorsteher, Präsidenten, Gouverneur in ihren Schoß zu ziehen verstanden hatte. Da half denn ein Bruder dem andern; und wie man von dem würdig geheimnisvollen Orden der Pythagoräer erzählt, ging es hier auf unwürdigere und minder geheime Weise. Die Bruderschaft unterstützte sich überall; wer nicht dazu gehörte, fand oft Hindernisse, und dies lockte viele. Wieder andere, die ehrlicher oder beschränkter waren, suchten mit gläubigem Sinn höhere Geheimnisse, und glaubten Aufschlüsse über geheime Wissenschaften, über den Stein der Weisen, über Umgang mit Geistern in dem Orden zu erhalten. Da gab es allerlei Arten und Abteilungen der Maurerei – Rosenkreuzer, Templer, Schottische Maurer usw., endlich sogar die Illuminaten, und es ward damit in den letzten Jahren der Regierung Kaiser Josefs großer Spektakel und wohl auch großer Unfug getrieben. Indessen wäre es undankbar, nicht [94] auch das wenige Gute, das diesem an sich trüben Quell entfloß, zu erwähnen. Wohltätig waren die Freimaurer gewiß. In ihren Versammlungen wurden sehr oft Kollekten für Arme oder Verunglückte gemacht; und Prinz Leopold von Braunschweig, der bei einer Wassernot, als er den Bedrängten mit Lebensgefahr Hilfe brachte, selbst den Tod fand, war ein glänzendes Beispiel, mit dem der Orden sich sehr brüstete.
Diese einzelnen Züge, welche die Zeit bezeichnen, wie sie damals war, werden dem Leser zeigen, daß, so rege auch das geistige Leben war, so viele Fortschritte die Bildung und Aufklärung damals machte, doch auch manches anders und leicht besser hätte sein können und wenn unsere jetzige Zeit nichts vor derselben voraus hätte als eine größere Beobachtung des äußern Anstandes, so wäre dies schon dankenswert. Aber sie hat unstreitig noch manchen andern Vorzug. Wer lange genug gelebt hat, um Vergleichungen mit unparteiischen Augen anstellen zu können, wird gestehen müssen, daß das häusliche Leben, die ehelichen Verhältnisse, die Kinderzucht, die Stellung der Kleinen gegen die Eltern viel besser und zweckmäßiger, sowie überhaupt der ganze gesellschaftliche Ton feiner und geschliffener ist, und selbst aus den untern Ständen und aus ihrem Umgange sich das allzu Rohe und Derbe verloren hat. Wohl hat die viel weiter verbreitete Bildung dies letztere bewirkt, und auch an den ersten Verbesserungen ist ihr Anteil nicht zu verkennen. Indessen glaube ich doch, daß das Beispiel nicht bloß unseres, sondern der meisten europäischen Höfe, wo das Maitressenleben und die arge Zügellosigkeit des achtzehnten Jahrhunderts verschwunden sind, viel zu der Beobachtung wenigstens des äußern Anstandes beigetragen hat.
[95] In jener Zeit hatte denn auch die Gärung in den politischen Ideen ihren höchsten Punkt erreicht. Die Revolution brach in Paris aus. Ihre Vorboten hatten sich schon früher in Lyon gezeigt, und eine achtbare Familie, deren Haupt, Baron Geramb, eigentlich aus Ungarn stammte, und sich in Lyon, wo er geheiratet, niedergelassen hatte, war schon seit langer Zeit, unter dem Vorwand einer großen Reise, mit seiner Familie aus Frankreich weggezogen, um sich nach Österreich zu retten, wo seine Kinder und Enkel noch jetzt geachtet und in Ansehen leben; der älteste Sohn aber, welcher der berühmte Trappistengeneral geworden, sich in Rom aufhält.
Auch bei uns in Österreich machten sich diese geistigen Erschütterungen und Umstaltungen fühlbar. Vieles gärte und glimmte im Verborgenen, und Oppositionen, Reaktionen gegen das Bestehende, immer stärkerer Tadel der Maßregeln und Anordnungen des Monarchen sprachen sich überall laut aus. Während dieser unruhigen Stimmung hatte der Türkenkrieg in Ungarn mit sehr wechselndem Glücke fortgedauert. Kaiser Josef hatte ihn, wie man damals erzählte, aus einer Art von ritterlicher Galanterie gegen die geistvolle Herrscherin im Norden angefangen, der er vorher einen Besuch in ihrem Reiche abgestattet hatte, von welchem uns die Memoiren des Fürsten von Ligne und des Grafen von Segur d.Ä. interessante Notizen liefern. Er liebte den Soldatenstand, er trug stets die Uniform seines Regiments, und er wollte vielleicht in diesem Kriege, in welchem er einen untergeordneten Gegner und keinen Friedrich II. mit seinen Preußen vor sich hatte, seine militärischen Kenntnisse zeigen und auch diesen Lorbeer in seine Kronen flechten. [96] Aber der Erfolg entsprach keineswegs diesen stolzen Erwartungen. Schlachten wurden verloren, die Einschließung der festen Plätze mißlang, verderbliche Rückzüge schwächten das Heer, von dem ohnedies ein großer Teil, durch das ungesunde Klima erkrankt, in den Spitälern zugrunde gegangen war. Kurz, der Feldzug von 1788 unter des Kaisers und Feldmarschalls Lascy Führung war ein durchaus mißglückter. Der Monarch kehrte im Winter nach Wien zurück und brachte leider einen Keim des Übels mit sich, das seinem Leben ein paar Jahre darauf, viel zu früh für seine Staaten und seine Entwürfe, ein Ende machte. Im Frühling 1789 ging Loudon ins Feld; – das Glück, der Sieg folgten überall seinen Spuren, und nach verschiedenen großen Vorteilen und Eroberungen, welche diesen Feldzug bezeichneten, krönten ihn am Schlusse die Einnahme von Belgrad durch Loudon und der Sieg bei Martinjestie unter Prinz Koburg.
Fünfzig Jahre war Belgrad für Österreich verloren gewesen, Loudon hatte es wieder erobert, und der Tag, an welchem der Kurier mit der Siegesnachricht einritt (12. Oktober 1789), wird allen Wienern, die Zeugen dieses freudigen Ereignisses waren, unvergeßlich bleiben.
Es war ein schöner, heiterer Herbstmorgen. Wien hatte sich auf die Straßen, an die Fenster ergossen, von denen man den ankommenden Siegesboten – General Klebeck, einen Verwandten des großen Türkenbesiegers – sehen konnte. Ich war wie natürlich auch an einem unserer Fenster, welche in die Kärnthnerstraße, durch die er kommen mußte, gingen. Mein Herz schlug hoch; – kriegerischer Ruhm und der Glanz meines Vaterlandes hatten von jeher begeisternd [97] auf mich gewirkt, jetzt vielleicht gesellte sich noch eine geheime Beziehung dazu, welche mir alles, was diesen Krieg, diese Siege und die, welche Anteil daran hatten, betraf, näher rückte. Nun erklang von weitem das Geklatsche der Postillonpeitschen, das Schmettern ihrer Hörner. – Er kommt! Er kommt! so tönte es in mir und gestaltete sich unwillkürlich in mir zum Gesang:
Er kommt! er kommt! Wie jauchzt die trunkne Menge!
Ha! welch ein Tag, beglücktes Wien!
Der Siegesbote naht in jubelndem Gedränge,
In deine Mauern einzuziehn.
Der Hörner Ton, der Peitschen lautes Knallen
Verkündet seine Ankunft schon.
Die Scharen mehren sich, gedrängte Reihen wallen
Ihm vor und nach bis hin zum Thron.
Es lebe Loudon! tönt aus jedem Munde usw.
Die 24 oder 48 Postillone kamen nun näher, eine ungeheure Menschenmasse wälzte sich vor, neben, hinter ihnen daher durch die Straßen. Vivatgeschrei durchschmetterte die Luft; eine Art Trunkenheit schien sich der ganzen Einwohnerschaft bemächtigt zu haben. Nun erschien der General; – da verdoppelte sich das Jauchzen, das laute Rufen, und so im allgemeinen Jubel, den ich, den Kurier von der Leipziger Schlacht 1813 kaum ausgenommen – denn das Volk war unter Josef II. mehr gewohnt, seine Empfindungen auszusprechen – nie wieder so gehört habe, gelangte der General in die Burg.
Aber mit diesen paar schönen Stunden waren die Glückseligkeit der Wiener und die Bezeugungen ihrer Freude nicht vorüber, wie es wohl jetzt, in zahmeren Zeiten der Fall ist und sein muß. Ich habe schon gemeldet, daß ein sehr schöner Tag war. Nach Tisch flog alles da-, dorthinaus, die meisten in den Prater;[98] – auch wir machten es so. – Wie wir gegen den roten Turm kamen, tönte uns neues Vivatrufen entgegen und ein Menschenschwarm sperrte den Weg. – Was war es? – Ein Träger von der Hauptmaut, wenn ich nicht irre, trug sehr zufälliger Weise den Namen Loudon. Dieser Umstand identifizierte den Mann in den Augen des Volkes auf gewisse Weise mit dem Helden des Tages, und so wurde dann von tollen, begeisterten Kameraden und andern Leuten der dicke, kupferige Mann, dem wohl von solcher Ehre nie geträumt hatte, in seinem leinenen Arbeitskittel, das Bündel Stricke auf der Achsel, wie im Triumph auf den Schultern herumgetragen, mit Wein bewirtet, den er sich tapfer schmecken ließ, und es wurden allerlei Possen mit ihm getrieben.
Als es dunkelte, entbrannten plötzlich in allen Fenstern der Stadt die Lichter und eine allgemeine, freiwillige, extemporierte Illumination bezeugte und verherrlichte die Freude meiner guten Mitbürger. Die ganze Welt wanderte auf den hellen Straßen in der milden Luft des schönen Herbstabends und alles fühlte sich von der Bedeutung des Tages gehoben und begeistert. Auch Klänge sollten dem schönen Abend nicht fehlen. In rascher Entschließung hatten die Studenten sich vereinigt (damals war es noch erlaubt, solche Entschlüsse auf der Stelle zu fassen und sie, ohne sich bei der Polizei anzufragen, auch auszuführen), eine vollstimmige, schöne Instrumentalmusik zusammengebracht und zogen nun, alle durch weiße Kokarden bezeichnet, mit Transparents und ihren Instrumenten durch die Stadt. Eine Unzahl junger Männer aus den höheren Ständen schloß sich an sie und qualifizierte sich durch eine weiße Schleife, im Notfalle durch ein [99] Stückchen weißes Papier auf den Hut gesteckt, als einer der ihrigen. So bewegte sich der lange Zug durch die Straßen der Stadt und brachte seine Ständchen in sehr wohl ausgeführten Symphonien vor dem Hause, in welchem Loudons Gemahlin wohnte, vor dem Kriegsgebäude, der Universität und auf dem Burgplatz vor Kaiser Josefs Fenstern und überall wiederholte sich in lautem Beifallsjauchzen der Jubel dieses zwölften Oktobers.
Nicht lange darnach folgten andere Kuriere mit den Nachrichten von der Einnahme von Orsova, dem Sieg bei Martinjestie usw. und so schloß dieser Feldzug höchst glänzend.
Meine poetische Laune war schon seit längerer Zeit, seit nämlich das höchst prosaische Verhältnis mit Häring ein Ende genommen, wieder lebhaft erwacht. Ich vollendete das Gedicht, das ich beim Einreiten des Kuriers am Fenster begonnen; es fand Beifall. Freunde des Feldmarschalls erbaten es sich, es wurde gedruckt, ihm übersandt und bald darauf erschien einer seiner Neffen bei uns (der nun auch längst tot ist), um mir im Namen seines Oheims zu danken. Es freute mich sehr; doch durch eine Eigenheit meines Wesens, die mich nur so lange, als ich dichtete, lebhaften Anteil an meinen Kompositionen nehmen, sie aber, wenn sie einmal aus mir herausgetreten waren, ruhig und wie etwas Fremdes betrachten ließ, machte auch diese Auszeichnung keinen sehr tiefen Eindruck auf mich, und die Artigkeit des jungen Loudon, der zufälligerweise die damalige Uniform des Generalstabes wie Baron K** trug, sprach mich beinahe lebhafter an, als der literarische Ruhm, den ich geerntet hatte.
Wie überhaupt um mich herum reges geistiges Leben war, so bewegte es sich auch in mir. Man hatte [100] mir lange nicht gestatten wollen, die Messiade zu lesen, weil ich sie nicht verstehen und folglich nicht genießen würde, wie man sagte. In Klosterneuburg, dessen Probst ein Verwandter meiner Eltern war, und den wir öfters in seiner herrlich gelegenen Abtei besuchten, trafen wir einst den Chef des Pontonierkorps, das dort und in der Umgegend stationiert war. General Riepbe war ein geistvoller, liebenswürdiger Greis. Er fand Gefallen an meiner Unterhaltung, und ich schätzte mir es (nach den Begriffen jener Zeit, die nun freilich anders sind) zur Ehre, von dem würdigen Manne als ein junges Ding von 18–19 Jahren ausgezeichnet zu werden. Ausschließend unterhielt er sich mit mir, fragte nach meinen Beschäftigungen, meiner Lektüre und riet mir, die Messiade zu lesen, indem er sich mit schöner religiöser Wärme über die Erhabenheit dieses Werkes aussprach.
So wurde ich auf diese Dichtung hingeleitet. – Ich las sie; mein Innerstes faßte begierig die himmlischen Strahlen auf, die aus ihr hervordrangen. Ich hatte früher schon die Noachide, den Tasso, selbst den Ariost gelesen; denn, wie ich schon erwähnt, man dachte damals in Rücksicht lockerer Schriften sehr liberal. Indessen hatte Ariost auf mich wenig Eindruck gemacht. Ich betrachtete ihn wie ein Feenmärchen aus der Tausend und einen Nacht, und einzig Zerbinos und Bellas Geschick und einige ähnliche Szenen aus Ruggieros Schicksalen prägten sich mir tiefer ein. Viel inniger hatte mich Tasso angesprochen, dessen Gerusalemme ich regelmäßig jedes Jahr las, und dessen tiefergreifendste Stellen sich in meinem Gedächtnisse noch jetzt erhalten haben. Auch die Iliade und Odyssee war mir wohlbekannt, und auf die Gefahr[101] hin, getadelt oder verspottet zu werden, bekenne ich ganz offen, daß ich die letzte (die Odyssee) bei weitem meinem Geschmacke zusagender fand, als die Ilias. Das häusliche, idyllische Leben sprach mich an, ich fand mich wohl zurecht in der Wohnung des Odysseus, bei dem göttlichen Sauhirten Eumäos, und mit Freude begrüßte ich stets einen unserer großen Hofhunde, dem mein Vater den Namen Argos gegeben, wie ihn jenes treue Tier des vielgereisten Helden trug.
Alles dies aber wich in meinem Gemüte vor der Messiade in Schatten zurück. Hier fand ich meine religiösen Gefühle, meine Engel, selbst meinen Schutzengel Ithuriel wieder (leider als den Hüter eines nicht ehrenvollen Schützlings, des Iskarioths). Unbeschreiblich erhoben fühlte ich mich durch dies Gedicht. Klopstock ward der Gegenstand meiner innigsten Verehrung. Ich schrieb mir, wie ich das überhaupt gewohnt war, eine Menge Stellen daraus ab, und beschloß nun, auch dies Werk alljährlich einmal ganz durchzulesen, ein Vorsatz, den ich auch durch viele Jahre hielt und meine Lieblingsstellen auswendig behielt, davon ich die meisten noch jetzt herzusagen imstande bin.
Bald nach der Messiade las ich auch den Ossian, und ergab mich mit süßem Hange dem düstern, aber namenlosen Zauber, der für mich in diesen Dichtungen wehte. Auch hieraus wurden Stellen abgeschrieben und viele davon im treuen Gedächtnisse bewahrt. Es war eine ganz neue Welt voll Wehmut, Erinnerung, Nebel und unbestimmten Gestalten, die aber eben deswegen mein jugendliches Herz um so mächtiger anzog und mich zu Liedern begeisterte, in denen Anklänge aus jener düstern Region walteten und sich seltsam mit andern Eindrücken, die ich damals auf ganz entgegengesetzten [102] Wegen erhielt, vermischten. In diese Zeit, nämlich 1788, 1789, 1790 fiel die Erscheinung der ersten Ritterromane jener Periode, von welchen die Schlenkertschen, so wie Veit Webers Sagen der Vorzeit ihrer Roheit und affektierten Schreibart wegen nicht viel Eindruck auf mich machten, dahingegen mich Herrmann von Unna, Walter von Montbarry, Elisabeth von Toggenburg, vor allen aber Alf von Dülmen, mit einem Wort die Naubertschen Romane – von denen damals niemand in Deutschland den Autor kannte oder nur mutmaßte – ganz unbeschreiblich entzückten und in jene Zeiten versetzten, die sie so lebhaft schilderten. Alles im Hause gestaltete sich mir auf ritterlich altertümliche Art. Ich betrachtete alles in diesem Sinne, ich lebte in diesen Vorstellungen und war ganz glücklich, wenn ich wieder ein Werk aus dieser Feder zum Lesen erhielt. In meinem Kopfe wirbelten diese Bilder, diese Szenen, diese Gefühle; ich dichtete einige Romanzen, die ich jetzt im ganzen für herzlich schlecht erkennen muß, deren Eingänge aber nicht ohne poetischen Wert, und da sie nie gedruckt wurden, doch des Aufbewahrens in diesen Blättern nicht unwert sind.
Die eine war dem Walter von Montbarry entnommen. – Ihr Inhalt war ein gefabeltes Abenteuer Richard Löwenherz, das er in Wien, am Hofe Herzog Leopolds sollte bestanden haben. Daß Österreich und seine Herrscher ziemlich schlecht in jenem Romane und so auch in meinem Gedichte erscheinen, irrte mich damals nicht und irrte auch niemand in meiner Romanze. Es war die Zeit der Verirrungen. Protestanten hatten sich seit der Reformation der deutschen Literatur bemächtigt, um den katholischen Glauben und[103] den Staat herabzusetzen, der seit 300 Jahren dessen mächtigster Schirm in Deutschland gewesen; eine Tendenz, welche durch die ganze deutsche Literatur und wohl auch durch die Literatur anderer Länder geht. Wahrlich! wäre Österreich so in Nacht und Barbarei versunken, wie sie uns gewöhnlich und mit Lust schildern; hätten seine Herrscher, seine Staatsmänner und Kriegshelden sich solche Schwächen, Fehler, Ungeschicklichkeiten, Ungerechtigkeiten usw. zu schulden kommen lassen, als nach den Angaben jener Schriftsteller geschehen war, so hätte der österreichische Staat längst in sich zusammenstürzen müssen. Daß dies nicht geschehen ist, daß er nach so vielen Bedrängnissen, schweren Kriegen, blutigen Niederlagen und beständigen Anfeindungen, obwohl aus heterogenen Teilen bestehend, sich nicht allein erhalten hat, sondern gewichtiger und glänzender im Staatenvereine von Europa dasteht als je, ist wohl die beste Widerlegung jener parteiischen Schmähungen, deren allzu lauter Ton sich erst seit 1813 etwas gemildert und billigern Ansichten Platz gemacht hat. Seit nämlich das, von allen im Kampf mit dem Riesen der Revolution verlassene Österreich, das einsam, blutend, aber doch herrlich nach der Schlacht von Aspern auf dem Wahlplatze stehen geblieben war, von jenen Feinden selbst um seinen Beitritt, Schirm und Hilfe ersucht ward und sich aufs neue in seiner Kraft erhob, um Deutschland zu retten. Ohne Österreich, was hätte Preußen ausrichten wollen, dem seine lobhudelnden Schriftsteller doch gern den Ruhm jener Befreiung allein zuschreiben möchten?
Damals also, um wieder auf jene Zeiten einzulenken, von denen früher die Rede war, dachte niemand an [104] Österreichs Ruhm, an seine geschichtliche Würde, an die Taten seiner Voreltern. Was hinter dem sechzehnten Jahrhundert lag, wurde Barbarei genannt, unsere Nationalgeschichte war uns fremd, wir lernten sie als etwas neues in der Jugend wie die französische oder englische, und die meisten Geschichtsbücher, die man der Jugend gab, waren ja von Protestanten oder protestantisch aufgeklärten Katholiken geschrieben. So gestaltete sich vor unserm Blicke Vaterland und Religion in diesem Sinn. Wir waren weder rechte Katholiken noch rechte Österreicher und in selbstgefälligem Eigendünkel, der nur uns allein von dem allgemeinen Tadel ausnahm, sehr bereit, über alles zu spotten, was in unserm Vaterland geschah. Das war damals Geist der Zeit, er hatte auch mich ergriffen, und so wählte ich den Stoff zur Romanze aus dem Romane, der auf mich einen tiefen Eindruck gemacht hatte und hielt mich an die Fiktion desselben, vermöge welcher Blondel nach Richards und Walters Tod sich mit Mathilden, der Geliebten, der Gattin des er sten, auf eine Insel des Mittelmeeres zurückzieht (wenn ich nicht irre, eine der Hyères) und dort ihrem und seinem Schmerze lebt.
Ein leises Lüftchen schwebt um mich,
Füllt mich mit süßer Trauer.
Der Harfe Saiten regen sich,
Es bebt das Gras der Flur, und mich
Ergreift ein heilger Schauer.
Woher, o Lüftchen? Spieltest du
Um eines Freundes Hügel?
Wie – oder schwebet ungesehn
Ein Geist um mich, bist du sein Wehn,
Das Rauschen seiner Flügel?
Bist du vergangner Zeiten Hauch,
Die längst vergessen liegen?
[105]Wie um den Fels ein Windstoß irrt,
Die Wellen hebt, im Schilfe schwirrt,
Wenn längst die Stürme schwiegen?
All meine Freunde schlummern schon,
Zerrissen sind die Bande.
Auf meines Walters 6 grünend Grab
Streun Palmen ihren Duft herab,
Fern im gelobten Lande.
Auch Richard schläft – der Name weckt
Die Seele Blondels wieder.
Ein halbverklungenes Gefühl
Wird laut – es bebt mein Saitenspiel
Und tönt vergeßne Lieder.
Bewohnerin des Eilands, komm,
Steig' von dem Felsenhange.
Mathilde, helle deinen Blick,
Die Toten ruft kein Schmerz zurück,
Komm, lausche dem Gesange.
Man wird wohl erkennen, daß die Lesung von Ossians Gesängen vielen Einfluß auf die Art der Darstellung hatte. Ebenso war der Anfang einer andern Romanze den Ossianschen Gesängen nachgebildet, aber die erste Anregung dazu kam mir im damaligen Garten des Grafen Kobenzl auf dem Kahlenberge, der mir überhaupt durch seinen einfachen, etwas düstern und erhabenen Charakter ungemein gefiel, und den ich allen übrigen bis dahin gesehenen Gärten, selbst dem Dornbacher Park, vorzog. Es war noch überdies an einem etwas trüben Herbsttag, als ich ihn zum erstenmal besuchte. Das verschwiegene Waldtal mit seinem durch die Wiese schlängelnden Bach, die majestätische Grotte am Ende desselben, aus der sich der Quell herausstürzte und sein eintöniges Rauschen [106] mit den trüben Schatten des Waldes und dem schwermütigen Anblick der Landschaft vereinigte, machte einen tiefen Eindruck auf meine Seele, welcher sich dann in der Romanze aussprach, wovon ich den Anfang hiehersetze:
Was schallet dort aus jener Felsenhöhle
Das rings umschloss'ne Tal entlang
Für ein beweglicher Gesang?
In Wehmut löst sich meine ganze Seele
Bei dieser Stimm' und dieser Laute Klang.
Wer bist du, Felsensohn, deß laute Klage
Den Widerhall in diesen Bergen weckt?
Jetzt, da der Mond noch halbversteckt
Sein Silberhorn nach einem trüben Tage
Aus den zerriss'nen Nebelwellen streckt.
Sei mir gegrüßt! O schöpf' aus deiner Quelle
Mir eine Schale Wasser nur.
Durch Feld und Wald, durch Haid' und Flur
Verfolg ich seit des Morgens erster Helle
Auf diesen Höhn des flüchtgen Wildes Spur.
»Hier ist der Trank, und hier sind Brot und Früchte,«
Erwidert ihm der Eremit,
Wie er den muntern Jäger sieht,
Auf dessen Stirn und bräunlichem Gesichte
Der Jugend Mut, der Jagd Ermüdung glüht.
Ich heiße Wood. Am wasserreichen Clyde,
Dort, wo von Nebeln stets umschwebt,
Ein Berg sich in die Lüfte hebt,
Dort wohnt mein Vater, ich bin seine Freude,
Der einzge Sproß, in dem sein Stamm noch lebt.
Seit langer Zeit, seit meinen Kinderjahren,
Ruht meine Mutter schon im Grab,
Sie sank zu früh für mich hinab;
Ach, ihre ersten süßen Küsse waren
Die letzten, die sie ihrem Sohne gab.
[107]
Nun kommt sie nur zu meinen stillen Träumen,
Ein Schattenbild, gewebt aus Luft,
Ihr Kleid ist wie des Hügels Duft.
So leise seufzt der Abendwind in Bäumen,
Als ihre Stimme tönt, wenn sie mir ruft.
Es ergibt sich im Verlauf der Romanze, daß Wood der Sohn der Jugendgeliebten des Einsiedlers ist, und dieser erzählt dann die Geschichte seiner unglücklichen Liebe. Wer hätte mir damals gesagt, daß 25–30 Jahre später aus jenen nebligen Gegenden Schottlands, die meine Seele so mächtig ansprachen, eine Reihe von Dichtungen hervorgehen würde (Walter Scotts Werke), welche nicht allein mich, sondern ganz Europa entzücken würden!
Ungefähr um diese Zeit bekam ich auch Herders Schriften, seine zerstreuten Blätter, seine Ideen zur Philosophie einer Geschichte der Menschheit in die Hände und da von jeher Naturlehre und Geologie einen wunderbaren, geheimnisvollen Reiz für mich gehabt hatten, so faßte ich diese letzteren Schriften sehr begierig auf ....
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Während der letzten hier geschilderten Jahre hatte meines Bruders Geist, so wie sein Charakter und selbst sein Äußeres sich sehr vorteilhaft und ganz anders, als seine frühern Anlagen vermuten ließen, entwickelt. Zwar hatten die Blattern seine kindische Schönheit zerstört, aber seine Züge, der Ausdruck seines Gesichts war bedeutend, ernst und doch von unendlicher Güte zeugend, die denn auch wirklich in seinem Gemüte herrschte. Dabei war sein Wuchs hoch, tadellos, und sein Anstand vortrefflich, so daß er zwar nicht zu den schönen, aber zu den sehr interessanten Männern gezählt [108] werden konnte. Auch gefiel er den Mädchen, meinen Gespielinnen sehr wohl, und manch kleiner Liebeshandel, wie es denn die damalige Sitte und Denkart mit sich brachte, knüpfte sich trotz seiner Jugend an. So wenig meine Gesinnung und mein Betragen gegen diesen trefflichen Jüngling in unserer Jugend zu billigen gewesen war, so hing ich doch jetzt mit desto wärmerer Liebe an ihm; ich kannte seinen tiefen Wert, ich achtete ihn aufs innigste, ja ich ordnete oft und gern mein Urteil dem seinigen unter, das sich stets höchst eigentümlich und richtig erwies, und sagte ihm oft im Scherz, doch mit sehr ernstem Gefühl, daß ich ihn lieber heiraten möchte als alle anderen jungen Männer, die mich umflatterten; aber du, setzte ich dann hinzu, du würdest mich nicht nehmen, denn mir fehlt, was dich an Mädchen am meisten reizt, ein majestätisches Ansehen und würdiger Ernst des Benehmens. Ich war nämlich stets sehr munter, nicht immer besonnen, und vor allem, ich weiß nicht, ob es mir zum Lob oder Tadel gereicht, nicht imstande, mein Betragen gehörig abzumessen, und meinem lebhaften Gefühl, dessen Ausdruck sich meist unwillkürlich in meinen sehr beweglichen Blicken und Zügen malte, so zu gebieten, daß ich mir Herrschaft über andere dadurch hätte erwerben können. Ich gab mich und mußte mich geben, wie ich war, und wem ich so nicht gefallen konnte, auf dessen Neigung mußte ich verzichten, besonders da keine einnehmende oder schöne Gestalt mir zu Hilfe kam.
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Zu unsern geselligen Freuden hatte sich eine neue gefunden. Durch einen Jugendfreund und Schulkameraden [109] meines Bruders, einen Vetter jenes Baron K***, der jetzt im Felde stand, hatte die Lust und der Geschmack für kleine Hauskomödien sich bei uns eingebürgert. Des jungen Menschen Eltern, altbekannte und geschätzte Freunde der meinigen, die sich vor ein paar Jahren in Wien niedergelassen hatten, da sie früher in Ofen gelebt, erneuerten die freundschaftlichen Verhältnisse gern; eine Tochter, nur um ein paar Jahre älter als ich, fand sich ebenfalls in dem Hause, und so bildeten wir jungen Leute einen vierblättrigen Klee, an welchem sich zwei und zwei Blätter stärker einander zu neigen begannen. Meinen Bruder zog die schlanke, ernste, hochgesinnte Therese, ein übrigens sehr schätzbares Mädchen an, und ihr Bruder, den ich, um ihn von seinem Vetter zu unterscheiden, Karl nennen will, brachte mir seine Huldigungen dar. Aber er vermochte mein Herz nicht zu rühren. Um einige Jahre jünger als ich, noch Student, gutmütig, aber eitel, voll Talente, aber ohne Fleiß und erworbene Kenntnisse, war er von dem Bilde eines ernsten, würdigen Mannes, den ich von ganzer Seele achten, oder eines geist- und kenntnisvollen, den ich bewundern hätte können, viel zu entfernt, um mir anziehend zu erscheinen. Auch trug die Erinnerung an seinen Vetter, der bereits als Mann wirkend und tätig ins Leben getreten war und seinen Platz mit Auszeichnung füllte, ebenfalls bei, ihn bei mir in Schatten zu stellen. Aber der junge Mensch war ein Tausendkünstler. – In wenigen Tagen hatte er für den Geburtstag des Vaters ein kleines Theater gebaut und gemalt, ich wurde gebeten, ein Schäferspiel oder so etwas zu schreiben, das sich für unser Personal, aus vier Personen bestehend, paßte. Gesang sollte auch dabei sein. – Ich entwarf [110] einen winzigen Plan, wir legten bekannte Arien ein, behielten den ursprünglichen Text bei, wenn er sich zur Szene paßte, oder ich dichtete einen andern, wie das Stück ihn erheischte. Am Ende war ein Schlußchor mit dem Glückwunsch und der Anwendung angebracht. So armselig das Ganze war, wenn man es absolut als Schauspiel, Dichtung, Operette und Dekoration betrachtete, so machte es doch an Ort und Stelle durch Überraschung und gute herzliche Meinung den gehörigen Effekt, und wir erhielten alle großes Lob.
Von da an erwachte die Lust und Freude an dieser Art von geselliger Unterhaltung in meinem Bruder und mir, und wir wußten bald unsere Eltern zu vermögen, uns ein kleines Theater bauen zu lassen, das, geschickt eingerichtet, sich leicht und in wenig Stunden abbrechen und wieder aufrichten ließ, um den großen Salon, den mein Vater zu seinen Musiken, und wir selbst im Fasching sehr gern zu den kleinen Picknickes brauchten, die bei uns statthatten, immer zu gehöriger Zeit in einen Tempel Thaliens, und aus diesem wieder in seine ursprüngliche Gestalt umzuwandeln. Sobald unser Vorsatz, Hauskomödien (eine damals sehr gewöhnliche Unterhaltung) bei uns zu geben, bekannt wurde, fand und sammelte sich bald ein sehr ansehnliches und in einigen Mitgliedern bedeutendes Personal um uns. Ein Herr von Kirchstettern gab die Rollen, welche man 8–10 Jahre vorher von dem großen Schröder hatte spielen sehen, mit einer für einen Dilettanten bewundernswürdigen Kunst und Kraft. An einem Herrn Eberl, einem sehr artigen und gebildeten Mann, besaß unsere Truppe einen ersten Liebhaber, der dies schwere Fach auf, und auch wohl außer der Bühne mit seltenem Glücke übernahm, und dem eine [111] auffallende Ähnlichkeit mit dem berühmten Schauspieler Lange, der eben dies Rollenfach auf dem Hoftheater inne hatte, sehr zustatten kam. Wie Lange schmächtig, blond, zierlich und voll Anstand, hatte er auch die Ähnlichkeit mit ihm, daß seine im Grunde gar nicht hübschen Züge auf dem Theater und mit der Schminke beinahe schön erschienen. Überdies erbot sich der vieljährige, treue Freund meiner Eltern, Herr von Alxinger, mit Vergnügen zur Teilnahme an unserm Projekte, und übernahm, nebst einer Art von Direktion, jene Rollen, die damals die Brockmannschen von diesem Schauspieler genannt wurden, junge Ehemänner, launigte Charaktere, auch einige komische oder Charakterrollen, und führte sie, wenn es nur keinen Anstand oder tiefere Empfindung bedurfte, sehr gut aus. Mein Bruder übernahm das Fach der komischen Bedienten, zweiten Liebhaber usw. Andere hübsche, junge Mädchen fanden sich zu zärtlichen oder ernsten Rollen, mein Fach war das der muntern jugendlichen Charaktere, schnippischer oder koketter Mädchen, wohl auch der Soubretten. Etwas Zärtliches oder Rührendes brachte ich durchaus nicht aus meinem Innern heraus; in jenen Rollen aber gefiel ich, und unsere ganze Truppe erwarb sich Beifall.
Ein Zyklus von geselligen Freuden bildete sich nun in unserm vielbesuchten Hause. Wenn wir vom Lande (einem hübschen Gartenhaus, das meine Eltern in der Nähe besaßen) im Herbst nach der Stadt zogen, wurde gleich das Theater aufgeschlagen und einige Stücke gegeben: Minna von Barnhelm, die falschen Vertraulichkeiten, Maske für Maske, die unversehene Wette, der seltene Freier, die Glücksritter nebst vielen andern. Wie der Advent heran kam, mußte das Theater fort, [112] und die wöchentlichen Quartetten begannen, bei welchen ich jederzeit spielen mußte, und die von einer sehr zahlreichen und glänzenden Gesellschaft besucht wurden, nicht weil sie so vorzüglich waren, sondern weil es Mode war, unser Haus zu besuchen. Dann folgten im Fasching ebenso wöchentliche Picknicks, an denen aber nur, eben des Raumes wegen, ein kleiner, gewählter Kreis von bessern Bekannten Anteil nahm, und an deren zwanglose und lebhafte Freuden sich jetzt noch, nach viel mehr als dreißig Jahren, die wenigen Teilnehmer, die diesen Zeitraum überlebt haben, mit Vergnügen erinnern. Nach dem Fasching begannen die Quartetten abermals, und nach Ostern wurde das Theater aufgerichtet und die Komödien nahmen ihren Gang, bis wir aufs Land zogen, und einen Sommer spielten wir sogar in unserer Gartenwohnung, bis die Hitze dem Spaße ein Ende machte.
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Mein Geist und meine ganze Denkart hatten sich unter dem Einflüsse eines zerstreuten, vielbewegten Lebens und der allgemeinen Richtung des Zeitgeistes diesem in manchen Stücken gemäß, in manchen zuwider ausgebildet. In meinem Innern hatte sich ein tiefer Grund von Religiosität erhalten, der den Einwirkungen freigeistischer oder sogenannter philosophischer Schriften widerstrebte. Dennoch vermochte mein Verstand nicht, den Behauptungen, Schlüssen und Spöttereien jener Schriften ganz zu widerstehen. Sie machten unwillkürlich Eindruck auf meinen Geist, und wenn hier der Witz, mit dem irgendein wirklicher Mißbrauch oder ein Aberglauben verspottet wurde, mich unterhielt, indem er mich ärgerte, [113] so war ich nicht immer, ja leider nur selten imstande, das Sophistische, Seichte oder Falsche in dem gegen die Lehren des Christentums und dessen eigentliche Wesenheit gerichteten Angriffe ernsterer Bücher dieser Art zu erkennen und dadurch unschädlich für meine Überzeugung zu machen. Tief im Innersten erschütterte und empörte mich Schillers »Resignation«; aber ich wußte ihr nichts entgegen zu setzen, als mein Gefühl, daß dem nicht so sei, wie er behauptete. Gar viele, und gewiß sehr gefährliche Bücher fielen in meine Hände, welche ich früher schon genannt: Bahrdts Bibel im Volkston, Horus, die Ruinen von Volney, L'antiquité dévoilée usw. Wie mich die Ideen gequält, welche aus diesen Schriften gleich scharfen Pfeilen von allen Seiten in das innerste Heiligtum meiner Seele eindrangen, vermag ich nicht zu beschreiben. Ein Streit meines Verstandes und meines Gefühles begann, und manche wichtige Lehre der Offenbarung sank unter diesem Kampfgetümmel nieder, und ich vermochte damals nicht, sie wieder in mir zu beleben. Es war ein peinlicher Zustand, dessen ganze Widrigkeit ich empfand, ohne die Macht zu haben, ihn auf irgendeine Weise zu ändern. Zum Freigeist war mein Inneres zu fromm, zu weich, und alte Ideen behaupteten noch immer ihr Recht über meine Seele; zum kindlichen Glauben hatte ich zu viel gelesen, und ihn bald mit Ernst erschüttert, bald mit Witz verspottet gesehen. Gott erbarme sich meiner. Ein tiefer Schmerz mußte mich zu ihm zurückführen.
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Die Taten des Feldzugs von 1789 waren glänzend gewesen, sie verbreiteten einen hellen Schimmer über[114] die abnehmenden Lebenstage Kaiser Josefs, der in der vollen Reife männlicher Kraft, noch nicht 50 Jahre alt, an einem unheilbaren Übel seinem Ende entgegenging. Gewaltig war der Umschwung, den seine Denk- und Handlungsweise seinen Staaten und mit ihnen der Gesinnung seiner Untertanen gegeben hatte. Ich habe oben, wo von dem Tode seiner Mutter und Vorfahrerin die Rede gewesen, gesagt, daß damals eine neue Zeit für Österreich begonnen habe; und so war es auch, obgleich Kaiser Josef vielleicht nur, wie manche behaupten, mit eigener Hand die Schranken öffnete, welche seine Untertanen von jenen freisinnigen Begriffen, erhöhten Forderungen und eigenmächtigerm Hervortreten noch trennten, zu welchen sich in Frankreich das Volk selbst gewaltsam Bahn gemacht hatte. Ja, ich habe es mehr als einmal von Männern, welche dies genau zu wissen vorgaben und es wohl auch wissen konnten, gehört, daß Kaiser Josef bei seiner letzten Anwesenheit in Paris, kurz vor dem Ausbruche der Revolution, sich selbst von der Stimmung des Volkes, von den Umtrieben der Mißvergnügten und den Systemen und Entwürfen der Schriftsteller unterrichtet und dadurch die Überzeugung gewonnen habe, der Neuerung sei nicht mehr zu widerstehen und es sei besser, wenn die Reformen, die nun einmal unumgänglich notwendig geworden, vom Throne selbst ausgehen, als wenn das Volk sie gewaltsam ertrotze. In dieser Überzeugung habe er seine Schwester, die unglückliche Königin Antonie noch treulich, aber leider vergeblich gewarnt, und dann bei sich zu Hause mit großartigem Sinn selbst vorzubereiten und zu verbessern sich bemüht, was er dem mächtig herandrängenden Zeitgeiste gemäß erachtet.
[115] Wie dem immer sei, der unglückliche, von dem blendenden Wahnbild echter Freiheit geäffte Forster, der in Paris als ein Opfer seines Enthusiasmus und der folgenden bittern Enttäuschungen starb, hat in seiner Reise nach Niederland ein Wort über Kaiser Josef gesagt, das mich mächtig ergriff und mir höchst wahr scheint. – Er sagt nämlich: »Aus der Fackel seines (Kaiser Josefs) Geistes ist ein Funke in Österreich gefallen, der nie verlöschen wird«. Glänzend, feurig belebend war dieser Funke allerdings; aber wie alles Feuer tat er auch weh, wenn man ihm zu nahe kam, und war ebenfalls von Rauch nicht ganz frei.
War es Vorgefühl der kurzen Laufbahn, die ihm von der Vorsicht gestattet war? war es innerer stürmischer Antrieb, der sich durch den Widerstand, den er überall fand, noch mehr erhitzte? war es überwiegende Kraft des Verstandes, die das Gefühl oft zum Schweigen brachte – genug, so menschenbeglückend auch Kaiser Josefs Pläne und Vorbereitungen waren, so wenig man in der Idee daran tadeln konnte, so fielen sie doch in der Ausführung oft zu hastig, meist zu hart und schonungslos aus, und es schien öfters, als sollte alles Alte, Langbestandene, Langverehrte bloß deswegen, weil es dies war, niedergerissen werden. Wenn ich jetzt, nach 40 Jahren, auf jene Zeit zurückblicke, geht mir aus der Vergleichung mit dem, was nun in Frankreich und auch in Deutschland geschieht, erst recht das Verständnis jenes Strebens auf, das Kaiser Josef in mancher seiner Anordnungen zu beseelen schien. Das Alte sollte fort – gleichviel ob es schädlich oder nützlich, dem Menschen gleichgültig oder drückend oder wohl gar lieb war – genug, es war alt, und taugte darum nicht mehr in die neue Welt, [116] die sich damals zu gestalten anfing. Aber in der Praxis geht nur langsam, ruckweise und mit oft krebsgängigen Schritten die Umwandlung vor, die der Gelehrte oder Staatsmann in seinem Kopf schnell erzeugt, und wohl kann man die Zeit in dieser Hinsicht jenen Pilgern des Mittelalters vergleichen, die auf einer Wallfahrt stets nach 2 bis 3 Schritten vorwärts einen zurück taten; indes kamen sie doch, wiewohl langsam, weiter, und jene Rückschritte hemmten nur, aber sie hinderten die Reise nicht. So ist es auch mit der Ausbildung dieser neuen Zeit und ihrer Gesinnung; aber man ist jetzt klüger und überstürzt sich nicht wie damals.
Damals, vor 40 Jahren, war man noch nicht so weit vorgeschritten. Es gab viele, die sich dieser Neuerungen, dieser Aufklärung, dieses Wegräumens alten Schuttes von Vorurteilen, Kastenzwang usw. als glücklicher Schritte zu einem sichern Heil erfreuten; weit mehrere indes, die sie mißbilligten, weil entweder ihr Vorteil darunter litt oder weil ihre in entgegengesetzten Begriffen erzogenen Geister sich über diese neuen Ansichten, als über Ketzereien, entsetzten. Mitten zwischen diesen beiden Äußersten befand sich aber eine bedeutende Anzahl von Personen, die vielleicht eben durch ihre gemäßigtere Meinung sich als diejenigen bewiesen, die ohne Vorurteil oder Eigennutz, ja vielleicht von Hoffnung eben so weit als von Furcht entfernt, ein richtiges Urteil besaßen. Diese ließen zwar dem edlen Willen des Monarchen alle Gerechtigkeit widerfahren, sie billigten, ja sie erfreuten sich der meisten seiner Anordnungen, welche die Erleichterung und sorgfältigere Bildung der untersten Klassen, die Abstellung alter Mißbräuche, die Einschränkung lästiger Vorrechte und Privilegien, endlich [117] die Gedankenfreiheit und allgemeine Duldung zum Gegenstande hatten. Aber sie konnten die rasche Hastigkeit, womit alles betrieben wurde, und die oft jenseits des Zieles schoß, sowie den Mangel an Schonung und Billigkeit bei Ausübung der strengsten Gerechtigkeit nicht gutheißen. Ebensowenig waren diese gemäßigten Beurteiler mit dem übereilten Aufklären der untern Volksklassen und mit dem gewaltsamen Wegräumen so mancher Schranken und hindernden Begriffe zufrieden, welche in dem Gewissen des Volkes dort ihre stille Macht gegründet hatten, wohin das Gesetz zu reichen nicht imstande ist.
Ich war wohl im ganzen noch zu jung, um dies alles nach meinen eigenen Ansichten zu beurteilen; aber ich hörte verständige Menschen von verschiedenen Parteien sprechen, und mein eigenes Gefühl fand sich durch manche Neuerung, die an die Stelle eines alten, liebgewordenen Gebrauchs, einer wohlbekannten Gewohnheit getreten war, abgestoßen, sowie durch manches Harte und Schonungslose in dem Verfahren des Monarchen verletzt. Ich erinnere hier nur an den – freilich nicht durchgesetzten – Befehl, die Leichen künftig ohne Sarg, in Säcken zu begraben und mit Kalk zu überschütten. Vielleicht konnte der kalte Verstand hierin eine zweckmäßige Verordnung finden und verteidigen; aber das Gefühl der ganzen Stadt war empört, und die Sache mußte unterbleiben, weil »meine Untertanen«, wie Kaiser Josef bei Aufhebung dieses Befehls schrieb, »länger Äser bleiben wollen!!« Ebenso unbillig schien mir die strenge Gerechtigkeit, welche, alles vor dem Gesetze nivellierend, einen Grafen, einen Hofrat, einen angesehenen Privatmann zu eben der Strafe des Gassenkehrens wie [118] den Taglöhner, den Hausknecht usw. verdammte, deren tägliches Geschäft jenes ohnedies war, und die noch dazu von niemand vermißt, von niemand gekannt, als den wenigen, ebenfalls der Welt verborgenen nächsten Verwandten, ihre Schmach in ihrer Dunkelheit begruben und daher minder fühlten.
Was aber auch immer mit Recht und Unrecht an dem Verfahren des Kaisers getadelt worden war, und wie stark sich die Unzufriedenheit darüber fast überall in seinen Staaten zeigte, litt doch vielleicht niemand von all den Tausenden, die über ihn klagten, darunter so tief, so schmerzlich als er selbst. Gleich als wollte das Schicksal ihn für dieses stolze Vorausnehmen strafen, mußte der Monarch mitten in einer ruhmvollen Laufbahn, lange vor der natürlichen Todeszeit an einem langwierigen Siechtum dahinwelken, und noch vor seinem Ende viele seiner kühnen Pläne in sich zusammenstürzen sehen; viele seiner Verordnungen, durch die drohenden Umstände gezwungen, selbst zurücknehmen. So trotzten die Ungarn, bei denen er sich ebensowenig als in den übrigen Erbstaaten hatte krönen oder huldigen, und deren Krone er wie die böhmische und den Herzogshut von Österreich aus den respektiven Orten, wo sie bisher als Heiligtümer waren bewahrt worden, nach Wien hatte bringen lassen, ihm die ihrige noch bei seinem Leben ab, und er mußte es zugeben, daß sie wie im Triumphe von ihnen nach Ungarn zurückgeführt wurde. Die Niederlande waren in vollem Aufstande; die Steuerregulierung, die wohl eigentlich dem Untertan zu einer großen Erleichterung gemeint und wohltätig gewesen wäre, hatte den ganzen Adel gegen den Monarchen aufgeregt; die Geistlichkeit, die sich seiner [119] nie und nirgends zu beloben, Ursache gehabt hatte, suchte die Herzen des Volkes von ihm abzuwenden. – Überall war Unzufriedenheit, Gärung, und zuletzt mußte der unglückliche Fürst noch den schmerzlichen Schlag in seinem Hause erleben, daß die Gemahlin seines Neffen und Nachfolgers, unsers geliebten Kaisers Franz, die liebenswürdige Elisabeth von Württemberg, zwei Tage vor ihm an den Folgen einer schweren Niederkunft starb. Sie war dem k. russischen Hause nahe verwandt, diese Rücksicht machte diese Verbindung dem Kaiser besonders wert, der Erzherzog liebte seine junge Gemahlin, alles das zerstörte der kalte Hauch des Todes, und Josef sah so noch, bevor er die Augen schloß, die meisten seiner Pläne zusammenbrechen und seine Hoffnungen vernichtet. Die Erzherzogin war am 18. Februar 1790 um 6 Uhr morgens verschieden; Kaiser Josef folgte ihr am 20. darauf, und zwei fürstliche Leichen lagen zugleich im kaiserlichen Palast auf den Paradebetten.
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Es sei mir erlaubt, einige Züge, einzelne Striche zu dem Bilde des großen Verewigten, das in seiner vollen Herrlichkeit nun vor den Augen der Nachwelt steht, hier einzuschalten, welche, wie mich dünkt, manche Eigentümlichkeit seiner Sinnes- und Handlungsart erklären, und die ich teils den Erzählungen meiner Mutter, teils Mitteilungen von Personen danke, die wohlunterrichtet sein konnten, weil ihre Geburt und Stellung in der Welt sie dem Hofe nahe brachten.
Kaiser Josef war ein äußerst schönes, herrliches, geistvolles Kind, mit ausgezeichneten Anlagen und einer sehr starken Willenskraft. Diese Willenskraft[120] wurde gefürchtet; man wollte sie bändigen, man wollte dem eigensinnigen Knaben, wie man sich ausdrückte, den Kopf brechen. Das wäre auf jeden Fall ein mißliches Unternehmen gewesen, auch wenn Eltern und Erzieher alle nötige Kraft, Einsicht und Muße besessen hätten, um dies Experiment zu leiten. Aber Maria Theresia war Regentin großer Staaten, und konnte, so wichtig ihr ihre Mutterpflicht war, sich dieser doch nicht widmen. Ihr Gemahl war von allen Geschäften entfernt. Wohl wählte sie die Männer, deren Leitung sie den Prinzen, den künftigen Erben ihrer Krone übergeben wollte, mit Rücksicht und Sorgfalt; dennoch fielen diese Wahlen unglücklich aus, und der Prinz, mit seinem überwiegenden Geiste, mit seinem vorstrebenden Genius sah sich von Männern umgeben, und, was schlimmer war, solchen untergeben, die er weit und leicht übersah. Seine Ansichten, seine Entschlüsse waren immer die bessern, klügern, passenderen gewesen, und er wurde gezwungen, sie fahren zu lassen, um sich beschränkten, unstatthaften Meinungen zu fügen, die ihm noch dazu mit einer kränkenden Superiorität aufgedrungen wurden. Das wars, was man hieß: ihm den Kopf brechen, und was vielleicht den Keim jenes Starrsinns in ihm entwickelte und mächtig nährte, der ihn später zu manchem falschen Schritt verleitete. Kaiser Josef hatte mehrere Brüder, wovon einige ihn überlebten. In früherer Jugend stand ihm der Zweitgeborne, der Sohn des Kaisers, während Josef nur der Sohn des Großherzogs war, am nächsten. Dieser Erzherzog, Karl genannt, scheint in vieler Rücksicht in einer Art von Opposition mit dem ältern Bruder gestanden zu haben. Schon der Vorzug der Purpurgeburt – so zufällig, [121] so unbedeutend er bei dem entschiedenen Rechte des Erstgebornen sein mußte, war eine Art von Zankapfel zwischen den Knaben, von denen der ältere das Übergewicht durch Verstand und Geisteskraft, sowie der jüngere durch Gemüt und Liebenswürdigkeit behauptete. Immer aber ist solch ein Antagonismus von schädlichem Einfluß auf die Herzen der Geschwister, und es war vielleicht ein Glück, daß ein frühzeitiger Tod im beginnenden Jünglingsalter den gefährlichen Nebenbuhler Karl hinraffte und so diesen Zwist löste. Aber in Josefs Seele keimte nach und nach etwas Bitteres, Scharfes, Schneidendes empor, das einen verdunkelnden Schatten auf seine großen Eigenschaften warf.
Das Unglück seiner beiden Ehen mochte ebenfalls vieles dazu beigetragen haben. Man hatte die Prinzessin von Parma, Isabella, für ihn gewählt. Diese Prinzessin hatte sich früher dem Kloster bestimmt, und eine Anekdote, welche ich von ihr erzählen hörte, läßt helle Blicke in die Tiefe ihres kräftigen und eigentümlichen Gemütes werfen. Ihr war eine geliebte Person – wenn ich nicht irre, ihre Mutter – gestorben. Ganz in den tiefsten Schmerz aufgelöst, kniete sie am Sarge und flehte zu Gott, sie bald mit der Vorangegangenen zu vereinigen. Da war es ihr, als spräche jemand die Zahl drei aus. Ihre hocherhobene Seele ergriff mit Begierde diesen, wie sie glaubte, prophetischen Ausspruch, und in drei Tagen hoffte sie die Erfüllung ihres sehnlichen Wunsches. – Aber es vergingen drei Tage, drei Wochen, drei Monate, und der erwartete Friedensbote, der die der Welt Überdrüssige abrufen sollte, erschien nicht. Wohl aber erschienen bald darauf die Boten des österreichischen Hofes, welche die[122] Hand der Prinzessin für den Erben so vieler Kronen, für einen der schönsten, geistvollsten und versprechendsten Prinzen forderten. Nur ungern, nur aus Zwang entsagte die Prinzessin ihrem Wunsche, ihr Leben in Einsamkeit und Trauer hinzubringen und ward des römischen Königs (denn das war Josef damals schon) Frau. Er umfaßte die nicht schöne, aber höchst liebenswürdige und anziehende Braut mit aller leidenschaftlichen Glut eines starken Gemütes. Er liebte sie heftig, innig, zärtlich, und obwohl sie, diese Gefühle zu erwidern, sich außerstand fühlte, so mußte sie doch, von ihrem richtigen Verstand und einem geläuterten Gefühle geleitet, sehr wohl verstanden haben, selbst den Forderungen seines liebenden Herzens zu entsprechen; denn solange sie lebte, glaubte er sich von ihr geliebt.
Eine Prinzessin ward bald darauf zum neuen, beglückenden Bande zwischen den jungen Eheleuten; doch dies Glück sollte nicht von Dauer sein. Ehe drei Jahre nach jenem verhängnisvollen Ereignis am Sarge der Verewigten dahingegangen waren, starb Isabella von Parma an bösartigen Blattern im Arme ihres verzweifelten Gemahls.
Während ihres kurzen Lebens an seiner Seite hatte sich ihr Herz, vor allen andern, einer seiner Schwestern, der wunderschönen Erzherzogin Christina, nachmaligen Gouvernantin der Niederlande, zugeneigt. Mit dieser hatte die Verstorbene einen Freundschaftsbund errichtet und häufige Briefe gewechselt, in welchen sie ihr Herz und den wahren Stand ihrer Empfindungen treu darstellte. Als nun Christina ihren geliebten Bruder so der Verzweiflung zum Raube sah, sie, die doch wußte, daß er um ein Gut trauerte, was[123] er im Grunde nie besessen, um Isabellas Liebe – glaubte sie sich aus Mitgefühl und Rechtlichkeit verpflichtet, dem Getäuschten die Wahrheit zu eröffnen, und so seinen allzuheftigen Schmerz zu mäßigen. – Sie zeigte ihm die Briefe der Verstorbenen. – Es war ein Mißgriff, ein unseliger Einfall! und er verfehlte seine Wirkung nicht. Josef sah sein blutendes, hingebendes Herz verschmäht – getäuscht; seine hohe Meinung von der Verstorbenen zernichtet. – Wohl mögen seine Tränen um die Verlorne versiegt sein; aber Erbitterung, Verachtung gegen das ganze weibliche Geschlecht setzten sich in seiner Brust fest, von denen sein besserer Sinn nur wenige ausnahm, indes er die übrigen als bloße Puppen oder Gegenstände der Sinnlichkeit betrachtete. – Dennoch besuchte er in spätern Jahren gern einige ältere Damen, eine Fürstin Liechtenstein, eine Kaunitz und andere, und unterhielt sich gern mit ihnen, die verständige, gebildete Matronen waren.
Seine zweite Vermählung war nicht geeignet, diese Vorstellungen zu berichtigen. Schon vor der Bewerbung hatte er sich schroff und kalt über die Notwendigkeit seiner Wiederverheiratung und die traurige Wahl zwischen mehreren, gleich unliebenswürdigen Kompetentinnen um seine Hand ausgesprochen, aus welchen er doch seine künftige Lebensgefährtin wählen müsse. Eine Prinzessin von Bayern traf dieses unglückliche Los. Von der Natur höchst stiefmütterlich behandelt, ohne Anmut, ohne Takt, um den Charakter ihres Gemahls aufzufassen und sich in ihn zu schicken, dienten selbst ihre guten Eigenschaften, ihre Sanftmut, Herzensgüte und Liebe zu ihm nur dazu, ihn noch mehr von ihr zu entfernen. Beschämend war[124] die grelle Entfernung, in der er sich von ihr hielt, so daß er unter anderm auf dem Balkon, der vor ihrem gemeinsamen Appartement war, ein Separatim machen ließ, damit sie ihm dort nicht begegnen könne, und er lieber vor aller Welt Augen beim Fenster hinausstieg, um nur nicht durch den gemeinschaftlichen Salon gehen zu müssen, in welchem sich die Türe zum Balkon befand. Auch dieses Band, welches ganz kinderlos blieb, löste endlich der Tod, auch die unglückliche Maria Josefa von Bayern befreite dieser unausbleibliche Freund aus ihrer schweren Lage und gab dem ungeduldigen Gemahl seine Freiheit wieder. Aber die Art, wie diese Prinzessin von ihm war behandelt worden, hatte den alten Nationalunwillen zwischen Bayern und Österreich nicht gemindert, und gar viele ihres Volkes behaupteten noch lange nach ihrem Tode, sie sei nicht gestorben, nur verstoßen, und lebe unbekannt in einem Kloster in Bayern, wo sogar einige sie gesehen haben wollten.
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Für mich hatte eben jetzt auch eine neue Periode meines Lebens begonnen. Baron K ... war als Hauptmann aus dem Türkenkriege in die Winterquartiere nach Wien gekommen und bei seinem Oheim abgestiegen, von wo er sogleich zu uns eilte. Therese, seine Kusine, hatte mich früher schon benachrichtigt – und einen gewaltigen Sturm mit dieser Neuigkeit in meiner Brust erregt. Das Wiedersehen war bewegt und zärtlich von beiden Seiten, und wir sahen uns von nun an oft, sowohl bei seinem Oheim als in unserm Hause. Doch kam es nicht zu einer eigentlichen Erklärung, und der schönste Zeitpunkt in [125] der Liebe zweier jungen Herzen, der Zeitpunkt der Erwartung, des Zweifels, der Hoffnung dauerte einige Wochen. Schon fing man an, in den beiden Familien von dieser Verbindung zu sprechen. Mein Vater hatte nichts gegen die Persönlichkeit des jungen Mannes, die in vieler Rücksicht achtungswert war, und der schon jetzt mit kaum 23 bis 24 Jahren eine bedeutende Stufe erstiegen hatte, aber desto mehr gegen seinen Stand. Meine Eltern hatten sich nämlich mit Liebe an mich und das, was ich ihnen im Hause leistete, gewöhnt, meines Vaters Liebe zur Musik hatte ihm meine Hilfe und Mitwirkung in diesem Fache sehr erwünscht gemacht; meiner Mutter zunehmende Augenschwäche und der größere Fuß, auf den unser Haus eingerichtet war, machte ihr meine Hilfe und Tätigkeit in der Führung der Wirtschaft notwendig. So kam es, daß beide bei einer künftigen Verheiratung für mich hauptsächlich darauf sahen, mich, wo nicht ganz nebst meinem Gemahl in demselben Hause, doch wenigstens in der Nähe zu behalten. Ein Offizier aber hätte ihnen die Tochter sogleich entführt, und darum sprach mein Vater ernstlich mit mir, und meinte, wenn es dem jungen Manne Ernst um mich wäre, würde er wohl seinem Stande (der damals vor vierzig Jahren vor den Augen des ruhigen Bürgers in ganz anderm und viel ungünstigerm Lichte als jetzt erschien) gern entsagen und eine friedliche Anstellung suchen, welche ihm bei dem Ansehen und Einfluß seiner Familie und durch meines Vaters Verwendung nicht fehlen würde.
Meine Mutter sagte gar nichts. – Sie wußte um meine Neigung, sie hatte nichts dagegen, aber sie sah wohl vielleicht schärfer und weiter als ich, welche durch mein Herz irregeführt wurde, und als Papa, der[126] dann, wie die Männer überhaupt, in solchen Dingen oberflächlicher beobachtete und urteilte. Allmählich kam mir das Schweigen über unsere gegenseitige Stellung, das Stehenbleiben auf dem Grade der Annäherung, auf welchem wir uns seit Fernandos Anwesenheit seit beinahe drei Monaten noch immer befanden, befremdend vor. – Doch da, wie gesagt, noch keine Erklärung zwischen uns stattgehabt hatte, glaubte ich kein Recht zu haben, ihn zur Rede zu stellen. Nun aber hörte ich bald dort, bald da von frühern oder spätern kleinen, zärtlichen Verhältnissen, die Fernando während des Krieges in Ungarn (seinem Vaterland) gehabt haben sollte; ja endlich sprach man davon, daß ihn nicht allein die Pflicht an seinen Chef, den damals schon sehr geachteten General Mack binde, sondern daß der stete Umgang mit dessen schöner und liebenswürdiger Gemahlin vielen Anteil an dieser Anhänglichkeit habe. Wirklich auch verließ Fernando das Haus seines Oheims, und folgte seinem General auf dessen Landhaus in Penzing. Zugleich wurden seine Besuche bei uns immer seltener, sein Benehmen gegen mich kälter. – Ich erkannte nur zu deutlich, daß dies Herz, das trotz vieler andern edlen Eigenschaften doch zu schwach gegen weiblichen Liebreiz war, keiner wahren, dauernden Liebe fähig sei; – ich konnte mir die traurige Wahrheit nicht verbergen, daß ich nicht mehr ausschließend in Fernandos Herzen herrschte, ja daß dieser Alleinbesitz wohl immer nur eine Selbsttäuschung gewesen sein mochte.
Damals fühlte ich mich sehr unglücklich. Mein Herz war in seinen zartesten Gefühlen verletzt. Ich hatte gehofft, arglos vertraut, ich hatte des jungen Mannes Herz nach dem meinigen beurteilt, ich hatte mich [127] ohne Rückhalt meiner Neigung überlassen, die durch die Vorzüge des Gegenstandes, durch die Empfindung, die er mir zeigte, durch die Beistimmung der beiden Familien gerechtfertigt war. – Ich glaubte, bald ein Band für meine ganze Zukunft schließen zu können, und ich mußte erkennen, daß ich nur das Spielwerk einer flüchtigen Laune gewesen war, und nun rücksichtslos einer andern angenehmem Beschäftigung eben dieser Laune aufgeopfert wurde.
Jetzt waren mir Tröstungen höherer Art notwendig, als sie die Welt und die Menschen um mich mir geben konnten. – Die religiösen Gefühle wollten ihr altes Recht behaupten und mich mit meinen Schmerzen dahin leiten, wo allein wahrer Trost und Ruhe zu finden ist, zu Gott, zu seiner Offenbarung, zur Aussicht auf ein anderes, besseres Leben. Aber da erhoben sich mit feindlicher Kälte alle jene Zweifel und Unsicherheiten, welche durch die Lesung von irreligiösen Büchern und Anhörung solcher Gespräche sich nach und nach wie verfinsternde Nebel in mein Gemüt gelagert und mir den tröstlichen Ausblick in die Ewigkeit verdunkelt hatten. Ich glaubte nicht mehr und ich wußte doch nichts; – und diese Haltlosigkeit meines Innern vervielfachte auf die bitterste Weise den Schmerz, der dasselbe zerriß.
In dieser unsichern, peinlichen Stellung meines Geistes griff ich nach allen Beruhigungen, die ich mir verschaffen konnte. Ich las Mendelssohns Phädon, Hallers Briefe über die Offenbarung und andere Werke ähnlicher Art. Wohl waren sie alle geeignet, dem Herzen, das ohne dies schon im allgemeinen glaubte oder von den Wahrheiten, die sie mit ihren Gründen zu unterstützen sich [128] bemühten, zum Teil überzeugt war, diese in vollem Lichte zu zeigen; aber ein irregemachtes, zweifelndes Gemüt zu beschwichtigen, fand ich sie wenigstens nicht imstande. Meine Unruhe, und somit mein Schmerz, blieben dieselben. Da fielen mir Youngs Nachtgedanken in die Hände, und begierig versenkte sich mein blutendes Herz in die Tiefen dieser Schwermut. – Meine Empfindungen waren hier ausgesprochen – »durch die Hintertüre der Vergangenheit begegneten mir die Geister meiner abgeschiedenen Freuden, ein zahlreicher Haufe« – mir »flocht die Erinnerung die Stacheln entflohenen Glückes in die Geisel ein, womit sie mich nun doppelt schmerzhaft züchtigte«; ich erkannte, »daß der Raupe dünnster Faden ein Schiffsseil ist, mit dem Band verglichen, das den Menschen an seine irdische Glückseligkeit bindet, und das jedes Lüftchen zerreißt« 7. Von diesen so wahr, so energisch ausgesprochenen Schmerzen erhob sich mein gedrückter Geist zu den überirdischen Tröstungen, welche dem Dichter die Religion beut und die beiden Nächte, ich denke, es ist die siebente und achte, welche die Aufschrift führen: The Infidel reclaimed, vollendeten auch meine Bekehrung. Was philosophische Spekulation und wohlgemeinte Abhandlungen nicht vermochten, bewirkte die Poesie, die unmittelbar an das tiefverletzte Gefühl sprach und aus dessen eigenem Grund die Wahrheiten entwickelte, denen der Verstand seinen Beifall nicht versagen konnte. Nun ward mir wieder leichter. Mit beruhigterem Gefühl blickte ich auf mein getrübtes Leben; denn jenseits desselben öffnete sich mir die Aussicht in die Ewigkeit, und es [129] war die Vorsicht, der Wille eines höchst weisen, unendlich gütigen und allmächtigen Wesens, das mir diese Wunden geschlagen und mein Glück zertrümmert hatte. Es war doch zu meinem Besten, davon fühlte ich mich überzeugt, und so gewann ich Ergebung und Ruhe.
Wohl schmerzte K**s Flattersinn und meine zerstörten Hoffnungen mich tief; – wohl war meine beängstigte Seele durch schwere Kämpfe gegangen, ehe sie einige Ruhe fand; aber nebst dem Glauben kam ihr der Stolz zu Hilfe. Unerträglich war mir der Gedanke, die Rolle der Verlassenen vor der Welt zu spielen und dem Wankelmütigen den Triumph zu gönnen, daß sein Verlust mich kränken könne.
Damals dichtete ich verschiedene Lieder, die aber niemand zu sehen bekommen durfte. – Das eine begann also:
Wie still ist alles um mich her!
Es ruht die Nacht mit ihrem Schatten
Auf diesen farbenlosen Matten;
Kein Wild regt sich im Haine mehr,
Des Vogels Haupt ist unterm Flügel,
Von ferne rauscht der Felsenbach,
Und in den Eichen dieser Hügel
Seufzt ihm ein sterbend Lüftchen nach.
dann kam eine Anrufung an meinen Lieblingsstern, die Lyra, der früher von K** ebenfalls war besungen worden, und dann schloß das Lied mit den Zeilen:
O lehre mich den Gram besiegen,
Und ihn, der dein und mein vergißt,
Nun auch um den Triumph betrügen,
Daß sein Verlust mir schmerzlich ist.
Jetzt, da die Nacht vom Winterhimmel sinket,
Kein Stern den trüben Nebelflor durchblinket,
Eil' ich zu dir mit allen meinen Wunden,
O mein Klavier!
[130]
Du spottest nicht, kein Hohngelächter schrecket
Dies arme Herz, das dir sich gern entdecket,
Du lachst der Schwachheit nicht, die ich empfunden,
Drum klag' ich dir!
Hier fällt die Maske, die ich sonst getragen,
Hier darf ich weinen und mein Schicksal klagen,
Ach, in dem Zirkel, der mich sonst umrauschet,
Darf ich das nicht.
Dort wehrt mein Stolz dem Ausbruch heißer Zähren,
Dort darf kein Ohr den leisen Seufzer hören,
Dort, wo auf jeden Blick ein Spötter lauschet,
Lügt mein Gesicht. usw.
Die Empfindungen und Ansichten, welche aus diesen Liedern sprachen, waren tief aus meinem Innersten geschöpft. Vielleicht findet man sie weder poetisch noch romantisch, wenigstens die Heldinnen von Romanen und Theaterstücken werden gewöhnlich mit andern Gefühlen geschildert. – In mir war es nun einmal so und eine gewisse Elastizität meines Gemütes, wenn ich also sagen darf, half mir stets, besonders nachdem das Licht des Glaubens mir wieder heller zu scheinen angefangen hatte, mich aus den Fluten, der über mich ergangenen Leiden emporzuheben, sowie sie mich abhielt, durch weichliches Klagen fremdes Mitleid zu suchen und zu erregen. Von jeher fand ich es erbärmlich, die Didone abbandonata zu spielen, in Liedern und Klagen der Welt zu vertrauen, daß ein Wankelmütiger mir eine andere vorgezogen hatte, und ebensowenig konnte ich damals mit zwanzig Jahren, sowie jetzt mit mehr als siebzig, in die Jeremiaden so vieler meiner Schwestern, und unter diesen namentlich vieler Dichterinnen, über die Gefühllosigkeit, den Leicht- und Flattersinn oder die Roheit des männlichen Geschlechts einstimmen. Selbst meiner Mutter Ansichten von dem [131] unbilligen Verhältnis, worin wir gegen die Männer stehen, von den Anmaßungen, die sie sich im bürgerlichen und häuslichen Leben über uns erlaubt haben sollten, von den sogenannten Rechten des Weibes fanden keinen Anklang in meiner Seele, soviel Gewalt auch in jeder andern Hinsicht ihr sehr starker Geist und ebenso starker Wille über mich ausübte. Ich konnte die Männer weder hassen noch verachten und noch viel weniger beneiden. Ich fühlte mich überzeugt, daß der notwendige Geschlechtscharakter und die Einrichtungen in der physischen wie in der moralischen und bürgerlichen Welt uns die untergeordnete Rolle mit Recht angewiesen hatten; ich konnte es mir nicht verhehlen, daß nicht allein in Künsten und Wissenschaften, sondern selbst in den ganz eigentümlich weiblichen Beschäftigungen wie Kochen, Schneidern, Sticken die Männer, wenn sie sich darum annahmen, doch immer die Leistungen unsers Geschlechts weit hinter sich ließen. Willig also räumte ihnen mein Herz diese geistigen Vorzüge ein, aber eben so bestimmt erkannte ich auch, daß von Seite des Gefühls, des richtigen Taktes, der Herrschaft über uns, ja selbst in einer gewissen Art von Mut wir den Männern wo nicht voran, doch völlig gleich stehen, und daß die Vorsicht, unendlich weise in allen ihren Veranstaltungen, auch hier sich also bewiesen und die Eigenschaften, welche dem Menschen in abstracto zukommen, auf solche Art zwischen die beiden Geschlechter verteilt hat, welche für das Wohl des Ganzen am zuträglichsten war. In dieser Ansicht nun kam mir das Los unsers Geschlechts, dem die erste mühsame Pflege und Bildung des jungen Menschen anvertraut und in dessen Hand es gelegt ist, guten, edlen Samen in die jungen Herzen zu streuen,[132] der im Mannesalter seine segensreichen Früchte tragen soll, immer ehrwürdig und schön vor, und ich fand (wie ich es späterhin in dem Roman »Frauenwürde« deutlicher auseinander zu setzen mich bemüht habe), daß der Himmel sehr gütig gerade dadurch für uns gesorgt hatte, daß er uns unsere Pflichten so deutlich vorgezeichnet und uns dadurch vor so vielen gefährlichen Irrtümern und schmerzlicher Reue bewahrt hatte.
So wehrte ich denn meiner Zunge, meinen Mienen und Blicken, daß sie nicht das schmerzliche Geheimnis meiner Brust verrieten, und es gelang mir so wohl, daß vielleicht nur ganz wenige meiner nächsten Bekannten eine Ahnung davon hatten. Dies war auch um so mehr zu hoffen, da Fernando sich nie lange in Wien aufgehalten hatte, unser Verhältnis ohnedies kein erklärtes war und wir uns vor der Welt stets mit der nötigen Zurückhaltung betragen hatten. Die Sache löste sich ganz leicht und unbemerkbar auf und ich entging dem Gespötte und dem kränkenden Mitleid.
Aber mein Geist war ernster geworden. Manche laute Freude, die mich früher vollgenügend angesprochen und mein ganzes Wesen erfüllt hatte, wie z.B. der Tanz als Tanz, große Gesellschaften, wo eine Menschenflut durch die Säle auf- und abwogte, Praterfahrten an Frühlingssonntagen, besonders hinab bis ins Lusthaus, wo zahllose Equipagen und eine wimmelnde Menschenmenge im buntesten Putz alle Sinne betäubend beschäftigten; – alles dies, was ich sonst mit jugendlichem Mute gewünscht und genossen hatte, fing an, seine Reize für mich zu verlieren, ja manches beinahe mir lästig zu werden, vorzüglich die großen Gesellschaften und überhaupt das Geschwirre und Getreibe vieler, mitunter auch unbekannter Menschen. [133] Ich suchte die Einsamkeit öfter und lieber, ich fand eine Art von Beruhigung und Beschwichtigung meiner schmerzlichen Gefühle in derselben, welche mir keine sogenannte Zerstreuung und Unterhaltung gewähren konnte, und schon damals begann diese Richtung meines Geistes sich zu entwickeln, vermöge welcher ich jede Kränkung, jeden Schmerz, ja auch jede Sorge und Angelegenheit am liebsten ganz für mich und mit mir allein ausmachte, bekämpfte oder zur Ruhe sprach. Mehrere ernste Bücher fingen an, mich tief anzusprechen. Ich las Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte, mehrere lateinische Klassiker, den Virgil, Lucan, Tacitus, Seneca, Horaz, Tibull, meist mit den beiden Freunden meiner Eltern, Alxinger und Haschka, deren kenntnisreiche Erklärungen mir das Verständnis dieser Schriften erleichterten und meinen Geschmack leiteten; ja sogar einige Satiren des Juvenal und Persius durfte ich unter Alxingers Anleitung und nach strenger Auswahl lesen. Großen Eindruck machten einige Stellen des Virgil, die ich jetzt noch auswendig weiß, auf mein Gefühl – und häufige Tränen flossen dem Tode des Nisus und Euryalus, sowie dem des Turnus, den ich, sowie beim Homer den Hektor, nun einmal als den unschuldig Verfolgten und Beeinträchtigten in mein Herz geschlossen und gegen den Äneas in Schutz genommen hatte. Vielleicht war der Umstand, daß ich Blumauers Travestie früher als das Original gelesen, viel schuld an meiner Abneigung gegen den frommen Helden, aber ich konnte nicht umhin, diesen Mann, der der begegnenden Nymphe in den Lybischen Wäldern sich selbst als den »pius Aeneas fama super aethera natus« ankündigt, bei jeder Gelegenheit steif und fade zu finden und immer in ihm den Äneas [134] ganz von Butter zu sehen, wie ihn Blumauer auf einer Torte darstellt 8.
Viel tiefer aber ergriffen mich des Tacitus und Seneca Schriften und die Gesinnungen, die in denselben ausgedrückt sind. Vieles übersetzte ich mir daraus, machte aus andern Auszüge und strebte, soviel ich konnte, in den Geist dieser beiden Schriftsteller und besonders des Seneca einzudringen. Ich hatte eine Jugendfreundin, ein Fräulein von Ravenet, die im Hause sehr werter Freunde meiner Eltern erzogen wurde. Ihr leuchteten, als die würdigsten Beispiele weiblicher Tugend, die Gemahlin und Schwiegermutter ihres Pflegevaters, des Regierungsrates von Heß, vor; zwei Frauen, deren Erinnerung mir noch jetzt vorschwebt, und deren Charakter ich in der Larissa meines Agathokles zu schildern mich bestrebt habe. Josefinen, so hieß meine Freundin, mit der mich eine große Ähnlichkeit der Geistesrichtung verband – denn auch sie erhielt eine mehr als gewöhnliche Bildung und vielseitigen Unterricht – teilte ich denn auch meine Liebe und Verehrung für den Seneca mit. Sowie er fleißig an seinen Lucilius schreibt, und jedem Briefe eine kleine Gabe, irgendeine Sentenz, einen Gedanken als eine Frucht seiner Lektüre anderer Autoren beifügt, so schrieb auch ich Josefinen oft aus einem Hause in das andere (denn wir wohnten nahe) bogenlange Briefe über alle kleinen Vorfälle, die sich mit mir ereigneten und fügte dem Briefe einen Spruch des Seneca bei, von welchem oft der ganze Brief nur eine Erläuterung war.
Ich stand damals, wie ich glaube, auf einem Wendepunkte meines Lebens, wo das fröhliche Mädchen sich [135] von der ernsten Jungfrau scheidet. Und wenn dies bei mir vielleicht etwas später als bei andern, nämlich erst im 20., 21. Jahre geschah, so muß ich bemerken, daß eine sehr gesunde körperliche Konstitution (ich war eigentlich nie krank gewesen), ein leichtes Blut, ein lebhafter und doch klarer Geist, eine unvertilgbare Anlage zur Frömmigkeit und eine im ganzen glückliche äußere Lage mir von jeher viele Heiterkeit und Lebensfreudigkeit erhalten hatten. So war ich lange dem Frohsinn und der Empfänglichkeit für geringe Freuden nach ein glückliches Kind geblieben, als ich schon mehr als halb zu den erwachsenen Mädchen gehörte, so erhielt eben dieser Frohsinn sich auch noch bei reiferen Jahren in mir und hat mich tief ins Alter begleitet. Gott sei dafür gedankt!
Dieser Frohsinn war aber jener ernsten Richtung meines Geistes, die dieser jetzt zu nehmen anfing, nicht im geringsten hinderlich, vielmehr fand er seine Rechnung auf gewisse Art noch besser dabei. Denn wenn jene strengeren Ansichten der Stoa, wenn die großartige Denk- und Empfindungsart der römischen Klassiker mich viele, bisher von mir und andern meines Geschlechts geschätzte und gesuchte Dinge in ihrer eigentlichen Nichtigkeit erkennen ließen, so lernte ich durch eben diese Bücher auch, mich über vieles, was andere betrübte, beruhigen. Mir erschien eine höhere Weltordnung; ich konnte mich mit meinen Hoffnungen und Erwartungen jetzt leichter über die Bedingungen unsers irdischen Seins erheben. Die Ruhe, mit der ich, selbst in früheren Jahren, an den Tod gedacht hatte, begründete sich mehr und mehr, und jene Ansichten, die späterhin Schiller in zwei Versen so unübertrefflich schön und wahr ausgedrückt hat:
[136]
Das Leben ist der Güter höchstes nicht,
Der Übel größtes aber ist die Schuld;
entwickelten sich, nicht so klar und erschöpfend, wie dieser erhabene Dichter sie ausspricht, aber doch in bestimmtern und unbestimmtern Anklängen in meiner Seele. Sie ließen mich Glück und Unglück, Leben und Tod, Gegenwart und Zukunft in ernsten, aber heitern Beziehungen sehen, und benahmen selbst dem Tode immer mehr seine Schrecken, denn er war ja, wie Seneca sagt: »der Geburtstag der Ewigkeit«.
Die Natur hatte von jeher lebhaft an mein Gemüt gesprochen, jetzt fühlte ich mich immer mehr zu ihr hingezogen; Herders Ideen, von denen ich zuvor gesprochen, Bonnets Betrachtungen über die Natur; ein kleines Buch, das vielleicht wenige kennen: La chaumière indienne von Bernardin de St. Pierre (aus dem Michel Beer seinen Paria geschöpft), öffneten mir gleichsam das geistige Auge, um die Wunder der Natur zu erkennen und sie in ihren geheimnisvollen Beziehungen auf uns und unser Verhalten zu betrachten. Damals faßte ich die erste Idee zu den Gleichnissen. Wenn ich einsam, aber recht seelenvergnügt durch den weitläufigen Garten meiner Eltern wandelte, wenn ich an Gott dachte, seine Gegenwart zu fühlen glaubte und dann meinen Blick auf Blumen, Gräser, Bäume richtete, dann traten allerlei seltsame und, wie es mir vorkam, geheimnisvolle Beziehungen zwischen der körperlichen und sittlichen Welt mir vor Augen, und der Gedanke, daß ähnliche Gesetze in beiden regierten, ergriff mich mit großer Gewalt. Ich versuchte es, ihn darzustellen, und so entstanden die Gleichnisse, die ich damals, weit entfernt, an die Bekanntmachung einer so unbedeutenden [137] Kleinigkeit zu denken, bloß meiner Freundin Josefine; zugedacht und in einer reinlichen Abschrift mit einer Dédicace in Versen ihr übergeben hatte.
Es ist vielleicht hier der Ort, mich auch über meine Ansichten von der Freundschaft auszusprechen. Sie waren denen der Alten nachgebildet, und folglich streng und würdig. Mir galt die Freundschaft als ein Bund für das Leben und noch weiter hinaus, dessen eigentlicher Zweck gegenseitige Vervollkommnung war. Jener Ausspruch Ciceros (wenn ich nicht irre): Omnia cum amico delibera, sed prius te ipso, schwebte mir vor. Jedes Verhehlen auch nur eines Gedankens oder Gefühles schien mir Verrat. Wohl sollte meine Freundin jedes kleine Begegnis, das ich erlebte, erfahren; aber das Erzählen desselben war nicht, wie ich es bei den meisten meiner Gespielinnen sah, der einzige Zweck dieses Vertrauens; denn dazu hätte ja wohl die Grube hingereicht, in welche jener geschwätzige Barbier des Königs Midas sein Geheimnis hineinrief. Nein, meine Freundin sollte mich ganz erkennen, beurteilen, ermahnen, tadeln, mit einem Worte, bessern können, sowie ich das gleiche bei ihr zu tun bereit war. Hierzu ist nun freilich eine große Ähnlichkeit der Jahre, der Bildungs- und Lebensweise erforderlich Es gehört aber auch, um solch ein Band in seiner ganzen Würde und Schönheit aufrecht zu erhalten, dazu, daß jene Bedingungen fortdauern. Ändern sich die Beziehungen der beiden Personen zueinander merklich, führen Schicksale, fremde Einwirkungen die eine oder die andere einen ganz verschiedenen Lebensweg und hält sie lange auf demselben, so daß dessen Gewohnheiten und Einflüsse die früheren Eindrücke verwischen, so kann wohl Neigung und Achtung noch [138] wie ehemals fortbestehen, aber die feineren Beziehungen, der innere Anklang, der der Empfindung oder dem Gedanken der verwandten Seele entgegenkommt, müssen sich dann verlieren.
Etwa um diese Zeit wurden mir zwei Bücher zu lesen erlaubt, von denen ich früher sehr viel gehört und sie oft näher zu kennen gewünscht hatte. Doch meine Mutter hatte es für zweckmäßig gehalten, solange sie mein Herz für zu empfänglich und meinen Geist für noch nicht reif genug hielt, mir dieselben (es waren der Werther und Agathon) zu entziehen. Nun las ich sie, und sowohl meine Mutter als ich selbst mußten uns wundern, daß der Eindruck, welchen diese Werke auf mich machten, ganz dem erwarteten oder gefürchteten entgegengesetzt war.
Mich ließ der Werther, als Roman, kalt, so lebhaft mich die Schönheit der Darstellung, die psychologische Wahrheit der Charaktere, die tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens, die Naturschilderungen usw. anzogen. Meine Phantasie, deren Aufregung man hauptsächlich gefürchtet hatte, blieb ruhig; – dieser junge Mann (Werther) flößte mir kein Interesse ein; denn ich konnte ihn nicht achten, höchstens Mitleid mit dem verschrobenen Gemüte haben, dem es nur immer nach dem Verwehrten lüstete, weil es verwehrt war, und an dessen endlicher Verzweiflung und Selbstmord gekränkte Eitelkeit und zurückgewiesene Anmaßung in jener Gesellschaft des Präsidenten wohl ebensoviel, wo nicht größern Teil hatte, als seine unglückliche Leidenschaft. Ich prüfte mich aufmerksam, und ich glaubte damals, wenn ich durchaus zwischen ihm und Albert hätte wählen müssen, ich mich doch eher für den letztern entschieden haben würde, der mir [139] als Gefährte für ein ganzes Leben viel würdiger und passender vorkam.
So ging beim Werther die gefürchtete Gefahr für meine unruhige Einbildungskraft schadlos vorüber, und was es immer gewesen sein mochte, das meine Mutter abhielt, mir den Agathon früher in die Hand zu geben – ob Besorgnis vor den zu lüsternen Schilderungen oder den philosophischen Ansichten, die das Buch enthielt – genug, auch diese Stacheln glitten ab an mir. Zwar erregten der Charakter und die Schicksale Agathons meine lebhafteste Teilnahme, und ich fühlte viel mehr für ihn und mit ihm als für Werther; aber die Stelle, welche den tiefsten, unauslöschlichsten Eindruck auf mich machte, einen Eindruck, der lange in mir nachwirkte, war die Schilderung jener Periode in Agathons Leben, als er und Psyche im heiligen Haine zu Delphi miteinander erzogen wurden. Dies stille, gleichsam im Heiligtume der Gottheit verborgene Leben, das wie ein ruhiger Bach einförmig, aber klar dahinfloß, und in dessen heller Tiefe sich der Himmel und der Gott spiegelte, dem beide dies Leben gewidmet glaubten, die reinen und doch so warmen Gefühle, welche die jungen Herzen aneinanderzogen und ihnen doch nichts von ihrer Unschuld und Frömmigkeit nahmen, rührten und bewegten mich aufs tiefste. Das war ein irdisches Paradies, in dem ich mich unendlich selig gefunden haben würde, wenn es Gott gefallen hätte, mich in ein solches zu versetzen und die Wunden, an denen mein Herz im stillen noch immer blutete, vermehrten die wehmütige Sehnsucht, welche jenen Zustand vor den Augen meines Geistes mit himmlischem Lichte verklärte.
Ich war nicht bestimmt, ein solches Glück zu genießen! [140] Zweimal hatte sich ein trügerischer Schimmer desselben mir gezeigt, zweimal war er verschwunden; hatte sich das erstemal in die erbärmlichste Prosa aufgelöst, war das zweitemal durch Flattersinn zerstört worden.
Je schmerzlicher ich diese Ausschließung von jener Seligkeit fühlte, die ich dem frommen Paar im heiligen Hain so tief und lebhaft nachempfand, je leichter und lebendiger entwickelte sich der Gedanke in mir, das Glück der Liebe und häusliche Freuden seien nicht das Los, welches mir die Vorsicht zugedacht und diese Ansicht setzte sich durch verschiedene, zufällig zusammentreffende Umstände immer fester in meinem Gemüte. Aber auch sie benahm mir meine innere Heiterkeit nicht; denn ich hatte mich, durch religiöse Trostgründe und durch Young und Seneca gestärkt, mit ruhiger Wehmut in dies Geschick ergeben, und strebte jetzt nur dahin, diese neue Ansicht mit meinen übrigen Verhältnissen und meinen Aussichten für meine kommenden Jahre, wenn ich sie erreichen sollte, in Einklang zu bringen.
Jene Schilderung von Agathons und Psyches Lebensweise in Wielands Werke; viele Stellen im Seneca, welche Mäßigkeit, Beherrschung der Leidenschaften und Begierden, Geringschätzung der rauschenden Weltfreuden lehrten und uns dadurch den Weg zur wahren geistigen Freiheit zeigten; Youngs Aussichten in jene bessere Welt, welche die Rätsel der gegenwärtigen lösen sollte – Nothing this world unriddles but the next – endlich allerlei seltsame Ansichten, Ahnungen, Ereignisse usw., welche ich aus Erzählungen glaubhafter Menschen und aus manchen Büchern, vorzüglich aus Moritz Magazin der Seelenerfahrungskunde [141] geschöpft, hatten mir Ideen von einer schon auf Erden möglichen Annäherung an die Geisterwelt gegeben. Es schien mir nicht untunlich, daß der Mensch durch große Mäßigkeit in allen sinnlichen Genüssen, durch große Stille und Einfachheit der Lebensweise, durch strenge Herrschaft über seine Leidenschaften und Regungen, durch steten Rückblick auf Gott, in einem nützlich, aber nicht zu sehr beschäftigten Leben, es schon auf Erden zu einer hohen Stufe der Vollkommenheit, ja vielleicht dahin bringen könnte, wenigstens auf einzelne Lichtmomente seines Lebens, seinen Geist der Herrschaft des Körpers zu entziehen und sich der Geisterwelt zu nähern oder wenigstens hellere Blicke in dieselbe werfen zu dürfen.
Diese Vorstellungen beschäftigten mich sehr. Ich sammelte mit Fleiß alles, was ich in klassischen und andern Schriftstellern damit Übereinstimmendes fand. Ich entwarf meinen künftigen Lebensplan, und nachdem ich alles reiflich erwogen und geordnet hatte, brachte ich einen Aufsatz zu Papier, den ich in Briefform an Josefinen richtete, und der ungefähr folgende Ansichten und Vorschläge enthielt.
Wir wollten beide unverheiratet bleiben, da ich eine Ehe ohne Liebe für Entheiligung hielt und dieser Leidenschaft, nach zweimaliger Täuschung, mein Herz abgestorben glaubte. Die Lage meiner Freundin versprach damals auch ihr keine glänzenden Aussichten; so wollten wir denn, wenn wir unsere Pflichten gegen unsere Eltern, solange sie lebten, erfüllt haben würden, mit dem nicht beträchtlichen, aber hinreichenden Erbteil, welches ich hoffen konnte, uns eine kleine Besitzung auf dem Lande kaufen und dort still beisammen leben.
[142] Um aber auch andern nützlich zu werden, und das Gute, welches wir beide für das Höchste hielten, sittliche Ausbildung, nach unsern Kräften zu verbreiten, wollten wir einige Mädchen aus der Nachbarschaft zu uns nehmen und erziehen. Das sollte unser mäßiges Tagewerk sein; außerdem aber wollten wir so viel möglich abgezogen und beschaulich leben, wenig Umgang und Verkehr mit andern Menschen haben, und selbst unsere Nahrungsweise sollte darauf hinzielen, das Irdische an uns ja nicht ohne Not zu vermehren. Wir wollten uns nämlich nur von Pflanzenspeisen nähren (ich hatte damals eben die Rede des Pythagoras in den Metamorphosen gelesen), grobe Fleischnahrung, Wein und alle Leckereien vermeiden und so dahin streben, uns schon hienieden soviel als möglich zu vergeistigen, damit unsere Seelen, wenn der Tod sie einst abriefe, keine so schwere Hülle abzustreifen und nur lockere Bande zu zerbrechen hätten. Alle diese Ansichten und Vorschläge waren mit Zitationen aus den Schriftstellern, die meine beständige Lektüre ausmachten, und aus denen ich jene Ideen auch geschöpft, belegt.
Diese Arbeit machte ich während eines Sommers auf dem Lande mit großer Liebe und ebenso großem Fleiße und fühlte mich ungemein beruhigt, getröstet, gestärkt, als ich sie vollendet und nun den Pfad für mein künftiges, einsames, aber nicht zweckloses Dasein mir fest vorgezeichnet zu haben glaubte. Was ist der Mensch und seine Entwürfe!
Ich war, wie ich schon einmal in diesen Blättern berührt, eigentlich nie krank gewesen, und ein kaltes Wechselfieber mit einer Ergießung der Galle, die mich sehr verdroß, weil sie mich auf eine Weile sehr entstellte, [143] waren bisher meine einzigen körperlichen Leiden gewesen. Doch auch selbst während dieser kleinen Anfälle, die sich durch zwei Sommer wiederholten, lag ich nur selten und nur auf Stunden zu Bette, und meine kräftige Natur überwand den bösen Keim gänzlich.
Daß mir nur eine seltsame Geneigtheit zu Ergießungen der Galle überblieb, die sich dann jedesmal, wenn irgendeine andere Unpäßlichkeit oder noch vielmehr ein Kummer, eine schwere Sorge mich drückten, durch eine gelblichere Hautfarbe offenbarte, wobei sich selbst im Weißen der Augen ein gelblicher Schein zeigte, diese Geneigtheit währte lange bei mir und bis in meine höheren Jahre hin.
In jener Epoche aber, wo ich den obenerwähnten Aufsatz schrieb, war ich völlig gesund. Die Fieberanfälle hatten sich nicht mehr gezeigt, ich genoß eines ungestörten Wohlseins und habe jene Krankheitszufälle nur darum berührt, um mit mehr Bestimmtheit zu zeigen, daß kein körperliches Übel damals Einfluß auf meinen Seelenzustand hatte. Dennoch hatte sich meiner eine Art von Todesahnung bemächtigt. Wir standen damals am Anfange des Winters; – ich war, Gott weiß warum, fest überzeugt, daß ich ihn nicht überleben und der nächste Frühling mein Grab begrünen würde. Dies war mir so ausgemacht, daß ich einen prächtigen Mousselin, den ich damals bei einer Freundin meiner Mutter, der Gräfin Truchseß Zeill zum Geschenk erhalten hatte, die ihn mir von einer Reise in die Schweiz mitgebracht, gar nicht machen lassen wollte, damit ihn die Mutter gleich behalten und für sich zurichten lassen könnte. Diese Gewißheit meines nahen Todes beunruhigte mich aber nicht im geringsten. Ich setzte sogar mit Vergnügen eine Art[144] Testament auf, worin ich, da ich kein Eigentum besaß, meine Eltern bat, aus meinen kleinen Habseligkeiten von Nippen, Geschmeide usw. meinen Freundinnen Andenken bestimmen zu dürfen.
Literarisch oder eigentlich poetisch beschäftigte ich mich damals nicht viel. Mein Gefühl war zu sehr verletzt und meine Gedanken zu sehr teils mit jenen ernsten Vorstellungen, teils mit wirklichen und prosaischen Dingen erfüllt. Meine Mutter war, trotz ihres hochgebildeten Geistes und dem glänzenden Fuße, auf dem unser Haus eingerichtet war, ihrer Wirtschaft bis ins kleinste Detail stets selbst vorgestanden, und hatte mich schon früh ebenfalls dazu angehalten. Sie wehrte mir nicht, meinen Geist zu bilden, ja sie hielt mich, wie man sich durch die Lesung dieser Blätter überzeugt haben wird, selbst dazu an. Aber – und diese Ansicht werde ich ihr ewig, nebst so vielem andern danken – aber jene Beschäftigungen durften erst an die Reihe kommen, wenn jeder häuslichen Pflicht, jeder nötigen Arbeit ein Genüge geschehen war. Sie sagte mir oft: das Hauswesen in Ordnung zu halten, ist der Frauen erste Pflicht; diese muß streng und vollständig erfüllt werden. Bleibt uns dann Zeit übrig, so dürfen wir sie nach Gefallen auf erlaubte Dinge verwenden. Die eine geht spazieren, die zweite macht künstliche Arbeiten, eine dritte empfängt und gibt Besuche oder liest Romane; – willst du in deinen freien Stunden dich mit Poesie, mit Übersetzungen aus fremden Sprachen (was ich gern und häufig tat) beschäftigen, so ist dir dies unverwehrt; aber dem Hauswesen darf kein Abbruch dadurch geschehen.
In eben diesem Sinne hielt sie mich zur Sparsamkeit und zur Selbsttätigkeit an. Ich mußte lernen, [145] mich soviel wie möglich überall zu behelfen, mich selbst zu bedienen und vorzüglich meinen ganzen Putz selbst zu verfertigen. Damals waren die Frisuren künstlich und zeitraubend; ich mußte mir, vom Wickeln und Brennen der Haare an, bis zum Putz mit Blumen und Federn alles dies selbst leisten, meine Hauben und Hüte selbst stecken, und ich lernte es endlich so gut, daß ich meinen Freundinnen hierin half, manches Käppchen oder Häubchen für andere verfaßte, und selbst meine Blumen zum Putz verfertigte. Bei diesen Ansichten war ihr nun freilich die große Liebe meines Vaters zur Musik und die Forderungen, die er deswegen an mich stellte, oft ein Anstoß. Mit Klavierspielen, Üben, Produzieren, Singen gingen viele Stunden des Tages hin, und das billigte meine Mutter wohl nicht; aber sie vermochte es nicht zu ändern, nur zu mäßigen.
Durch vieles Lesen, besonders beim Kerzenlicht und in oft schlechtgeschriebenen Papieren, welches meine Mutter während ihres Dienstes bei der seligen Kaiserin täglich durch mehrere Stunden üben mußte, vielleicht auch durch körperliche Disposition, fingen ihre Augen eben zu jener Zeit an, sehr zu leiden. Lesen und Schreiben kostete sie viele Anstrengung, ich wurde also allmählich von ihr auch in diesen Teil des Hauswesens eingeführt und mußte für sie alle Rechnungen, Schreibereien, Quittungen, Briefe, Attestate, kurz alles, was in einer Wirtschaft und bei Grundbesitz (meine Eltern hatten mehrere Häuser in und vor der Stadt) vorfällt, verfassen lernen. Überdies ließ sie sich viel von mir vorlesen, da ihre Augenschwäche ihr diese, sonst so werte Beschäftigung nur selten gestattete.
Man kann leicht erachten, daß meine Zeit unter diesen Umständen sehr besetzt war. Meistens hatte ich[146] ein gutes Teil mehr Arbeit vor mir, als wozu der Tag hinreichte, und meine poetischen Übungen wurden ziemlich auf die Seite gedrängt. Dennoch lernte ich nach und nach meine Stunden so haushälterisch einteilen, die verschiedenen Geschäfte, die mir oblagen, so ineinander passen, so manche, wo es sich tun ließ, gleichzeitig verrichten, daß ich es dahin brachte, allem, was meine Mutter im Haushalt, mein Vater für seine Musikübungen, endlich unsere ganze Lebensweise an geselliger Rücksicht, mit Putz und Empfang zahlreicher Besuche von mir forderte, zu leisten, und doch noch hier und dort ein Stündchen für einsamen Genuß, der mir zum Bedürfnis geworden war, und literarische Arbeiten zu finden. Diese genoß ich denn auch mit doppelter Lust, und habe mich durch eigene und fremde Erfahrung in meinem langen Leben überzeugt, daß Dichter und Künstler, die nichts als dieses waren und sein wollten, sich selten mit Glück in dieser allzu unbestimmten Bahn hielten, und noch viel seltener ein großes Ziel erreichten. Daß aber jene unter ihnen, die außer ihrer Kunst sich noch irgendeiner andern ernsten Beschäftigung ergeben hatten, diese mit strengem Pflichtgefühl trieben, und die Muse mehr wie eine Geliebte, als wie ihre Hausfrau betrachteten, meist Größeres und Allgemeingültigeres leisteten. Gar zu selten sind jene privilegierten Geister, die die Kunst in allen ihren Tiefen zu erfassen und zu halten vermögen, ohne auf Abwege dabei zu geraten. Selbst diese Freiheit und Ungebundenheit von jedem bürgerlichen Verhältnisse wird oft zur Verräterin an ihrer Kunst, noch öfter an ihrem sittlichen Wert oder ihrem physischen Wohl. Daher habe ich es stets für höchst gefährlich gehalten, wenn ein junger Mensch den Vorsatz [147] äußerte, sich keinen bürgerlichen Beruf zu erwählen, sondern der Kunst zu widmen, wie sich diese Leute auszudrücken pflegen. Im Grunde heißt das gewöhnlich nichts anders, als einen Freibrief suchen, um gar nichts zu tun. Hat aber einer den göttlichen Funken wirklich in der Brust, spricht die Kunst oder Wissenschaft wirklich allmählich an sein Gemüt, so fürchte man ja nicht, wie ich es oft von verblendeten Eltern gehört, diesen Funken zu ersticken, indem man den Jüngling zu ernsten Berufsstudien, die Tochter zu Häuslichkeit, Fleiß und Wirtschaft anhält. Da erprobt sich erst die Echtheit der Begeisterung und durch Zwang und Hindernisse macht das wahre Talent sich Bahn, wie ich es oft erlebt habe und namentliche Beispiele anführen könnte. Carpani vergleicht in seinem Werke: Le Haydine, wo er von diesen höhern Anlagen spricht, die der Mensch oft unbewußt in sich trägt, und die sich auch unter den ungünstigsten Umständen Platz zu machen wissen, diese mit einer schönen Statue, die noch in dem unbearbeiteten Marmorblocke verschlossen liegt: »Die Statue ist schon da, aber es bedarf gewöhnlich der Arbeit des Meißels, um sie zutage zu fördern. Ist sie aber rechter Art, so springt sie wohl selbst aus dem Blocke hervor.« Diesen Ansichten, die meine gute, verständige Mutter in mein noch jugendliches Gemüt legte, meinem Gehorsam, sie zu befolgen und vieljähriger Übung danke ich es nun im Alter, daß ich bei vieler Anlage zur Poesie, bei vieler Zeit, die ich der Beschäftigung damit widmete, so daß ich in dem langen Raume meines Lebens die Zahl meiner Werke bis gegen 50 Bände brachte, doch meine häuslichen Pflichten, wie ich zu Gott hoffe, nicht versäumt, meiner Mutter, solange ich sie an meiner Seite hatte, treu beigestanden, [148] meines Mannes Leben erheitert, und meine Tochter zu einer sehr braven Frau gebildet habe. Oft hörte ich verwundernde Lobsprüche darüber, daß ich alles dies so gut zu vereinigen gewußt hätte; ich kann aber vor Gott bekennen, daß es mich weder Studien noch Mühe gekostet, sondern daß alles aus früher Gewöhnung und den Lehren meiner Mutter ganz natürlich entflossen ist.
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Meine Todesahnungen, mit denen ich den Winter begonnen hatte, wollten sich im Laufe desselben nicht bewähren, ja selbst meine Stimmung wurde nach und nach wieder heiterer. Der Zyklus gesellschaftlicher Freuden, der sich jedes Jahr im Hause meiner Eltern abrollte, hatte auch diesen Winter sein Recht behauptet. Die theatralischen Vorstellungen begannen, so wie wir vom Lande zurückgekehrt waren; dann kamen die wöchentlichen Quartetten während des Advents an die Reihe. Im Karneval lösten ebenso wöchentliche Picknicks unter unserer näheren Bekanntschaft die Quartetten ab, die mit der Fastenzeit wieder eintraten, und nach Ostern wurde das Theater abermals aufgerichtet und fortgespielt, bis es Zeit war, aufs Land zu ziehen. Noch eine Art von geselliger Unterhaltung hatte sich seit einiger Zeit in unsern Kreisen etabliert, die eigentlich im Hause eines nähern Bekannten, des berühmten Hofrats von Born, begonnen hatte, mit dessen jüngerer Tochter, einem liebenswürdigen, sanften Mädchen, mich eine herzliche Zuneigung verband, und wo alle Sonnabende im ganzen Winter sich größere Gesellschaften versammelten, die eigentlich in drei Abteilungen zerfielen. Den mittelsten [149] Salon, das eigentliche Tafelzimmer, okkupierten wir junge Leute und durften uns auch noch in die, zu beiden Seiten anstoßenden Kabinette verbreiten. Neben dem Kabinette linker Hand aber war der Salon der Hofrätin, in welchem die Väter und Mütter der im Tafelzimmer versammelten Jugend oder andere ältere Bekannte der Frau vom Hause sich mit Kartenspielen unterhielten, während in dem Salon neben dem Kabinette rechter Hand – dem Studierzimmer des ebenso geistreichen als gelehrten Herrn vom Hause, sich Gelehrte, bedeutende Fremde oder ausgezeichnete Geschäftsmänner höheren Ranges einfanden. Durch den Saal, in dem wir unser, oft sehr lautes Wesen trieben, gingen alle die Eingeweihten, die in eines der höheren Gemächer zugelassen wurden; wir sahen sie durchpassieren, wir knixten und verbeugten uns achtungsvoll und waren wieder froh, wenn die kartenspielende Dame oder der gelehrte Herr, der Herr Graf oder Präsident linker oder rechter Hand abdesitiert und in eines der beiden Heiligtümer eingegangen war. – Hier wurde ein Spiel eingeführt, das große Ähnlichkeit mit den zehn bis zwanzig Jahre nachher ebenso beliebten als kostspieligen Tableaux hatte. Unsere Gesellschaft teilte sich nämlich in zwei ziemlich gleiche Hälften, und jede Partie stellte abwechselnd irgendeine Szene aus einem bekannten Theaterstück, aus der Profan-oder heiligen Geschichte oder der Mythologie pantomimisch dar. Die zur Verständigung nötigen Kostüme und Requisiten wurden, so gut sich es tun ließ, aus den nächsten Umgebungen herbeigeschafft; denn eine Hauptsache war, daß die Zubereitungen nicht zu viel Zeit hinwegnahmen und möglichst viele Geschichten in einem Abend aufgeführt werden konnten. Wir[150] nannten es auch Geschichten spielen. Aus dem Bornschen Hause, welches bald darauf durch den Tod des ausgezeichneten Mannes und durch den zerrütteten Zustand, in dem er sein Vermögen hinterließ, sich aufgelöst hatte, verpflanzte sich jenes Spiel in unser Haus. Jeden Montag kam eine zahlreiche Gesellschaft junger Leute bei uns zusammen. Ihre Eltern und auch andere Personen fanden sich mit ihnen ein, und unterhielten sich recht gut, indem sie unserm Spiele zusahen. Verschiedene freundlich gesinnte Zuseher spendeten uns allerlei Gerätschaften, Maskenanzüge, Waffen, Helme, Lanzen, Mäntel usw., und es bildete sich eine hübsche Theatergarderobe, in der sich denn die auftretenden Personen ganz leidlich und kenntlich ausnahmen. Ein großer Schritt zur Vervollkommnung dieser Spiele wurde dadurch gemacht, daß die Geschichten nicht mehr pantomimisch und sukzessive wie früher, sondern auf einmal in einem glücklich oder unglücklich gewählten Moment als Tableau dargestellt wurden, wodurch mancher Ungeschicklichkeit und manchem lächerlichen Mißgriff der darstellenden Personen vorgebeugt wurde. Nach und nach wurde auch auf Gruppierung, Beleuchtung, Effekt geachtet, und diese Darstellungen bekamen dadurch ein immer lebhafteres Interesse für die Spielenden sowohl als für die Zuseher, welche sich stets in größerer Menge einfanden. Besonders erinnere ich mich einer sehr gelungenen Vorstellung: Julie im Sarge im verfinsterten Grabgewölbe, die in dem Augenblicke erwacht, wo die Türe sich öffnet, Männer mit Fackeln über Stufen herabsteigen und sie und den toten Romeo finden. Auch wurde das Theater, wenn es stand, zu diesen Darstellungen benutzt. Der Sturz der Engel, den die jungen Männer [151] unserer Gesellschaft sehr gut vorstellten, die Stürmung des Olymps durch die Titanen, das Gastmahl Belsazers, Medea auf dem Drachenwagen usw. erhielten großen Beifall, und mußten gewöhnlich am nächsten Montag wiederholt werden. – Wo sind diese jungen Leute nun alle, die damals munter und eifrig an dieser Unterhaltung teilnahmen? Kaum, daß außer mir vielleicht noch vier bis fünf leben; wie wenige von einem Kreise, der gegen dreißig Personen umfaßte! Alle, alle vorangegangen, wohin wir wenigen übrigen bald folgen werden.
Das sind ganz andere und ernstere Todesahnungen, als jene Grillen – so mag ich sie wohl nach fast einem halben Jahrhunderte nennen – welche damals durch verliebte Schmerzen und eine düstere Geistesrichtung in mir erzeugt worden waren. Dennoch kann ich mit Wahrheit sagen, daß sie jetzt, wo sie eine große und nahe Gewißheit für mich haben, mich ebensowenig erschüttern, als jene mich damals verstörten oder um den innern Frieden, der mein Jugendleben begleitete, zu bringen imstande waren.
Sie trafen damals nicht allein nicht ein, sondern die Elastizität meiner Empfindungen, möchte ich sagen, half mir bald wieder aus der trüben Stimmung, in die jene Liebesschmerzen mich versenkt hatten. Auch heitere, sanfte, hoffnungnährende Gefühle begannen wieder an mein Herz zu sprechen. Durch die vielen Zerstreuungen, welche dem Kreis unserer Bekannten in unserm Hause geboten wurden, und vorzüglich durch das Haustheater, knüpften sich allerlei kleine Verbindungen und Interessen zwischen den jungen Leuten um mich herum an, und auch mein Gefühl ward hier oder da, freilich nur leicht, wieder angeregt.
[152] Ein junger, ziemlich wohlgebildeter Kavalier, Graf H, der im Bureau meines Vaters seit einiger Zeit arbeitete, kam fast täglich in unser Haus. – Er zeigte mir viele Aufmerksamkeit; – es ist sogar möglich, daß, wäre er nicht der älteste Sohn eines hochadeligen Hauses, und ich ihm ebenbürtig gewesen, er sich mir bestimmter genähert haben würde. – Manche seiner Reden, seiner Handlungen ließen es vermuten, und ganz verfehlte dies Betragen mein Herz nicht. Graf H., dessen treffliches Gemüt und ernstes Pflichtgefühl trotz seiner wenigen Geistesbildung mir Achtung einflößten, und dessen herzliches Zutrauen zu mir – denn ich war mit allen seinen Familienangelegenheiten, Leiden und Freuden, Hoffnungen und Entwürfen bekannt – mich nicht ungerührt ließ, war mir, vielleicht eben der Hindernisse wegen, die sich einer Verbindung zwischen uns in den Weg gestellt haben würden, sehr wert geworden. Lange darnach habe ich Graf H.s Persönlichkeit in der kleinen Erzählung »Alt und neuer Sinn«, freilich verändert und verschönert, dargestellt. Er war ebenso blond, so schlank, so rechtlich, so herzensgut wie Blankenwerth, aber weder im Anfang so plump und linkisch noch am Ende so interessant wie jener. Aus dieser Periode stammt auch das kleine Gedicht: »Der Eichbaum und die Weide, eine Fabel«, das ich damals um keinen Preis veröffentlicht haben würde, so wenig als die Klagen um einen Treulosen, das aber bei seiner Erscheinung vierzig oder fünfzig Jahre später einen Beifall fand, über den ich selbst erstaunte.
Jener Herr Eberl, der auf unsrer und mehreren Privatbühnen die Lange'schen oder Liebhaberrollen spielte, war ebenfalls eine ausgezeichnete Erscheinung [153] in unserem Kreise. Ein düsterer Sinn, ein scharfer Verstand, eine melancholische Weltansicht zog die Aufmerksamkeit seiner Umgebung, zumal die der Frauen, auf ihn. Seine Verhältnisse (er bekleidete eine kleine Stelle bei einer Rechnungsbehörde), sein Sinn, der nicht ohne Ehrgeiz und Wunsch nach Auszeichnung war, seine beschränkten Umstände und seine Kränklichkeit, die (wie wir später erfuhren) ihn an jedem Aufstreben hinderte, erklärten leicht jene melancholische Stimmung; aber sie machten ihn, verbunden mit dem feinsten Ton, mit Anstand und hoher Geistesbildung zu einer sehr bedeutenden Persönlichkeit in der geselligen Welt. Wenn er in den Rollen des Schauspielers Lange auf Privatbühnen auftrat, dem er auffallend im Wuchse, Haltung und Bewegungen glich, flogen ihm viele Blicke und auch manches Herz entgegen. Dieser, von vielen gesuchte Mann fing nun an, mich sehr merklich auszuzeichnen, und ich gestehe, daß ich nicht ganz gleichgültig gegen ihn blieb, besonders da uns oft das Los traf, bei unsern Komödien die zärtlichen Rollen miteinander zu spielen.
Ich habe viele Jahre darnach das Gefährliche einer solchen Lage, wenn der Mann, der uns nicht gleichgültig ist, seine Empfindungen unter der Maske einer einstudierten Rolle uns ungescheuter gesteht, und wie leicht sich da ein Mädchenherz täuschen und hinreißen läßt, in einer meiner Erzählungen: »Das gefährliche Spiel« dargestellt.
Sei es aber, daß Eberl, als gesetzter und vernünftiger Mann, der bereits über die Jünglingsjahre hinaus war, die Schwierigkeiten, ja die Unmöglichkeit einer ernsthaften Verbindung mit mir so gut als ich selbst einsah; sei es, daß ein anderes Verhältnis zu einem sehr [154] liebenswürdigen Mädchen, deren beschränkte Umstände ihnen auch keine Aussicht auf Vereinigung boten, mehr war als bloße Freundschaft; kurz, wir hielten uns stets in gehöriger Entfernung voneinander; aber Fräulein L-l (so hieß dies Mädchen) ward mir sehr wert, und wir wurden einander herzlich gut. Sie mochte den gefährlichen Mann wohl inniger lieben als er sie, und der Verfolg zeigte es auch ziemlich klar.
Hier scheint es mir der geeignete Platz, einer früheren zärtlichen Verbindung dieses Mannes mit einem der interessantesten Mädchen in Wien, dem Fräulein Gabriele Baumberg, zu erwähnen, die vor etwa anderthalb Jahren, ganz ignoriert von der Welt, in Linz starb, und erst durch ihren Tod und ein Gedicht, welches bei dieser Gelegenheit erschien, wieder ins Angedenken der Zeitgenossen zurückgerufen wurde. Sie war ein liebenswürdiges Geschöpf, wohlgebildet, anmutig, mit einem schönen Talent für Poesie (damals ein viel selteneres Geschenk der Natur als jetzt) begabt, angenehm im Umgang und voll feinem Geschmack für alles Zierliche, Wohlanständige. Als Eberl sie liebte, traf ihn das Los, in seiner Anstellung nach Brüssel, das damals noch österreichisch war, gehen zu müssen. Jede Aussicht auf eine Verbindung mit der einzigen Tochter einer geachteten und wohlhabenden Familie mußte jetzt aufgegeben werden. Am Vorabend seiner Abreise schrieb er in Gabrielens Stammbuch unter das Bild eines Amors, der weinend sich bemüht, eine Fackel auszulöschen: »pour l'éteindre il n'a que des larmes.« Die Unruhen, welche ein paar Jahre darnach in Niederland ausbrachen, führten Eberl mit andern kaiserlichen Beamten wieder nach[155] Wien; aber jenes Verhältnis knüpfte sich nicht wieder an.
Der Verfolg rechtfertigte, wie ich oben gesagt, meine Ansicht vollkommen. Eberl wurde bald darauf bei einer andern Privatbühne gebeten, die Liebhaberrolle zu übernehmen. Er tat es abermals auf und außer der Bühne. Eine verheiratete Dame wurde diesmal der Gegenstand seiner Aufmerksamkeit, nachdem er schon längere Zeit der der ihrigen gewesen war. Bald zog sich dies Verhältnis noch fester. Eberl wurde der Hausgenosse der Gräfin und, was gewiß für den Wert seiner Denkart bürgt, zugleich der wärmste Freund des Grafen, ihres Gemahls. In diesem Hause stand er eine bedeutende Krankheit aus, und während derselben besuchte ihn Fräulein L.., seine Freundin, fleißig und pflegte seiner nach Möglichkeit. Dies alles zusammengenommen stellt wirklich ein seltsames Verhältnis und eine ungewöhnliche Richtung der Charaktere dar. Von diesen Personen starb das Mädchen, das so treu, so aufopfernd geliebt hatte, zuerst, die Gräfin folgte nicht lange darnach. In ein paar Jahren darauf, als ich schon längere Zeit verheiratet war, starb auch Eberl, und, wie es bei seinem Tode erst kund ward, an einem unheilbaren Übel, das er bis dahin verheimlicht, und das ihn wahrscheinlich bestimmt hatte, nie sich in eine ernste oder gar eheliche Verbindung ein zulassen.
Ich bin etwas weitläufiger, als es gerade die Beziehungen forderten, in denen ich mit diesen Personen stand, für die Geschichte meines Lebens in diesen kleinen Begebenheiten gewesen; aber sie dünkten und dünken mich noch in psychologischer Hinsicht nicht unmerkwürdig, und ich brachte nach so vielen Jahren[156] mit diesen wenigen Zeilen den Manen jener schätzbaren Menschen gern noch den Tribut einer achtungsvollen Erinnerung.
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Noch muß ich mir gestatten, an dieser Stelle, wo so vieler Vorfälle gedacht wird, die sich damals ereigneten, und so vieler Personen, die uns zunächst umgaben, dieser letzteren, die später mehr oder minder in meine Verhältnisse verflochten wurden, mit flüchtigen Worten ausführlicher zu erwähnen.
Härings Familie war mit der unsrigen verwandt, darum dauerte das gegenseitig freundschaftliche Verhältnis mit ihnen sowohl als dem Schwabschen Hause, mit dessen Chef Härings Schwester seit langen Jahren verheiratet war, trotz jenes Bruches zwischen unsern jugendlichen Herzen fort. Ebenso alt und herzlich war unsere Verbindung mit der Kurländerschen Familie, die damals außer den Eltern aus zwei Töchtern und drei Söhnen bestand, wovon die ersten mir ungefähr an Alter glichen. Später geschlossen, aber darum nicht minder warm, war unsere Freundschaft zur Familie von Mertens, des berühmten Arztes, aus der aber nur eigentlich zwei Töchter, Sophie und Henriette mir und meinem Bruder näher standen und sehr oft bei uns waren, ja im Sommer oft mehrere Wochen bei uns auf dem Lande zubrachten. Dann waren mir auch jenes Fräulein v. Born und eine ihrige Kusine und ein Fräulein von Hackher, v. Moter, ein Fräulein v. Ravenet, deren schon Erwähnung geschah, die Kempelensche Familie und einige andere, recht werte und liebe Gefährtinnen auf den heitern Pfaden der Jugend. Ein Haus muß ich noch erwähnen, mit [157] dem das meiner Eltern, schon wie ich noch ein Kind war, in sehr freundschaftlichen Beziehungen stand. Es war die Familie des berühmten Freiherrn v. Jacquin, die schon damals vor 60–70 Jahren, ein helleuchtendes Augenmerk für die wissenschaftliche Welt in und außer Wien war, und die auch ihrer angenehm geselligen Verhältnisse wegen von vielen gesucht wurde. Wenn die Gelehrten oder gelehrt sein Wollenden den berühmten Vater und den ihm nachstrebenden Sohn (den erst vor wenig Jahren verstorbenen Josef Freiherrn v. Jacquin aufsuchten, so sammelte sich die junge Welt um den jüngeren Sohn Gottfried, den ein lebhafter, gebildeter Geist, ein ausgezeichnetes Talent für Musik, mit einer angenehmen Stimme verbunden, zum Mittelpunkt des heitern Kreises machte, und um seine Schwester Franziska, die jetzt noch lebende Frau v. Lagusius. Franziska spielte vortrefflich Klavier, sie war eine der besten Schülerinnen Mozarts, der für sie das Trio mit der Klarinette geschrieben hat, und sang noch überdies sehr hübsch. Da wurden nun an den Mittwochabenden, die, seit ich denken kann, in diesem Hause der Geselligkeit gewidmet waren, auch selbst im Winter, wann die Familie Jacquin, wie jetzt Professor Endlicher, im Botanischen Garten wohnte, in den Zimmern des Vaters gelehrte Gespräche geführt, und wir jungen Leute plauderten, scherzten, machten Musik, spielten kleine Spiele und unterhielten uns trefflich. Schöne Zeit der heitern, sorglosen Jugend! Liebliche Bilder längstentschwundener Freuden! Noch jetzt im Greisenalter beschwört euch mein Geist gern herauf aus dem Dunkel der Vergangenheit und ergötzt sich an euch und gedenkt gar manches scherzhaften Vorfalls, so [158] z.B. des Erstaunens, ja der Betroffenheit, mit der ich als Kind von 9–10 Jahren einst auf meines Vaters Tische ein dünnes Büchelchen fand, das unser ernsterer Spielgefährte, der ältere Jacquin, der damals 12–13 Jahre zählte, über irgendeinen naturhistorischen Gegenstand geschrieben hatte, und das gedruckt wurde. Es kam mir wie eine Zauberei vor, und ich konnte es kaum begreifen, wie man noch fast ein Kind sein und ein Buch schreiben könne. Von nun an betrachtete ich unsern Josef mit einer Art Ehrfurcht. Viel lieber aber unterhielt ich mich mit seinen jüngern Geschwistern und ihrer gleichgestimmten Gesellschaft, mit der ich denn allmählich, wie es diese Blätter zeigen, aus dem Kindesalter in das jugendliche, beweglichere und bedeutendere getreten war, in dem nun statt heiterer Kinderspiele lebhaftere Empfindungen, abwechselnde Hoffnungen und Schmerzen uns beschäftigten.
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Es ist Zeit, nunmehr nach Erzählung vieler kleinen Begebenheiten den Faden der allgemeinen, an dem sich ja das Leben der einzelnen auch mit abspinnt, aufzufassen, da jene Ereignisse doch nie ohne Einwirkung auf deren Schicksal bleiben können.
Als Kaiser Josef gestorben war, hofften viele mit Grund ungemein viel Gutes von seinem Nachfolger und Bruder Leopold II. Es war nicht bloß jenes unbestimmte Hoffen auf einen Wechsel, auf ein Anderswerden so mancher Dinge, die im Laufe der Zeit drückend geworden waren, es waren bestimmte und gerechte Erwartungen von dem Herrscher, der sein kleines Toskana zu einem der bestgeordneten, glücklichsten [159] Staaten gemacht und den Namen des Weisen mit Recht erworben hatte.
In unserm Hause sah man seiner Thronbesteigung mit großer Freude und lebhaftem Anteil entgegen. Mein Gemüt wurde durch alles, was ich über Kaiser Josef hatte sprechen hören, was ich selbst gedacht und gefühlt hatte, durch die Begriffe der Zeit endlich, welche jeden Tadel der bestehenden Regierungen begünstigten, ebenfalls auf eine Weise angeregt, daß ich mir von dem kommenden Herrscher unendlich viel Gutes versprach, und da meine Seele sich bei vieler Liberalität meiner politischen Gesinnungen (welche ich fast mit allen jungen Leuten teilte) stets mit innerem Widerwillen von den gar zu freien und nüchternen religiösen sowohl als moralischen Grundsätzen abgewendet hatte, die mit jenen meist Hand in Hand gingen, so hoffte ich denn von Kaiser Leopolds Familientugenden, von seiner Achtung für häusliches Glück, das er auf fast bürgerliche Weise in Florenz genossen hatte, Wiederherstellung der alten guten Zeit, vermehrte Sittlichkeit, Achtung für Religion usw., und feierte seine Ankunft mit einem herzlich gemeinten Gedichte, worin ich jene Ansichten aussprach.
Doch die Zeit für eine solche Verbesserung war damals noch nicht gekommen. Schwere Regentensorgen empfingen den neuen Monarchen. Die Erbländer waren in furchtbarer Aufregung, aus Frankreich drohte die Revolution sich herüber nach Deutschland zu verbreiten. So viel nahe Gefahren mochten den Kaiser erschreckt haben. Er eilte, den Türkenkrieg nach so vielen glänzenden Siegen und gerechten Hoffnungen durch einen, vielleicht übereilten Frieden zu schließen, der Österreich wenig oder gar keine Vorteile von dem [160] ließ, was es durch Anstrengung und Tapferkeit erworben. Belgrad, Orsova usw. wurde abgetreten, der greise Held Loudon starb gleich darauf, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Gram über diesen Friedensschluß, der nicht allein die Frucht aller seiner frühern Kämpfe dahin gab, sondern ihn auch um die neuen Lorbeern betrog, welche zu erkämpfen er bereits den Feldzug wieder begonnen und sich ins Lager begeben hatte, seinen Tod herbeigeführt hatte. Genug, der Friede ward geschlossen, Preußen erwies sich wie früher immer aufs feindseligste gegen Österreich, und Kaiser Leopold wandte nun seine Sorgen auf die Koalition, welche denn auch zu Pillnitz zwischen den großen Mächten Europas und den französischen emigrierten Prinzen zustande kam. Ihr Zweck war, die Greuel der Revolution zu hemmen, das Haus des Königs auf dem Throne zu erhalten und die Fortschritte der neuen Ideen auch in Deutschland soviel wie möglich zu unterdrücken. Eingeleitet waren diese Pläne; die Ruhe im Innern war ziemlich hergestellt, manches Drückende, aber auch dort und da etwas Gutes aufgehoben oder verändert. Noch wußte man nicht recht, wessen man sich zu dem neuen Herrscher zu versehen habe, als auch ihn ein frühzeitiger und schneller Tod plötzlich abrief, und der Staat, noch stets in unruhiger Bewegung von innen und außen, in diesen bedenklichen Zeitläuften von der Vorsicht in die Hände eines dreiundzwanzigjährigen Jünglings gelegt wurde.
Wohl glaubten viele, eben darum manches befürchten und nicht viel hoffen zu können. In unserm Hause herrschte ebenfalls Trauer über diesen Todfall in einer so verhängnisvollen Epoche; aber mein Herz hatte sich im stillen zu dem gleichalterigen Prinzen gewendet. [161] Ich sah in ihm das Bild der Hoffnung, und mein Gefühl sprach sich in einem Gedichte aus, das ich zum Teil bei der Leichenfeier des Kaisers Leopold an unsern Fenstern dichtete, von wo man den Zug um die Kapuzinerkirche, in der sich die k.k. Gruft befindet, sehen konnte.
Wir flehn zu Dir gleich frühverwaisten Kindern,
O tu an uns wie ältre Brüder tun!
Du kannst allein des Volkes Leiden mindern,
Du,
Du warst uns Bruder; – sei uns Vater nun!
Und Kaiser Franz wurde uns Vater, im schönsten, besten Sinne des Wortes. Meine Hoffnung hatte mich nicht getäuscht, meine poetische Vorhersagung war wahr geworden, und mit großem Vergnügen erinnere ich mich noch jetzt des lebhaften und frohen Eindrucks, den dessen Silhouette auf Goldgrund auf einer Tabatière und mit der hübschen Aufschrift
Im Sommer 1792 rückten nun die kombinierten Armeen der Österreicher und Preußen (zum erstenmal in friedlicher Vereinigung) ins Feld; an den Rhein und über den Rhein. Den ungünstigen Erfolg dieses Feldzugs kennt die Welt. Statt den König zu retten, war sein Tod beschleunigt worden, und statt die Greuel zu unterdrücken, die den Thronen den Umsturz drohten, zogen sie sie gleichsam erst recht nach Deutschland herüber, wo ohnedies schon längere Zeit vorher Freimaurer und Illuminaten diesen Ideen vorgearbeitet hatten: wie wenn sich jemand unvorsichtigerweise einer Feuersbrunst naht und von den Flammen, die er löschen wollte, ergriffen, diese im Fliehen mit sich fortträgt [162] und so das Feuer in die vorher noch ruhige Gegend bringt. Gebe Gott, daß von dieser Erinnerung gewarnt, die Fürsten Europas den unheilschwangern Vulkan in Frankreich am besten in sich selbst verglühen und sich verzehren lassen!
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Während der Krieg am Rheine begann und der unselige Brand entzündet wurde, der noch fast ein Vierteljahrhundert lang Deutschland verwüstete, hatten meines Vaters Geschäfte und auch sein Wunsch, Oberösterreich, das er zehn Jahre früher mit meiner Mutter schon einmal besucht, wieder zu sehen, die Veranlassung zu einer Reise in diese Provinz gegeben, wo meinen Eltern viele werte Freunde lebten, vor allen der Bischof Gall, eben jener würdige Priester, der mich in meiner Kindheit unterrichtet und von seinem eigenen großen Verdienst und einem glücklichen Zusammentreffen der Umstände gehoben, diesen bedeutenden Platz erreicht hatte. Kaiser Josef fand es seinem, dem Adel nicht sehr geneigten Systeme zusagend, würdige Geistliche bürgerlicher Herkunft zu solchen hohen Stellen zu erheben, die bisher dem langeingeführten Gebrauche gemäß nur Adeligen zuteil und gleichsam ihr Eigentum, auf das sie Anspruch zu haben meinten, geworden war. Mit Erstaunen, mit Freude und auch wohl mit Mißbilligung, je nachdem die Parteien gesinnt waren, wurde die Besetzung mehrerer Bischofstühle, wie des von Linz, von Brünn usw. durch Bürgerliche angesehen; aber wer Gall näher kannte, mußte sich seiner Erhebung erfreuen, die in religiöser und sittlicher Rücksicht ein Segen für das Land ward.
[163] Bischof Gall hatte meine Eltern eingeladen, ihn in Linz und mit ihm seine schöne Besitzung Mondsee (welches jetzt dem Fürsten Wrede gehört, demselben, der am Tage der Wagramer Schlacht unserer Armee den schon errungenen Sieg entriß, indem er um elf Uhr Vormittag mit seinen Bayern den bereits weichenden Kolonnen der Franzosen zu Hilfe eilte! zu besuchen. Acht Tage ungefähr lebten wir in Linz im bischöflichen Palast ein sehr angenehmes, aber etwas geräuschvolles Leben, dann trennten wir uns von meinem Vater, welcher in seinen Geschäften die Kreisämter bereiste, während wir, meine Mutter, mein Bruder und ich, nach Mondsee gingen, woselbst er uns in acht bis zehn Tagen abzuholen verhieß. Wunderschön war diese kleine Reise, auf der ich zum erstenmal in meinem Leben das Hochgebirg (denn eine Fahrt nach Mariazell, als ich sechs bis sieben Jahre zählte, hatte mir keine bleibenden Eindrücke hinterlassen) und den weit ausgegossenen Attersee erblickte. Durch tiefe Waldungen, auf ziemlich beschwerlichen Wegen, wo oft die Tannenäste auf und in unsern Wagen schlugen, gelangten wir an Sägemühlen, Hammer- und Sensenschmieden mit ihren rauschenden Wassern und dampfenden Schornsteinen vorbei, am Abend eines meist trüben und oft von mit Schnee gemischtem Regen gekühlten Tage, plötzlich aus dem Walddunkel hervor in ein weites Tal. Vor uns lag breit, klar und tiefgrün ausgegossen der Spiegel des Mondsees, und ringsum starrten uns himmelhohe Berg- und Felsenkuppen an, die ihn in ihrem sichern Schoß halten und mit Schnee bis an den Fuß bedeckt waren. So viel Schnee, solche Kälte, und der erste Juni! Das kam mir wie ein Märchen vor, und ich würde mich mehr an dieser, [164] mir, der Flächenbewohnerin, so seltsamen Abnormität ergötzt haben, wenn der Gedanke, statt der ländlichen Freuden, Spaziergänge, Wasserfahrten usw., denen ich schon im voraus entgegengesehen hatte, mich durch Schnee und Kälte auf einem einsamen Schloß im Gebirge durch mehrere Tage eingesperrt zu finden, nicht ängstigend vor meinen Geist getreten wäre.
Am andern Tage war alles anders. Aller Schnee von Höhe und Tal verschwunden, die Berge herrlich mit ihren Wäldern und Felsen und dem spiegelnden See im Frühlingssonnenstrahl, der zwar noch nicht mild erwärmte, aber doch der freien Natur zu genießen erlaubte. Was waren das für köstliche Tage in dieser wild-schönen Gegend, im Umgange mit zwar an Jahren von mir sehr verschiedenen, aber höchst gebildeten, geistreichen Männern, dem Bischof und einigen seiner Domherren, die uns begleitet hatten, und deren einer, Vierthaler, der Bruder des damals schon berühmten Professors der Geschichte in Salzburg war! Freundlich waren die Herren beflissen, uns die Zeit aufs angenehmste zu verkürzen. Wir machten Spaziergänge und Fahrten zu Land und auf dem See. Bei diesen letzten war es unterhaltend und wunderbar, den Effekt der Musik, des lauten Rufens oder wohl gar einer abgeschossenen Pistole zu beobachten, wie die vielen nähern und fernern Echos in den Gebirgen den Schall bald vollkommener, bald unvollkommener zurückgaben, und wenn das erste donnerähnliche Getöse vorüber war, alles im Schiffe still wurde, die Ruderknechte ihre Ruder in die Höhe hoben, daß ja kein Laut die Stille unterbreche, und nun nach zwei oder drei Minuten der Donner des Echos sich noch einmal, der Himmel weiß von welchem fernen Berge, hören ließ.
[165] Auf dieser Reise kam ich auch in das, damals ganz unberühmte Ischl, das aber in seiner heimlichen Lage zwischen waldgrünen Bergen, von der lautbrausenden Traun der Länge nach durchrauscht, deren Getose mich oft des Nachts in Schlummer wiegte, mir so wohl gefiel, mich so anheimelte, daß ich beinahe gewiß bin, es würde mir jetzt, wo es von Badegästen, Fremden und prächtigen Erscheinungen belebt, von Eleganz und städtischen Bequemlichkeiten verherrlicht ist, schlechter als damals vor ungefähr einem halben Jahrhundert gefallen. Überhaupt hat mir dies Ergießen der Städte hinaus aufs Land, diese Sucht, an jedem freundlichen oder romantischen Plätzchen die Komforts eines Kaffee- oder Wirtshauses aufzuschlagen, schon eine Menge hübscher Gegenden verleidet, und wie oft sind mir Schillers Worte im Wallenstein eingefallen: »Dies Geschlecht kann sich nicht anders freuen als bei Tisch.« Freilich aß und trank man damals auch; denn das ist Gebot der Natur; aber man aß zu Hause, nachdem man sich vorher auf einem Spaziergang erheitert und ermüdet hatte, oder bei einem Freunde, den man auf dem Lande besuchte, und so fand das Familien- und gesellige Leben seine Rechnung neben dem Genuß der Naturfreuden, dahingegen der Genuß in den Wirtshäusern nur die egoistische Bequemlichkeit unserer Tage und die Vergeudung des Geldes begünstigt, in denen er auch seinen Ursprung hat.
Von Ischl aus sahen und befuhren wir auch den düstern Hallstätter See, an dessen Ende man umkehren muß, weil keine Straße weiter führt, und zuletzt trug unser schwebendes Schiffchen uns über den prächtigen Traun- oder Gmundner See bis zu diesem Ort, der [166] sich, so an der Krümmung des Ufers hingebaut, wo seine besten Häuser beisammen stehen, ganz stattlich ausnimmt. Übrigens enthalte ich mich jeder Beschreibung dieser Gegenden; denn seit es Mode geworden ist, sie zu besuchen, sind sie »in Wort und Tat, in Bild und Schall« so oft gepriesen, geschildert, gemalt und von allen Seiten dargestellt worden, daß noch eine Beschreibung ganz überflüssig wäre. Das glaube ich aber behaupten zu können, daß ihre teils reizenden, teils erhabenen Schönheiten von unserer kleinen Karawane mit tieferem Gefühl aufgefaßt wurden, als es jetzt wohl bei der Mehrzahl der Ischler Kurgäste der Fall sein mag, welche nur Zerstreuung, Veränderung und das, was Mode ist, aufsuchen.
Die Masern, eine eigentliche Kinderkrankheit, die uns früher verschont hatte, ergriff jetzt plötzlich meinen Bruder, der sie sich in einem Hause geholt, wo wir für den Abend gebeten waren und wo ein krankes Kind, dessen wahres Übel wir nicht kannten oder das man uns verheimlichte, auf dem Sofa neben uns lag und sie meinem Bruder mitteilte, der ihm zunächst saß. Erst am achten Tage ergriff die Krankheit auch mich; sie war, wie bei Xaver, sehr gutartig, dennoch fühlte ich mich sehr übel, und besonders bei der Eruption, indem ich zwar nirgends am Körper einen Schmerz, aber in jedem Fleckchen der Haut ein unnennbares Unbehagen fühlte. Nach 8–10 Tagen war alles vorüber, und wir kehrten beide in die gewohnte Lebensweise unsers väterlichen Hauses zurück. Während dieser Zeit hatten unsere jugendlichen Freunde und Freundinnen uns ohne alle Scheu an unsern Betten besucht, was uns höchst willkommen war. – Sei es nun, daß die meisten diese Krankheit schon gehabt[167] hatten oder sich nicht davor fürchteten. Überhaupt erinnere ich mich recht wohl, daß dazumal (etwa die Kinderblattern ausgenommen, deren Verheerungen indessen die Inokulation schon mächtig entgegengearbeitet hatte) diese Scheu vor möglicher Ansteckung nicht so groß, so allgemein, so – ich möchte sagen, kindisch war wie jetzt, da man, wenn es nur angeht, das Haus nicht betritt, in welchem bei irgendeiner Partei eine Kinderkrankheit: Scharlach, Masern usw. herrscht, oder es kaum wagt, einen Bedienten nach Erkundigung hinzusenden. Waren wir damals unbesonnener oder weniger egoistisch?
Ich komme nun zu einem wichtigen, wohl dem wichtigsten Abschnitt in meinem Leben, zu den kleinen Ereignissen und Verkettungen scheinbarer Zufälligkeiten, welche mich zu der Bekanntschaft mit meinem Gemahl, und somit zu dem Ursprung meines Lebensglückes führten.
In dem Bureau meines Vaters arbeiteten nebst meinem Bruder noch mehrere junge Männer, welche alle von ausgezeichneten Fähigkeiten und sittlicher Würde waren, wie denn, ich darf es mit Stolz sagen, um meine Eltern sich von jeher stets ein Kreis vorzüglicher Menschen sammelte und unser Haus (der edle Heinrich von Collin sagte uns das zwanzig Jahre nachher noch oft) das Augenmerk besserer junger Leute war, die nach feinerer und höherer Bildung strebten. Auch haben die ausgezeichneten Plätze im Staate, zu welchen jene Männer späterhin meist gelangten, bewiesen, daß sie bedeutenden Wert hatten. Diese Herren waren alle genaue Freunde meines Bruders und besuchten beinahe täglich unsere Abendgesellschaften. Einer aus ihnen, der denn auch, seiner außerordentlichen [168] Geschicklichkeit sowie seiner Sittlichkeit wegen meines Vaters Liebling war, zog bald, eben durch das viele Gute, das mein Vater von ihm sprach, meine Aufmerksamkeit auf sich. Aber eine große Schüchternheit, eine Ungewohntheit, sich in den Kreisen der größern Welt zu bewegen, gaben ihm eine etwas gezwungene Haltung, und dies schadete ihm, ich muß es zu meiner Beschämung sagen, in meinen Augen im Anfange unserer Bekanntschaft. Ich glaubte wohl das Gute, das andere von ihm sagten, doch ich ließ es auf sich beruhen, ohne ihn näher kennen lernen zu wollen. Aber mein Vater suchte ihn selbst, immer mehr in unser Haus zu ziehen. Er war bei allen unsern Bällen und kleinen Unterhaltungen gebeten, und hat mir später gestanden, wie peinlich ihm dies war, da er nicht gern unter vielen Menschen sich befand, und doch auch seines Hofrats Einladungen nicht wohl ausschlagen konnte.
Allmählich nun, im often Zusammensein, fingen seine vortrefflichen Eigenschaften an, Eindruck auf mich zu machen, wozu wohl die Bemerkung beitragen mochte, daß auch ich ihm nicht gleichgültig war, und sein Gefühl, trotz seiner Schüchternheit oder vielleicht eben dadurch, sich unwillkürlich zuweilen verriet. Meine Eitelkeit war durch die Eroberung dieses vorzüglichen, und trotz seiner Steifheit sehr hübschen Mannes geschmeichelt, und obwohl nur mein Verstand und noch nicht mein Herz für ihn sprach, so war ich doch sehr zufrieden, wenn er oft kam und ich mich seines gehaltvollen Umganges sowie der kleinen Sprühfunken seiner nur schlecht verhehlten Empfindung für mich erfreute.
Ich halte es für Pflicht, bei einer Selbstbiographie ganz aufrichtig zu sein, insoweit es die Klugheit, welche [169] zwar nie eine Lüge, aber Stillschweigen gebieten kann oder die Schonung erlaubt, welche man noch lebenden Personen oder nahen Verwandten Verstorbener schuldig ist. Daher dünkte mich der Titel von Goethes Werke: Wahrheit und Dichtung aus meinem Leben, eine Art von Beleidigung für den Leser, der sich nun weder eine psychologische Beobachtung noch eigentliche Belehrung versprechen kann, weil er bei keiner Beschreibung, keiner Begebenheit oder Gefühlsäußerung weiß, ob sie sich wirklich so in Goethes Geist oder Leben zugetragen hat oder bloß von ihm zur anziehenderen Unterhaltung seiner Leser erfunden worden ist.
In dieser Ansicht habe ich mich bestrebt, in der Schilderung meines, übrigens unbedeutenden Lebenslaufes stets so vor dem Leser zu erscheinen, wie ich mir selbst bei strenger Prüfung vorkam, und so bekenne ich also, daß ich gegen den jungen Mann, von dem ich eben gesprochen, mich durch kindische Eitelkeit im Anfange unserer nähern Bekanntschaft manchmal versündigt und mich im stillen auf unerlaubte Weise daran erfreut habe, ihn oft an einem Abend mehr als einmal bald in stilles Entzücken, bald in Trauer zu versetzen, je nachdem ich ihm gütig begegnete oder einen seiner gefürchteten Nebenbuhler auszeichnete, deren er – manche wahrlich oft mit Unrecht – in den übrigen jungen Leuten zu sehen glaubte, die unser Haus besuchten.
Mein Bruder hatte um diese Zeit mit seinen Gefährten im Bureau, mit Herrn Eberl und noch ein paar jungen Männern den Plan zu einer Art von literarischem Verein entworfen, in welchem Aufsätze über mancherlei Gegenstände geschrieben, diese gegenseitig [170] vorgelesen, beurteilt und auch bei Gelegenheit Reden aus dem Stegreife gehalten werden sollten; denn die französische Revolution, das Repräsentativsystem und die öffentlichen Reden beschäftigten die Geister der meisten und gerade der bessern jungen Leute.
Der Plan war sehr lobenswert, sowie der Zweck desselben: gegenseitige Ausbildung und Vervollkommnung zu ihrer künftigen Laufbahn. Da nun bei keinem der übrigen Mitglieder das Lokal und die Umstände sich so dazu eigneten, den Platz für die Versammlungen anzubieten als bei meinem Bruder, so wurde beschlossen, die Zusammenkünfte jeden Sonnabend nach geendigten Bureaugeschäften bei diesem zu halten. Meine Mutter begünstigte gern einen Plan, der ihrem Sohn Nutzen und Vergnügen versprach, aber es verstand sich von selbst, daß die Herren nicht in unser Zimmer, sondern in das meines Bruders kamen und wir nicht dabei erschienen.
Doch konnten wir uns die kleine Befriedigung unserer Neugier nicht versagen, uns von dem Bruder manchmal die Aufsätze der Herren mitteilen zu lassen, wenn er sie zur Beurteilung bei sich hatte (was von jedem Mitglied mit jedem Aufsatz der andern geschah). Die Gegenstände der Aufsätze waren teils philosophischer, teils moralischer, teils politischer Art, und da die Gesellschaft sich gegen drei Jahre erhielt und sie sich regelmäßig jede Woche versammelte, wo dann stets einmal die Aufsätze und das nächste Mal die Beurteilungen in Gegenwart aller Mitglieder vorgelesen wurden, so kann man leicht ermessen, daß der Ausarbeitungen eine bedeutende Zahl und von den verschiedensten Arten werden mußten. Die Gegenstände wurden von den Mitgliedern nach der Reihe aufgegeben.
[171] Meine Mutter und ich hatten also einige der Aufsätze gelesen und viel Vergnügen daran wie überhaupt an der ganzen Anstalt gefunden. Allmählich stieg in mir der Gedanke auf, mich ebenfalls auf dieser Bahn zu versuchen, und ohne, wie es sich versteht, persönlich zu erscheinen, ja auch ohne meinen Namen zu nennen, über einige der Aufgaben, die meiner Fassungskraft sowie meinem Geschlecht zusagten, ebenfalls kleine Aufsätze zu schreiben. Diese übergab ich meinem Bruder, der sie nebst den seinigen vorlas, wenn die jungen Herren sich bei ihm versammelten, und ein paarmal ließ sich sogar meine Mutter herbei, ungenannterweise an dieser Geistesübung teilzunehmen. So erinnere ich mich bestimmt, daß sie über die Todesstrafen mitschrieb, eine Wahl des Gegenstandes, die schon zeigt, wie ernst und männlich ihr Geist war und worin sie gegen Beccaria sich für die Todesstrafe, aber aus dem Grunde erklärte, weil sie lebenslänglichen Kerker für etwas subjektiv viel Quälenderes und objektiv minder Abschreckendes hielt, wodurch also die Menge nicht von Begehung ähnlicher Verbrechen abgehalten und der Gesellschaft nur ein unnützes oder schädliches Glied erhalten würde.
Die Gegenstände, welche ich mir zur Bearbeitung wählte, waren die Aufgaben philosophischer oder moralischer Art, und da deren die größte Anzahl war, so war ich eine sehr fleißige Teilnehmerin, und kann wohl sagen, daß ich diesem Verein zu gemeinschaftlichen Übungen der Denkkraft und den strengen, aber meist gerechten Beurteilungen der übrigen Mitglieder einen großen Teil meiner Fortschritte in der Leichtigkeit verdanke, meine Gedanken über irgendeinen Gegenstand zu sammeln, zu ordnen und soviel möglich[172] logisch richtig und in angenehmer Schreibart vorzutragen.
Aber es sollte aus dieser Geistesübung, die nur unsere gegenseitige Ausbildung zum Zwecke zu haben schien, ein anderer und für mich viel wichtigerer Vorteil, der über das Glück meines Lebens entschied, hervorgehen. Unter den Mitarbeitern befand sich nämlich jener junge Mann, der in meines Vaters Bureau arbeitete, längst von mir mit Auszeichnung war bemerkt worden und mich zum Gegenstande einer stillen, ehrfurchtsvollen, aber innigen und edlen Zuneigung erwählt hatte. Sonderbar genug fand es sich, daß, wenn die sechs bis sieben Mitglieder jenes Vereins ihre Meinungen über denselben Gegenstand meist sehr verschieden, ja oft entgegengesetzt äußerten, Pichlers (dies war der Name jenes jungen Mannes) Aufsätze mit denen des Unbekannten (unter welcher Bezeichnung ich schrieb) in Ansicht und Beurteilung meist vollkommen zusammen trafen. Daß vorher darüber zwischen uns nicht gesprochen wurde, versteht sich von selbst; denn ich sollte ja mein Inkognito behalten; es war also wirklich Übereinstimmung der Seelen, die sich durch dieses Mittel wahrhaft und offen zeigte.
Wie sehr die Bemerkung dieses Zusammenklanges uns beiden auffallen, und wie sehr sie den Anteil, den wir bereits aneinander nahmen, erhöhen mußte, ist leicht zu erachten. Pichler wurde mir immer werter, und ich fühlte wohl, wie sehr mit seiner vermehrten Achtung für meinen Geist, auch seine Empfindung für mich lebendiger wurde. So entwickelte, vermehrte und stärkte sich unsere wechselseitige Neigung und ward zuletzt zum unauflöslichen Seelenbande, das [173] unsere Gemüter auch nach mehr als 40 Jahren treu und innig zusammenhielt.
Wohl habe ich viele Jahre darnach (1808) aus dem Munde des geist- und gemütreichen Dichters F.Z. Werner, der, als er noch Protestant und weltlich war, während seiner ersten Anwesenheit in Wien unser Haus sehr oft besuchte, eine Äußerung vernommen, welche, wenn sie gegründet wäre, bewiese, daß die Liebe, welche nur nach und nach aus Achtung und Wohlwollen erwächst, nicht die rechte, echte Liebe sei. »Diese muß«, so drückte der schwärmerische Dichter sich aus, »wie der Blitz auf einmal in zwei Herzen schlagen, sie entzündend reinigen und ewig dauern.« Ich hörte das mit an, erwiderte dann, daß ich auf diese Weise freilich nie recht geliebt hätte; dachte aber im stillen daran, wie bei Wernern selbst der Blitz, der nur einmal fürs ganze Leben entzünden sollte, zwei- oder dreimal eingeschlagen habe, und ließ den Streit auf sich beruhen. Es nimmt sich eine Sache, besonders ein Gefühl, in einem Romane oder Gedichte ganz anders aus als in der wirklichen Welt. Manches, was dort glänzt und strahlt, ist hier unbrauchbar, wo nicht gar schädlich, und manches, das sich in der Wirklichkeit unendlich beglückend und segensvoll bewährt, würde in einem Gedichte wenig oder gar keine Figur machen. So sehr ist Dichtung und Wirklichkeit verschieden, und so gefährlich ist es, die erste aus Romanen und Gedichten zur Führerin auf der Lebensbahn zu wählen, was indessen sehr vielen jungen Leuten begegnet, und vor Zeiten, wo man sentimentaler dachte, noch viel mehreren begegnet ist.
Während diese Neigung in unser beider Herzen wuchs und erstarkte, knüpften sich neben uns unter[174] den Freunden auch allerlei Bändchen und Bande an. – Unter den jugendlichen Gefährtinnen, mit denen ich am meisten zusammen kam, war mir wohl jenes Fräulein Ravenet die nächste, weil sie mir noch am längsten und genauesten bekannt, und meine eigentliche Vertraute war. Außer ihr aber schätzte und liebte ich sehr die beiden Fräulein von Mertens, Sophie und Henriette, und ein Fräulein Therese Hackher. Alle drei sehr hübsch, schön darf man wohl sagen, viel reizender als ich, aber alle drei so gut, verständig, gebildet und liebevoll, daß eine herzliche Zuneigung und gegenseitige Achtung uns verband. Mein Bruder, dieser ausgezeichnete junge Mann, entschied sich für Henrietten, deren ruhiges, anstandsvolles Betragen ihm sehr zusagte. Sophie, die ältere Schwester, viel lebhafter und geistvoller als jene, aber vielleicht minder besonnen und ruhig, wurde von einem der edelsten, besten Menschen, dem jungen Grafen Chorinsky, einem innigen Freund Pichlers und meines Bruders, und nicht dem unbedeutendsten in diesem seltenen Kleeblatt guter Menschen und treuer Freunde, geliebt; und Therese Hackher, eines der liebenswürdigsten und schönsten Mädchen Wiens, stand durch mehrere Jahre in einem sehr treuen Verhältnis mit einem vorzüglichen jungen Mann, meinem Jugendgespielen und vertrauten Freunde, dem Sohne des Hofrats Dürfeld. Diese drei Paare, sowie Pichler und ich, waren nun oft und viel beisammen; wir kannten uns alle genau, und liebten uns herzlich untereinander, und ich mag wohl sagen, Dürfeld und Graf Chorinsky waren ebenso sehr meine Freunde, als ihre Geliebten meine Freundinnen. Es war ein schönes Leben damals – das Jugendleben guter Menschen, wie Iffland[175] in der Elise Valberg so wahr sagt; wir genossen es mit Innigkeit, Treue und Mäßigung, und unsere gegenseitige Vertraulichkeit war ein schönes Band mehr in diesem Kreise.
Mein Bruder indessen löste sein Verhältnis zu Henrietten bald oder vielmehr, sie tat es. Es war ein braves, sittsames, aber heiteres und lebensfrohes Mädchen, von sehr bedeutender Lieblichkeit der Gestalt; meines Bruders Begriffe von weiblicher Würde waren hoch, ja überspannt, darf ich wohl sagen, und seine Forderungen an das Wesen, das er sich erwählt hatte, allzustrenge. Henriette hatte sich in allen Schranken des Anstandes und der Rücksicht auf den Geliebten gehalten; dennoch fand mein Bruder stets etwas in ihrem Betragen gegen andere Männer zu tadeln, und das reizte sie gegen ihn auf. Zudem glaubte sie in der Art, wie er mir zuweilen, wenn seine Strengheitsprinzipien lebhaft hervortraten, begegnete – die mich aber minder verletzte, weil ich den Bruder und seine gute Meinung genau kannte – etwas zu finden, das ihr Besorgnisse für ihr zukünftiges Glück an seiner Seite geben könnte, und so trennten sich diese beiden Herzen, die vielleicht mit etwas mehr Geduld und Nachsicht von beiden Seiten sich einander beglückt haben würden.
Lange hatte der Verbindung zwischen der schönen Therese Hackher und ihrem Freunde kein günstiger Stern geleuchtet. Meine innige Teilnahme an ihrem Schicksal sprach sich in einem kleinen Gedichte aus, welches ich ihr zu ihrem Geburtstag dichtete. Endlich ebnete später sich ihnen der Pfad, der sie zu ihrem Glücke führen sollte, und im Mai 1795 sprach der Priester den Segen über diesen Bund, den auch wir alle mit unsern besten Wünschen begleiteten.
[176] Auch dieses Ereignis feierte ich durch ein kleines Gedicht, wie denn überhaupt meine Gedichte minder freie Ergießungen eines poetischen Gefühls waren, sondern meist irgend einer Veranlassung bedurften, die den Funken in mir weckte, und das Gedicht ins Dasein rief.
Während dieser Zeit hatte Graf Chorinsky viele Mühe und Kummer um seine Liebe zu Sophien getragen. Sie war ihm nicht ebenbürtig, und so trefflich sie an Herz und Geist, so hübsch sie von Gestalt, und so gut und liebevoll gegen den Sohn auch der alte Graf gesinnt war, dennoch ließen sich, besonders damals, die Standesvorurteile oder Ansichten nicht leicht überwinden. Der Vater wollte seine Einwilligung nicht geben, der Sohn das Mädchen nicht lassen. Es war eben noch eine Liebe und Treue aus jener Zeit, wo man im allgemeinen wärmerer Gefühle und eines höhern Schwunges in den Lebensansichten fähig war.
Indessen hatte Chorinsky zum Schein sich dem Befehle seines Vaters gefügt und Sophien entsagt, die er mit seines Vaters Einwilligung nie hätte besitzen können. Wir bedauerten ihn alle recht herzlich, und gaben uns Mühe, dem unglücklichen Paar unsere wärmste Teilnahme zu beweisen. Im stillen aber währte, uns allen, selbst Sophiens Mutter und Chorinskys besten Freunden, meinem Bruder und Pichlern verborgen, diese Verbindung fort. Die Zusammenkünfte wurden mit Klugheit und Vorsicht eingeleitet. Ein gemeinsamer Freund, der gar zu gern Geistestätigkeiten dieser Art übte, wurde ins Vertrauen gezogen. Er vermittelte die geheimen Besuche, und erst lange darnach, als eben dieser allzu tätige Vertraute wegen anderer Verhältnisse Gefahr für sich selbst fürchtete, und seine[177] Mitwirkung aufgeben mußte, erfuhren wir übrigen Freunde, nicht ohne Schrecken und inniger Mißbilligung, den wahren Stand der Dinge, daß nämlich Graf Chorinsky fest entschlossen sei, sich mit seiner Geliebten auch heimlich, auch wider den Willen seines Vaters, zu verbinden.
Zu tun, abzuwarten, zu hindern war nichts mehr; das sahen seine Freunde klar ein. Man ließ also die Sache ihren Weg gehen, nachdem man beiden noch einmal allen Kummer und alle Mißverhältnisse, denen sie sich unausbleiblich durch jenen Entschluß aussetzten, vorgestellt hatte.
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Wir standen jetzt im Jahre 1794. Die französische Revolution hatte indessen alle ihre Greuel entfaltet, der König und die Königin waren ermordet, Ströme von Blut in der Hauptstadt sowohl als den Provinzen geflossen; viele bessere Herzen, die im Anfang warm für die neuen Ideen geschlagen hatten, wandten sich mit Abscheu ab, als statt der jugendlichen Göttin der Freiheit ihnen eine bluttriefende Mänade entgegen taumelte. Klopstock sandte dem Konvent das Bürgerdiplom zurück, das er früher als eine ehrende Anerkennung angenommen hatte); der edle Georg Forster, den wir bei seiner Anwesenheit in Wien oft in unserm Hause gesehen, und den meine Eltern sehr liebgewonnen hatten, war vor Gram über seine getäuschten Erwartungen in Paris gestorben. Der Krieg, den die verbündeten Mächte gegen Frankreich begonnen hatten, brachte mit den Heeren der Republik, die die Angreifenden zurückdrängten und ihnen auf dem Fuße folgten, ihre Vorstellungen von Freiheit, [178] Gleichheit, Menschenrechten usw. mit sich herüber; der Schwindel ergriff die Geister jenseits wie diesseits des Rheins und entzündete verwandte Gemüter auch in Österreich und Ungarn. Es waren geheime Verbindungen geschlossen, Katechismen der Freiheit unter den Mitgliedern verteilt, und noch sonst allerlei bedenkliche Bewegungen versucht worden, welche die Regierung aufmerksam machten. Plötzlich brach das Geheimnis hervor. In einer Nacht wurden sowohl hier in Wien als hier und dort auf dem Lande viele Personen ergriffen, ihre Papiere in Beschlag genommen, sie selbst in strengere oder gelindere Haft gebracht. Dasselbe geschah in Ungarn. Wie ein Donnerschlag aus heiterm Himmel wirkte diese Nachricht auf die lebensfrohen Wiener, die plötzlich aus ihrer Mitte eine bedeutende Zahl wohlbekannter und mit vielen befreundeter Männer gerissen, diese als Staatsverräter beinzichtigt, und einem sehr ungewissen, vielleicht schrecklichen Schicksal entgegengeführt sahen. Die Ergriffenen gehörten meist dem gebildeten Mittelstande an, es waren Beamte, Kaufleute, Advokaten, Gelehrte – mit einem Worte, jenen Kategorien, aus denen auch in Frankreich viele bedeutende Männer der Revolution hervorgegangen waren.
Im ersten Schreck wurden noch gar viele als arretiert genannt, die es nicht waren; denn die Bestürzung war groß und allgemein. Eine Kommission aus Mitgliedern des Hofkriegsrates, der Polizeihofstelle und der Justizkollegien wurde zusammengesetzt, um über die Schuldigen zu erkennen, und nachdem die Untersuchung ziemlich lange gewährt hatte, wurden einige zum Tode, andere zur Festung, wieder andere zu längerer oder kürzerer Haft verdammt, einige verwiesen.[179] Einer oder ein paar hatten sich im Gefängnisse selbst das Leben genommen. Worin ihr Verbrechen eigentlich bestanden, was sie bezweckt, wieviel ihnen davon schon gelungen, blieb stets mit dichtem Schleier bedeckt. Manche, die sehr ängstlich oder entschiedene Widersacher aller neueren Ideen waren, überzeugten sich bald von der ungeheuern Strafbarkeit dieser Verschwornen und ihren staatsgefährlichen Plänen, während andere, echte Frondeurs, denen alles mißfiel, was immer die Regierung tat, an gar keine oder nur höchst geringe Vergehen glauben wollten und der Meinung waren, man habe Schuldige finden wollen, um Schrecken zu verbreiten, und die Demokraten einzuschüchtern. Gemäßigte hielten dafür, daß zwar allerdings eine geheime Verbindung, die in Wechselwirkung mit der ungarischen unter Martinovich stand, existiert, und daß sie bedenkliche, wohl auch staatsgefährliche Absichten gehabt habe, daß es notwendig, und der Gerechtigkeit, ja der bürgerlichen Ordnung und Sicherheit gemäß war, diese nicht zu dulden und streng zu bestrafen; daß man aber doch mit zu großem Lärmen und unnötiger Strenge verfahren sei, weil einige der Hauptentdecker und Mitglieder jener Kommission sich gern recht in die Augen fallende Verdienste erwerben wollten, und daher dem Monarchen die Sache im gefährlichsten und nachteiligsten Lichte zeigten. So dachten viele, und meine Ansicht stimmte schon damals damit überein, weil ich a priori unserm Kaiser Franz keine Unbilligkeit zutrauen konnte und die spätere Erfahrung, ja das eigene Geständnis manches damals Verurteilten, und dann nach der Strafzeit wieder Freigegebenen bestätigten vollkommen diese Meinung.
[180] Von diesem Zeitpunkte an sprach sich der Parteigeist recht laut und gehässig in Wien aus. Da fing man an, die Benennung Jakobiner oft und vielmals zu hören, und mit diesem Worte wurden nicht allein jene bezeichnet, welche allerdings Grundsätze hegten gleich denen des französischen Konvents, sondern leider ward sie von den übertrieben loyalen und orthodoxen Gegnern jedem als Brandmal aufgedrückt, der nur irgendeine freisinnige Idee äußerte; c'est le mot pour perdre les honnêtes gens, wie einer unserer Hausfreunde sagte. Im Gegenteil wurde wieder von der andern Partei jeder ein Aristokrat, ein Bigott, ein Feind aller Aufklärung gescholten, der seine kirchlichen Vorschriften befolgte, seinem Herrscherhaus treu ergeben war und öffentliche Ruhe und Sicherheit wünschte. Dieser Geist der Parteiung verbreitete ich bald über alles, ja auch über die heterogensten Gegenstände. So kamen damals oder bald darnach Herr und Madame Vigano nach Wien und führten eine neue Art von pantomimischen Tanz, mit ganz neuer Art sich zu kleiden, ein. Die römischen und andern steifen Kostüms, die Reifröcke usw. usw. verschwanden vom Theater; die Natur wurde aufs treueste nachgeahmt; fleischfarbe Trikots umhüllten Arme und Beine, die Tänzer und Tänzerinnen waren kaum bekleidet; ja in dem sogenannten rosenfarben Pas de deux hatte Madame Vigano über dem Trikot, der ihren ganzen Leib umgab, nichts an, als drei bis vier flatternde Röckchen von Krepp, immer eins kürzer wie das andere, und alle zusammen mit einem Gürtel von dunkelbraunem Band um die Mitte des Leibes festgebunden. Eigentlich also war dies Band das einzige Kleidungsstück, das sie bedeckte, denn der Krepp [181] verhüllte nichts, im Tanze flogen auch oft noch diese Röckchen oder eigentlich Falbalas hoch empor und ließen dem Publikum den ganzen Körper der Tänzerin in fleischfarbem Trikot, der die Haut nachahmte, also scheinbar ganz entblößt, sehen.
Mir kam das empörend frech vor; dennoch mußte ich gestehen, daß die Bewegungen dieser Künstlerin hinreißend anmutig, ihr Mienenspiel voll Ausdruck (sie war noch überdies sehr hübsch), ihre Pantomime meisterhaft waren. Die Sensation, welche diese Frau und die Ballette, welche ihr Mann aufführte, hier machten, war ungeheuer; sie waren aber auch zugleich der Wendepunkt der alten und neuen Kunst sowie des alten und neuen Geschmackes. Scharf und gehässig trennten auch hier sich die Parteien. Der Ballettmeister Muzzarelli repräsentierte mit seiner Art und Kunst die alte Zeit, die Viganos die neue, und in diesem Sinn teilten sich die Anhänger dieser beiden Führer, nur mit der einzigen Ausnahme, daß manche ältere Herren, die sonst ihrer Geburt und Sinnesart nach sehr wohl zu den Verteidigern des Alten gehörten, Aristokraten im vollen damaligen Sinne des Wortes, den Reizen der wollustatmenden Vigano doch nicht völlig zu widerstehen vermochten und so gleichsam eine Versöhnung zwischen dem Alten und Neuen zu machen strebten.
Auch auf die Mode in der Frauenkleidung geschah jetzt eine auffallende Einwirkung. – Unsere steifen, faltenreichen Anzüge machten leichteren Formen Platz, die langen Taillen mit den Schnabelspitzen vorn und hinten verschwanden samt den Bouffants und Siebröcken, welche schon nach und nach eine Annäherung vorbereitet hatten. Der Gürtel des Kleides [182] wurde nicht mehr an den Hüften, sondern unter der Brust gebunden; der Puder wurde allmählich abgeschafft, die Hackenschuhe abgelegt, die ganze Kleidung näherte sich mehr der Natur und eigentlich dem griechischen Geschmacke, in welchem Sinne man in den folgenden Jahren immer weiter und weiter schritt, bis zu Knappheiten in der Kleidung, die kaum eine Falte übrig ließen, so daß die genaueste Bezeichnung der darunter befindlichen Körperform der eigentliche Zweck und Ruhm dieser Mode zu sein schien. Dazu gehörten denn die wirklich oder scheinbar unter Trikots entblößten Arme, entblößte Schultern, geschnürte Schuhe, die den Kothurn nachahmten, reiche Armbänder, nicht bloß am Vorderarm wie sonst, sondern über dem Ellenbogen; abgeschnittenes und in kurze Locken gelegtes oder, wenn es lang blieb, in einen Knoten am Hinterkopf geschlungenes Haar – kurz ein, soviel es möglich war, griechisierendes Kostüm.
Die Männer stutzten ihre Haare ebenfalls, kein Zopf, kein Haarbeutel, keine Seitenlocken wurden mehr gesehen; der Puder verlor sich ebenfalls, und bei vielen traten ungeheure Backenbärte hervor. Hierin aber genierten sich doch viele, und gerade die sittlichsten, geregeltsten der jungen Männer; denn so ein Schwedenkopf, wie man sie zuweilen nach den Porträten Karls XII. nannte, und ein starker Backenbart galt bei Loyalgesinnten oft für das wahre Abzeichen eines Jakobiners und mancher, der die Mode als Mode mitmachte und vielleicht ganz rechtlich gesinnt war, mußte sich mit diesem Namen brandmarken lassen, der nicht ohne übeln Einfluß auf die Gunst seiner Vorgesetzten und somit auf sein Fortkommen in der Welt blieb.
Es ist natürlich, daß die jungen Männer unserer [183] Sozietät die Einwirkung dieser öffentlichen Ereignisse ebenfalls fühlen mußten, und obwohl sie in Kleidung, Äußerungen und Betragen sich alle in den Schranken des Anstandes und der gebräuchlichen Formen hielten, so beschlossen doch diejenigen, die zu der gewissen Samstagsgesellschaft gehörten, diese nun aufzulösen, um der Regierung und öffentlichen Meinung keinen Anstoß zu geben; besonders da einer unter ihnen, Graf Chorinsky, der Neffe jenes hohen Staatsbeamten war, der sich am tätigsten in der Verfolgung der Verdächtigen und Verschwornen bewiesen hatte. Die meisten vertilgten also ihre Aufsätze sowie die Beurteilungen, besonders jene, welche politische Gegenstände behandelten und worin freisinnige Meinungen ohne Scheu, weil bloß vor Freunden, waren ausgesprochen worden. Man fürchtete damals nicht ohne Grund sogar Haussuchungen, und diejenigen, welche noch ihre Karriere in der Welt zu machen hatten, durften keinen solchen Makel auf ihren Ruf laden.
So hatten denn die angenehmen Samstagsvereine ein Ende; es tat mir ungemein leid; aber eine gute Folge war mir doch davon geblieben. Pichler und ich hatten uns einander nicht bloß genähert, sondern wirklich vereinigt. Wir liebten uns herzlich und waren ernstlich entschlossen, uns für das ganze Leben zu verbinden. Mitten unter politischen Gärungen und Dissonanzen wuchs und erstarkte die Harmonie unserer Seelen, und da meine Eltern, denen wir kein Geheimnis aus unserer Liebe machten, ihren Segen dazu sprachen, so beseligte uns ein stiller Frieden, und wir sahen mit Geduld, obwohl mit recht innigem Verlangen, einer glücklichen Wendung von Pichlers Geschick entgegen, die ihm eine Beförderung verschaffen, [184] und ihn dadurch in den Stand setzen sollte, mir seine Hand anzubieten. Er selbst besaß kein Vermögen, aber meine Eltern konnten und wollten uns gern unterstützen, und Pichlers Geschicklichkeit, Fleiß und Rechtlichkeit waren so bei allen Behörden, die zu der politischen Branche gehörten, anerkannt, daß wohl an seinem baldigen und glücklichen Fortkommen nicht zu zweifeln war.
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Der Krieg mit Frankreich ging seinen Gang mit dem bekannten Erfolge fort. Im Jahre 1795 machte Preußen seinen Separatfrieden, und ließ Österreich allein den furchtbaren Kampf fortsetzen. Dafür rückte es, unter dem Vorwande, die Gefahr jakobinischer Gesinnungen zu beseitigen, welche ihm von Polen aus drohte, mit Rußland vereint in dies unglückliche Land ein, und es ward zum drittenmal geteilt. Genau habe ich die Folge dieser, nach meiner Ansicht höchst widerrechtlichen Eingriffe in die Freiheit eines selbständigen Volkes nicht behalten. Immer aber hat mir geschienen, diese Zerstückelung und die Ungerechtigkeit, deren sich die Höfe dabei schuldig machten, sei der Giftkeim gewesen, der in dem europäischen Gemeinwesen, erst verborgen, dann immer offener wie ein Krebsschaden um sich gegriffen hat. Jene Gewaltschritte mögen wohl dem furchtbaren Eroberer zum Vorbild wie zur Rechtfertigung gedient haben, als er später, nachdem der Wille der Vorsicht das Schicksal der Nationen in seine übermächtige Hand gelegt hatte, mit Ländern und Völkern wie mit Spielmarken umging, die man heute diesem, morgen jenem zuteilen kann, um eine Weile [185] damit zu glänzen und sie bei dem nächsten Wechsel der Herrscherlaune wieder zu verlieren. Seitdem hat ein ungeheures Unglück dies bedauernswerte Land ganz um jeden Schatten der Selbständigkeit und Nationalität gebracht, den Kaiser Alexanders milde Gesinnungen ihm noch gelassen. In mir aber lebt der feste Glaube, daß es so nicht bleiben wird und kann, und die Vorsicht solche schreiende Ungerechtigkeiten nicht durch ihren Beistand sanktionieren kann. Polen wird einst, – ob bald, ob später weiß nur der Lenker unsrer Geschicke, und in der Weltgeschichte zählen ja die Jahre nur wie Tage – also Polen wird und muß sich wieder erheben, es muß wieder ein eignes, selbständiges Reich werden, das die kultivierten Staaten Europas als ein mächtiges Bollwerk gegen die Horden des nordischen Riesenreiches schirmen, den Weltteil vor einer zweiten Völkerwanderung und die Nationen germanischen und keltischen Stammes vor einer Unterjochung durch Slaven bewahre, die das k, welches in ihrem Namen ausgelassen ist, durch ihre Denkart immer mit hineinbringen, drücken, wo sie können und kriechen, wo sie müssen. Und nur dann, wenn Polen hergestellt, die Nemesis gesühnt und Recht befriedigt ist, wird auch rechte Ruhe in Europa wieder. Immer erfüllt es mich mit einer stolzen Beruhigung, daß schon vor sechzig Jahren (it is 60 years since) bei der ersten Teilung dieses unglücklichen Reiches, als Preußen und Rußland ihren schlimmen Plan entwarfen, Österreich, d.i. die Kaiserin Maria Theresia, diese wahrhaft große und christlichgesinnte Monarchin, nicht einwilligen wollte, wie ihr Billett an Fürst Kaunitz beweist, welches uns Baron Hormayr im historischen Taschenbuch bei Gelegenheit von Kaunitz Leben [186] mitteilt. »Ich fürchte, es werde ein übles Beispiel geben«, schrieb die weise Fürstin in prophetischem Geiste, und sie hatte richtig gesehen, wie der Erfolg bewiesen. Nur gezwungen gab sie endlich nach und schämte sich bitter dieser harten Notwendigkeit.
Damals also, mehr als 20 Jahre später, fiel bei der dritten Teilung das sogenannte Westgalizien mit Krakau an Österreich. Viele Beamte fanden dort Anstellungen, und Graf Chorinsky ward zum Kreishauptmann in Kielçe ernannt. Fast zu gleicher Zeit gingen auch hier große Veränderungen vor. Graf Saurau, Graf Chorinskys Oheim, wurde Regierungspräsident, mehrere ältere oder mißfällige Räte und Sekretäre wurden jubiliert, und, wie denn das so oft in der Welt geht, das Mißgeschick jener (an dem wir übrigens auch nicht die entfernteste Schuld hatten) wurde der Grund unseres Glückes.
Pichler erhielt die Stelle eines Regierungssekretärs und war durch den damit verbundenen höhern Rang und Gehalt imstande, an unsere Verbindung zu denken, da meine Eltern (um mich nicht aus ihrer Nähe zu verlieren) uns eine sehr ausgiebige Unterstützung versprochen hatten. Es wurde also eine kleine, aber sehr nette Wohnung, welche gerade an die meiner Eltern, »auf der Mehlgrube«, grenzte, und mit jener das ganze Stockwerk ausmachte, für uns gemietet, die wir im nächsten Herbst beziehen sollten. Unsere Vermählung aber war auf den Frühling 1796 festgesetzt und sollte in unserer Gartenwohnung zu Hernals gefeiert werden, wo wir auch den Sommer über leben wollten.
Chorinsky nährte dieselben Hoffnungen und Pläne wie Pichler. Auch er war entschlossen, das Mädchen, das er liebte, Sophie Mertens, zu heiraten, da aber[187] sein Vater diese Verbindung nicht zugeben wollte, sollte die Trauung ganz in der Stille sein, acht Tage vor der unsrigen, und so sahen denn wenigstens zwei Paare der Jugendfreunde froh dem Ziele ihrer Wünsche entgegen, wie vor zwei Jahren Dürfeld mit seiner Therese, nur daß leider dies Band seitdem schon wieder zerrissen worden war. Therese hatte ein überglückliches Jahr, vom Mai 1794 bis zum Juni 1795, mit dem trefflichen Gatten gelebt; sie hatte Hoffnung, bald Mutter zu werden. Wir sahen uns oft bei meinen Eltern im Garten oder auch in Theresens Wohnung in der Stadt. Gegen den Zeitpunkt, wo jene Hoffnung erfüllt werden sollte, bemerkten ich und viele, welche die junge schöne Frau sahen und Anteil an ihr nahmen, daß sich ihre Züge in etwas geändert hatten, ohne daß man eben sagen konnte, sie sehe krank aus. Erfahrene Matronen wollten daraus Besorgnisse schöpfen; aber Therese ward glücklich von einem schönen und gesunden Mädchen entbunden, die noch jetzt als Mutter von neun Kindern und Gattin des Vizepräsidenten von Hauer lebt. Indessen hatte man bei der Taufe des Kindes oder nach derselben die schöne Wöchnerin zierlich geputzt, eine Menge Besuche bei ihr eintreten lassen, und diesem, freilich verkehrten Verhalten ward es zugeschrieben, daß Therese plötzlich sehr krank wurde, ihr Übel von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag stieg, und das blühende, edle, liebenswürdige Weib, die glückliche Gattin und Mutter noch vor dem Ende der neun Tage eine Leiche war.
Ich fühlte diesen Verlust sehr tief und schmerzlich, nicht bloß um der Verblichenen selbst, sondern auch um ihres untröstlichen Mannes, meines teuern Freundes [188] willen, und ich sprach mein Gefühl in einem Gedicht aus, das dieses traurige Ereignis besang und in der Sammlung meiner Gedichte enthalten ist.
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Als mein Hochzeitstag heranrückte, den meine Eltern auf den 25. des schönsten Monats, des Mai, festgesetzt, wünschte ich, daß meine wertern Jugendfreunde daran teilnehmen und mich an diesem Tage umgeben sollten. Fräulein Ravenet bat ich, meine Kranzjungfrau zu werden, ihr Pflegevater, der Regierungsrat von Heß, wurde zu meinem einen Zeugen oder Beistand erwählt, und mein lieber Dürfeld, dem ich es kaum zuzumuten wagte, ein Jahr nach seinem unendlichen Verlust bei meiner Hochzeit gegenwärtig zu sein, übernahm doch aus freundschaftlicher Güte für mich die Stelle des zweiten. Pichlers Beistände waren der damalige Hofrat von Sonnenfels, dessen Name in Österreich in dankbarem Andenken lebt, und ein junger Baron von Lederer, der denn nun auch so gut wie die beiden älteren Beistände und Dürfeld längst schon hinübergegangen ist und die Brautleute dort erwartet, wo wir uns wahrscheinlich in nicht langer Frist alle zusammenfinden werden.
Dieser 25. Mai 1796, ein Mittwoch, war von dem herrlichsten Frühlingswetter begünstigt und in unserm Hause vom frühen Morgen an ein geschäftiges Treiben und Drängen, das mich in innerer und äußerer Unruhe und Spannung erhielt. Gegen Abend erschienen die Hochzeitsgäste und unsere nächsten Freunde und Bekannten; denn wir beide, Pichler und ich, wünschten kein rauschendes Fest, und es sollte doch eines werden! Meines Mannes Bruder, der würdige Pfarrer, [189] traute uns, und mit tiefbewegter Seele kam ich von der Trauung zurück, wo ich zwar nicht geweint, aber desto mehr gezittert hatte, wie denn überhaupt meine Tränen nicht bei jenen Anlässen fließen, die sie sonst bei meinem Geschlechte hervorzurufen pflegen, wohl aber bei Regungen und Äußerungen öffentlicher Erhebung oder Freude. So haben sie später die Landwehrlieder meines Freundes Collin und die Anstrengungen und Siege der Jahre 1813–14 reichlich fließen gemacht.
Wir waren also nach Hause gekommen, ein sehr elegantes Gouter war eingenommen, und es fing an zu dunkeln, da bemerkten einige von der Gesellschaft, die zufälligerweise an ein Fenster, welches in den Garten sah, getreten waren, daß es im Garten von Menschen wimmle, und in der Entfernung der Schein von Lichtern zu sehen sei. Meine Mutter lächelte bei dieser Bemerkung ganz geheimnisvoll; aber sie schwieg, denn sie allein wußte von der Überraschung, welche liebe Freunde uns bereitet hatten, nämlich das Fräulein von Paradis, deren unglücklicher Blindheit und ihres seltsamen Geschicks schon erwähnt worden ist. Ihr Vater war ein vieljähriger Bekannter und Freund des meinigen, Fräulein Therese, obwohl viel älter als ich, trug von jeher eine lebhafte Neigung zu mir, die ich herzlich erwiderte, und die Musik, welche sie, mit so vielem Glück als Freude, als den vorzüglichsten Trost in ihrer Lage trieb, wurde zu einem neuen Band zwischen uns. Wir hatten bereits kleine Komödien, auch einige Oratorien und Opern, meistens ohne Theater und Spiel miteinander aufführen geholfen; »Cora« und »Amphion« von Naumann und viele andere, auch einige Kompositionen von Fräulein Paradis [190] selbst; doch fand ich, daß weder ihre noch die Kompositionen des Fräuleins von Martinez (die einzigen Werke von weiblichen Kompositeurs, die mir bekannt geworden) von großem Belange waren.
Es ist überhaupt eine seltsame Bemerkung und sie möge hier stehn, weil sie eine Veranlassung gefunden hat, daß es noch nie einer Frau gelungen ist, sich als schaffende Musikerin auszuzeichnen. Es gibt glückliche Malerinnen und Dichterinnen und wenn gleich nie eine Frau es in irgend einer Kunst oder Wissenschaft so weit wie die Männer gebracht hat, so haben sie doch bedeutende Stufen erstiegen. In der Musik nicht. Und dennoch sollte man glauben, daß diese Kunst, welche die wenigsten Vorstudien erheischt und viel eigentlicher Sache des Gemüts und der Phantasie ist als die andern Künste, das rechte Organ wäre, in dem sich der weibliche Geist aussprechen könnte.
Doch ich kehre zu Fräulein v. Paradis und meiner Hochzeitsfeier zurück. Gleich nachdem jene Bewegungen im Garten bemerkt worden waren, ertönte Musik, die sich immer mehr näherte; es kam die Treppe herauf, und ein Zug ländlich gekleideter Gestalten trat, einen Chor singend, den Instrumente begleiteten, in den Vorsaal. – Alles eilte ihnen entgegen, und mit lebhaftem Vergnügen erkannte ich in den Bauern und Bäuerinnen des Zuges meine Schauspiel- und Operngefährten aus dem Paradisschen Hause. Ein Paar nach dem andern trat nun vor Pichler und mich hin und überreichte uns in kleinen Körbchen niedliche Spielsachen, die in verkleinertem Maßstabe eine ganze Hauseinrichtung vorstellten, und sangen eine Strophe des Chors, der also begann:
[191]
Wir kommen mit Gaben und Steuer,
Zu ehren die ehliche Feier,
Die heute das glücklichste Pärchen vereint;
Und scheinen gering auch die Gaben,
Die wir zum Geschenke hier haben,
So denkt nur, wir haben es redlich gemeint, usw.
Als alle vier Paare ihre Körbchen, jedes mit andern, auf den Inhalt des Korbes bezüglichen Versen übergeben hatten, wurden wir gebeten, dem Zuge in den Garten zu folgen. Hier standen am Fuße der Treppe vier weißgekleidete Mädchen, die einen Baldachin von Zweigen und Blumen hielten, unter den der Bräutigam treten und sich von ihnen führen lassen mußte. Ebenso erwarteten mich vier junge Herren mit ihrem grünen Dache, und nun strömte die ganze zahlreiche Gesellschaft uns nach durch die langen Alleen bis zu dem Platze, wo eine Art von natürlichem Theater aus lebendigen Hecken und Spalieren gebildet, ein passendes Lokal für einen Altar des häuslichen Glückes bot, an welchem Fräulein Therese v. Paradis als Priesterin der Freundschaft stand, noch andere Mitspielende in verschiedenen Attituden umher gruppiert waren (das Ganze von unzähligen Lampen geschmackvoll erleuchtet) und uns mit einem Chorgesange empfingen.
Es war ein schönes und rührendes Fest herzlicher Freundschaft, das mich damals ungemein erfreute, die Bande wechselseitiger Zuneigung zwischen uns und der Paradisschen Familie fester zuzog, und wofür ich noch jetzt, nach langen Jahren, den Manen der längstvorangegangenen Freunde einen Zoll dankbarer Erinnerung entrichte.
So ward unser Hochzeitfest, das nach unserer Meinung still und geräuschlos hätte vorüber gehen sollen, doch unvermutet durch die Mitwirkung wohlwollender [192] Freunde glänzend gefeiert, und »so vieler Geister wohlgemeintes Streben« konnte nicht anders als Segen über diese Verbindung bringen, die sich denn in dem langen Zeitraum, in Glück und Unglück als eine der zufriedensten und vergnügtesten Ehen bewährt hat.
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Wir waren vermählt und lebten mit meinen Eltern nicht bloß in einem Hause, sondern aßen auch mit ihnen an einem Tische, und machten nur eine Haushaltung aus, obgleich wir junges Ehepaar ein ganz separiertes Appartement, sowohl auf dem Lande in meiner Eltern Haus als in der Stadt, neben ihnen bewohnten. Hier sei es mir erlaubt, eine Bemerkung und Erfahrung einzuschalten, die ich an meinem eigenen – Schicksal gemacht, und dadurch angeregt, noch so oft und vielmal bei andern zu machen, Gelegenheit gehabt habe, daß ich sie wohl als untrüglich aussprechen darf. Es taugt nicht, und stört das häusliche Glück beider Teile, wenn Schwiegerkinder mit den Eltern auf eine solche Art beisammen wohnen, daß sie nur einen Haushalt ausmachen. Wenn auch Grundsätze und Lebensverhältnisse der Kinder und Eltern sich ziemlich gleichen, so bringt schon der Unterschied der Jahre und die daherrührende Verschiedenheit der Ansichten und des Geschmacks einen notwendigen Zwiespalt hervor. Überdies gibt es Eigenheiten, Angewöhnungen, Hausbräuche, die an sich völlig gleichgültig sind, aber der Schwiegersohn, die Schwiegertochter bringt solche aus dem väterlichen Hause mit, und findet hier ganz andere. Über vieles setzt sich wohl ein wohlgeordnetes Gemüt hinaus aus Liebe zu dem Gatten, aus Liebe zum [193] Frieden. Auch werden zwei junge Gemüter, sich selbst überlassen, sich leichter ineinander finden und schicken. Schroffer, kälter, starrer stehen die Ansichten der Schwiegereltern, ihre Eigenheiten dem fremden Teil gegenüber, und es kommt dann darauf an, ob die alten Leute nachgeben und in ihren späten Jahren sich eine Art von Unterordnung gefallen lassen oder ob die jungen Leute sich willenlos hingeben sollen? Immer muß ein Teil, die Alten oder Jungen, geopfert werden, und wer das Leben kennt, wird hier nicht von Nachgeben, Ausweichen usw. sprechen. Im engen Zusammenleben treten solche Verschiedenheiten grell und immerwährend hervor, und die jungen Leute müssen sehr gut sein, und sich sehr lieben, wenn sich nicht durch dies Zusammensein mit den Eltern des einen Teils ein Keim der Unzufriedenheit erzeugt, der in der Folge bittere Früchte trägt. Und hier ist nur von Verschiedenheit der Angewöhnungen, der Lebensweise die Rede. Wie aber, wenn heftige Leidenschaften, bedeutende Unarten, Zanksucht usw. bei einem oder andern der Mitglieder eines so eng verbundenen, doppelten Haushalts hervortreten; wenn große Verstimmungen entstehen und sich ärgerliche Auftritte, empörende Zänkereien daraus entwickeln? Bei uns war dies, Gottlob! nie der Fall, und dennoch machte uns dies Zusammenleben nicht glücklich. Es tötete manche unserer jugendlichen Freuden im ersten Keim und säte manchen bösen Samen, der spät bittere Früchte trug.
Hier ist wohl der Ort, wo ich nach einer glücklichen Ehe von mehr als vierzig Jahren meinem vortrefflichen Gatten den innigsten Dank für die Güte, Nachsicht, Liebe und Geduld sagen kann, mit welcher er sich durch [194] die ersten ganzen 19 Jahre unserer Ehe in ein solches schwieriges Verhältnis gefügt, und mich nie mit einem Worte oder auch nur mit einem Blicke hat fühlen lassen, wie viele Opfer es ihn gekostet, wie viele seiner und meiner besten Freuden auf diesem unerbittlichen Altar des notwendigen Zusammenlebens mit den Schwiegereltern geschlachtet wurden. Gott segne ihn dort dafür; denn nie werde ich es ihm vergelten können.
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Meine Lebensweise im Hause meiner Eltern erlitt wenig Veränderung, nur schlief ich und kleidete mich in einem andern Zimmer; denn so wie mein Mann in sein Bureau ging, und selbst wenn er zu Hause war, forderte meine Mutter alle die Dienstleistungen und Pflichten von mir, die mir als Mädchen obgelegen hatten. – Das war schon ein sehr schwerer Punkt für uns beide; denn da wir mit den Eltern auch frühstücken, zu Mittag und Abend essen sollten, blieben uns kaum einzelne Augenblicke, in welchen wir uns angehören durften. Mein Vater zeigte mehr Nachsicht und Achtung für mein neues Verhältnis, und obgleich auch er nicht auf die Leistungen und Aushülfen ganz verzichtete, welche er von mir zu erhalten gewohnt war, so fühlte ich doch wohl, daß er mir mehr Freiheit ließ. Er erkannte als Mann die Rechte seines Schwiegersohnes an, wo hingegen meine Mutter bei ihrer oben geschilderten Denkart gegen das männliche Geschlecht von keinem Rechte desselben etwas wissen wollte.
Wir fühlten wohl beide den Druck, der auf uns lag, und fühlten ihn manchmal schmerzlich, mir aber half die Gewohnheit des Gehorchens und mein heiterer[195] Sinn über manche holprige Stelle meines Lebensweges hinüber, und mein Mann liebte mich so sehr, daß er auch nicht oder nur selten sich beklagte, und so verging der erste Sommer unserer Ehe ziemlich vergnügt.
Mit dem Herbste bezogen wir unsere neue kleine, aber sehr angenehme Stadtwohnung, welche in demselben Stockwerke wie die meiner Eltern gelegen, mit der ihrigen eigentlich eine ausmachte, und zu der sie mir später noch ein daranstoßendes Zimmer der ihrigen einräumten. Voll Freuden, unser eigenes Nestchen für uns zu haben, bezogen wir es vielleicht zu früh; denn die Öfen waren noch nicht alle gesetzt, und die frisch geweißt und gemalten Wände feucht. In einer der ersten Nächte wurde ich von einer heftigen Kolik befallen, aber wenig bekannt mit Krankheiten und meiner guten Natur vertrauend, wollte ich weder meinen Mann noch unsere Magd im Schlafe stören, und erst gegen Morgen, als ich es nicht mehr vor Schmerzen aushalten konnte, weckte ich Pichler, der sogleich um den Arzt schickte. Dieser, ein treuer Freund unseres Hauses, der nachmalige k.k. Leibchirurgus v. Herbek, ein als Arzt und Mensch gleich schätzbarer Mann, erschien sogleich, erklärte meinen Zustand für entzündlich und nicht ohne Gefahr. Denselben Tag kam er noch dreimal, um nachzusehen, man wendete mit Sorgfalt und Liebe alle verordneten Mittel an, und nach einigen Tagen konnte ich bereits das Bett verlassen. Doch zeigte sich von jener Zeit an öfters eine große Reizbarkeit der Eingeweide, und ich mußte mich vor Verkühlung sehr in Acht nehmen.
Im folgenden Karneval, dem ersten, den ich als vermählte Frau zubrachte, und mich sehr wohl unterhielt, fing ich an, die ersten Anzeichen einer sehr erwünschten [196] Veränderung zu bemerken, und die Hoffnung bestätigte sich immer mehr, daß ich wahrscheinlich bis zum Herbst das Glück Mutter zu sein genießen würde. Von diesem Augenblicke an beobachtete ich mich sorgfältig, tanzte nicht mehr so viel, und befand mich übrigens sehr wohl.
Öftere kleine Unbehaglichkeiten waren alles, was ich in den ersten Monaten von diesem Zustand zu leiden hatte, und meine gesunde, kräftige Natur bewährte sich auch hierin. Desto ängstlicher wurde mir diese Zeit durch politische Vorgänge und Schrecken. Die französische Armee unter General Bonaparte rückte aus Italien immer näher heran, eine Schlacht nach der andern ging für uns verloren, und die Feinde standen endlich im März bereits in der Steiermark. Ein allgemeiner Schrecken bemächtigte sich der ganzen Hauptstadt. Die wilden Scharen der jungen Republik hatten in Deutschland und Italien auf eine Art gehaust, daß alles vor ihnen zitterte und an Flucht, Rettung und möglichste Verteidigung dachte. Dazumal erfuhren die Wiener zum erstenmal die Schrecken, welche einer Invasion vorausgehen, sie sollten jene noch einmal fühlen, bis endlich die Wirklichkeit ebenfalls zweimal im Jahre 1805 und 1809 eintraf, und uns lehrte, was bei so vielen großen Übeln der Fall ist, daß Erwartung, Angst und aufgereizte Phantasie uns das wirkliche Unglück ungebührend vergrößern, daß die Furcht etwas Ansteckendes hat, daß sie sehr oft die Vernunft ausschließt, und daß die böse Wirklichkeit leichter zu ertragen ist, als die grundlosen Schreckbilder, welche die Angst in uns aufregt.
Was wurde damals im Frühlinge 1797 nicht alles erzählt, gefürchtet und mit dem verkehrtesten Sinn entworfen [197] und ausgeführt! Alles wollte fliehen; alles nur fort, nur fort aus der, von allen möglichen Schrecken bedrohten Stadt! Wie schlecht die Wege, wie schwer die Pferde zu haben, wie elend die Unterkunft auf den überfüllten Poststraßen nach Böhmen und Ungarn sein mochten; was den Geflüchteten an den, zum Aufenthalte erwählten Orten bevorstehen konnte, wenn der Sieger seine Eroberungen verfolgen, sie vielleicht auch von jenen Zufluchtsstätten vertreiben würde, und sich dann ohne Geld, ohne Schutz, unter Fremden befänden, – das alles wurde nicht bedacht. Man wollte nur fort, und die unsinnigsten Erzählungen fanden Glauben, wenn sie zu der ruhelosen Angst stimmten, die damals die Bevölkerung von Wien großenteils ergriffen hatte. Wir haben in unserer Zeit bei der ersten Annäherung der Cholera eine zweite Erfahrung dieser Art gemacht, und auch sonst sehr vernünftige Menschen kopflos, verderblich und oft lächerlich handeln gesehen, wenn es anders erlaubt wäre, über etwas, was andere quält, zu lachen.
Indessen muß man zur Entschuldigung der damals Lebenden auch sagen, daß die Sachen um uns herum ernst und drohend aussahen. Es wurden Anstalten zur Verteidigung der Stadt gemacht, und im Anfange davon gesprochen, die Linien zu verteidigen. Als aber erfahrene Militärs aussprachen, daß, um diesen weiten Umkreis zu beschirmen, eine Besatzung von 150000 Mann nötig sein würde, so gab man den Plan auf und wollte sich auf die innere Stadt, die eigentliche Festung beschränken. Ein Aufgebot aller waffenfähigen Mannschaft in der Stadt und den Vorstädten wurde beschlossen, und diese dazu in verschiedene Bezirke eingeteilt. Die jüngern Beamten der Landesregierung[198] wurden zur Organisation dieser Scharen verwendet, und auch meinem Mann ein Bezirk, nämlich die Jägerzeile, angewiesen. Während alles dies uns in steter ängstlicher Bewegung aufregte, erhielt mein Vater Befehl, sich mit den Zöglingen des k.k. Theresianums, dessen Oberleitung ihm damals anvertraut war, von Wien wegzubegeben, um die Söhne der angesehenen Häuser, die sich in jener Anstalt befanden, nicht den Gefahren eines feindlichen Überfalls preis zu geben. Erwünscht erschien meinen Eltern diese Gelegenheit, um sich mit ihrer Familie dieser Reise anzuschließen, und ich war zu gewohnt, meinen Eltern in allem unbedingt zu gehorchen, als daß ich es gewagt hätte, zurück zu bleiben und mich im Zustande der Schwangerschaft den Schrecken und Gefahren auszusetzen, welche, wie doch die Mehrzahl der Wiener befürchtete, uns bei der Eroberung der Stadt durch die Truppen der damaligen Republik drohten.
Es wurde also in einem Familienrate beschlossen, daß ich mit meinen Eltern nach Dürnholz (einem Schlosse an der mährischen Grenze, welches dem Theresianum gehörte) reisen sollte, und mein Bruder vermochte meine Eltern dahin, auch seine Geliebte und künftige Braut, ein Fräulein v. Kurländer, die Tochter einer mit uns durch alte Freundschaftsbande verbundenen Familie, mitzunehmen, um auch sie vor den möglichen Gefahren, die sich ereignen konnten, zu sichern. Freilich mußte ich mich nun von meinem Manne trennen, und das tat mir unendlich leid; aber ich glaubte in dem ausgesprochenen Befehl meiner Mutter ein Gebot zu sehen, wider welches keine Appellation stattfand; und so trat ich denn mit recht schwerem Herzen diese an sich freilich unbedeutende Reise an, die unter andern [199] Umständen allerlei Angenehmes und selbst Komisches hätte haben können.
Auf bequem eingerichtete, lange Wagen, nach Art der »Zeiselwagen«, wurde eine ziemliche Anzahl junger Leute, wovon viele noch im Knabenalter standen aufgepackt; bei weitem nicht alle Zöglinge, denn diejenigen, für die ihre Eltern sorgen konnten und wollten, wurden ihnen übergeben. Einige Patres Piaristen (welchen das Theresianum damals wie einst den Jesuiten übergeben war) begleiteten sie. Dann folgten unsere beiden Kutschen, mit unsern eigenen Pferden bespannt, und so bewegte sich der Zug ziemlich gemächlich und langsam auf der Brünnerstraße fort und wir erreichten unser Ziel, das mit Postpferden kaum eine Tagereise weit war, erst am folgenden Tag.
Ein altertümliches Schloß, einst ein Besitztum des letzten Barons von Teuffenbach, der es zu einer Stiftung bestimmt hatte, nahm uns auf. Wir bewohnten ein paar hohe, große Stuben, deren weiße Wände und wenige Möbel keine großen Bequemlichkeiten versprachen. Die Zöglinge des Theresianums mit ihren Hofmeistern waren auf einem andern Flügel einquartiert und nur die zwei angesehensten der geistlichen Herren aßen mit uns an demselben Tische. Es gestaltete sich ein, im Ganzen ziemlich angenehmes Leben, obwohl die unbedeutende, flache Gegend, welche erst kürzlich von der, hier in der Nähe fließenden Thaya war überschwemmt worden, und auf Feldern und Wiesen noch genug Spuren davon in Schlamm, Sumpf und toten Fischen zeigte, verbunden mit der frühen Jahreszeit im Anfange des April wenig ländliche Freuden bot. Aber die beiden Geistlichen waren gebildete, welterfahrene Männer und meine Eltern sowohl als [200] wir jungen Leute fanden in ihrer Unterhaltung, in Lektüre, Arbeit und einigen Spaziergängen Stoff genug, unsere Zeit leidlich zu verbringen. Aber mein Herz war nicht ruhig. Mir standen die Gedanken nach Wien zu meinem Manne, und je länger unser Aufenthalt in Dürnholz dauerte, je unbestimmbarer seine Dauer überhaupt und unsere ganze prekäre Lage war, je schwerer wurde mir die Trennung von Pichler. Mich überfielen düstere Einbildungen, die ich für sichere Ahnungen hielt, daß ich hier in Dürnholz krank werden und fern von meinem Manne sterben würde, ohne den Trost, in seinen Armen mein Leben zu endigen und ohne die Freude, mein Kind zu gebären. Vielleicht war dieser körperliche Zustand, verbunden mit dem natürlichen Weh der Trennung, die sehr begreifliche Ursache meiner melancholischen Vorstellungen, die ich indessen niemand, selbst nicht den Briefen an meinen Mann anvertraute und nur mit gespannter Angst auf jede Nachricht von Wien wartete, die uns über die Lage der Dinge, das Vorrücken der Feinde und die Anstalten, welche in Wien getroffen wurden, etwas Zuverlässiges berichten konnte.
Beinahe vierzehn oder noch mehr peinliche Tage waren auf diese Art für mich langsam dahingeschlichen. Meines Mannes Briefe waren meine einzige Freude. Aus ihnen schöpfte ich den nächsten Trost, daß es ihm wohl ging und er gesund war; aus ihnen auch den entferntern, daß sich Friedensgerüchte in Wien zu verbreiten anfingen, und General Bonaparte, der mit seinen sieggewohnten Scharen bis Leoben gedrungen war, sich zu friedlichen Unterhandlungen geneigt zeige und man hoffen dürfe, die Präliminarien bald abgeschlossen zu sehen. Das war eine freudige[201] Botschaft für alle; aber vielleicht unter unserer Gesellschaft für niemand mehr als für mich; denn nieman von uns hatte etwas so Liebes in Wien zurückgelassen als ich.
Wirklich kam die Nachricht von diesem Abschluß der Präliminarien bald mit Zuverlässigkeit, und ein Brief meines, nun auch schon lange verstorbenen Schwagers Schweiger, der damals Konsistorialkanzler des Bischofs von Leoben war, meldete uns noch die genauern Details und manchen interessanten Zug von dem jugendlichen Helden, dessen Ruhmes-Morgenröte eben über Europa zu leichten begann, und der den Lorbeer, welcher damals seine Schläfe schmückte, noch mit keiner Ungerechtigkeit und Gewalttat befleckt hatte. Überhaupt hatte er sich in Leoben und Göß (dem eigentlichen Sitze des Bischofs) viele geneigte Herzen erworben und ein rühmliches Andenken an seine Gegenwart hinterlassen, das noch lange zu seinen Gunsten nachwirkte. Der Bischof (ein Graf von Engl) empfing ihn bei seiner Ankunft ehrfurchts-, aber auch angstvoll; Kränklichkeit und Alter hatten dem Greise nicht erlaubt, sich, wie es andere getan, vor der Ankunft der Franzosen zu entfernen. Bonaparte begrüßte ihn mit Anstand und der freundlichen Bemerkung, daß er sich sehr freue, ihn auf seinem Bischofssitze anzutreffen; er sei wirklich der einzige seiner Kollegen, den er bis jetzt zu Hause gefunden. Auch entsprach das nachfolgende Betragen des jungen Helden ganz diesem ersten Anfange; denn er benahm sich mit beinahe kindlicher Schonung gegen den Greis, und ritt nie aus oder kam nie nach Hause, ohne seinen Wirt ehrerbietig zu begrüßen.
In einem Pavillon des Schlosses Göß, in der Nähe von [202] Leoben, der als ein neutraler Ort erklärt wurde, versammelten sich die Abgesandten unsers Kaisers und die französischen Machthaber, die Präliminarien wurden unterzeichnet, und die Tinte, welche dazu gebraucht worden war, nach einer sonderbaren Etikette, sodann auf den Boden geschüttet, wo man mir nach acht Jahren, als ich dahin kam, noch das schwarze Mal zeigte.
Es war also, wenigstens für jetzt, Waffenruhe, Wien hatte nichts von der Annäherung der Feinde zu fürchten, welche sich bald darauf aus Steiermark zurückzogen, und wir durften mit den, meines Vaters Obhut anvertrauten jungen Leuten wieder nach der Residenz zurückkehren. Nun war ich wieder glücklich; wir brachen auch bald auf, und mit Entzücken umarmte ich meinen Mann, der uns, von unserm Eintreffen benachrichtigt, schon jenseits der Donau in den Auen entgegen kam. Freudig kehrten wir in unsere kleine, heimliche Wohnung zurück, aber eine neue Sorge begann sogleich, denn Marie, die Braut meines Bruders, welche uns nach Dürnholz begleitet hatte, befand sich schon den Abend vor unserer Abreise unwohl, kam noch viel kränker hier an und lag mehrere Wochen hindurch an einem bedeutenden hitzigen Fieber darnieder.
Die militärischen Vorkehrungen, welche schon vor unserer Abreise begonnen, waren während derselben fortgesetzt worden, indem wirklich einige ausgezeichnete Militärs (unter andern General Mack) an die Möglichkeit einer dauernden Verteidigung geglaubt hatten, und ein gewisser General Zopf oder Zapf, der mit dem Kommando in der Stadt beauftragt war, sich geäußert hatte, er werde die Wiener schon lehren, Pferdefleisch essen; die Stadt trug wirklich bei unserer Zurückkunft noch manche Spuren dieser Anstalten und sah [203] etwas verändert aus. Aber bald verschwand dieser fremdartige Schein, der denn auch, nach der Meinung aller vernünftigen, vorurteilslosen Menschen, nur ein Schein war, und keine Realität und Dauer haben konnte, wenn es wirklich zu einer Belagerung oder nur zu einer kurzen Verteidigung kam, wie es die Erfahrung im Jahre 1809 bewies. Am 17. April wurde das ganze Wiener Aufgebot, welches ziemlich zahlreich, und, wie man allgemein bemerkte, von einem guten Geiste beseelt war, auf dem Glacis aufgestellt und feierlich entlassen, wobei denn jede Abteilung von ihren Kommissären mit einer kleinen Rede haranguiert wurde, und auch Pichler eine recht hübsche an seine Truppe von der Jägerzeile hielt.
So hatte denn unsere Angst und Not für diesmal ein Ende, und ich fing sogleich eine Beschäftigung ganz anderer Art an, nämlich die Vorbereitungen für den Empfang des unbekannten, teuren Wesens, das ich erwartete, und das, meiner Rechnung zufolge, etwa in der Hälfte des Oktober erscheinen sollte. Der Sommer war sehr trocken und sehr heiß, ich fühlte das durch meine körperliche Lage doppelt, doch war ich im ganzen sehr wohl und hatte eben keine großen Beschwerden zu ertragen. Dennoch betrachtete ich den Zeitpunkt, welcher mir bevorstand, mit sehr ernsten Blicken, und gewohnt, den Gedanken an den Tod mir oft zu vergegenwärtigen, entwarf ich, wenige Wochen vor meiner Entbindung, mein Testament.
Mit Ende des Septembers verließen wir unsere Gartenwohnung, um die bevorstehende Katastrophe in der Stadt abzuwarten, und diese erfolgte denn unter sehr glücklichen Umständen am 11. Oktober 1797 spät gegen Mitternacht, nachdem ich schon die vorhergehende [204] Nacht sehr unruhig zugebracht hatte. Denn zu den körperlichen Vorempfindungen, welche mir den Schlaf verkümmerten, gesellte sich auch noch eine moralische Angelegenheit, die mir die Ruhe nahm, und das war, so seltsam dies klingen mag, das Schicksal des Generals Lafayette.
Dieser Mann war von seinem ersten Auftreten in der Revolution von 1789 an, durch sein Benehmen in der Nationalversammlung (wo er einer der ersten seine Adelsvorrechte und den wohlerworbenen Ruhm seiner Ahnen willig auf dem Altar des Vaterlandes opferte), auf dem Marsfelde, bei der Flucht des unglücklichen Königs, kurz bei jeder Gelegenheit mir so groß und edel erschienen, daß er meine ganze Bewunderung erworben hatte, und wahrlich, sein Lebenslauf und die Weise, wie er nach vierzig Jahren wieder als Retter und Schirmer des Vaterlands auftrat, hat meine Ansichten vollkommen gerechtfertigt. Damals nun war die Nachricht von seiner höchst unbilligen Gefangennehmung und Einkerkerung in Olmütz entweder erst in Wien oder wenigstens mir bekannt geworden. Genug, sie beschäftigte meine Einbildungskraft unaufhörlich, und Lafayette, seine Frau, die ihn begleitete oder besuchte, und überhaupt seine Lage auf der unfreundlichen Festung war in der Nacht vor meiner Niederkunft das Bild meiner Träume und der Gegenstand meiner wachen Gedanken.
Aber die Erscheinung eines gesunden, wohlgebildeten Töchterchens, die Leiden und Freuden, die Unruhe und Geschäfte, welche eine solche Epoche begleiten, löschten wenigstens für den Augenblick Lafayettes Andenken in meiner Phantasie aus, und ich war ganz glücklich und beruhigt im Besitz des lieben, kleinen Wesens, [205] das ich selbst zu stillen beschlossen hatte und es auch sogleich ausführte. Die Kleine bekam den Namen ihrer Mutter und Großmutter und hieß Karoline wie wir.
Mein Wochenbett war glücklich und wäre auch vergnügt gewesen, wenn nicht ein häusliches Mißverständnis den Frieden meiner Eltern, hierdurch die Laune meiner Mutter und folglich die Heiterkeit unsers Zusammenlebens gestört hätte. Ich habe schon erzählt, daß mein Bruder seine Neigung einem Fräulein von Kurländer zugewendet hatte, ein Mädchen von unstreitig vielen vorzüglichen Eigenschaften, deren Wuchs majestätisch, deren Anstand edel, ihre Gesichtszüge aber nicht schön und ihr Betragen nicht gewinnend waren. Unter uns Mädchen hatte sie keine eigentliche Freundin oder Vertraute gefunden. Es lag etwas Kaltes, Stolzes in ihrem Benehmen, und so fein und artig ihr Umgang war, fühlten wir uns doch nicht befriedigt in ihrer Nähe. Meinem Bruder gefiel sie außerordentlich. Ihr edler Anstand bezauberte ihn, ihre Kälte gegen die übrigen verhieß ihm eine ausschließende Wärme für ihn, und je weniger sie sich den andern mitteilte, je fester und unumschränkter hoffte er in ihrem Herzen zu herrschen. Wir übrigen konnten seine Überzeugung nicht teilen; wer aber von uns recht behalten hätte, das hätte nur die Zeit entscheiden können, und hierzu lebte die arme Marie nicht lange genug. Doch ich darf meiner Erzählung nicht vorgreifen.
Auch meine beiden Eltern, obwohl sie keine bestimmte Einwendung gegen das Mädchen machen konnten, freuten sich dieser Schwiegertochter nicht sehr, und auch hierin war ich glücklicher gewesen als mein Bruder; denn meine beiden Eltern, vorzüglich aber mein Vater, waren ganz zufrieden, ja vergnügt durch meine [206] Ehe. Endlich aber erhielt mein Bruder doch die Einwilligung zu seiner Vermählung, und nun kam es darauf an, in unserer Wohnung in der Stadt sowohl als auf dem Lande eine Möglichkeit auszumitteln, damit wir beide junge Paare, ohne den Eltern eine neue Ausgabe aufzubürden, in demselben Quartiere mit ihnen wohnen könnten; denn ohne eine großmütige Unterstützung von Seite meines Vaters hätten weder Pichler und ich, noch mein Bruder mit Marien anständig leben können. Hier nun traten große Schwierigkeiten ein. Meine Mutter trug auf Einschränkungen an, die meines Vaters Hang zu geselligen Freuden und einem gewissen Glanz seines Hauses sehr zu beschränken drohten. Er versagte seine Zustimmung, es gab unangenehme Auftritte und die Heiterkeit und Ruhe unseres häuslichen Lebens war sehr dadurch gestört. Ich ertrug das in meinem Wochenbette gar ungern, es verbitterte mir meine Mutterfreuden, und so gab ich mir alle erdenkliche Mühe, um hier eine Auskunft, welche alle Parteien zufrieden stellen konnte, wenigstens für den Aufenthalt auf unserm Landhause, zu ersinnen. Ich überlegte, ich verglich, ich rechnete und fand endlich, daß mit einer ziemlich geringen Summe ein Teil der Wirtschaftsgebäude, der überflüssig geworden war, zu einer kleinen, aber niedlichen Wohnung für meinen Bruder umgeschaffen werden könnte. Meine Eltern und wir behielten unverändert die Zimmer, welche wir jetzt in dem Landhause inne hatten, alles war in einem Hause vereinigt, und da der Bau nicht kostspielig sein konnte, alle Wünsche befriedigt. Diesen Vorschlag trug ich denn meinen Eltern und dem Bruder vor, er wurde geprüft, genehmigt, und ich sah nach ungefähr vierzehn recht trüben Tagen wieder heitere Gesichter [207] und gute Laune um mich – eine Lebensbedingung, die mir von jeher Bedürfnis meines eigenen Glückes gewesen und es fortwährend geblieben ist; mich aber dadurch oft sehr abhängig von denen gemacht hat, deren guten Willen ich mit Opfern zu erkaufen bereit war.
Auch in dieser Angelegenheit erprobte sich, was ich seitdem so oft in meinem langen Leben durch Erfahrung bestätigt gefunden habe: wie kurzsichtig unser Blick in die Zukunft ist, wie oft wir uns ohne Not mit Sorgen quälen, deren Abwendung dann gar nicht mehr statt hat, und wie manchen Kummer man sich ersparen könnte, wenn man, nach den eigenen Worten des Heilands, nicht immer für den kommenden Tag sorgen, sondern jedem Tag seine eigene Sorge überlassen wollte.
Der Bau in unserm Landhaus in Hernals war also beschlossen und die streitenden Parteien befriedigt. Ruhe und Heiterkeit kehrte in unsere Familie zurück, mein Kind gedieh an meiner Brust, und ein paar Monate vergingen ganz angenehm. Der Fasching war mittlerweile herangekommen; mein Mann, mein Bruder, seine Braut und meine übrigen Gespielinnen genossen seine Freuden, mich schloß meine Pflicht als Amme von diesen Unterhaltungen aus, die ich nur mit großen Einschränkungen hätte genießen können, und ihnen daher lieber ganz entsagte. Aber noch im Laufe des Karnevals fing mein guter Vater an, zu kränkeln. Es war dem Anscheine nach nur sein gewöhnliches Übel, Heiserkeit und Husten, aber es zeigte sich so hartnäckig, es sanken die Kräfte des Leidenden so merklich bei einer an sich unbedeutenden Krankheit, daß dies alles uns sehr aufmerksam und besorgt machte, und der Arzt, eben jener Dr. Herbek, ein Schüler des großen [208] Stoll und unser Hausfreund, jetzt beinahe täglich erschien, um nach dem Papa zu sehen.
Die Hochzeit meines Bruders war auf den nächsten Frühling festgesetzt, und im Hause der Eltern der Braut, so wie in dem unsrigen, wurden bereits Voranstalten getroffen. Aber meines Vaters Kränklichkeit und zunehmende Schwäche breitete einen düstern Schleier über diese herannahende Verbindung, und wahrlich, das Schicksal dieser Ehe hielt der düstern Stimmung Wort, in welcher sie bereitet und vollzogen wurde!
Auf eine wunderbare, aber uns alle sehr beunruhigende Weise fing meines Vaters Geschmack und Sinnesart an, sich in dieser Periode ganz zu verändern. Was ihm früher und noch bis vor wenigen Wochen sehr angenehm, ja sein liebster Wunsch und sein Streben war – nämlich stets viele Leute um sich zu sehen, wurde ihm jetzt lästig, ohne daß er doch über ein bestimmtes körperliches Leiden zu klagen gehabt hätte, ja ohne weder das Bette noch das Zimmer hüten zu müssen. Er fuhr selbst noch oft aus, und wenn er auch sein Bureau nicht mehr so fleißig besuchte, so zeigte er sich doch bisweilen dort oder arbeitete zu Hause mit seinem Personal und machte hier oder dort einen Besuch. Ebenso fing der Kaffee, sonst sein Lieblingsgetränk, von dem er täglich eine, vielleicht für seine Gesundheit zu große Portion zu sich nahm, an, ihm zu widern, und diese auffallende Umstimmung war es, welche uns alle beunruhigte und, wie der Erfolg zeigte, leider mit Recht. Denn wie allmählich der Frühling herannahte, alles Leben in der Natur erwachte, alles neu zu erstehen und Kraft zu gewinnen anfing, nahm nur meines teuren Vaters Kraft und Leben täglich[209] mehr und mehr ab, und doch war, wie schon gesagt, keine eigentliche Krankheit bei ihm vorhanden, welche ein so schnelles und gänzliches Hinwelken hätte begreiflich machen können. Ja sein Geist war ganz heiter, und eine seiner liebsten Unterhaltungen war es nun, wenn ich ihm vorlas; denn auch die Musik, ehemals seine Lieblingsleidenschaft, war ihm gleichgültig geworden, und wenn es ihm auch nicht zuwider war, wenn ich neben seinem Zimmer wie sonst spielte oder sang, zog er es doch vor, lesen zu hören.
Gegen den Anfang des Maimonats erklärten die Ärzte plötzlich, es wäre sehr heilsam, wenn mein Vater sogleich aufs Land gebracht würde, und wir sollten daher, sobald wir könnten, unsere Gartenwohnung beziehen, wo die reinere Luft günstig auf den Kranken wirken werde. So willkommen mir jeden Frühling der Ruf tönte, daß wir aufs Land gehen würden – denn ich war nie gern in der Stadt und kehrte jeden Herbst mit Widerwillen dahin zurück – so schien mir, bei der Unstetigkeit unseres Frühlingswetters und der größeren Luftigkeit einer Sommerwohnung, dieser Befehl doch ein bißchen zu voreilig. Damals nämlich, wo die Menschen minder empfindlich gegen Rheumatismus, Luftzug oder gähe Abwechslungen der Temperatur waren, fiel es niemand ein, so wie jetzt fast allgemein, die Landhäuser wenigstens mit einigen Öfen und allenfalls auch mit Doppelfenstern zu versehen, ebensowenig als man in der Stadt oder den Vorstädten alle Treppen, Vorhäuser oder Korridors mit Glasfenstern und Türen zu verwahren und die Wohnungen so kompakt zu machen, wie jetzt geschieht, bedacht war. Ein offener Gang, auf dem man im Winter durch den Schnee hindurch mußte, eine Treppe, ein Vorzimmer, das dem [210] kalten Luftstrom ausgesetzt war, fiel niemanden beschwerlich, und man bemerkte diese Unbequemlichkeiten entweder gar nicht oder ertrug sie als etwas, was nicht zu ändern war, mit Gleichmut.
In unserm ganzen, sehr geräumigen Landhause, in dem man wohl über zwanzig Zimmer zählte, war nur ein Ofen, und dieser mehr aus Vergeßlichkeit oder um sich keine Ungelegenheit mit dem Abbrechen zu machen, als aus Bedürfnis stehen geblieben. Das Kabinett, in dem mein Vater schrieb und in den letzteren Jahren seines Lebens auch schlief, lag gegen Norden, genoß zwar der schönsten Aussicht über Felder und Weingärten bis zum Gebirg, war aber eben deswegen der Kälte sehr ausgesetzt. Indessen ging es die ersten Tage unseres Aufenthalts noch leidlich. Mein Vater fühlte sich etwas besser; hoffen konnte ich nicht, denn die Abnahme der Kräfte war zu sichtbar und zu schreckend; aber es wurde doch möglich, an meines Bruders Vermählung zu denken, welche auf den 10. Mai bestimmt war. Welches traurige Fest!
Es wurde, wie natürlich, im Hause der Braut, aber sowohl des Zustandes meines Vaters wegen, als auch weil beide Verlobte keine Freude an rauschenden Vergnügungen hatten, ganz in der Stille gefeiert. Ach! noch jetzt, nach so langen, langen Jahren, schwebt mir dieser Tag und das Bild meines Vaters, dessen gesticktes Galakleid und stattlicher Hochzeitsputz einen noch schmerzlichern Gegensatz mit seinem kranken, hinfälligen Aussehen bot, vor Augen. Mit Anstrengung brachten wir ihn in den Wagen, von da in die Kirche und endlich ins Hochzeitshaus, wo wenige Freunde nebst uns versammelt waren, und der Abend bei einem zwar sehr glänzenden Gouter, aber in der Vorahnung [211] dessen, was uns allen nahe drohte, trüb und still verfloß. Dieser trübe Hochzeitstag war gleichsam der Vorbote eines noch trübern Schicksals dieser Ehe, und zwei gute, sich liebende Menschen, die von diesem Tage das Glück ihres Lebens mit gerechten Hoffnungen erwarteten, sollten beide in wenigen Jahren – doch ich will der Zukunft nicht vorgreifen.
Mein Bruder war nun nach seinem Wunsche vermählt, er bezog das kleine, niedliche Quartier, was meine Eltern ihm nach meinem Vorschlag aus einem Teil der Wirtschaftsgebäude hatten zurichten lassen, und wir hätten wohl alle vergnügt und still neben einander leben können, wenn nicht meines Vaters immer mehr sinkende Gesundheit diese häusliche Zufriedenheit zerstört hätte. Bisher hatte er es vermocht, die Treppe hinab in den Garten zu gehen, bald aber erlaubten dies die schwindenden Kräfte nicht mehr, und unglücklicherweise trat, wie ich es gefürchtet hatte, eine jener gähen Witterungsveränderungen ein, die bei uns wohl das ganze Jahr hindurch nicht selten, im Frühling aber sehr gewöhnlich sind. Es kam anhaltendes Regenwetter mit kalten Stürmen, wir wußten uns nicht zu helfen, um des Vaters Kabinett und ihn selbst hinlänglich mit Flaschen von heißem Wasser, Wachholderfeuer usw. zu erwärmen. Diese schädliche Einwirkung der äußern Kälte offenbarte sich nur zu bald. Zwar hörte der Regen und mit ihm der Frost auf, die Sonne schien wieder hell und warm, aber mein Vater welkte sichtlicher dem Grabe zu, und am 2. Juni verschied er sanft, fromm und liebend für uns alle besorgt, wie er gelebt hatte!
Fußnoten
1 Vielleicht machte der Umstand, daß dies Regiment den Namen des Geschlechts der Kaiserin Elisabeth, der Mutter Theresias trug, sie demselben geneigter.
2 Ein ziemlich naher Verwandter und Landsmann des Dr. Gall, des Kranologen.
3 Jene oben Seite 35 angeführten Verse wurden einige Jahre später gemacht.
4 In der Schreibweise des Originals.
5 In Vossens Luise.
6 Walter von Montbarry.
7 Stellen aus Youngs Nachtgedanken.
8 In Blumauers Äneis.