Caroline Pichler
Denkwürdigkeiten aus meinem Leben
1769–1843

Erster Band

Erstes Buch 1769-1798
[1] Erstes Buch
1769–1798
[1][3]

Dem Ende einer langen Reise nahe, deren letztes Ziel undurchdringliche Wolkenschleier noch vor dem Blicke verbergen, steht der Wanderer atemholend still, überdenkt den weiten Raum, welchen er schon zurückgelegt, den kleinen Rest, welcher noch zu durchlaufen ist, erwartet diesen, er mag nun länger oder kürzer sein, vertrauensvoll aus Gottes Hand, und erlaubt sich, die einzelnen Punkte jener langen Bahn, vom Anfange her, so getreu es sein Gedächtnis gestattet, sich zurückzurufen. Manche Erinnerung wird ihn beschämen, einige werden ihn erfreuen, alle aber sollen dazu dienen, ihn zum Danke gegen die Vorsicht, die ihn mit väterlicher Huld geleitet, anzuregen, und dann den nächsten Lieben, welche er noch in Mitte ihrer Bahn zurückläßt, ein Andenken an den vorausgegangenen Waller zu werden.

Erwarte ja niemand in diesen Blättern merkwürdige Vorfälle, sonderbare Schicksale, oder hervorragende Punkte der allgemeinen Geschichte des Vaterlandes zu finden, an welche das Leben der einzelnen sich oft kettet und, von jenen mächtigen Fittichen getragen, der Erinnerung ferner Zeiten zueilt. Mein Leben war höchst einfach, und Gellerts Vers:


– er ward geboren,

Er lebte, nahm ein Weib, und starb;


umschreibt im eigentlichsten Sinne den ganzen Kreislauf meiner Schicksale. Diese Armut an jedem hochwichtigen Ereignisse, an jeder bedeutenden äußeren Bewegung ist mir nie lästig oder als eine Ungunst des [3] Schicksals vorgekommen, vielmehr habe ich von jeher mein wahrstes Glück in der Stetigkeit und Gleichförmigkeit meiner Verhältnisse gefunden.

Darum auch können diese Blätter nicht leicht durch den Druck bekannt gemacht werden, denn erstens würde die Lesewelt, welche Unterhaltung und Aufregung sucht, von der Einfachheit der Erzählung ermüdet werden, und zweitens ist es der eigentliche Zweck dieser Schrift, wahr zu sein und meinen nächsten Geliebten zu zeigen, wie ich das geworden, was ich war, durch welche Einwirkungen, Umgebungen, Belehrungen, Irrtümer und Hindernisse mein Geist und Gemüt die Richtung erhalten haben, die ihnen jetzt eigen ist. Bei diesen Auseinandersetzungen müssen Personen, Bücher, Zeitumstände und vor allem Zeitgeister geschildert und deutlich gemacht werden, von denen aufrichtig und nach gerechter Würdigung zu reden, jetzt nicht mehr erlaubt ist. Ein Büchelchen, das die Zeiten Kaiser Josefs II. und der Begriffe, welche in jenem merkwürdigen Dezennium in Österreich gang und gäbe geworden sind, mit Wahrheit, wenn auch nicht mit durchgängiger Billigung erwähnen und die Wirkung schildern will, die jene Zeit auf ein junges, lebhaftes Gemüt ausübte, dessen geistige Entwicklung von 10 bis 20 Jahren gerade in jene Periode fiel, ein solches Buch darf keine Hoffnung nähren, wie harmlos es übrigens sein möge, jetzt in Österreich gedruckt zu werden. Auch ist mein Selbstbekenntnis zunächst nur für meine Familie bestimmt. Sollten bis zu meinem Tode die Umstände im Vaterlande sich ändern und wieder einige Gedanken und Preßfreiheit bis dahin in Österreich möglich sein, so steht es der Willkür meiner hinterlassenen Lieben frei, welchen Gebrauch [4] sie von dieser Arbeit machen wollen, die ihnen gewidmet ist.

Noch eine Absicht habe ich mit dieser Wiederholung meines Lebens. Sie soll mir, und wenn sie andere lesen, auch diesen dienen, den Gang zu beobachten, welchen die göttliche Gnade mit einem irrenden Geschöpf genommen, um es durch unmerkliche und unzuberechnende Einwirkungen und Erleuchtungen allmählich von den Pfaden der Welt und des beginnenden Unglaubens zum Heil zurückzuführen. Je mehr ich diesen Fügungen nachsinne, je mehr erfüllen sie mich mit Dank gegen Gott und mit Verwunderung, wie ein schwacher Glaubensfunke sich inmitten einer ganz irreligiösen Zeit und Umgebung in mir erhalten, nach und nach an geringen und scheinbar zufälligen Ereignissen verstärken, entzünden, und allmählich zu einem wohltätigen Lichte erweitern konnte, welches nicht allein mein Inneres jetzt beglückend erleuchtet, sondern mit Gottes Hilfe auch den Rest meines Lebensweges erhellen und mir das dunkle Tal des Todes minder furchtbar machen soll.


* *

*


Wenn je eine Art von Ahnenstolz nicht bloß erlaubt, sondern geziemend ist, so ist es der auf die Tugenden, die Rechtlichkeit und nützlichen Leistungen seiner Voreltern und Eltern, und in dieser Hinsicht wird man es mir zugute halten, wenn ich am Eingange meines eigenen Lebenslaufes etwas weitläufiger von meinen Eltern spreche. Da es ohnehin die Bestimmung dieser Blätter hauptsächlich ist, zu zeigen, wie ich durch Umgebung, Umstände und eigene Anlagen die Bildung erhalten, die jetzt meine Persönlichkeit ausmacht, so stehen [5] hier wie überall die Eltern billig obenan; denn ihre Denk- und Handlungsweise hat ja den ersten und bleibendsten Einfluß auf alles, was Kinder sind und werden.

Meines Vaters Eltern waren wohlhabende Personen des Mittelstandes. Der Großvater, der ein kräftiger, kluger Mann gewesen sein muß, liebte die Kunst, und verwendete den Überschuß seiner Einkünfte und seiner Muße (er war Beamter des Stadtmagistrats) auf eine Sammlung von gar nicht unbedeutenden Gemälden, der er in seinem eigenen Hause ein geziemendes Lokal baute und einrichtete, und die ich noch wohl gekannt habe. Einige der besten Stücke wurden später in die k.k. Bildergallerie verkauft, wo sie noch zu sehen sind. Dieser Großvater starb aber in der Blüte seiner Jahre, als mein Vater ein halberwachsener Knabe war, und die Witwe, eine rasche, tätige Frau, erzog den Sohn nun allein. Sie verstand Latein, und war überhaupt für jene Zeit gebildet genug, so daß auch des Sohnes vorzüglicher Geist sich unter ihrer Leitung glücklich entfalten konnte. Die Liebhaberei des Großvaters war in gewisser Hinsicht auf seinen Sohn übergegangen, nur daß sie bei dem lebhaften Gefühle meines Vaters sich noch reger und als ausübende Kunst entfaltete; denn er zeichnete und malte fast ohne alle Anleitung sehr artig. Zugleich erwachte der Geist der Poesie in ihm, und die Musik ward seine Lieblingsunterhaltung. So von allen schönen Künsten angezogen, mit ihren damaligen Leistungen vertraut, zeichnete er sich ebenfalls in seinen Studien aus, und gern hätten die Patres der Jesuiten, unter denen er, wie damals alle jungen Leute, studierte, und welche ihre Zöglinge sehr wohl zu würdigen verstanden, ihn beredet, in ihren Orden zu treten. Dazu aber bezeigte mein Vater keine Lust, [6] das Leben lächelte ihm zu freundlich im Geleite der Musen, und im Besitz eines unabhängigen, wenn auch nicht großen Vermögens. Er studierte die Rechte, und wurde bei der Böhmischen Hofstelle angestellt, deren Chef, der damalige Oberstkanzler Graf Rudolf von Chotek, den eben so geschickten als sittlichen jungen Mann, den heitern, gebildeten Gesellschafter bald auszeichnete und mit vorzüglicher Achtung behandelte.

Von meiner Mutter Eltern weiß ich nur wenig. Ihr Vater war aus dem Hannoveranischen gebürtig und Offizier im k.k. Regiment Wolfenbüttel. Wahrscheinlich war seine Frau bei der Geburt dieses Kindes oder bald darnach gestorben. Meine Mutter hatte sie nie gesehen und erinnerte sich auch keines andern Geschwisters. Der Vater hatte das kleine, kaum fünfjährige Mädchen bei sich, zog mit ihm und dem Regimente – mühsam genug, wie man denken kann – auf ungarischen Dörfern umher, und kam zuletzt, da das Regiment in Wien Garnisonsdienste tun sollte, mit demselben nach Wien. Hier erkrankte er schwer und starb nach kurzer Zeit, das unmündige Kind unter lauter fremden Menschen, fremden Glaubens (denn mein Großvater war protestantisch), im fremden Lande zurücklassend. »Du armes Kind, was wird aus dir werden!« waren seine letzten schmerzlichen Worte zu der kleinen Charlotte (so hieß meine Mutter) gewesen, die sich ihrem kindischen Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hatten. Aber die Vatersorge und des Vaters Gebet hatte seinen Weg zu Gottes Thron gefunden, und der allgemeine Vater unser aller bewies sich auch als solcher an der verlassenen Waise. Er bereitete ihr auf wunderbare Weise ein Los, wie sie es bei Lebzeiten ihrer Eltern kaum hätte hoffen dürfen.

[7] Eine Kammerdienerin oder Kammerfrau der verstorbenen, hochseligen Kaiserin Maria Theresia – Tochter Karls VI. – befand sich abends in einer Gesellschaft zu Wien, in welcher auch einer oder einige Offiziere des kürzlich eingerückten Infanterieregiments waren. Zufälligerweise kam die Rede auf dasselbe, und der eine Offizier sagte, daß sie bereits das Unglück gehabt, einen aus ihrer Zahl – den Oberleutnant Hieronymus – zu verlieren, und daß er nichts als ein fünfjähriges, ganz hilfloses Mädchen hinterlassen habe, für das einstweilen seine Kameraden Sorge tragen müßten.

Als die Kammerfrau abends ihre Gebieterin auskleiden half, und die gütige Monarchin sich herablassend nach den Tagesbegebenheiten ihrer Frauen erkundigte, erzählte jene das Gespräch mit dem Offizier von Wolfenbüttel 1. Die Kaiserin hörte aufmerksam zu, ihr menschenfreundliches Herz wurde in Mitleid für das verlassene Kind gerührt: Ich will das Mädchen holen lassen, sagte sie, – sorgt dafür, daß sie mir gebracht werde.

Meine Mutter war im protestantischen Glauben geboren worden, dem auch die meisten Offiziere des Regiments zugetan waren. Der Befehl der Kaiserin ließ sie nichts anders erwarten, als daß das Kind, dessen sie sich annehmen wollte, in der katholischen Religion erzogen werden würde. Trotz der gerühmten Toleranz ihrer Konfession suchten sie aus allen Kräften dies zu verhindern, und verbargen das Mädchen mehrere Tage lang vor den Nachsuchungen, welche die Leute der [8] Monarchin nach demselben anstellten. Endlich fand man es auf, in einem Hause einer Vorstadt Wiens; es wurde nach Hof gebracht, dort unter Aufsicht eines alten, aber sehr würdigen Fräuleins von spanischer Herkunft, Isabellas Düplessis, in den wenigen Fertigkeiten unterrichtet, die man dazumal von einem Mädchen forderte, und mit noch einigen Fräulein zum persönlichen Dienst bei der Kaiserin bestimmt.

Meiner Mutter ungewöhnlich lebhafter und durchdringender Geist fühlte bald die Schranken, welche die Beschränktheit ihrer Umgebungen demselben anlegte. Sie dürstete nach Kenntnissen, nach gründlichen Erklärungen der Dinge oder Begebenheiten, die sie um sich sah, und sie benutzte die Besuche einiger älterer, gebildeter Männer, welche in das Haus ihrer Erzieherin kamen, um von ihnen Antwort auf die Fragen zu erhalten, welche sich ihr während der Zeit aufgedrängt, und die sie sich deshalb aufzuschreiben pflegte. So strebte ihr Geist weit über ihre Lage, über ihre Gefährtinnen hinaus, und bildete sich meist aus sich selbst.

In diesem Alter war sie auch oft die Spielgefährtin der kaiserlichen Prinzessinnen und lernte in diesem ungezwungenen Beisammensein jene nahe und genau kennen, welche einst die ersten Throne Europas einzunehmen bestimmt waren. Etwas später, da man die ungewöhnlichen Fähigkeiten dieses Kindes beurteilen lernte, wurde sie zur künftigen Vorleserin der Kaiserin bestimmt, und zu dem Ende der Obersthofmeisterin Gräfin Fuchs (nach dem Brauch jener Zeit Gräfin Füchsin genannt) übergeben, bei welcher sie sich im Lesen von Druck- sowohl als Handschriften üben mußte.

[9] Als sie ihr dreizehntes Jahr erreicht hatte, fand man sie geschickt und klug genug, um ihren nicht leichten Dienst anzutreten, und schon dies bürgt für ihre hohe Geisteskraft und Fähigkeit. Sie hatte in dieser Stelle teils mit andern Fräulein ihres Ranges, welche insgesamt den Titel kaiserlicher Kammerdienerinnen trugen, die Toilette und persönliche Bedienung ihrer Gebieterin zu besorgen, teils allein das Amt, der Regentin vorzulesen. Diese Lektüre bestand aber nicht in Romanen oder Unterhaltungsbüchern; es waren Geschäftsschriften, Berichte, Depeschen, kurz Staatsangelegenheiten, über welche die Monarchin selbst entschied, und in denen sie mit unermüdlicher Anstrengung täglich viele Stunden arbeitete, wobei meine Mutter ihr vorlas und überhaupt oft Sekretärsdienste verrichtete.

Natürlich waren wichtige Geheimnisse in den Händen des jungen Mädchens, aber ein frühreifer Geist, bei dem vielleicht die einsame Stellung, ohne Blutsverwandte, ohne Freunde, auf einer Höhe, die von vielen beneidet ward, noch die angeborne Urteilskraft vermehrte und den Beobachtungssinn schärfte, dieser wahrhaft männliche Geist gab meiner Mutter die Kraft, die Verschwiegenheit, die ganze würdige Haltung, welche ihr Platz forderte, und welche ihr das Vertrauen der Fürstin bis an deren Tod sicherte.

Maria Theresia führte ein äußerst tätiges und sehr regelmäßiges Leben. Um fünf Uhr im Sommer, im Winter wahrscheinlich später, stand sie täglich auf, und eine Klingel rief ihren Zofen. Es war Etikette, daß keine anders als frisiert, im seidenen Kleide (man kannte damals unsere Perkals, englische Leinwand usw. nicht), ja selbst im Reifrocke, der aber zum Negligée [10] nur von kleinem Umfang war und Hanserl genannt wurde, vor der Fürstin erscheinen durfte. Dies machte sehr frühes Aufstehen auch den Kammerdienerinnen, wenigstens denen, welche für diesen Tag im Dienste waren, notwendig. Die Toilette der Kaiserin war der mühsamste, wie der unbelohnendste Teil des Dienstes, den meine Mutter zu versehen hatte. Da sie ihn aber mit ebensoviel Geschmack als Schnelle und Geschicklichkeit versah, so ward ihr die Pflicht, ihre Monarchin täglich zu frisieren, dahingegen die andern Fräulein im Dienste abwechselten und manchen Tag ganz frei hatten. Diese ganz freien Tage wurden auch meiner Mutter nach ihrer Tour, nur daß das Frisieren am Morgen und das Vorlesen auf die Nacht jeden Tag ihr ausschließendes Geschäft blieb, in welchem keine andere sie ablösen konnte, weil keine es so zu verrichten verstand wie sie.

Dieses Frisieren und die Verfertigung des Kopfputzes war denn aber auch für meine Mutter eine nur zu ergiebige Quelle von Verdruß und Kränkungen. Man kennt das Wort, welches über Elisabeth von England gesprochen wurde: »Selbst die größte Königin ist doch eine Frau.« Dieses Wort, obgleich Maria Theresia, ihren moralischen Eigenschaften nach, als Frau weit über Elisabeth stand, traf sie doch auch, und sie unterlag dem allgemeinen Los unsers Geschlechtes. Ihre Gestalt, die aber wirklich von höchster Schönheit war, und die Ausschmückung derselben durch vorteilhaften Putz beschäftigte sie etwas mehr, als man gemeinhin von einer Frau, die mit so vielem Geist, mit so viel männlichem Starkmut so weite Länderstrecken zu beherrschen verstand, hätte vermuten sollen. Nur muß man zur Steuer der Wahrheit hinzusetzen, daß[11] diese Freude an ihrer Schönheit, und die Zeit, die sie ihr widmete, nie ihren wichtigeren Pflichten Eintrag tat; noch viel weniger aber Gefallsucht oder eine größere Aufmerksamkeit für das andere Geschlecht zur Quelle hatte. Maria Theresia stand in dieser Rücksicht fleckenlos vor ihrem Zeitalter, und, was noch weit mehr sagen will, auch vor ihrer Umgebung, ihren dienenden Frauen, im höchsten Glanz frommsittlicher Würde und ehelicher Treue da. Wie ein Mädchen aus den mittleren Ständen, bei denen mehr das Herz als eigennützige Rücksichten die Wahl des Gatten bestimmt, und man für sich und nicht für seine Väter liebt (wie Haller sagt), hatte sie den Gemahl gewählt, den schönen, liebenswürdigen Jüngling, der mit ihr erzogen worden oder sich doch während seiner Jugend am Hofe ihres Vaters aufgehalten hatte. Weder Landesmacht noch große Vorteile brachte ihr in politischer Hinsicht die Ehe mit dem Prinzen Franz von Lothringen, der später das Großherzogtum Toskana erhielt. Aber er und sein Bruder Karl lebten am Hofe Kaiser Karls VI., und seine zwei Töchter, Maria Theresia und Marianna, neigten sich in Liebe zu den beiden Brüdern. Theresia teilte den Thron ihrer reichen Erbstaaten mit Franz von Lothringen, und Marianna brachte ihrem Gemahl das Gouvernement der Niederlande. Nie hat Maria Theresia je einen andern Mann schön oder anziehend gefunden, und meine Mutter, eine Frau von so vielem Geiste, daß ich keine in dieser Rücksicht mit ihr zu vergleichen weiß, eine Frau, die in ihrer ganzen Denkart so weit von blindem Enthusiasmus als Schmeichelei und Schranzenwesen entfernt war, die die Fehler und Schwächen ihrer Gebieterin wohl sah und sehen mußte, [12] weil sie dreizehn Jahre um sie lebte, hat in Rücksicht weiblicher Würde und ehelicher Treue Marien Theresien immer als das Vorbild ihres Geschlechtes gepriesen.

Ihre trübsten Stunden hatte meine Mutter also bei der Toilette der Kaiserin oder bei der Verfertigung ihres Putzes, denn dazumal wußte man nicht so viel von Marchandes de mode, und die Fräulein, welche die Monarchin bedienten, waren auch größtenteils ihre Putzmacherinnen. Oft – sehr oft mußte eine Haube vier- bis fünfmal anders gesteckt werden, bis sie nach dem Geschmacke der Gebieterin war, und wer diese Art von Arbeit zu beurteilen versteht, wird wissen, daß ein öfteres Auf- und Andersmachen der Sache gar nicht förderlich ist, ja meistens die Schönheit der Stoffe und des Zubehörs ganz zerstört. Ebenso ging es mit der Frisur. Auch an dieser zupfte, rupfte, änderte die hohe Frau so viel und so lange, bis sie verdorben war und neu gemacht werden mußte, was denn bei der damaligen Art des Haarputzes gemeiniglich dahin führte, daß der ganze Bau zerstört, die Haare ausgekämmt und nicht selten neu in Papilloten gewickelt und gekräuselt werden mußten. Daß die Gebieterin dabei übellaunig wurde, daß die Zofen das entgelten mußten, ist ebenso natürlich – und die Erinnerung an alle die trüben Stunden, welche Putz und Toilette ihr gemacht hatten, mag wohl schuld gewesen sein, daß meine Mutter selbst in den Jahren, wo sie noch wohl Freude daran hätte haben können, sich vorteilhaft und ihrer sehr niedlichen Figur gemäß anzuziehen, sich schon ganz matronenhaft, und, wie ich mich aus den Bildern meiner Kindheit wohl entsinne, beinahe altfränkisch kleidete. Auch auf mich [13] hatten jene Erinnerungen Einfluß, denn ich mußte wie in allem, so besonders bei meiner Toilette sehr hurtig zu sein lernen, und es wurde mir für die damalige mühsame Art des Anzuges und der Frisur ungemein wenig Zeit gegönnt, um beides an mir zu bewerkstelligen.


* *

*


Eine viel minder verdrießliche, wenn gleich auch anstrengende Art des Dienstes, war das Vorlesen der Geschäftsschriften in den verschiedenen Sprachen, welche in den weiten Provinzen der Erbstaaten geredet wurden; deutsch, italienisch, französisch (in den Niederlanden) und lateinisch (in Ungarn). Da Französisch damals noch viel mehr als jetzt die Sprache der höhern Stände, ja der gebildeten Welt überhaupt war, so war sie denn auch an Maria Theresias Hof die herrschende, zumal da ihr Gemahl, Kaiser Franz I., als geborner Lothringer kaum Deutsch verstand und es nie sprach, auch seinetwegen viele Personen in den Hofdiensten Lothringer oder Niederländer waren. Meine Mutter hatte das Französische daher von ihrer Kindheit an wie eine zweite Muttersprache, ja wie ihre eigentliche gelernt und sprach und schrieb es mit gleicher Fertigkeit. Auch das Italienische war ihr geläufig. Damals wurde es überhaupt viel am Hofe und in Wien gesprochen, und der Dichter des Hofes war stets ein Italiener; früher unter Kaiser Leopold, Apostolo Zeno, später der hochberühmte Metastasio, eigentlich Trapassi genannt, den ich noch persönlich gekannt habe. Alle Schauspiele, welche dem Hofe zu Ehren oder bei feierlichen Gelegenheiten gegeben wurden, waren italienische Opern, an deren Schlusse jedesmal in einer kleinen Strophe, welche den Namen[14] Licenza führte, ein Kompliment angebracht war, welches den Inhalt der Oper mit einer schmeichelhaften Anwendung auf die gegenwärtige Feierlichkeit verband.

Diese beiden Sprachen waren meiner Mutter also sehr geläufig, und sie redete sie wahrscheinlich zierlicher und korrekter als ihre Muttersprache; denn damals galt noch von den meisten Einwohnern Wiens in den höheren Ständen, was ein Dichter von sich sagt:


Ich spreche Wälsch wie Dante,

Wie Cicero Lateinisch,

Wie Pope und Thomson Englisch,

Wie Demosthenes Griechisch,

Wie Diderot Französisch

Und Deutsch – wie meine Amme.


Selbst die Kaiserin bediente sich des ganz gemeinen österreichischen Jargons, und folgende zwei Anekdoten, die ich oft aus dem Mund meiner seligen Mutter hörte, werden dienen, jene Zeit zu charakterisieren, von der ich spreche. Ein Fräulein aus Sachsen wurde als Kammerdienerin bei der Kaiserin angestellt, und meine Mutter, welche ihr damals schon mehrere Jahre gedient hatte, bekam den Auftrag, die Neue, so hieß jede Letzteingetretene unter den Fräulein, zum Dienst abzurichten. Das sächsische Fräulein nahm also in zweifelhaften Fällen immer ihre Zuflucht zu meiner Mutter, als ihrer Lehrerin. Eines Tages kam sie ganz verlegen und ängstlich zu ihr, und bat sie, ihr zu sagen, was sie zu tun habe. Ihre Majestät die Kaiserin habe das Blabe Buich verlangt. – Meine Mutter mußte lächeln, sie gab der Sächsin ein blaues Buch, in welchem die Kaiserin eben zu lesen pflegte, mit dem Bedeuten, es der Monarchin zu überreichen. Lange wollte die andere es nicht glauben, daß mit jener Bezeichnung ein blaues Buch gemeint sein sollte; – [15] indes meine Mutter beharrte darauf, Fräulein M** übergab das Buch, und sieh! – es war das rechte. Diese Anekdote erklärt hinreichend, warum in den glänzenden Zirkeln Französisch oder Italienisch und nie Deutsch gesprochen wurde.

Kurz vor der Geburt einer ihrer jüngsten Prinzessinnen stritt die hochselige Kaiserin mit einem Grafen Dietrichstein scherzhaft darüber, ob das zu erwartende Kind ein Prinz oder eine Prinzessin sein würde. Der Graf behauptete das erste, die Kaiserin das zweite. Es wurde eine Wette eingegangen; – die Kaiserin behielt recht, das Kind war eine Erzherzogin, und Graf Dietrichstein mußte bezahlen. Da half er nun, im Geschmacke jener Zeit, sich mit einer sehr artigen Galanterie. Er ließ sein Bild in kniender Stellung von Porzellan verfertigen, und diese Gestalt reicht mit der einen Hand der Kaiserin ein Blatt, worauf folgende Verse Metastasios standen:


Perdo, è ver, l'augusta figlia

A pagar m'ha condannato,

Ma s'è ver che a te somiglia,

Tutto il mondo ha guadagnato.


Die ganze Idee, welche vermutlich von Metastasio herrührte, ist ebenso zart als schmeichelhaft, und macht seiner Erfindungskraft Ehre; dennoch kann man nicht umhin, wenn man sich jenes Geschenk lebhaft vergegenwärtigt, das porzellanene Figürchen, aller Wahrscheinlichkeit nach, weil es Porträt war, mit Staatskleid, Perücke und Degen, welches da kniend ein beschriebenes Blatt überreicht, komisch zu finden. Doch das Ganze zeigt den Geschmack und Ton jener Zeit, wo die schöne deutsche Literatur sich kaum mit ihren ersten Strahlen in Norddeutschland zu zeigen[16] anfing, bis zu uns aber noch nicht gedrungen war, und alles, was las und Sinn für Bildung hatte, bloß französische oder italienische Literatur kannte.

Latein war die vierte Sprache, welche in den Geschäftspapieren, die meine Mutter ihrer Monarchin vorlesen mußte, vorkam. Die Kaiserin verstand sie vollkommen, redete sie vielleicht auch mit ihren ungarischen Magnaten und rief ihnen in diesen Akzenten jenen unvergeßlichen Tag zurück, an dem sie, von den Mächten von halb Europa bekriegt und mit dem Verlust aller ihrer, von eben jenen Mächten garantierten Staaten bedroht, die schöne, junge, unglückliche Fürstin, den königlichen Säugling auf dem Arm, auf dem Reichstag ihrer treuen Ungarn erschien, sie zum Beistand aufforderte, und solchen Enthusiasmus in ihnen erregte, daß Greise und Helden begeistert und gerührt die Säbel zogen, und einstimmig, alle für ihren König Maria Theresia zu sterben, schwuren. Gar gern erinnerte sich die große Frau jenes Tages, wo sie den dreifachen Triumph: der verfolgten Tugend, des recht mäßigen Königtums und der Schönheit gefeiert hatte. Immer blieb sie der ungarischen Nation vorzüglich gewogen, und jener Anstrengungen, die sie damals machte, um ihr den Thron ihrer Väter zu erhalten, dankbar eingedenk.

In dieser Sprache nun (im Latein) gab die Kaiserin selbst meiner Mutter die notdürftigste Anleitung, damit diese ihr verständlich vorlesen konnte. Vieles begriff meine Mutter durch das verwandte Französisch und Italienisch, das übrige erklärte ihr, soweit es nötig war, ihre Gebieterin. So las sie denn derselben viele Stunden und Stunden, besonders abends und nach dem sehr mäßigen Nachtessen, welches die Kaiserin [17] in ihren Zimmern allein zu sich nahm, die Geschäftspapiere ihrer verschiedenen Staaten vor. Diese Lektüre dauerte fort, nachdem die Monarchin sich schon entkleiden lassen und zu Bette gelegt hatte, und selbst dann noch, bis der Schlaf sie überwältigte. Dann erst bekam meine Mutter die Erlaubnis, sich zu entfernen.

Wohl umgaben Glanz und Herrlichkeiten meine Mutter in ihrer Jugend, aber ihr Dienst war, wie man aus dem obigen sieht, nichts weniger als leicht, und manche Angewöhnungen der Monarchin machten ihn noch beschwerlicher. So z.B. konnte diese, als eine große, starkgebaute Frau, gar keine Wärme vertragen, wie sie denn überhaupt, trotz ihrer hohen Geburt und des königlichen Glanzes, der schon ihre Wiege umgab, in Rücksicht ihres Körpers nichts weniger als weichlich oder in ihren Gelüsten fordernd war. Geheizt durfte bei ihr fast gar nicht werden, die Furcht vor Zugluft kannte sie nicht, sie wußte nicht, was ein Rheumatismus sei, und selbst im Winter stand oft ein Fenster neben ihrem Schreibtisch offen, durch das der Wind meiner Mutter den Schnee auf das Papier warf, aus welchem sie vorlas. Eine Anekdote mag zum Belege des hier Gesagten dienen. Die Kaiserin, welche wirklich fromm und eine Christin im edelsten Sinne des Wortes war, ging, solange es ihr körperliches Befinden erlaubte, jährlich mit der Frohnleichnamsprozession. An einem solchen Tage, als sie zu dem Ende von Schönbrunn nach der Stadt gefahren war, kam sie gegen Mittag, furchtbar erhitzt und ermüdet von dem heißen Juniustage, von der Schwere und Größe ihrer Person und dem langen, meist der Sonne ausgesetzten Gange durch die halbe Stadt, nach Schönbrunn zurück. [18] Sie ließ sich sogleich ganz entkleiden – und setzte sich dann in der Mitte eines Kabinetts nieder, in welchem Fenster und Türen geöffnet werden mußten, mit nichts als einem Mieder, Rock und Pudermantel bekleidet, trank Limonade, aß Erdbeeren in Eis gekühlt und ließ sich von meiner Mutter die Haare auskämmen, die so naß waren, daß meine Mutter mehr als einmal ihre Hände trocknen mußte. Das alles schadete der kräftigen, noch immer blühenden Frau nicht im geringsten, aber es machte auch, daß sie sehr wenig Rücksicht auf Bedürfnisse oder Wünsche solcher Art bei ihrer dienenden Umgebung nahm, und Abhärtung, Nichtachtung seiner selbst und Unempfindlichkeit gegen schädliche Einwirkungen, welche sie, die kaiserliche Frau, besaß, bei dem dienenden Personale teils voraussetzte, teils forderte. Und so wie sie, hart gegen sich selbst, jede körperliche Verweichlichung oder Schwächlichkeit haßte, war ihr auch jede sittliche Schwäche und übergroße Weichheit zuwider. Ihrer eigenen Kraft und so mancher Gelegenheit sich bewußt, wo sie durch diese und durch ihren Mut sich aus gefährlichen Lagen gerissen und schwere Leiden mit Selbstverleugnung getragen hatte, forderte sie Ähnliches von ihren Umgebungen und mochte kein weinerliches Wesen und keine zu große Empfindlichkeit um sich leiden.

So bildete sich im steten Umgang mit dieser wahrhaft großen Frau, von ihrer Zufriedenheit oder ihrem Tadel geleitet, von ihrem Beispiele ermutigt, meiner Mutter von Natur kräftiger Geist und gesunder Körper auf eine Weise aus, der sie noch in ihren hohen Jahren zum Gegenstand der allgemeinen Achtung und des Erstaunens für viele machte. Bei einem schlanken, [19] zierlichen Körperbau, von mittelmäßiger Größe, besaß meine Mutter eine ungewöhnliche Fülle von Lebenskraft und Gesundheit, welche wohl das Erzeugnis einer unverdorbenen Natur, einer abhärtenden Erziehung und ihrer eigenen Behutsamkeit und strengen Mäßigkeit war, so daß sie für den Einfluß der Witterung, der Zugluft, veränderter oder unverdaulicher Speise ganz und gar unempfindlich war, und bis in ein sehr hohes Alter, ihre Sehkraft ausgenommen, welche gegen das Ende ihres Lebens sehr schwach wurde, alle ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten unvermindert erhielt.


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Maria Theresia forderte viel von ihren Dienerinnen; doch umgab sie sie dafür auch mit Glanz, Wohlstand und Ansehen, wodurch die einzelnen sich nicht bloß geehrt und nach Maßgabe ihrer Denkart auch beglückt fühlten, sondern wodurch ihnen auch ein Begriff ihrer eigenen Würde eingeflößt wurde, der vielleicht besser als die strengsten Verhaltungsbefehle dazu diente, sie vor fremder Zudringlichkeit und eigener Vernachlässigung zu bewahren. Sie standen unter einer Art von häuslicher, ja mütterlicher Aufsicht, mußten es melden, wenn sie ausgehen wollten und bemerken, wohin; dann wurde ihnen eine Hofequipage zu diesem Behuf angespannt oder irgendeine angesehene Frau, die aber dazu eigens bei der Monarchin die Erlaubnis nachsuchen mußte, durfte das Fräulein in ihrer eigenen Equipage abholen und mußte sie auch wieder ebenso zurückführen. Auf andere Art oder in einem Fiaker war durchaus den Kammerdienerinnen nicht erlaubt, auf den Straßen zu erscheinen. [20] In früherer Zeit wurden sie sogar mit sechs Pferden geführt, späterhin nur mit zweien. In Gesellschaften gebührte ihnen der Rang einer Hofrätin, und wenn keine solche gegenwärtig war, nahm das Fräulein vom Hofe vor den übrigen verheirateten Damen den Ehrenplatz auf dem Kanapee ein.

Ihren Tisch hatten sie vom Hofe, ihre Besoldungen waren mäßig, aber die Freigebigkeit der Monarchin, die vielen Teilungen ihrer Garderobe ersetzten ihnen das reichlich, und sie fanden bei Ordnungsliebe und Sparsamkeit stets die Mittel, sehr geschmackvoll und glänzend angezogen zu sein und doch etwas zurückzulegen. An den Tagen, an welchen sie den Dienst nicht hatten, war es ihnen auch vergönnt, auf ihren Zimmern Bekannte, selbst Männer, nicht bloß vom Hofe, sondern auch aus der Stadt, zu sehen, nur mußte die Kaiserin davon benachrichtigt und dies Personen von unbescholtenem Rufe sein.

Auf diese Art entspannen sich denn manche Bekanntschaften, und auch die mit meinem Vater. Es war in der traurigen Zeit des Siebenjährigen Krieges, als Schrecken, Angst und Siegesruhm so oft in Wien und in der kaiserlichen Burg wechselten. Wohl erinnere ich mich noch an ein paar Züge, welche meine Mutter mir aus jener Zeit erzählt hat. Als König Friedrich mit seinen glücklichen Waffen immer weiter vorwärts drang, bereits in Mähren stand und Olmütz zu belagern anfing, da war am kaiserlichen Hofe eben die Zeit gekommen, auf eines der Lustschlösser zu ziehen. Es wurde also in den Kammern gepackt und zur Landfahrt zugerüstet. Meine Mutter war an den Koffern beschäftigt, um die Garderobe und täglichen Bedürfnisse ihrer Gebieterin einzupacken. Eben vorher [21] war die Schreckensnachricht von jener Belagerung gekommen. Ohne zu klagen, ohne sich weiter zu äußern, sagte die Monarchin, indem sie, durchs Zimmer gehend, die Reiseanstalten betrachtete, zu meiner Mutter: »Nimm etwas mehr mit, vielleicht gehen wir weiter«.

Der Kurier von der Schlacht bei Hochkirch traf am Theresiatage, den 15. Oktober, hier ein, abends ziemlich spät, als schon die Prinzen und Prinzessinnen des kaiserlichen Hofes sich nach der Cour und Assemblée bei der Monarchin in ihre Zimmer zurückgezogen und angefangen hatten, sich auszukleiden. Die frohe Siegesbotschaft wurde schnell von der Kaiserin in alle Kammern ihrer Kinder gesendet und wunderlich geputzt, – jene Erzherzogin mit den Edelsteinen im Haare, aber im Nachtkleide, diese im Reifrocke und Galakleide mit zerstörter Frisur; Prinzen halb in Uniform, halb im Hausrocke, kamen sie eiligst wieder in den Zimmern ihrer erlauchten Mutter zusammen, um ihr, nach der Feier des Namenstages, noch zu der Feier des Sieges Glück zu wünschen.


* *

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Während dieser und ähnlicher abwechselnden Szenen entspann sich das zärtliche Verhältnis meiner Eltern. Mein Vater hatte unterdes die Stelle eines Sekretärs bei der böhmisch-österreichischen Kanzlei erlangt, er durfte allerdings als Freier auftreten, aber ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen, wollte ihm noch immer nicht gelingen. Schon sehr oft war die Hand meiner Mutter von glänzenden und auch von minder bedeutenden Freiern gesucht worden. Außer den persönlichen Annehmlichkeiten einer sehr zierlichen [22] Gestalt, anmutiger Gebärden und eines ausgezeichneten Geistes, war auch die Aussicht auf besondere Gunst und Unterstützung von Seite der Monarchin, welche ihrer geschätzten Dienerin und Vorleserin, und um ihretwillen auch dem künftigen Gemahl nicht wohl fehlen konnte, ein Hauptreiz, welche Freier lockte. Aber sie alle, welche bei der Monarchin selbst, die in so vielem und würdigem Sinn Mutterstelle bei ihren Untergebenen vertrat, ihr Gesuch anbringen mußten, sahen sich bisher abgewiesen. Bei den meisten, ja fast bei allen, war meiner Mutter Herz gleichgültig geblieben. Nur einer, ein geborner Ungar, dessen Porträt sie noch lange Jahre nachher besaß, und dessen in Rousseaus Konfessionen als eines höchst interessanten und liebenswürdigen jungen Mannes erwähnt wird – hatte ihr Herz tiefer gerührt. Nicht bloß der Wille der Monarchin, auch ungünstige Verhältnisse in der Familie des jungen Ungars zerrissen das Bündnis. – Er starb bald darauf; meine Mutter gedachte seiner nie ohne Rührung. Bei meinem Vater, der ihre ganze Achtung und innige Neigung erworben hatte, fürchtete sie ebenfalls, die Einwilligung der Kaiserin nicht zu erhalten. Diese hatte gegen jede Verbindung, welche meine Mutter eingehen sollte, etwas einzuwenden. Freilich ist wohl kein Bündnis, kein Verhältnis in der Welt jedem Wunsche und jeder Forderung so ganz gemäß, daß sich nicht mit mehr oder minderem Anschein etwas dagegen aufbringen ließe. Bei der Monarchin aber mag wohl die Abneigung, sich von der so geschickten, so verschwiegenen und verständigen Dienerin zu trennen, deren Stelle nur schwer zu ersetzen gewesen sein würde, jenen abschlägigen Antworten zu Grunde gelegen [23] haben. Meine Eltern mußten sich in Geduld fassen.

Im Jahre 1765 reiste der Hof nach Innsbruck, um die Vermählung des zweiten Prinzen, des nachmaligen Kaisers Leopold II., mit einer spanischen Prinzessin zu feiern. Für meine Mutter war diese Reise in ein gebirgiges Land eine ganz neue und sehr willkommene Begebenheit. Sie freute sich der ihr fremden, wilden Natur, und manches romantische Plätzchen, manche schöne Einsamkeit regte in ihrer, allmählich des Hoflebens müden Seele, den Wunsch auf, an einer solchen Stelle sich selbst und ihren geheimen Neigungen leben zu können. – Der Kaiser Franz, ein noch kräftiger, blühender Mann, fand für seine Wißbegierde und Liebe zur Altertumskunde viel interessanten Stoff an so vielen geschichtlichen und archäologischen Schätzen, welche Innsbruck, noch mehr aber das Bergschloß Ambras enthielt, woselbst sich damals noch die ganze merkwürdige Sammlung befand, welche dem Erzherzoge Ferdinand, dem Gemahl der schönen Welserin, ihr Entstehen verdankt und welche später, als Tirol auf kurze Zeit einer fremden Macht geräumt werden mußte (1805, hierher nach Wien transportiert und seitdem im k.k. Belvedere aufgestellt wurde.

Vorzüglich erfreute das Münz- und Antikenkabinett sich der Vorsorge und Aufmerksamkeit des Monarchen, der einen sehr tüchtigen und der ganzen Welt rühmlich bekannten Gelehrten, Herrn Duval, zum Vorsteher desselben ernannt hatte. Duval habe ich noch gekannt und erinnere mich des langen, hagern, alten Franzosen recht wohl, der meine Eltern öfters besuchte, von ihnen mit großer Achtung und Liebe behandelt wurde und gegen uns Kinder so freundlich[24] war. Er war aber selbst im hohen Alter noch eine kindliche Natur, und er, der arme Hirtenknabe, der hinter seinen Schafen einhergehend und Bücher lesend, die er sich von seinem sauer ersparten Lohn kaufte, so von Kaiser Franzens Vater, dem Herzog von Lothringen, auf der Jagd gefunden, befragt und aufgenommen wurde, den der Herzog dann studieren ließ, weil er dessen ungemeine Fähigkeiten erkannte – behielt noch bis ins späte Alter die ungetrübte Heiterkeit des Geistes, die unerschöpfliche Gutmütigkeit seiner Kindheit und Jugend bei. Meine Mutter liebte er väterlich, nannte sie seine »Bibi« und unterzeichnete seine Briefe an sie immer mit dem, auf ein französisches Sprichwort (que 99 moutons et un Champagnard font 100 bêtes) gegründeten Ausdruck: le suplément des 99 moutons. – Er war aus der Champagne gebürtig.

Um diesem, seinem lieben Duval, nun auch eine Ausbeute von seiner Reise mitzubringen und das Wiener Münzkabinett zu bereichern, ließ sich Kaiser Franz die Schätze des Innsbrucker zeigen, und beschloß, die Dubletten desselben mitzunehmen und dafür von Wien zu senden, was dem Innsbrucker fehlte. Aber damit war der damalige Direktor des Kabinettes in Innsbruck nicht zufrieden (seinen Namen zu nennen, wäre unbescheiden, aber die Anekdoten sind zu hübsch, um vergessen zu werden). – Mit nichten, antwortete er dem Kaiser, ich habe die Münzen auf meinem Inventar, ich muß dafür haften. Vergebens suchte ihn der Kaiser auf den wissenschaftlichen Standpunkt zu stellen, von dem aus er einen solchen Tausch zu betrachten hätte – der gute Direktor hielt sich an sein Inventarium, bis endlich der Monarch, der merkte, mit welchem Manne er es zu tun habe, ihm [25] vorschlug, die auszutauschenden Münzen zu wägen und dem Innsbrucker Münzkabinette indes so viele (neugeprägte) Dukaten dazulassen, als jene Goldgewicht hätten, bis sie durch die aus Wien zu sendenden ausgelöst werden würden. Das beruhigte den Direktor; er gab Goldgewicht für Goldgewicht und war nun überzeugt, seine Pflicht gegen die ihm anvertrauten Schätze vollkommen erfüllt zu haben. Eine zweite Antwort, die derselbe gelehrte Mann meiner Mutter gab, dient zum Beleg jener ersten. Im Antikenkabinett, welches die Fräulein der Kaiserin auch zu besehen gekommen waren, fiel meiner Mutter ein Stück auf, das ihr nicht echt, keine wirkliche Antike zu sein schien. Sie äußerte diesen Zweifel gegen den gelehrten Herrn Direktor. O, mein Fräulein! erwiderte dieser, dies Stück ist gewiß antik – ich bin nun schon vierzig Jahre in diesem Kabinett angestellt und habe es bereits vorgefunden.


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Das Beilager wurde gehalten, die Feierlichkeiten waren vorüber, der Hof dachte an seine Rückreise nach Wien, da ging am 18. August der Kaiser, von seinem ältesten Sohne, dem Erzherzog Josef, damals schon römischem König, abends aus seiner Loge im Theater, um in seine Gemächer zurückzukehren. Auf dem Gange hinter den Logen rührte ihn plötzlich ein Schlagfluß. Er sank in die Arme seines Sohnes und gab auf der Stelle seinen Geist auf. Dieser Sohn mußte der Überbringer der schrecklichen Nachricht an seine Mutter, an seinen Bruder sein, der einer Unpäßlichkeit wegen sich in seinen Zimmern gehalten hatte. Hier zeigte sich's, wie meine Mutter sagte, welche tiefe, [26] innige Liebe Maria Theresia für ihren Gemahl hatte. Sie war ganz vernichtet, sie fand keine Tränen und ein krampfhaftes, gewaltsames Schluchzen, welches die ganze Nacht durch währte, erfüllte ihre Umgebung mit der lebhaftesten Sorge für die Gesundheit und das Leben der hohen Frau. Erst gegen Morgen, nach einer Aderlaß, welche der Arzt verordnete, brach ihr tiefer, großer Schmerz in erleichternde Tränen aus. – Eine ihrer ersten Handlungen aber war, meiner Mutter zu befehlen, daß sie ihr die Haare abschneide. – Von diesem Augenblicke an, als ihr Gemahl sich ihrer, trotz ihres reiferen Alters, noch immer großen Schönheit nicht mehr erfreuen konnte, freute auch sie sich ihrer Gestalt nicht mehr. Sie legte allen bunten Putz und alles Geschmeide ab, teilte ihre Garderobe unter ihre Frauen, ließ ihr Schlafzimmer mit grauer Seide ausschlagen, ihr einsames Lager mit grauen Vorhängen umgeben und zeigte so auch in ihrem Äußern, daß das Leben und die Welt für sie ihren Reiz verloren haben. An jedem 18. des Augusts, dem Todestage ihres Gatten, besuchte sie seine Grabstätte, schloß sich dann in ihr Zimmer ein, beichtete, fastete und brachte den Tag in schmerzlichen Erinnerungen und frommen Gebeten zu. Rührend ist das Grabmal, welches sie ihrem Gemahl nach seinem Tode und sich selbst im voraus in der kaiserlichen Gruft bei den Kapuzinern errichten ließ, und wo sie mit dem ersten und einzigen Gegenstand ihrer Liebe, auf einer Art von Paradebette ruhend, vorgestellt ist. Die Wahrheit solcher Gefühle, welche allein ihren Wert ausmacht, zeigt sich am siegreichsten und überzeugendsten vor den nächsten und beständigen Umgebungen. Sind diese von der Wirklichkeit und Tiefe des Schmerzes überzeugt, so ist wohl kaum mehr daran zu zweifeln.

[27] So steht Maria Theresia, welche als Regentin einen der ersten Plätze in der Reihe der großen Monarchen einnimmt, als Frau nicht minder groß und erhaben vor uns. Schön, wie wenige ihres Geschlechts, Erbin großer Staaten, liebenswürdige Frau, mit tausend Talenten, unter andern auch mit einer wunderlieblichen Stimme begabt, die sie im Gesange oft zur Freude des Hofes hören ließ – und dem ersten und einzigen Gegenstand ihrer jugendlichen Zärtlichkeit treu bis in den Tod. – Es war mir auch eine sehr werte und erfreuliche Erscheinung, diese Regentin von der Feder einer weiblichen und liebevollen Hand, der Mistreß Jameson in ihrem Buche: The Female Sovereigns, ganz nach ihrem wahren Wert erkannt und geschildert zu sehen, so daß sich ihr Bild weit über Katharina II. und sogar über Elisabeth von England erhebt.

Diese Treue und Liebe wird noch herrlicher, wenn man weiß, daß die erste bei weitem nicht in dem Maß vergolten wurde, in welchem sie es verdient hätte. Kaiser Franz hatte verschiedene Liebschaften, die man teils kannte, teils nicht. – Seine Gemahlin wußte wohl darum, sie zog die eine davon an ihren Spieltisch; – sie litt dadurch, aber sie liebte den Wankelmütigen nichtsdestoweniger mit gleicher Glut bis an seinen Tod. Ein Wort, das sie einst zu meiner Mutter sprach, mag wohl aus der tiefen, innern Überzeugung entstanden sein, daß ihres Gemahls Standpunkt und Verhältnis zu ihr und seinen Staaten nicht das eigentlich rechte und vielleicht die Quelle manches Mißtones zwischen ihnen war. »Laß dich warnen,« sagte sie einst, »und heirate ja nie einen Mann, der nichts zu tun hat«.

[28] War es, daß die Haare der Monarchin den Manen ihres Gemahls und ihrem Schmerz zum Opfer gefallen waren und ihre Toilette nicht mehr so viel Sorgfalt erforderte; war es die eigene Vereinsamung, die ihr Herz für das Traurige eines solchen Geschickes bei andern empfindlicher machte – kurz, noch während des Trauerjahres erhielt meine Mutter die Erlaubnis, mit ihrer Hand zu schalten, und mein Vater erreichte das Ziel seiner heißen und lange genährten Wünsche. Als meine Mutter ihren Bräutigam der Monarchin vorstellte, war diese erstaunt, in meinem Vater einen zwar noch jungen (er zählte 35 Jahre, meine Mutter 26), aber sehr gesetzten, einfachen und wahrhaft deutschen Mann zu finden. Ich glaubte immer, äußerte sie hernach zu meiner Mutter, du würdest dir so einen galanten Herrn, einen Chevalier aussuchen. – Demnach gewann dieser einfache Mann späterhin durch seine erkannte Rechtlichkeit, seinen Diensteifer und seine vorzüglichen Geistesgaben die ausgezeichnete Huld seiner Monarchin, wovon diese Blätter unzweifelhafte Proben aufzeigen werden.

Die Heirat meiner Mutter war also beschlossen und wurde mit aller, damals am Hofe üblichen Feierlichkeit vollzogen. Die Verlöbnisse bestanden damals noch; – jenes meiner Mutter wurde acht Tage vor der Trauung gehalten. – Während dieser Zeit legte sie die Trauer ab, welche sie mit dem ganzen Hof noch um den verstorbenen Kaiser trug, und ging bunt. Am Tage der Hochzeit mußte sie sich in ihrem Brautstaat vor der Kaiserin zeigen, welche zu dem eigenen, nicht unbedeutenden Geschmeide, womit meine Mutter geschmückt war, einige Geschenke fügte und ihr dann noch eine Perlenschnur von unschätzbarem Werte [29] um den Hals band, die jedoch die Braut nach der Feierlichkeit der Trauung wieder zurückgeben mußte, da sie unter das Geschmeide der k.k. Schatzkammer gehörte und nur bei solchen Gelegenheiten gebraucht wurde. In der sogenannten Kammerkapelle wurde die Zeremonie vollzogen, die Obersthofmeisterin der Kaiserin führte als Brautmutter die Braut an den Altar und nahm während der Trauung in einem Betstuhl Platz. Als der Geistliche an die Stelle kam, wo er die Braut auffordert, das ja auszusprechen, mußte diese (so gebot es die Etikette), ehe sie antwortete, sich mit einer Verneigung gegen die Obersthofmeisterin wenden, sie gleichsam um die Erlaubnis dazu ersuchen. – Die Obersthofmeisterin erhob sich, drehte sich gegen das Oratorium, in welchem sich die Monarchin befand, und wiederholte die Verbeugung und die stumme Anfrage. Hierauf nickte die Kaiserin bejahend, die Obersthofmeisterin überlieferte durch ein ebensolches Zeichen die Einwilligung der, Mutterstelle vertretenden, hohen Frau, die Braut verbeugte sich dankbar, wendete sich dann gegen den Priester und sprach ihr Ja aus.

Nach der Trauung folgte meine Mutter ihrem Gemahl in sein Haus, wo indes seine Mutter, bei welcher er wohnte, alle Anstalten zur Mittagstafel und Bewirtung der Hochzeitsgäste getroffen hatte; – und dann ihrer Schnur die Führung des ganzen Hauswesens übergab.


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Hier begann nun für meine Mutter eine ganz neue Lebensweise, ja, sie fand sich eigentlich in einer neuen Welt, nicht bloß durch den bedeutenden Unterschied, den die Verheiratung in das Leben jedes [30] Mädchens bringt, sondern hauptsächlich dadurch, daß sie sich plötzlich aus den glänzenden, geräuschvollen Räumen eines der ersten Höfe Europas und aus der unmittelbaren Nähe einer regierenden Monarchin in die Stille und Dunkelheit einer wohlhabenden, aber im Vergleich mit ihren frühern Gewohnheiten doch sehr beschränkten Haushaltung versetzt sah. Dennoch scheint dies so sehr mit den geheimen und lange genährten Wünschen ihres Herzens übereingestimmt zu haben, daß ich sie nicht allein dieser Epoche nie mit Trauer oder düsterer Erinnerung erwähnen hörte, wie man sonst wohl später sich an trübverlebte Stunden erinnert, sondern sie vielmehr mit Freude von dem Zeitpunkte sprach, wo sie endlich einer glänzenden und von vielen beneideten Sklaverei los ward und sich selbst angehören durfte. Es scheint, habe ich oben gesagt, denn ich war natürlicherweise keine Zeugin jener ersten Jahre der Verheiratung meiner Eltern, indem ich nicht einmal ihr erstes Kind war, und wie ich in die Jahre trat, wo Kinder etwas bemerken und beurteilen können, umgab meine Eltern schon wieder ein großer Glanz und eine Bemerktheit, welche meiner Mutter, wenn sie unmittelbar auf ihre Vermählung gefolgt wären, den Unterschied zwischen ihrem Hof-und häuslichen Leben weniger hätten fühlen lassen müssen.

Ich erblickte das Licht der Welt in einem Jahre mit dem merkwürdigsten Manne unserer Zeit, mit Napoleon, und um drei Wochen später als er. Oft hatte mir meine Mutter in frühern Jahren erzählt, daß damals (1769 ein sehr heißer Sommer gewesen und ein Komet am Himmel gestanden habe, den sie in den warmen Sommernächten, wo ihr beschwerlicher Zustand [31] (sie trug Zwillinge) ihr wenig zu schlafen erlaubte, oft betrachtete. Späterhin erinnerte ich mich dieses Umstandes, und daß dieser Komet, wenn man ja zwischen der Erscheinung dieser himmlischen Körper und unsern irdischen Angelegenheiten einen Zusammenhang annehmen will, gar wohl auf die Geburt jenes furchtbaren Helden gedeutet werden könne. – Meine Mutter hatte, ganz gegen die damalige Sitte der Frauen in ansehnlicheren Familien, beschlossen, ihre Kinder selbst zu nähren und in jedem Sinne ihre Mutterpflichten zu erfüllen. Den ältesten Sohn hatte sie bereits gestillt und sich sehr wohl dabei befunden. Jetzt, wo sie und jedermann glaubte, daß sie zwei Kinder auf einmal haben würde, hatte sie Lust und fühlte sich stark genug, beide zu nähren. Sie kam stets viel nach Hofe und sah oft ihre kaiserliche Gebieterin, diese aber, die ihre ehemalige Dienerin noch immer mit huldreicher Sorgfalt betrachtete, verbot ihr ausdrücklich, mehr als ein Kind zugleich zu stillen, und so überließ meine Mutter die Wahl, welche ihr schwer gewesen sein würde, der Vorsicht, indem sie beschloß, das Erstgeborne selbst zu tränken. Das war nun zu meinem Glücke ich, und obwohl ich, wie man mir später erzählte, so klein und schwach auf die Welt kam, daß man, an meinem Leben verzweifelnd, mir die Nottaufe gab, so gedieh ich doch an meiner Mutter Brust zu einer solchen Fülle von Kraft und Gesundheit, daß ich noch bis jetzt, bereits eine Siebzigerin, von keiner eigentlichen Krankheit weiß und nie, selbst nicht im Wochenbette, länger als 6–7 Tage hintereinander im Bette bleiben mußte. Kein chirurgisches Instrument, nicht einmal eine Lanzette zum Aderlassen, hat meinen Leib berührt, und ich kann, kleine Unpäßlichkeiten [32] und eine außerordentliche Reizbarkeit der Nerven und der Organisation überhaupt ausgenommen, welche sich in spätern Jahren offenbarte und mir große Behutsamkeit und Mäßigkeit zur Pflicht macht, sagen, daß ich stets vollkommen gesund war.

Mein Zwillingsbruder, ein starker, schöner Knabe, bekam eine Amme und starb noch vor dem ersten Jahre; denn die Amme wurde krank und verschwieg es. Auch mein älterer Bruder muß nicht lange nach meinem Erscheinen im elterlichen Hause gestorben sein, denn ich erinnere mich seiner durchaus nicht, obwohl mein Bewußtsein in einzelnen Bildern bis an mein drittes Lebensjahr reicht. Damals lebten jene zwei Kinder nicht mehr, aber ein viertes, auch ein Knabe, Franz Xav. mit Namen, wuchs neben mir empor. Ich wußte später, daß er um drei Jahre jünger sei als ich, und ich erinnere mich wohl, ihn noch auf dem Arm der Wärterin gesehen zu haben. Zwei Szenen aus jener frühen Zeit stehen auch noch einzeln vor mir und haben sich wie dämmernde Punkte in einer dunkeln Vergangenheit erhalten. Eines Morgens, es war ein Sonnabend, saß ich in meiner Eltern Schlafzimmer auf einem Schemelchen zu meiner Mutter Füßen, als mein Vater eintrat und ihr seine Erhebung zur Hofratsstelle ankündigte. Gewiß war dies Ereignis meinen Eltern sehr wichtig, und die Bewegungen, welche es im Hause verursacht haben mag, werden die Ursache sein, warum eine Veränderung unserer Lage, mit der ich damals, im 3. bis 4. Lebensjahre, gar keinen Begriff verbinden konnte, so bleibenden Eindruck auf mich gemacht hat. Das zweite Ereignis war verschiedener Art. – Ich stand im Zimmer meiner Großmutter, welche das Haus bewohnte, das an das unsrige [33] stieß, und deren Wohnung, weil beide Häuser ihr eigentümlich gehörten, durch eine Kommunikationstüre mit der unsrigen zusammenhing; – da trat der Bediente mit erschrockener Miene in das Zimmer der alten Frau (ich sehe sein Gesicht noch, er diente meinem Vater noch viele Jahre darnach) und erzählte, daß er eben von den »obern Jesuiten« käme: Da sieht es aus! rief der alte Jakob, die Aufhebung ist da, die kaiserlichen Kommissarien sind eben gekommen. Diese Nachricht war nun freilich für meine Großmutter, wie für sehr viele Menschen in jener Zeit, ein Donnerschlag; sie hatte einen Jesuiten zum Beichtvater, war überhaupt eine sehr fromme Frau und nach den Begriffen jener Zeit der Geistlichkeit sehr ergeben. Auch bei dieser Begebenheit muß das Betragen der Umstehenden den Eindruck auf mich gemacht haben, den eine Nachricht an sich nicht hätte hervorbringen können, von deren Wichtigkeit ich nichts verstand – und diese Szene wie die vorhergehende meinem Gedächtnis eingeprägt haben.


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Ich war ein sehr lebhaftes, munteres Kind – oft wurde mir gesagt, daß ich besser zum Knaben getaugt hätte, und ich erinnere mich mancher Ermahnungen, mancher beschämenden Auftritte, wo diese unbesorgte Lebhaftigkeit mich zu Übereilungen hingerissen oder zu einem Betragen getrieben hatte, das für ein Mädchen viel zu wild und entschieden war. Drei Jahre voraus und jene natürliche Unstetigkeit und Heftigkeit gaben mir lange Zeit ein großes Übergewicht über den jüngern und sanftern Bruder. Ich lernte leicht, faßte schnell, hatte ein vortreffliches Gedächtnis, lauter Naturgaben, um die ich kein Verdienst [34] hatte – an welchen ich aber meinen Bruder übertraf, der mit einem, wie es sich später wohl zeigte, viel richtigerm Verstande eine etwas langsamere Fassungskraft verband. Mir ward jene Leichtigkeit oft schädlich. – Ich lernte höchst ungern. – Auf einem Stuhle sitzen, acht geben und mit einerlei Gegenstand mich beschäftigen, das alles waren mir unerträgliche Dinge. So benützte ich jene Fassungskraft und mein gutes Gedächtnis, nahm mein Spielzeug oder ein Märchenbuch mit zur Lektion, hörte, während ich spielte oder las, mit halbem Ohr auf das, was der Lehrer erklärte und fertigte ihn, wenn er mir meine sehr ungehörige Spiellust verweisen oder die Gerätschaften derselben wegnehmen wollte, damit ab, daß ich ihm genau wiederholte, was er soeben gesprochen und auf diese Art meine Lektion doch zu wissen schien. – Freilich war es nur ein Schein und kein rechtes Erkennen, ich hatte es aber einmal dahin gebracht, beim Lernen spielen zu dürfen und ließ mir dies Vorrecht nicht nehmen. Noch erinnere ich mich eines Verses – des ersten, den ich in meinem Leben gemacht, den meine Ungeduld bei der Lehrstunde mir eingegeben. – – Die Stunde war von 12–1 Uhr, und meine Sehnsucht und Aufmerksamkeit viel mehr auf die Uhr als auf das Lernen gerichtet. – In dieser Stimmung setzte ich mir folgende Reime im Geiste zusammen:


Ührchen, Ührchen, geh' geschwind,

Mach', daß bald der Sand verrinnt,

Laß den Sand verrinnen,

Laß Ein Uhr beginnen,

Ührchen, Ührchen, geh' geschwind.


Doch nicht bei jedem meiner Lehrer ging dies mutwillige Spiel an. Ich hatte deren einige, welche [35] auch sonst noch in der Welt, besonders der literarischen, ausgezeichnet waren, und ich freue mich jetzt, nach mehr als einem halben Jahrhundert ungefähr, von diesen Männern sprechen und ihnen meinen Dank bezeigen zu können. Als ich mein sechstes Jahr erreicht hatte, wurde ich, zum Unterricht in der Religion, der Leitung des damaligen Katecheten an der Normalschule, Josef Gall 2, übergeben, der späterhin Pfarrer, dann Domherr, Oberaufseher der Schulen und endlich im Jahre 1788 Bischof in Linz wurde. Noch jetzt lebt das Andenken dieses, als Mensch, Priester, Pädagog und Kirchenoberhaupt gleich würdigen Mannes, in vielen Herzen, besonders der Oberösterreicher, welche unter seinem Hirtenamte ihre Schulen ungemein verbessert, die Pfarreien mit würdigen Männern besetzt und im ganzen Lande, dessen einzelne Teile der wahrhaft apostolische Bischof abwechselnd jährlich in den Visitationen durchreiste, echte Gottesfurcht und Sittlichkeit verbreitet sahen. Dieser vortreffliche Mann war mein Lehrer in der Religion, zu welchem Unterrichte er späterhin den in der Naturgeschichte und Naturlehre fügte, zwei Zweige der Belehrung, die für ein gottesfürchtiges wie für ein kindliches Gemüt sich gar wohl und erbauend an den Religionsunterricht schließen lassen, was denn Gall auch tat. Bei seinen Lektionen war keine Rede von Spielerei, und doch war er nichts weniger als streng, vielmehr heiter, gelassen und überaus gütig gegen seine Untergebenen, denen er bald mit Erzählung interessanter Geschichten oder natürlicher Erscheinungen oder mit dem Geschenke eines nützlichen Buches Freude zu machen und überhaupt [36] ihre Liebe und Ehrfurcht in gleichem Grade zu erwerben wußte.

Ein zweiter, ebenfalls nicht unberühmter Mann war mein Klaviermeister Steffann, ein Böhme von Geburt, der ebenfalls in dieser Eigenschaft als Klavierlehrer früher die kaiserlichen Prinzen und Prinzessinnen unterrichtet hatte. Steffann komponierte mit Glück, seine drei Sammlungen von deutschen Liedern machten damals (vor 50–52 Jahren) Epoche und brachen dem einfachen deutschen Gesange so zusagen eine neue Bahn. Steffann war ein humoristischer, ganz eigener Mensch, der zu den Wunderlichkeiten, welche bei Künstlern und besonders Musikern gewöhnlich sind, noch einige besondere fügte. Aber er verstand seine Kunst gründlich und hatte einen unerschöpflichen Fond von guter Laune. So imponierte er mir nicht durch sittliche Würde wie Gall, aber er flößte mir Achtung ein und wußte durch Güte und Ernst, durch Späße und Verweise meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Mir fiel es nicht ein, zu spielen oder etwas anderes zu sinnen, solange die Lektion dauerte, und ich galt auch bald für eine seiner besten Schülerinnen, obgleich Musik eigentlich meinem Geiste nicht zusagte, der sich mehr in klaren Vorstellungen als in unbestimmten Anregungen gefiel und dessen Anlagen und Natur mich von jeher die Malerei der Musik hatten vorziehen lassen.

Ich bekam auch Unterricht im Zeichnen, aber hier war die Wahl meines Lehrers nicht glücklich. Der Mann war unstreitig sehr geschickt in seinem Fache, welches Baukunst und Blumenzeichnung war, beides aber, besonders das erste, sprach mich ganz und gar nicht an. Dieses Handhaben des Zirkels und Lineals,[37] diese Unausweichbarkeit der Formen, diese Beschränkung aller Phantasie und Willkür war meinem überaus unsteten, lebhaften Wesen entgegen. Besser freuten mich die Blumen; hier war der Erfindung, der Freiheit zu ändern, doch einiger Raum gegönnt; aber mich hätte die Landschaftszeichnung am meisten angezogen, und diese verstand mein Lehrer nicht, und die Anleitung, welche er mir nach Büchern geben wollte, schlug nicht an; denn sie war nicht lebendig und wahr.

Späterhin wurde es mir klar, warum dieser Unterricht und dieser Meister gewählt worden waren. – Meine Eltern und einige verständige Freunde derselben, denen meine zweckmäßige Ausbildung am Herzen lag, fanden, daß mein allzu lebhafter und unsteter Geist, sowie meine Phantasie, welche schon die Schwingen zu regen begann, des Zaums und Gegengewichts einer ernsten, zu gründlichem Denken und anhaltender Aufmerksamkeit führenden Beschäftigung bedürfe. Jener Lehrer war zugleich auch Professor der Mathematik. Er sollte mich nebst dem Zeichnen nach seiner Art auch Geometrie lehren; – nicht damit ich einst Mathematik verstehen und damit prunken könne, sondern damit ich richtig denken, schließen und die schwärmende Einbildungskraft zügeln lerne. Daß dieser Unterricht nicht nach meinem Geschmacke war, wird man nach dem Vorhergehenden wohl leicht ermessen; indessen war er mir doch heilsam, und erleichterte mir späterhin das Begreifen, sowie das Durchdringen und Ordnen manches schwerer verständlichen Buches oder Vortrags.

Es wird hier passend sein, etwas von den Freunden, welche das Haus meiner Eltern besuchten, sowie von der innern Einrichtung dieses Hauses und seinen [38] äußeren Verhältnissen zu sagen, weil alles dies unmerklichen, aber steten und daher bedeutenden Einfluß auf die Bildung und Richtung meines Innern hatte.

Meines Vaters ausgezeichnete Geistesgaben, seine strenge Redlichkeit, sein Eifer, sein unermüdeter Fleiß hatten bald nach seiner Verheiratung die Aufmerksamkeit der Monarchin auf den Gemahl ihrer Vorleserin, der zugleich einer der tüchtigsten Beamten war, gelenkt. Sie erhob ihn zur Stelle eines Hofrates und geheimen Referendars, schenkte ihm viel Vertrauen, sah ihn oft, ließ sich von ihm in Privataudienzen wichtige Dinge vortragen und hörte seine Meinung, seinen Rat, zuweilen auch, wenn es die Umstände geboten, seinen Widerspruch mit Zutrauen und Geduld. Noch besitzen wir in unserer Familie einen Schatz von einzelnen Blättern, auf welchen von meines Vaters Hand Vorträge, Anfragen, Gutachten geschrieben sind, wie er sie der Monarchin vorlegen mußte und auf welche sie dann eigenhändig eine Antwort, Entscheidung, Entschließung usw. schrieb. Sie stellen ein Verhältnis des Staatsbeamten zu seiner Monarchin, und zugleich des innigstergebenen Dieners und Freundes zu seiner huldreichen Fürstin dar, das ebenso würdig als zart, ebenso rührend als erhebend ist und wovon ich im Verlauf einige Proben geben werde, welche gewiß dazu beitragen, den Charakter der großen Maria Theresia in seinem schönsten Lichte zu zeigen.

Diese Gunst der Monarchin verbreitete einen bedeutenden Glanz über unser Haus, welches durch die (für jene Zeit) beträchtliche Besoldung eines kaiserlichen Hofrates und das eigene Vermögen meines Vaters auf einem sehr hübschen Fuß eingerichtet war. Damals genossen die kaiserlichen Beamten, welche bei [39] Hofstellen dienten, noch der sehr wichtigen Wohltat der freien oder Hofquartiere. So wie mein Vater also Hofrat ward, konnte er auch Anspruch auf eine freie Wohnung machen, da ihm ohnedies die in seinem eigenen oder seiner Mutter Haus »im tiefen Graben« zu klein geworden war. Es war wahrscheinlich 1775 oder 1776, daß wir die Wohnung, in der meine Geschwister und ich geboren worden, gegen eine stattlichere und viel geräumigere im Hause zum großen Christoph vertauschten, welches jetzt freilich ein ganz anderes Ansehen hat als damals, wo es, nur einen Stock hoch, mit eisernen Gittern vor allen Fenstern, einem hölzernen Kommunikationsgang im Hofe, einer freien, unbedeckten Treppe usw. im Äußern und Innern einer alten Schloßruine ähnlicher sah als einem Wohnhause in Wien. Doch der Zimmer waren viel, sie waren hoch, groß und stattlich, und damals hatte man von vielen Bequemlichkeiten und Bedürfnissen, die jetzt in jeder Wohnung gefordert werden, keinen Begriff. Auch waren die Menschen stärker und gesünder. Luftzug, kalte Gänge, die zu passieren waren, Fenster oder Türen, die nicht allzu wohl schlossen, hier und da eine feuchte Wand usw. wurden nicht geachtet und, weil sie keinen schädlichen Einfluß hatten, kaum bemerkt. Ich weiß, daß meine Eltern ganz zufrieden mit ihrer Wohnung waren. Die großen Zimmer, welche Sälen glichen, boten ihnen ein gewünschtes Lokal für die Bildersammlung meines Großvaters und für die zahlreichen Gesellschaften, welche sich in unserm Hause zu versammeln anfingen. Hier wurde ein Theater errichtet, worauf wir Kinder kleine französische Stücke: Zeneïde ou la fée und L'isle déserte, nebst einer kleinen deutschen Idylle aufführten, welche [40] Herr von Ratschky (wenn ich nicht irre) nach dem Programm des niedlichen Noverreschen Ballettes: Blanc et rose geschrieben. In allen diesen Stücken wurden mir die muntern, mutwilligen Rollen zugeteilt; – es war mir damals nicht möglich, tiefe oder warme Empfindung zu zeigen, so wenig als später, als wir dreizehn, vierzehn Jahre darauf ebenfalls diese Art geselliger Unterhaltung versuchten.

Auch große Musiken wurden gegeben, und obwohl ich ein ganz winziges Geschöpf von etwa 7–8 Jahren war, ließ mein Vater mich doch kleine Konzerte, die mein Klaviermeister Steffann eigens für mich komponierte, mit vollem Orchester produzieren. Natürlich wurde das Kind, die Tochter vom Hause, beklatscht, belobt, bewundert, und ich hielt mich bald für eine bedeutende Künstlerin.

Um diese Zeit erregte eine Erscheinung, welche sich auch später, und in unsern Tagen oft wiederholt hat, das erstemal ungeheures Aufsehen in Wien. Es war dies der Magnetismus oder eigentlich Mesmerismus; denn Dr. Mesmer war es, der, damals ein schöner, kräftiger, junger Mann (die meisten Magnetiseure, die ich kennen gelernt, vereinten diese Eigenschaf ten) seine Kunst durch die Wiederherstellung des Augenlichts bei dem blinden Fräulein von Paradis zeigen wollte. Fräulein Therese von Paradis war damals ein Mädchen von 17–18 Jahren, nicht hübsch, aber voll Geist, Herzensgüte und Talent, besonders für Musik, was denn, mit ihrem Unglück zusammengenommen, ihr eine sehr anziehende Persönlichkeit gab, und ihr auch noch in späteren Jahren die Achtung und Liebe aller derjenigen erwarb, welche zu dem engeren Kreise ihrer Freunde gehörten, und unter welche auch ich mich zählen durfte.

[41] Damals war ich ein Kind, und auf keine Weise ihrer Bemerkung wert; auch lernte ich sie erst später, als jene Geschichten schon vorüber waren, persönlich kennen; aber ich erinnere mich wohl der überaus lebhaften Debatten, welche jeden Abend im Zirkel meiner Eltern, wo sich viele geistreiche, gelehrte Männer und gebildete Frauen versammelten, über diesen Gegenstand gehalten wurden. Die Gesellschaft teilte sich in Gläubige und Ungläubige. Zu den ersten gehörten hauptsächlich die Landsleute Mesmers (Schwaben) und jene Personen, welche, damals wie jetzt, ihrer Phantasie gern viel Spielraum gönnten, und sich lieber von dem Neuen und Ungewöhnlichen fortreißen ließen, als es untersuchten und prüften. Zu den zweiten zählte man viele gebildete Personen und einige Gelehrte und Professoren, namentlich von Well und Jacquin (Vater; der Sohn, der später rühmlich in dessen Fußstapfen trat, war damals ein Knabe, nur um ein paar Jahre älter als ich), und meine Eltern. Vor allen erklärte sich meine Mutter, deren scharfsichtiger Geist so wie ihre Achtung vor der Wahrheit sie schon a priori jedem Unerklärlichen, Geheimnisvollen abgeneigt machten, stets laut dagegen, und wollte diese Heilung, welche die andere Partei als schon entschieden annahm, nicht eher als möglich zugeben, bis sie nicht selbst sich überzeugt hätte, daß das Fräulein sehe. Sie fuhr also mit einem Anhänger der glaubenden Partei selbst in die Gartenwohnung, in welcher damals die Familie Paradis lebte, und Mesmer, der ebenfalls daselbst wohnte, noch verschiedene andere Kranke in der Kur hatte. Mein Vater begab sich an einem andern Tage dahin. Diese magnetische Behandlung des blinden Fräulein war das allgemeine Stadtgespräch, und ganz [42] fremde Menschen suchten Zutritt in dem Hause, um sich von dem Wunder zu überzeugen, daß eine Person, welche seit ihrem zweiten oder dritten Lebensjahre, infolge der zweckwidrigen Behandlung eines Hautübels, das Augenlicht verloren hatte, dies jetzt, nach so vielen Jahren, durch magnetische Einwirkungen wieder erhalten sollte haben. Aber weder mein Vater noch meine Mutter kamen gläubiger von diesen Besuchen zurück. – Beide konnten sich nicht überzeugen, daß Fräulein Paradis wirklich sehe, so manche Probe, so manches Kunststückchen ihr Magnetiseur und Freund sie auch machen ließ; und der Erfolg bestätigte meiner Eltern Wahrnehmungen. Nach einigen Wochen fielen sehr unangenehme Szenen zwischen Mesmer und der Familie Paradis vor, welche damit endigten, daß der erste sie und bald auch Wien verließ, um in Paris seine magnetischen Kuren fortzusetzen, und noch viel mehr Aufsehen und Anhänger zu machen als in Wien; die unglückliche Blinde aber in dem Zustande blieb, in welchem sie vor der Kur gewesen.

Bald nach dieser Geschichte wurde ein Mann in meiner Eltern Hause eingeführt, der bedeutenden Einfluß auf die Ausbildung und Richtung meines Geistes nahm – Herr L.L. Haschka, ein damals sehr junger, und, so viel ich mich erinnere, liebenswürdiger Mann, der nun seit ein paar Jahren bei der Aufhebung des Jesuitenordens, dessen Mitglied er gewesen, wieder in die Welt getreten, und den geistlichen Stand, da er keine Profeß abgelegt, völlig verlassen hatte. Mit ihm zogen, möchte ich sagen, die Musen in unser Haus, und meines Vaters Liebe für die schönen Künste kam jener Richtung, welche Haschka in sich trug, gern entgegen. Meine Mutter liebte zwar die Poesie durchaus[43] nicht, aber sie hörte doch gern gute Gedichte lesen, und erfreute sich daran, wenn Haschka, und auch später andere Musensöhne Wiens, die nach und nach mit uns bekannt wurden, ihre Werke bei uns lasen. Haschka bemerkte bald meine günstigen Geistesanlagen, er fing an, sich mit mir abzugeben, er ließ mich Gellertsche Fabeln auswendig lernen (Deklamieren war damals nicht Mode), ich durfte zuhören, wenn neue bedeutende Sachen gelesen wurden. Ich fing bereits damals an, die Empfindungen, von denen ich mich entweder wirklich beseelt fühlte oder die ich nach Willkür in mir hervorzurufen versuchte, zu Papier zu bringen, und, freilich ohne eigentlichen Begriff von Versen, Rhythmus und Form, so eine Art von Rhapsodie zu schreiben 3. Ich weiß, daß das eine dieser Blätter mit den Worten begann: »Die Tage sind dahin, an denen ich mich freute«, wie denn überhaupt eine Art von elegischem Gefühl mich, trotz meiner sehr glücklichen Lage und munteren Stimmung, in einzelnen Augenblicken zuweilen übermannte, und mich eine vergangene, schönere Zeit, die meist nur in meiner Einbildung existiert hatte, beklagen ließ. Vermutlich war es die kindische Freiheit und Zwangslosigkeit meiner ersten Jahre, welche im Vergleich mit den, nun beginnenden ernsteren Beschäftigungen des Lernens, Arbeitens und einer strengen Aufsicht, mir wie ein goldenes Zeitalter erschien, und mir meine Gegenwart in düsterem Lichte zeigte.

Im Herbst 1777 starb meine Großmutter, die lange gekränkelt hatte, wie sie denn überhaupt eine traurige Existenz hatte, und durch einen schlecht geheilten[44] Beinbruch gelähmt, seit vielen Jahren ihr Leben zwischen ihrem Bett und ihrem Kanapee teilte. Sie besaß auch deshalb eine Hauskapelle, in welcher Messe für sie gelesen werden durfte, und eine Kusine meines Vaters, ein bejahrtes, unverheiratetes Fräulein, lebte bei ihr und pflegte ihrer. Bei dieser Großmutter und dieser Tante blühten uns Kindern sehr schöne Stunden; denn hier durften wir uns manches erlauben, was meine Eltern mit Fug und Recht nicht duldeten, und hier erhielten wir auch allerlei Näschereien, die eben zu Hause uns mit eben so viel Recht nicht gegeben wurden. Den Grund dieses Verbotes einzusehen, waren wir viel zu jung, ich sieben, der Bruder vier Jahre alt, und wenn wir gleich zu Hause uns nichts weniger als unzufrieden fühlten, behagte uns doch jene größere Zwangslosigkeit, die Süßigkeiten, das Spielzeug, welches wir geschenkt erhielten, gar sehr. Diese Großmutter verstand auch Latein, die Tante machte (in größter Stille, denn sie schämte sich dessen) gar nicht schlechte Verse für jene Zeit, und hatte ein paar Trauerspiele in ehrenfesten Alexandrinern in ihrem geheimsten Schranke liegen, die in spätern Jahren, als sie mit großem Vergnügen in ihrer Nichte ein poetisches Talent wahrnahm, nur ich allein, und unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu sehen bekam.

Froh und freundlich wie helle Punkte glänzen mir aus dem Dunkel tiefer Vergangenheit diese bei der Großmutter und Tante verlebten Stunden entgegen. Sie stehen jetzt noch nach viel mehr als einem halben Säkulum deutlich vor meinem Geiste, ich könnte auch die Stelle jedes Stuhles, jedes Buches in dem einfachen Zimmer bezeichnen, so wie ich ein paar Sprüche wohl behalten habe, die ich oft bei passender Gelegenheit, [45] wenn ich kindisch und täppisch nach allem langte, was nicht für mich gehörte oder wenn ich nach etwas fragte, was ich nicht verstand, von der Großmutter hörte und deren einer meinem kindischen Verstande lange wie ein unbegreifliches Rätsel erschien. Lern was, so kannst du was, stiehl was, so hast du was und laß jedem das seine.

Diese gute, freundliche Großmutter war nun tot, die Tante bezog unser Haus, und meine Eltern verließen nun auch die Wohnung beim großen Christoph, und erhielten eine sehr schöne und äußerst geräumige in einem Hause »am Graben«, in welchem sich auch eine Hauskapelle befand. Hier, wo eine Enfilade von vier bis fünf Zimmern bloß zum Empfange von Gesellschaften bestimmt war, und noch viele andere Gemächer zur Bewohnung der zahlreichen Hausgenossen vorhanden waren, erweiterte sich unser häusliches Leben sehr. Meine Eltern boten jenem Herrn Haschka, der von seinem ersten Eintritt ins Haus sich als eine bedeutende und angenehme Erscheinung gezeigt hatte, Quartier in ihrer Wohnung an; es wurde für meinen Bruder ein Hofmeister und für mich ein Mädchen angenommen, das aus gutem Hause, aber arm und einige Jahre älter als ich, mir zur Gespielin und gewissermaßen zur Aufseherin bestellt war. Wir hatten viele Domestiken, Equipage, Reitpferde, eine nach damaligen Begriffen elegante Wohnung, täglich abends zahlreiche Gesellschaft, sehr oft Gäste zu Mittag, und meist ein paar Freunde zum Souper.

So gestaltete sich unser Leben glänzend und angenehm. Vielleicht bestand aber die größte Annehmlichkeit desselben (wenigstens dünkt es mich jetzt so) in dem Umstande, daß die höhere Geistesbildung meiner [46] Eltern, welche sie vor den meisten ihrer Standesgenossen auszeichnete, ihnen den Umgang mit geistreichen, gebildeten und sogar gelehrten Personen wünschenswert, ja zum Bedürfnisse gemacht hatte. Mein Vater malte sehr hübsch in Pastell, er dichtete artige Lieder, welche damals (vor 70–80 Jahren) mit gefälliger Musikbegleitung allgemein bekannt und gesungen wurden. Eins derselben erhielt eine besondere Zelebrität, es fing also an:


Als in jüngstvergangnem Jahr

Leipzigs Ostermesse war,

Hatte in des Marktes Mitte

Amor eine Krämerhütte,

Und bot freundlich jedermann

Herzen zu verkaufen an; usw.


Überdies liebte und trieb er Musik mit großem Eifer, und fand bei vielen und wichtigen Geschäften doch immer noch Zeit für die Erholungen, welche die schönen Künste ihm boten.

Meine Mutter, im Gegensatze von ihm oder um den Kreis der Bildung, der sich in unserm Hause fand, zu vervollständigen, hatte einen ausschließenden Hang zu ernsten Wissenschaften. Sie verachtete, möchte ich beinahe sagen, Dichtkunst und überhaupt schöne Künste, sie hielt blutwenig von der Geschichte, die ihr zu wenig ausgemachte und unzweifelhafte Wahrheit bot. Sie strebte nur nach dieser, wollte nur diese finden, hören und ihr folgen. Gewiß ein edles Streben, nur leider! daß es dem Menschengeiste in seinen irdischen Beschränkungen so ganz und gar nicht möglich ist, außer der Mathematik sich irgend einer unbestrittenen Wahrheit zu versichern, und endlich doch alles aufs Glauben und Dafürhalten hinausläuft! Dieser Geistesrichtung gemäß, interessierte sich meine Mutter [47] für Naturgeschichte, Naturlehre, sogar Astronomie, welche letztere Wissenschaft für sie großen Reiz hatte, und endlich für Untersuchungen in einem Fache, das gewiß wenig Männer, und vielleicht außer ihr noch nie eine Frau beschäftigt hat. Sie strebte nämlich, durch die Bekanntschaft mit den Religionen und Mythen aller alten und neuen Völker, mit den Traditionen, den Geschichten der Vorwelt, den Mysterien, Tempelgebräuchen usw. zur ursprünglichen und höchsten Erkenntnis in Rücksicht der Gottheit, unseres Verhältnisses zu ihr, der Geologie und Kosmogonie zu gelangen. Zu diesem Behufe las und exzerpierte sie eine Menge Bücher in allen Sprachen, und ich besitze noch mehrere Blätter, auf welchen, sie einige Andeutungen der Resultate ihrer Forschungen aufgezeichnet hat. Das männliche Geschlecht kam bei allen diesen Untersuchungen nicht zum besten weg, und meine Mutter war sehr geneigt (wie ich später hörte, als ich imstande war, solche Begriffe zu fassen, und ihr oft Bücher vorlas, welche in diesem Sinne geschrieben waren, z.B. Sur les droits des femmes, par Mme. de Wolstonecraft das System aufzustellen, daß die Frauen ursprünglich von der Natur und Vorsicht zur Herrschaft bestimmt seien, und dieses Vorrecht durch eine Art von Usurpation des männlichen Geschlechtes, welches uns an physischen Kräften übertrifft, verloren habe. Doch das ist eine Abschweifung, welche eigentlich nicht hierher, sondern in die spätere Zeit meiner aufblühenden Jugend gehört; aber sie floß zu natürlich aus dem Vorhergesagten, um ganz unterdrückt zu werden, und ich werde mich nur später darauf berufen.

Ich kehre zu dem Punkte zurück, auf dem sich unser Haus in den Jahren 1777, 78, 79 befand. Haschka, [48] der durch seinen lebendigen Geist, durch sein Dichtertalent, durch seine Rechtlichkeit und echte Freundschaft, wohl aber auch durch ein Betragen, das ich jetzt, nach 50 Jahren darüber nachdenkend fordernd und um sich greifend nennen möchte, mit jedem Tage mehr Ansehen und Gewicht in unserer Familie bekam, führte nach und nach die damaligen Schöngeister von Wien bei uns ein. Alxinger, sein treuester Freund, wurde bald eben dies für meine Eltern, und war täglich bei uns; Leon (ebenfalls Dichter und später Kustos der k.k. Bibliothek) ward durch Haschka als Hofmeister meines Bruders ins Haus gebracht. Durch diese beiden lernten wir Ratschky, Denis, Mastalier, Blumauer usw. kennen, und durch die Professoren Well (den Botaniker und Naturforscher), Jacquin, Abbé Eckhel, Sonnenfels, Sperges, Maffei (lauter Namen, welche die Literargeschichte Österreichs mit Achtung nennt) wurden auch die ernstern Wissenschaften in unsern Kreis gezogen.

Mein Geist war lebhaft, meine Phantasie beweglich. Die schönen Künste lebten und herrschten in unserm Hause, Dichter umgaben uns beständig, Musiker, Maler von einiger Bedeutung, welche nach Wien kamen, ließen so wie Gelehrte anderer Art sich bei meinen Eltern einführen, deren Haus vor vielen der Hauptstadt sich auszeichnete. Alles, was von neuen Dichterwerken im In- und Auslande erschien, wurde sogleich bei uns bekannt, gelesen, besprochen. Herr v. Leon, unser Hofmeister, damals ein junger Mann von 23–24 Jahren, fand Vergnügen an der lebhaften Weise, womit mein Geist alles auffaßte, was Dichtung hieß, so z.B. die Bürgerschen Romanzen, die ich bald auswendig wußte. Wenn ich gut gelernt hatte, [49] las er mir zur Belohnung eine Szene aus Götz von Berlichingen, ein Stück aus Werther, Woldemar oder einer andern Dichtung vor; und ich kannte diese Bücher, wußte manches davon auswendig, ehe ich imstande war, ihren Wert auch nur im geringsten zu fassen und zu beurteilen. Ob dies wohl klug gehandelt war bei einem Kinde, dessen Phantasie ohnedies zu lebhafte Sprünge machte, will ich dahingestellt sein lassen; es diente aber, nebst den Einwirkungen, welche von allen Seiten auf mich eindrangen, sehr dazu, den Keim zur Dichtung, der in mir lag, zu erwecken. Ich versuchte mit zehn Jahren, einige gereimte Zeilen zusammen zu setzen (denn mit einem bessern Namen verdienen so rohe Anfänge nicht genannt zu werden), und so entstand mein erstes Liedchen, auf dessen erste Zeilen ich mich noch besinne:


Wie lieblich ist der Morgen,

Wie schön ist's auf der Flur!

Es schwinden alle Sorgen,

Die Freude lächelt nur usw.


Daß dies nichts als Reminiszenzen aus der Unzahl von gelesenen und gehörten Gedichten waren, die täglich und stündlich in meinem Kopfe spukten, ist klar, und wenn wir die ersten Versuche so mancher, besonders der sogenannten »Naturdichter« betrachten, die denn auch auf gewisse Weise noch Kinder sind, wie ich es war, so wird sich finden, daß ihr Dichterberuf, so wie meiner damals, wohl in weiter nichts als einer glücklichen Kombinationsgabe und gutem Gedächtnisse besteht. Indessen – mein Liedchen wurde angehört, gelobt, bewundert und sogar in Musik gesetzt. Was geschieht nicht von Seiten der Freunde und Bekannten für die Kinder eines verehrten und ansehnlichen [50] Hauses! Das sollten sich manche gegenwärtig halten, die, von den Lobsprüchen der Haus- und Tischfreunde irregeführt, so leicht dahin gebracht werden, in den Äußerungen und Leistungen ihrer Sprößlinge etwas Außerordentliches zu sehen.

So schwach diese Versuche waren, so dienten sie doch, verbunden mit meinem lebhaften Geiste und meinem unvergleichlichen Gedächtnisse, dazu, die Aufmerksamkeit der Männer von Bildung und Wissenschaft, die das Haus meiner Eltern oft besuchten, vor allen die unsers Hausgenossen Haschka auf mich zu lenken. Er fand es der Mühe wert, sich mit dem Kinde, das etwas zu werden versprach, abzugeben; er bestimmte täglich eine gewisse Zeit, wo ich auf sein Zimmer kommen mußte, und wo er mir, so wie meinem Bruder, Unterricht in den Regeln der deutschen Sprache gab – damals noch aus Gottscheds Grammatik; denn Adelung war noch nicht erschienen.

Hier aber stößt meine Erinnerung auf einen dunkeln Fleck in der Entwicklung meines Selbsts, auf einen häßlichen Zug des Übermutes und liebloser Eitelkeit. Ich könnte ihn verschweigen, denn er ist zum Glücke auf keine Weise mit in die weiteren Fortschritte meiner Bildung verflochten; aber ich würde unwahr zu sein, und diesen Bekenntnissen einen Teil ihres Wertes für unbefangene Seelen, die auch aus Fehlern anderer lernen können, zu entziehen glauben, wenn ich den meinigen nicht gestände, da ich doch auch einiges zu meiner Entschuldigung anführen kann.

Ich glaube schon einmal berührt zu haben, daß mein Bruder, der um drei Jahre jünger war als ich, von der Natur zwar, wie es sich später zeigte, einen sehr scharfen, richtigen Verstand, aber kein so schnelles [51] Auffassungsvermögen erhalten hatte, als ich. Auch sein Gedächtnis war nicht so hervorstechend, und eine gewisse Langsamkeit in geistigen und körperlichen Bewegungen, verbunden mit einer nicht ganz deutlichen Aussprache, machten ihm das Lernen schwer und daher oft unangenehm. Die Lehrer, die wir (das Zeichnen und Klavierspielen ausgenommen) gemeinschaftlich hatten, waren daher stets mit mir viel besser zufrieden, obgleich sie, wenn sie sich die Mühe genommen hätten, etwas tiefer zu untersuchen, manchesmal gefunden haben würden, daß eben jene große Leichtigkeit der Auffassung mein Erlernen oft oberflächlich und vergänglich machte. Indessen, ich glänzte, ich ward vorgezogen, als Beispiel aufgestellt, und – ich übernahm mich, was eine natürliche Folge davon war. Man wollte meines Bruders trägen Geist aufstacheln, ihn zur Nacheiferung reizen, und wenig fehlte, man hätte mein Herz verdorben. Ich hielt mich für viel was Vorzüglicheres als meinen Bruder, ich erlaubte mir, ihn zu bespötteln, zu necken, lächerlich zu machen, und diese Bestrebungen eines eitlen, lebhaften Kindes wurden leider nicht streng und strafend gerügt, wie ich mich wohl erinnere.

Noch weiß ich nicht, wodurch ich so viel Gnade vor Gott gefunden, daß er mich nicht tiefer fallen, und mich sogar die fortgesetzte Liebe dieses, von mir nicht immer schwesterlich behandelten Bruders nicht verlieren ließ. Es ist wohl dies der größte Beweis von der Trefflichkeit des schönen Herzens dieses teuern und unvergeßlichen Bruders, daß keine Art Widerwille oder Bitterkeit gegen die stets vorgezogene und über ihn erhobene Schwester, die noch dazu sich dieses Vorzugs nur zu sehr bewußt war, sich in diesem Herzen festsetzte, [52] und eine innige Geschwisterliebe uns bis an seinen Tod verband.

Eine feste Stütze hatte dieser Bruder im Hause an jener Tante, der Kusine meines Vaters, welche seit dem Tode der Großmutter bei uns lebte, und auch auf mich eine bleibende Einwirkung anderer – eigentlich poetischerer Art übte. Geliebt ward ich nicht sehr von ihr, wenigstens dazumal nicht; denn sie sah in mir den Gegenstand, um dessentwillen ihr Liebling Xaver zurückgesetzt wurde; aber sie war mir gut als dem Kinde ihres teuern Verwandten, meines Vaters, und da sie viel zu billig und gutmütig war, um unter Geschwistern einen gehässigen Unterschied zu machen, so genoß ich manche Freude mit, und erhielt manches werte Geschenk von ihr, weil sie eben ihren Liebling, meinen Bruder, damit erfreuen wollte. Aber diese Vorliebe meiner Tante für den Knaben, den Eltern und Lehrer mit großer Strenge behandeln zu müssen glaubten, und die daraus entspringenden Mißverhältnisse veranlaßten öfters unangenehme Szenen im Innern unserer Familie.

Während sich die Dinge auf solche Art im häuslichen Zusammensein gestalteten, ging das äußere, glänzende Leben seinen Gang fort. Jeden Abend war Gesellschaft. Angesehene Beamte mit ihren Familien, Kavaliere, einige Damen, Gelehrte und Künstler besuchten unser Haus. Mein Vater gab öfters große, glänzende Konzerte, zu welchen die schöne Welt sich drängte und bei welchen ich – obgleich noch ein Kind – mich auf dem Flügel (damals kannte man noch keine Pianoforte) hören ließ. – Aber eben diese Auszeichnungen, die sichtbare Gunst der Monarchin, welche mein Vater genoß, der glänzende Fuß, auf dem unser [53] Haus eingerichtet war, die Menge der Besucher desselben, erregten Aufsehen, Mißgunst, Feinde. Von vielen Seiten standen sie gegen meinen Vater auf; vieles wurde versucht, um ihm die Gnade der Kaiserin zu rauben; aber seine unerschütterliche Treue und Redlichkeit bestanden alle diese Proben. Die Monarchin verkannte den Wert seiner Dienste nie, und bis an ihren Tod währte das Vertrauen und die, ich möchte sagen, freundschaftliche Zuneigung, die sie ihm so wie meiner Mutter schenkte, und für welche wir noch in jenen Blättern, von denen ich oben sprach, rührende Beweise, von ihrer Hand geschrieben, besitzen.

Meine Mutter besuchte den Hof oft. Ihre Stellung in der Welt erlaubte ihr zwar nicht, in den Kreisen des Adels und bei jenen Gelegenheiten zu erscheinen, wann dieser sich um die Monarchin versammelte, und nur einmal im Jahre, am Neujahrstage, war es damals den Frauen der höheren Staatsdiener erlaubt, sich zum Handkusse bei der Kaiserin einzufinden. Das unterließ denn meine Mutter nie, und noch sehe ich das Kleid vor mir, von schwerem, weißen Seidenstoff, mit bunten und goldenen Blumen reich durchwirkt und mit goldenem Besatz verschönert, das sie an solchen Tagen trug. Aber sie fuhr oft in die Burg, nach Schönbrunn oder Laxenburg, um in der Kammer, wie man es nennt, der Monarchin aufzuwarten, und bei diesen Besuchen nahm sie uns, ihre Kinder, öfters mit. So sah ich denn den glänzenden Hof der regierenden Frau, sie und viele ihrer schönen Kinder, die damaligen Erzherzoge Max und Ferdinand, die Erzherzoginnen Marianne, Christine, Elisabeth usw. oft. Lebhaft steht die Gestalt der großen Frau vor mir, die, trotz ihres vorgerückten Alters und ihrer durch die [54] Blattern damals ganz zerstörten Schönheit, eine Majestät, mit Huld und Freundlichkeit verbunden, besaß, welche unwiderstehlich anzog. Wie manches Mal redete sie freundlich zu mir, ließ sich herab, mir Spielzeug zu schenken und dessen Gebrauch zu zeigen. In Laxenburg und wohl auch in ihren andern Schlössern hatte sie, da ihr das Treppensteigen sehr beschwerlich zu werden anfing, sich eine Maschine machen lassen, welche in einem Kanapee bestand, auf dem sitzend sie mittelst eines leichten Mechanismus in das obere Stockwerk hinaufgehoben oder in das untere hinabgelassen werden konnte. Höchst wunderbar und unterhaltend war es mir, wenn sie zuweilen sich mit meiner Mutter auf eines jener Sophas setzte, mich zwischen ihnen beiden stehen hieß, und ich mich nun wie durch Geisterhände emporgehoben und in ein anderes Zimmer versetzt fand. Noch jetzt, nach mehr als 50 Jahren erscheinen jene Bilder, die Gestalten jener fürstlichen Personen, vor allen die Gestalt der huldvollen, großen Kaiserin mir hell und deutlich. Ich wollte die Zimmer, in die ich damals oft geführt wurde, noch finden, und den ganzen silbergrauen Aufputz ihres einsamen Witwengemaches beschreiben. Hier saß sie einmal, nach einer glänzenden Schlittenfahrt, welche meine Mutter auch in den Zimmern der Kaiserin mit angesehen hatte, Knötchen schürzend (ihre gewöhnliche Handarbeit, welche dann zur Verzierung von Kirchenornaten verwendet wurden), am Fenster, und ich befand mich allein in der Stube bei ihr. Da rief sie mich und gab mir einen Auftrag an eine ihrer Kammerdienerinnen im vordersten Zimmer. Ich – ein Kind von 8–9 Jahren, eilte dann geschäftig hinaus, sehr geehrt durch den Auftrag, glitschte aber auf dem Parkett [55] aus, und fiel im vordersten Zimmer der Länge nach hin. Sogleich schickte die gütige Monarchin ihre Kammerfrau, um zu sehen, ob mir nichts widerfahren wäre, ließ mich zu sich hineinführen, befragte mich selbst, und da das ganze geschehene Unglück in einem zerbrochenen Fächer bestand, den ich in der Hand gehabt hatte, schien sie sehr erfreut, und schenkte mir einen andern, den ich noch als Andenken jenes kleinen Vorfalls und der Huld Maria Theresias heilig verehre.

Allmählich aber kamen auch trübere Stunden und mancherlei Verdrießlichkeiten, ja endlich manches Unglück. Unser Hausstand war durch die Tante, Herrn Haschka, einen Hofmeister und meine Gesellschafterin vermehrt. Wie wahr ist das, was in den – mir übrigens gar nicht zusagenden – Wahlverwandtschaften Charlotte darüber sagt: wenn wir andere in unser Haus, an unsern Tisch nehmen, unser Leben mit ihnen gemeinschaftlich verbringen sollen! Mögen es noch so gute Menschen sein – jene vier Personen waren es sicher, vor allen die gute Tante – aber es sind andere als wir, sie haben andere Ansichten, andere Gewohnheiten, andern Geschmack. – Sollen sie dies alles nicht uns zum Opfer bringen, und sich ganz verleugnen, so müssen wir von den unsrigen abhandeln lassen, wir müssen, ihre Individualität erkennend, und wie billig ehrend, die unsrige beschränken; – das tut niemand gern und so bringt ein solches Zusammenleben selten allen Teilen Freude. Auch bei uns erzeugten sich einige Mißtöne, ich bemerkte wohl hier und da etwas, aber ich war zu sehr Kind, um darauf zu achten. Wichtiger war mir die Erscheinung eines Schwesterchens, das nach dem ersten Winter, welchen wir in jener Wohnung am Graben verlebten, das Licht [56] der Welt erblickte. Es war ein bildschönes Kind, das einer unsrer werten Hausfreunde zur Taufe hielt, und das den Namen einer innigen Freundin und Verwandten meiner Eltern, einer Frau von Häring, welche sich Rosine nannte, erhielt. Meine Mutter nährte das Kind selbst, es gedieh trefflich, und es ward beschlossen, daß es so wie mein Bruder im Frühling des nächsten Jahres zu Hetzendorf im k.k. Lustschlosse geimpft werden sollte.

Die Blatternimpfung war damals, in den Siebziger-Jahren des vorigen Säkulums, so neu, so allgemein anregend, aber im Anfange auch von vielen so gefürchtet und verdächtigt, wie dreißig Jahre später die Vakzine.

Die Kaiserin, überzeugt von der Nützlichkeit dieser Methode, suchte durch Befehl, Ermahnung und Beispiel ihr überall Eingang zu verschaffen. Sie etablierte in einem ihrer Lustschlösser, zu Hetzendorf, in der Nähe von Schönbrunn, eine solche Anstalt, in welcher jeden Frühling mehrere Familien des Adels und angesehenen Mittelstandes aufgenommen und sämtlich auf kaiserliche Kosten bewirtet wurden, wenn sie sich entschlossen, ihre Kinder daselbst von den kaiserlichen Leibärzten impfen zu lassen. Man kann denken, wie gern und häufig sich Eltern fanden, die um diese Vergünstigung nachsuchten, ihre Kinder vor dem gefährlichsten Feind, den Blattern, auf eine so ehrenvolle als angenehme Art zu sichern; denn, so wie ich in meiner Kindheit oft vernahm, glich jener Jmpfséjour in Hetzendorf einem fröhlichen Badeaufenthalt, wo mehrere, sonst sich fremde Familien in einem angenehmen Lokal auf dem Lande versammelt, in wechselnden Zerstreuungen und Unterhaltungen lebten. Beinahe [57] täglich fuhr die Monarchin von Schönbrunn hinüber, um nach dem Fortgang ihrer Anstalt zu sehen. Sie veranstaltete kleine Feste für die Kinderchen, Lotterien, Spiele usw., kurz, sie sorgte als allgemeine Mutter auch für alle.

Den Winter nun vor dem Frühling, wo jene Impfung meiner jüngern Geschwister stattfinden sollte (ich selbst hatte bereits an der Mutter Brust natürlich und glücklich geblattert) erkrankten diese plötzlich; – es zeigten sich die Blattern, und zwar von der bösesten Art. Mein Bruder, damals ein bildschönes Kind von vier bis fünf Jahren, war lange in Lebensgefahr, er sah kaum, durch Geschwulst und Blasen entstellt, einem Menschen gleich; und meine Mutter, die ihn mit der größten Sorge pflegte, stand unnennbare Angst um ihn aus. Das jüngere Schwesterchen aber starb, und als der Knabe sich zu erholen anfing, lag jene im Sarge. Dies war für meine Eltern eine sehr traurige Zeit. Die gütige Kaiserin nahm auch hier warmen und tröstenden Anteil an den Leiden meiner Eltern. Wir besitzen noch unter jenen, schon erwähnten Blättern eines, worauf, nachdem mein Vater ihr den Tod dieses Kindes gemeldet, sie ihm folgendes schriftlich erwidert:

»ich empfinde beeder Ältern Schmertz, wie glücklich ist die Kleine, hat ihre Carrière bald gemacht in unschuld. Von dem muß man sich occupiren, nicht von dem Verlurst; was haben wir mit unserm langen Leben vor Nutz und Freud, was für Verantwortung? da ist zu zittern. Gott erhalte ihm seinen Kleinen« 4.

Diese trübe Zeit verging denn auch. Meiner Eltern Schmerz beruhigte sich allmählich. Bruder Xaver [58] war vollkommen genesen, und obwohl seine hübschen Züge zerstört waren, so daß, wer ihn früher gesehen, ihn jetzt kaum mehr erkennen konnte, war seine Gesundheit doch weiter nicht erschüttert. Er gedieh, so wie ich, recht fröhlich; Schwester Rosine war ein Engel im Himmel. Unsere Lernstunden gingen wieder den gewohnten Gang, und ebenso die Lebensweise meiner Eltern. Der kleine Preußenkrieg – der Zwetschkenrummel vom Volke genannt – der sich in dieser Zeit, 1778–79, erhob, hatte so wie auf das allgemeine, so auch auf das innere Leben unserer Mitbürger keinen sichtbaren Einfluß. Aber die Gesinnungen des Thronfolgers, Kaiser Josefs, die in vielem von denen seiner Mutter verschieden waren, schienen damals immer deutlicher hervorgetreten zu sein, und manches Mißverständnis, manche Unzufriedenheit zwischen Mutter und Sohn erregt zu haben. Es war eben die alte und neue Zeit, die sich hier grell und stark von einander trennten, und so wie sie einander nicht begreifen konnten, konnte auch keine Vereinigung zwischen ihnen stattfinden. Mein Vater kannte dies alles sehr genau, und in jenen Blättern liegt mancher Beleg dazu, wenn die lebens- und arbeitsmüde, fromme Herrscherin selbst davon spricht, daß sie das nicht mehr sei, was sie gewesen, und daß ihr Wort, ihr Wille nicht mehr gelte wie früher.

Noch ein Jahr verging auf diese Weise. Mein Geist entwickelte sich allmählich, und so wie er sich selbst und seine Umgebungen besser zu verstehen anfing, übte Phantasie und Dichtkunst mehr Macht über denselben. Ich hatte hin und wieder einen Roman, ein Schauspiel zu lesen bekommen. Ich schrieb nun selber eins oder zwei, die jedes, ungefähr einen Bogen stark, [59] barer Unsinn waren, wie ich mich noch erinnere; aber genug, ich fühlte den Drang, etwas zu dichten und meine Gedanken zu Papier zu bringen. Haschka ließ mich viele Gedichte auswendig lernen, mein Kopf war voll Verse, Bilder, Reime; – und aus dieser aufgehäuften Masse fremden Gutes entwickelte sich da und dort etwas eigenes, so zum Beispiel ein Jahr später ein kleines Gedicht auf die Wiedergenesung einer Gespielin, jenes Mädchens, das meine Eltern mir zur Gesellschafterin gegeben hatten, welches Gedicht die Herren Poeten, die unser Haus besuchten, aus Rücksicht für meine Eltern – denn das Zeug verdiente die Ehre nicht – in einen Wiener Musenalmanach aufnahmen. Nun war also mein Name schon gedruckt, obgleich ich kaum zwölf Jahre zählte. Doch ich kehre zum Faden der Erzählung zurück.

Im Herbste 1780 fing die Kaiserin an, viele Beschwerden von einem heftigen Husten zu fühlen. Die Ärzte machten bedenkliche Mienen; – man glaubte die reißenden Fortschritte einer längstbegonnenen Brustwassersucht zu erkennen, welche der Monarchin schon seit vieler Zeit das Treppensteigen, Atemholen usw. beschwerlich gemacht hatten. Die Stadt wurde bestürzt, in allen Familien regten sich, je nachdem ihre Stellung zum Hofe oder dem öffentlichen Leben war, je nachdem sie mehr der milden, wohltätigen Wärme des sinkenden Gestirnes oder dem feurigen Glanze des aufsteigenden zugewendet waren, verschiedene, aber lebhafte Besorgnisse, Hoffnungen, Erwartungen; aber in unserm Hause und wohl noch in vielen der älteren Diener Maria Theresias herrschte die tiefste Niedergeschlagenheit. Der Zustand der Kaiserin verschlimmerte sich schnell; in wenigen Tagen wurde von höchster [60] Gefahr und bald darauf von Hoffnungslosigkeit gesprochen. Ich erinnere mich noch dieser ängstlichen Tage sehr wohl, sie lasteten selbst auf uns Kindern durch den Reflex des Kummers unserer Eltern und Freunde; denn wir konnten die Bedeutung der großen Veränderung, welche dem Vaterlande bevorstand, und ihre Folgen nicht einsehen. Während alles um sie her trauerte, behielt nur sie ihre ruhige Fassung bei. Sie hatte als Christin im höheren Sinne gelebt; sie war mit der Idee ihres Todes vertraut, und jenseits erwartete sie der unvergeßliche, geliebte Gemahl und mehrere vorangegangene Kinder. Ihr Zustand erlaubte ihr nicht, im Bette zu bleiben, so brachte sie die wenigen Tage der sehr verschlimmerten Krankheit bis zu ihrem Tode auf ihrem Kanapee sitzend, mit Kissen gestützt, zu. Kaiser Josef verließ die verehrte Mutter in diesen düstern Tagen fast nicht mehr, und zeigte ihr ungeheuchelten Schmerz und kindliche Achtung. Man erzählt, sie habe, völlig vertraut mit dem Gedanken, in kurzem aus diesem Leben zu scheiden, und jede wohlgemeinte Täuschung in dieser Ansicht von sich abwehrend, sich zuerst als Christin mit Beobachtung aller vorgeschriebenen Gebräuche zum Tode bereitet, und sich dann vorgenommen, die Annäherung des letzten Augenblicks mit ruhiger Fassung zu beobachten; daher habe sie ihrem Leibarzt, B. v. Störck, in einer geheimen Unterredung befohlen, wenn er glaube, daß der Augenblick des Scheidens eintreten werde, ihr dies durch ein, den übrigen Anwesenden unmerkliches Zeichen zu erkennen zu geben. Es wurde beliebt, daß B. v. Störck, der sich stets bei der erhabenen Kranken befand, oft ihren Puls fühlte, und die wenigen möglichen Erleichterungen und Hilfsmittel [61] verordnete, sie, wenn er jenen Zeitpunkt eingetreten glaubte, fragen sollte: ob sie vielleicht Limonade befehle? und daß die Kaiserin dann schon wissen würde, was dies zu bedeuten habe. Ich kann die Echtheit dieser Anekdote nicht verbürgen, weil meine Mutter natürlicherweise nicht mehr im unmittelbaren Hofdienst um die Person der Monarchin war, und mein Vater wohl täglich mehrere Male sich in der Kammer der Kaiserin persönlich nach ihrem Befinden erkundigte, aber die vielgeliebte und hochverehrte Frau in der kurzen Zeit ihres letzten Übelbefindens, das nur wenige Tage währte, nicht mehr sah. Indessen, wenn jene Geschichte mit der Limonade auch nur eine Erfindung war, so zeugt sie doch von der Ansicht und Vorstellung, welche man sich im Publikum von der Kraft und frommen Heiterkeit ihres Geistes machte.

Am 29. November 1780, zwischen 8 und 9 Uhr abends, als eben einige treue Freunde meiner Eltern bei ihnen versammelt waren und alles mit banger Sehnsucht den Nachrichten entgegensah, die man heute noch vom Hofe erwartete, trat – ich erinnere mich dessen sehr lebhaft – der Gemahl jener Verwandten, nach deren Vornamen meine selige Schwester war getauft worden, Regimentsrat von Häring (wie man damals sagte), einer der genauesten Freunde unsers Hauses, ins Besuchzimmer, und seine düstere Miene zeigte schon, daß er nichts Gutes zu verkünden habe. Jetzt ist wahrscheinlich die Kaiserin gestorben, sagte Herr von Häring. Ich bin durch die Burg gegangen, es ist ein Hin- und Herlaufen, eine Bestürzung unter den Leuten, die auf nichts anderes schließen lassen. So sehr meine Eltern auf diesen Schlag vorbereitet waren, so entstand doch die heftigste Erschütterung. [62] Mein Vater eilte nach Hofe; – es war nur zu wahr, was unser Verwandter vermutet hatte. – Maria Theresia war verschieden und eine neue Zeitrichtung trat an die Stelle der bisher befolgten.


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Ich stehe nun mit meinen Erinnerungen an einem Abschnitte, den man mit Recht einen Wendepunkt in der Geschichte, besonders in der Österreichs, nennen kann, an dem Regierungsantritt Kaiser Josefs II.

Sprünge geschehen nicht, weder in der physischen noch in der moralischen Welt, und jeder folgende Zustand des Einzelwesens wie des Ganzen liegt lange vorbereitet und eingehüllt im Vorhergehenden, so daß er selten mit überraschender Neuheit plötzlich hervortritt, sondern sich meistens nur nach und nach entfaltet und jene Veränderungen sichtbar erscheinen läßt, welche gleichsam unsichtbar schon länger vorhanden waren. So war es auch damals mit jener Periode der Denk- und Preßfreiheit, Aufklärung, Neuerung und Philosophie, deren Wurzeln weit zurück in vergangenen Dezennien zu suchen waren. Indes trat sie, obwohl lange vorbereitet, bei Gelegenheit des Regentenwechsels auffallender hervor, und schien von diesem mehr abhängig, als wirklich der Fall war.

Wir in unserm Hausstande fühlten sogleich eine Wirkung dieser Neuerungen. Kaiser Josef schaffte die sogenannten Hofquartiere ab, nämlich die Wohnungen, welche die Hausbesitzer Wiens seit undenklichen Zeiten den kaiserlichen Beamten hatten einräumen müssen und wofür sie nur einen sehr unbedeutenden Zins erhielten, weil man vermutlich in alter Zeit glaubte, daß die Hauseigentümer, um des Vorteils[63] willen, das Hoflager beständig in ihrer Stadt zu besitzen, für die Beamten ein Übriges tun können. Meine Eltern suchten sich also eine Wohnung auf eigene Kosten und fanden diese in einer sehr angenehmen Lage auf dem Neuenmarkt, wo wir sehr hohe, große, freundliche Zimmer hatten, eine Wohnung, ganz geeignet, um darin viele Leute zu empfangen, Feste zu geben usw. – eine Lebensart, die sich in meiner Eltern Hause ununterbrochen fortsetzte, obgleich der Tod der allgeliebten Maria Theresia und die ganz veränderte Stellung, in welcher die vor vielen begünstigten Räte des Vorfahrs jederzeit zum Nachfolger zu stehen pflegen, einen Umschwung der Dinge in dieser Rücksicht für meinen Vater hätte können besorgen lassen. Hier aber, glaube ich, galt seine und meiner Mutter Persönlichkeit zu viel und diese erhielt das Ansehen des Hauses, wenn schon keine besondere Gunst des Monarchen dasselbe auszeichnete, so daß denn dies nach wie vor der Sammelplatz bedeutender und zahlreicher Besuche war.

Eine der ersten fühlbaren Wirkungen des neuen Regierungssystems war eine viel unbeschränktere Preßlizenz, und Josef II. suchte eine Art von Stolz darin, selbst was über seine Person gesagt oder geschrieben wurde, ungeahndet öffentlich erscheinen zu lassen. Die unmittelbare Folge davon war eine Unzahl kleiner oder größerer Broschüren, Pamphlets usw., welche nun erschienen, und in welchen sich die Schriftsteller mit und ohne Witz, mit oder ohne Grund über alte Gebräuche und Mißbräuche aussprachen. Eine der ersten, wo nicht ganz die erste, war eine Betrachtung über die kostspieligen Leichenfeierlichkeiten, die denn ganz in dem materiellen Geist jener Zeit, der sogenannten [64] Aufklärung, als töricht, als eine unnütze Verschwendung, als eine aus der Gewinnsucht der Geistlichen entstandene Spekulation dargestellt wurden. Vielen Anklang fanden solche Äußerungen in der Erkaltung der meisten Gefühle so wie im Eigennutz der Erben und Verwandten des Verstorbenen. Auch ließ jenes Leichengepränge merklich nach. Man fand es bürgerstolz, unaufgeklärt, altfränkisch, kostspielige Leichenzüge zu veranstalten, Gräber und Grüfte zu ehren, zu schmücken; – und siehe da! sechzig Jahre darnach liest man in jeder Zeitung von irgend einer hochfeierlichen Bestattung eines oder des andern ausgezeichneten Mannes und sieht den Luxus, der in unsern Tagen mit eigenen Grabstätten und Denkmälern auf den, gleichsam in Gärten verwandelten Friedhöfen herrscht.

Weil nun eben alles besprochen werden durfte, war auch des Sprechens kein Maß und kein Ziel. Jeder, der die Feder führen konnte (das waren aber doch vor fünfzig Jahren nicht so viele wie jetzt), ergriff sie in dieser Periode, um, wie ihn sein Herz oder sein Witz oder vielleicht sein böser Wille trieb, irgend ein tadelnswürdiges Vorurteil, einen schädlichen Mißbrauch zu rügen oder wohl auch nur seine Geistesüberlegenheit zu zeigen oder seiner Galle Luft zu machen. Das auf diese Weise Besprochene ward nun von seiner ehemaligen sichern Stellung oder Höhe herabgerissen und nicht selten schonungslos mit Füßen getreten. Manchem geschah recht, manches Schädliche wurde fortgeschafft, manches Hemmende beseitigt, aber auch nur zu viel Gutes, Nützliches, ja Heiliges mit eingerissen. Von unbedeutenden Mißbräuchen und Lächerlichkeiten kam man auf das Wesentlichere. An allen [65] alten Einrichtungen, Vorrechten, Ordnungen, endlich selbst am Glauben und den Dogmen der Religion wurde gerüttelt. Predigerkritiken erschienen, welche, wie jetzt die Theaterkritiken, die Leistungen der verschiedenen Prediger an jedem Sonntag würdigten. Mancher wahre Tadel wurde ausgesprochen, aber das Publikum verlor die Achtung vor dem Manne, aus dessen Mund es das Wort Gottes vernehmen sollte, und den es nun öffentlich in die Schule nehmen und oft bitter oder spöttisch tadeln hörte. Der tadelnde Witz, der sich an allem üben durfte, verschonte auch die Person des Monarchen nicht, dessen freisinnige Großmut ihm diesen Weg eröffnet hatte. – Alles, was Josef II. mit hohem und humanem Sinne seinen Völkern Gutes erweisen wollte und wirklich erwies, wurde von allen Seiten beleuchtet, jede Schwäche, jede möglich schlimme Deutung aufgegriffen, und je bitterer die Satire war, je willkommener war sie dem Publikum, das nur selten untersuchte, ob denn der Tadel auch gegründet, ob die Auffassung nicht einseitig, nicht von Gehässigkeit eingegeben sei, sondern zufrieden war, wenn es mitschimpfen und mitlachen konnte. Ich will hier nur an den Richter Schlendrian (eine ebenso witzige als oberflächliche Satire auf das Gesetzbuch Kaiser Josefs und die Monachologie erinnern, worin Hofrat Born, einer der glänzendsten Köpfe jener Zeit, ein großer Naturkundiger und Mineralog, die verschiedenen Mönchsorden mit Linnéschen Bezeichnungen als Käfer und anderes Ungeziefer sehr witzig, aber sehr unanständig darstellte.

Aus Frankreich kamen uns (wie denn aus Frankreich von jeher viel Schädliches über die Welt gekommen ist: stehende Heere, die wir Louis XI. verdanken; [66] das Papiergeld, die Revolution, die Modesucht usw.) um diese Zeit auch eine Menge Bücher, welche den Geist des Spottes, des Unglaubens, der Opposition in jeder Rücksicht, der sich so mächtig in Österreich zu regen anfing, nährten; wie le Système de la nature von Mirabeau, les Ruines von Volney und viele andere. Unter dem Deckmantel der Philosophie, der Wahrheitsliebe, der unparteiischen Forschung wurde der Maßstab, die Sonde, das anatomische Messer an alles Schöne, Edle, Heilige gelegt. Durch die fünf Sinne allein sollten und konnten, nach den Ansichten jener Weisen und Aufklärer, dem Menschen seine Vorstellungen von der äußern Welt kommen; was sich also nicht in den Bereich derselben ziehen, wessen Evidenz oder Dasein sich nicht dem nüchternen Verstande mit beinahe geometrischer Genauigkeit erweisen ließ, wurde bezweifelt oder bespöttelt oder ins Reich der Träume verwiesen. Mit religiösen Zeremonien hatte man angefangen, zur Religion selbst schritt man fort, ihre Dogmen wurden untersucht, der Glaube als etwas des denkenden Menschen Unwürdiges verworfen. So kam es endlich dahin, daß man nicht bloß alle positiven, sondern alle natürlichen Religionen im allgemeinen wegphilosophiert hatte. Da erschienen Bücher wie der Horus, Bahrdts Bibel im Volkston, worin der Autor versucht, die Wunder des neuen Testaments auf natürliche Art zu erklären, nur geht es damit, leider! wie mit der strengen Beobachtung der »trois unités« in der ältern französischen Tragödie, worin man denn auch, um diesen Forderungen nachzukommen, die größten Unwahrscheinlichkeiten gelten, und z.B. ein verliebtes Rendezvous in einem Vorhof, eine Verschwörung auf der Gasse vorgehen lassen muß. Ebenso [67] setzt der Verfasser der Bibel im Volkston Verabredungen, Zusammentreffen von Umständen, Mißverständnisse, unbegreifliche Verblendungen oder Selbsttäuschungen voraus, damit das wegraisonnierte Wunder auf die wunderbarste Weise natürlich hat geschehen können. Er nimmt seine Zuflucht zu einem jungen Ägyptier (Haram genannt, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht), der mit Christus und dessen Verwandten Johannes dem Täufer im Bunde, vermittelst seiner aus Ägypten gebrachten Wissenschaften (die ein bißchen an Freimaurerei erinnern) alle diese sogenannten Wunder möglich oder sie den Leuten glaubbar macht. Noch unzählige andere, teils philosophische, teils poetische Erzeugnisse des jungen aufsprudelnden Geistes, in deutscher, französischer und englischer Sprache, erschienen jetzt. Den weggespoteten Religionsgefühlen warf man bald alles nach, was in der bürgerlichen Welt bisher geehrt und geachtet worden war, wenn man sich dessen zureichenden Grund nicht philosophisch vordemonstrieren konnte: Vaterlandsliebe, Anhänglichkeit an seinen Fürsten, Ehrfurcht vor dem Alter usw., dies alles wurde mit dem Worte Vorurteil gebrandmarkt. Es wurde gezeigt, daß die Scholle, auf der uns der Zufall das Licht der Welt hatte erblicken lassen, durchaus kein Recht auf unsere größere Liebe und Achtung habe als eine andere. Patriotismus wurde als eine Engherzigkeit; Anhänglichkeit an das angestammte Fürstenhaus als Schwäche und Aberglauben; Achtung und Liebe für das Alte, weil es eben alt und wohlbekannt ist, als lächerliches Vorurteil behandelt. Das ganze Mittelalter versank auf diese Art hinter uns in einen Abgrund von Nacht und Unscheinbarkeit, und wenn man sich erinnert, auf [68] welche Art Friedrich II., der sogenannte Große, den Fund des Liedes der Nibelungen aufnahm, so darf man sich nicht wundern, wenn in Österreich bei den Aufhebungen der Klöster der Archive wenig oder gar nicht geachtet, Altertümer an Manuskripten, Gerätschaften, Arbeiten, Malereien als Produkte barbarischer Zeit geringgeschätzt, um Spottpreise verauktioniert oder wohl gar vertilgt wurden, nachdem man höchstens von alten, vielleicht unschätzbaren Dokumenten die goldenen Kapseln der Siegel abgeschnitten, die Schriften verbrannt oder in die Papierstampfe gegeben, die Kapseln aber als Pagamentsilber behandelt hatte. Ich erinnere mich auch sehr wohl eines Aufsatzes von Herrn von Kotzebue in einer Sammlung kleiner Schriften (wenn ich nicht irre, so hieß sie: die jüngsten Kinder meiner Laune), worin die Ehrfurcht für das Alter, die Unterordnung unter die Erfahrung desselben usw. als Begriffe dargestellt wurden, welche für unsere Welt nicht mehr paßten und sich nur traditionell aus einer Zeit herschrieben, in der noch keine Schrift, viel weniger der Druck existiert hatte und folglich die Alten, die einzige Quelle der Erfahrung, gleichsam die lebendige Tradition, Geschichte und Nachschlagebücher waren.

Doch so viele Schattenseiten man auch an jener Zeit nachweisen kann, in welcher die ersten Erschütterungen an dem Gebäude der bürgerlichen Ordnung und Stetigkeit gemacht wurden, das uns nun bald überall, infolge jener fortgesetzten Bemühungen, über den Köpfen einzufallen droht, so war sie doch auch eine Zeit frischen, schönen, regen Geisteslebens und vielleicht das goldene – nie wiederkehrende Zeitalter der deutschen Literatur, zumal im ästhetischen Fache.[69] Überall zuckten die Funken lebhafter Geistestätigkeit auf, leuchteten hier mit mildem Lichte, das sich segensreich weiter und weiter verbreitete, blendeten dort wie gewaltige Blitze, fuhren auch manchmal wie täuschende Jrrwische hin und lockten den Nachfolgenden in Sümpfe. Wird es wohl nötig sein, hier auf Klopstock, Lessing, Goethe, Wieland, Schiller, Herder hinzuweisen? Wir in Österreich hatten unsern Denis, Sonnenfels, Jünger, Alxinger und viele andere, deren Leistungen leider jetzt vom Zeitenstrom weggespült sind, so wie man kaum mehr eines Gellert, Rabener, Hagedorn gedenkt und nur jene größern Namen stehen geblieben sind, die ich oben genannt. In allen Zweigen des Wissens regte sich eine lobenswerte Tätigkeit, man durfte frei denken und so dachte man wohl, wie Haller singt. Auch in die geselligen Kreise drang eine muntere Freudigkeit statt früherer Steifheit und veralteter Formen. Das Theater, welches Kaiser Josef seines unmittelbaren Schutzes würdigte, trug sehr viel zu diesen geselligen Freuden bei. Unsere Bühne ward unter der Leitung des Monarchen im deutschen Schauspiel bald eine der ersten Deutschlands, in der italienischen Oper vielleicht die erste damals existierende, Jtalien nicht ausgenommen; denn der Kaiser hatte auf seinen Reisen die Theater dieses Landes kennen gelernt, die besten Sänger und Sängerinnen selbst engagiert und von unserer Oper gingen die seconde und terze donne nach Italien zurück, um als erste überall aufzutreten. Schröder kam nach Wien, spielte zuerst Gastrollen und wurde sodann samt seiner Frau engagiert. Brockmann kam nach Wien, Lange war in der Blüte seiner Kraft, die beiden Jacquets, Katharina und Anna [70] (nachmals Adamberger und Mutter der liebenswürdigen Schauspielerin unserer Zeit), Madame Sacco und viele andere machten die Leistungen unserer Bühne höchst glänzend, und das Publikum nahm auf eine Weise an dem Theater Teil, die von der jetzigen ganz verschieden ist. Es suchte geistigen Genuß, nicht bloßen Zeitvertreib, es wollte sein Gefühl anregen lassen, nicht bloß den Verstand im Tadeln üben. Es kam mit frischer Empfänglichkeit ins Theater, faßte jede Schönheit des Dramas sowohl als der Darstellung auf, verlangte nicht mit Übersättigung nur nach schnellem Dahineilen der Handlung und wurde durch eine tiefere psychologische Entfaltung der Motive nicht gelangweilt. So gab es sich dem Eindruck hin, den Dichter und Schauspieler hervorzubringen strebten und dies geistig bewegliche, für jede Schönheit empfängliche Publikum (nicht bloß hier, sondern in ganz Deutschland) erweckte in schöner, aber sehr natürlicher Wechselwirkung die dramatischen Genies, die sich gern einer so lohnenden Arbeit unterzogen, sowohl als Dichter wie als Schauspieler. Aus jener Periode stammen, nebst den obengenannten, Iffland, Fleck, Koch, die Unzelmann und viele andere, deren Namen mir nicht eben beifallen. In jener Periode traten Iffland und Schröder als Schauspieler und Schauspieldichter, Kotzebue und Jünger als Schauspieldichter auf, deren Stücke noch jetzt den Kern unserer Repertoire bilden und trotz des ganz veränderten Geschmackes oft lieber gesehen werden als die Erzeugnisse neuerer Zeit. So bewegte sich die gesellige Welt, geistig angeregt, aufs lebhafteste und genügendste in stetem Wechsel der Leistungen und Empfängnisse, und mitten in diesem freudigen Treiben [71] der Geister wuchs ich empor und trat in die Periode, wo das Kind zur Jungfrau entblüht, das Herz zu fühlen, der Geist mit klarem Bewußtsein um sich zu blicken vermag.

Ich hörte und sah vieles, was von meinen früheren Ideen sehr abstach. Ich war religiös erzogen, und alle von der Kirche vorgeschriebenen Gebräuche waren bis zu jener Zeit im Hause sowohl als auch von mir beobachtet worden. Allmählich aber drang die neue Gesinnung auch bei uns ein. Gar manche der Freunde, die unser Haus besuchten und übrigens achtungswerte Menschen waren, dachten über die Religion sehr frei. – Nicht allein, daß sie sich in ihrem Herzen von jeder positiven Satzung losmachten und eigentliche Deisten, oft nicht einmal dies, sondern Materialisten und Atheisten waren, gab es auch viele unter ihnen, die unbesonnen genug waren, diese Gesinnung ungescheut im Gespräche laut werden zu lassen, sich von allen äußerlichen Beobachtungen der Religion, allen Vorschriften der Kirche los zu machen und in philosophischer Ruhe bequem dahin zu leben. Diese Gesinnungen, diese Beispiele sah ich täglich vor mir, und obwohl sie mich wohl zuweilen durch ihre Grellheit verletzten, so drang doch einiges davon auch in meinen Geist ein, erregte mir Zweifel, Unsicherheit und erkältete auf jeden Fall mein Gefühl. –

Gottes Gnade war es, deren Walten über mir ich recht sichtbar erkenne, wenn ich der Entwicklung meines Geistes und den Einwirkungen, die er von Zeit zu Zeit erhielt, nachsinne, daß Haschka, welcher, wie schon gemeldet, bei uns wohnte und sich meiner geistigen Ausbildung eifrig annahm, mir (vielleicht durchaus nur aus ästhetischen Rücksichten) die Noachide, [72] Miltons verlornes Paradies, die Insel vom Grafen Stolberg u. dgl. zu lesen gab und, um mein von Natur glückliches Gedächtnis durch Übung zu stärken, zuerst alle Fabeln und Erzählungen von Gellert, Hagedorn, Lichtwer, dann aber auch die geistlichen Lieder des ersten sowohl als anderer Dichter auswendig lernen ließ. In jenen geistlichen Epopöen erschienen mir die Gottheit, die Engel wieder in dem würdigen hohen Licht, worin ich sie im gesellschaftlichen Leben gar nicht oder höchst selten betrachtet sah, und mein Herz ergriff eifrig diese durch die Phantasie ihm dargebotenen Vorstellungen, welche mit dem tiefsten Grunde meiner Seele so wohl zusammenstimmten. Ich behielt die schönsten von Gellerts Liedern auswendig (ich weiß sie noch jetzt großenteils), bediente mich seines Morgen- und Abendliedes zu meiner täglichen Andacht und hielt mir viele seiner frommen Sprüche gegenwärtig, so z.B. das schöne Lied: Du klagst und fühlest die Beschwerden des Standes, worin du dürftig lebst, in welchem wirklich ein Schatz von Erfahrung und Trost für jeden liegt; so endlich aus einem andern die Stelle: Denk an den Tod in frohen Tagen, kann deine Lust sein Bild vertragen, so ist sie gut und unschuldsvoll. Wohl sprang ich freudig und mutig auf keinem Ball herum, ohne mir nicht mehr als einmal während des Abends jenen Vers des frommen Mannes zurückzurufen und die Reinheit meines Genusses an diesem Prüfstein zu untersuchen. Gott sei Dank! ich fühlte nie Schrecken oder Angst bei dem Gedanken an einen möglichen nahen Tod.

Aus jenen Epopöen ging noch eine Vorstellung lebendig in meine Seele über – die der Engel und meines [73] Schutzengels insbesondere. Meine Religionsbegriffe stimmten gar wohl damit überein, und so erkor ich mir den Engel Ithuriel, der im Milton vorkommt, wo er den Satan als Kröte am Ohr der Eva entdeckt und ihn, mit seinem Speere berührend, zur Entdeckung und Flucht zwingt, zu meinem Schutzengel oder vielmehr ich gab dem Geiste, dessen Schutz mich der Schöpfer bei meiner Geburt übergeben, diesen Namen. Dann erkor ich mir einen der schönsten Fixsterne – (späterhin erfuhr ich, daß es die, fast im Zenith stehende Lyra ist), in welchem ich mir Ithuriels Residenz dachte. Um aber auch ein deutliches Bild von ihm in meiner Phantasie zu bewahren, wählte ich mir einen überaus schönen Engel in Jünglingsgestalt, der auf einem Bilde in unserer Dorfkirche (zu Hernals, wo meine Eltern jeden Sommer zubrachten) der heiligen Barbara den Palmzweig aus den Wolken reicht. So also sah mein Schutzgeist aus, wohnte in dem schönen Stern, den ich in hellen Nächten über mir funkeln sah, umschwebte mich, beobachtete mich und war betrübt oder ungehalten, wenn ich Fehler beging. Jeden Abend examinierte ich mich nach Gellerts Selbstprüfung: Der Tag ist wieder hin, gleichsam in Gegenwart meines Schutzengels und glaubte zu fühlen, ob er freundlich oder strenge dabei aussah.

Zuweilen erschien er mir im Traum – unendlich schön, von weit mehr als menschlicher Größe, eine Krone von Rosen im hellbraunen Haar (jener auf dem Altarblatt war ganz blond) und meine Seele versank in Entzücken, Demut und Hingebung vor ihm; denn – wie ich jetzt wohl einsehe – die erwachenden Gefühle der Jungfrau mischten sich in die religiösen Vorstellungen, und der künftige Geliebte verschmolz mit dem [74] schönen Schutzgeist. Wie vielen Anteil aber auch diese Täuschung an jener Verehrung meines Engels und an mancher religiösen Erhebung gehabt haben mochte, so erkenne ich doch, daß es sichtbare Waltung der Vorsehung war, die meinen, durch den Zeitgeist erschütterten Glauben und das Bessere in mir auf solche Weise bewahrte. Ich schrieb mir auch – in meinem dreizehnten oder vierzehnten Jahre – ein kleines Gebetbuch zusammen, in welches ich viele der Gellertschen Lieder eintrug und bediente mich dessen in der Kirche und zu Hause.

Kurz vor dieser Zeit hatte Haschka angefangen, mich in der lateinischen Sprache zu unterrichten, die ich mit vieler Lust ergriff und worin ich schnelle Fortschritte machte. Herr von Leon, der früher meines Bruders Mentor gewesen war, hatte unser Haus verlassen und eine Anstellung an der k.k. Hofbibliothek erhalten, die er auch bis zu seinem, erst vor einigen Jahren erfolgten Tode behielt. An seine Stelle kam ein anderer junger, aber sehr tüchtiger Mann, der später ebenfalls ein kaiserliches Amt erhielt und bis an seinen Tod ein treuer Freund unsers Hauses war. Dieser setzte den Unterricht im Lateinischen bei mir fort, indem ich die Lehrstunden meines Bruders besuchte, da Herr Haschka infolge mancher kleinen Mißverständnisse unser Haus verlassen hatte, obgleich er uns immerfort und fleißig besuchte.

Man hatte damals angefangen, Kinder und junge Leute mehr an Luft und jede Witterung zu gewöhnen. Es wurde also auch bei uns Sitte, daß ich, so oft es nur möglich war, mit meinem Bruder in Begleitung des Hofmeisters spazieren ging. Auf diesen Gängen, die im Winter nur durch die Straßen der Stadt geschahen, [75] kamen wir denn sehr oft auf den Michaelsplatz, wo damals Artaria die erste, sehr schöne Kunsthandlung eröffnet hatte. Obwohl noch halbes Kind, fand ich doch viel Vergnügen an Gemälden und Kupferstichen, es war mir also sehr angenehm, wenn unser Weg bei Artaria vorüberführte und ich Gelegenheit fand, die Bilder zu betrachten. Bald aber zog eines vor allen meine Aufmerksamkeit an sich und machte einen tiefen Eindruck auf mein Herz. – Es war dies das berühmte Blatt (von Woollet, wenn ich nicht irre): der Tod des Generals Wolf in der Schlacht bei Quebeck. Die edle Gestalt des jungen sterbenden Helden, der erhabene Ausdruck seiner Züge, der im Sterben noch die Siegesfreude und das God be thanked bezeichnet, womit er die Nachricht empfängt, daß die Feinde flohen, die Trauer der ihn umgebenden Gefährten, die die Größe dieses Verlustes anschaulich machte, alles dies ergriff mich tief und General Wolf, der die Weltbühne zehn Jahre vor meiner Geburt verlassen hatte, ward der geheime Gegenstand einer – wahrlich schuldlosen Neigung und manches zärtlichen Gedichtes, das ich seinem Andenken weihte. – Alle Tage wußte ich es nun einzuleiten, daß wir bei Artaria vorüberkamen und ich mein Ideal zu sehen bekam; in unserm Garten errichtete ich ihm in einem schattigen verborgenen Winkelchen ein Denkmal, einen kleinen Erdhügel, auf den ich ein Kreuz pflanzte und ihn mit Blumen und Bändern schmückte, und so erhielt sich diese Geisterliebe eine Weile in meiner Phantasie.

Ich war stets gern im Sommer auf dem Lande, das heißt, in dem Garten meiner Eltern auf dem benachbarten Dorfe Hernals gewesen. Die freie Natur,[76] Bäume, Blumen, das Gebirg in der Ferne, schöne Sonnenuntergänge und Mondnächte sprachen mein Gefühl an und es war mir immer leid, wenn wir im Herbste in die Stadt zurückkehrten. Ungefähr in dieser Zeit des Erwachens meiner Empfindungen erschien Vossens Luise, nämlich der Geburtstag, der Brautabend und der Morgenbesuch, jedes einzeln in den damaligen Hamburger Musenalmanachen.

Mir ging eine neue Welt in diesen Dichtungen auf. Das war es, was tief und unverstanden in mir gelegen hatte, dieses stille, ländliche Leben, diese genügende Begrenzung, dieser Frieden, dieses häusliche Glück! In solchen Szenen konnte ich auch das meinige finden, und ein Arnold Ludwig Walter 5 schwebte mir in seinem würdigen Ernst, seinem frommen Sinn, seiner priesterlichen Hoheit als das Wünschenswerteste vor Augen, was ein Mädchen erreichen konnte. Daß es gerade ein Geistlicher war, erhöhte bei mir seinen Wert. Ich hatte Sophiens Reisen von Memel nach Sachsen gelesen und wieder gelesen; denn der Roman hat sicher große Vorzüge und es ist schade, daß er so vergessen ist. Auch hier stand ein pastorlicher Held, Herr Eduard Groß, vor allen übrigen glänzend, kräftig und edel da. – Ja! eines solchen Mannes, gerade eines Geistlichen Frau zu werden, in ländlicher Stille mit ihm zu leben, die Heiligung zu fühlen, die sein gottverwandter Sinn, sein frommer Wandel um sich verbreitet, ihm anzuhängen, ihm freudig zu gehorchen, mich kindlich von seiner Tugend und Frömmigkeit leiten zu lassen, erschien mir als das schönste Los, das ich erstreben konnte; und diese Richtung, die damals meine Empfindungen nahmen [77] oder vielmehr wie sie sich aus meinem Innern entfalteten, blieb so ziemlich der Typus, der ihnen für immer eingedrückt war.

Nun gab mir Haschka Unterricht in den schönen Wissenschaften, und Batteux war unser Lehrbuch, aus welchem ich Auszüge zu machen angehalten wurde, so wie aus Erxlebens Physik, in welcher mich Haschka ebenfalls unterwies. Überhaupt mußte ich viel schreiben, übersetzen, aus dem Lateinischen und Französischen, und Auszüge aus den Lehrbüchern, Exzerpte aus Gedichten machen. Ich halte dies für eine sehr nützliche Übung für junge Leute, und glaube, daß ich ihr vieles verdanke; denn ich gewöhnte mich, den eigentlichen Sinn, den Kern jedes Vortrags aufzusuchen, zu fassen und deutlich darzustellen, was mir später von vielfachem Nutzen war, und jene Exzerpte oder Anthologien leiteten mich dahin, die Schönheiten eines Werkes zu studieren, zu empfinden, und mir gleichsam eigen zu machen.

Nachdem ich diesen Unterricht nach Batteux ziemlich gefaßt hatte, fing ich an, mich in Fabeln und Idyllen zu versuchen. Geßner, Voß, Virgil, eine deutsche Übersetzung des Theokrit wurden mir in die Hand gegeben, und ich schrieb eine Menge Zeugs in Geßnerscher poetischer Prosa oder in Hexametern nieder, das längst untergegangen ist, weil es kein besseres Schicksal verdiente, das aber doch dazu diente, mich im Stil und Vortrag zu üben.

So erreichte ich mein fünfzehntes Jahr und mithin eine bedeutendere Epoche meines Lebens. Meine Eltern waren mit der Familie jener Frau von Häring, der Patin meines verstorbenen Schwesterchens, nicht bloß weitläufig verwandt, sondern seit langem durch Bande [78] herzlicher Freundschaft verbunden. Herr von Häring hatte zwei Söhne und zwei Töchter, die alle um einige oder auch viele Jahre älter waren als ich, wie denn die ältere Tochter nicht mehr als ein ganz junges Mädchen einem Bankier »von Schwab« die Hand gab, als ich kaum zehn oder elf Jahre zählte. Der jüngere Sohn, ein sehr hübscher Jüngling, eben falls um 8–9 Jahre älter als ich, hatte mir immer freundlich begegnet, und sein meisterliches Violinspiel meine Aufmerksamkeit auf ihn geheftet, ohne daß ich etwas weiteres dabei dachte. Nun war er ein paar Jahre auf Reisen gegangen, hatte Frankreich, England, einen großen Teil von Deutschland gesehen, und wurde mit großen Hoffnungen von seiner hohen Ausbildung und moralischen Vortrefflichkeit im Vaterhause und in dem ganzen Freund- und Verwandtschaftskreise zurück erwartet.

Er kam an und einer seiner ersten Gänge war zu den treuen Freunden seiner Eltern, zu uns. Ich hatte wenig oder gar nicht an ihn gedacht; aber ich wurde doch sehr frappiert, als er eines Abends, da eben wie immer Gesellschaft bei uns war, eintrat. Seine natürlich vorteilhafte Gestalt hatte sich noch angenehmer ausgebildet. Er war von mehr als mittlerer Größe, blond, mit blauen Augen, bedeutenden Zügen und ernster würdiger Haltung, hatte durchaus nichts Gecken- oder Stutzerhaftes, vielmehr etwas Gehaltnes, das fast bis ans Strenge ging. Eine Nadel in meiner Stickerei ging mir über dem Anschauen des hübschen Jünglings verloren, und als ich sie am Boden suchen wollte, kam er selbst – o welcher Zuwachs an Verwirrung! – mir zu helfen. Von dem Augenblicke an, war meine Unbefangenheit dahin, und wenn ich mich gleich recht wohl erinnere, daß von jenem »Blitz, der[79] in zwei Herzen zugleich einschlägt«, von jenem »Vorgefühl, daß jetzt das Schicksal unsers Lebens entschieden sei«, gar nichts in meiner Seele war, vielleicht schon darum nicht, weil jene Ideen, Geburten einer spätern phantastischern Zeit, damals nicht Mode waren, so weiß ich doch noch recht gut, daß ich glaubte, Herr v. Häring könnte so ziemlich dem Ideal entsprechen, das ich mir von einem vollkommenen Manne entworfen hatte.

Auch er schien von ähnlichen Gefühlen für mich beseelt; sei es nun, daß ich ihm wirklich gefallen oder daß die Betrachtung der mancherlei Vorteile, welche eine Verbindung mit der Tochter des angesehenen und vermöglichen Hofrates Greiner bringen konnte, ihm selbst einleuchtete oder von seinen Verwandten, die auch die unsrigen waren, angeraten wurde – genug, er näherte sich mir auf entschiedene, nicht zu mißverstehende Weise, und mein jugendliches Herz war ganz glücklich in diesem Gefühl einer ersten, tugendhaften, und von beiden Familien gut geheißenen Liebe. Daß Häring trotz seiner Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit sich immer in einer gewissen ruhigen Haltung gegen mich zu behaupten wußte, die von einem lebhaftern Geiste manchmal zu Übereilungen hingerissen wurde; daß er diese Übereilungen liebreich, aber offen tadelte; daß er überhaupt hier und dort manches zu hofmeistern an mir fand, irrte mich lange nicht. Mein Ideal war ja ernst, besonnen, weise, viel etwas besseres als ich selbst, und so nahm ich jede Zurechtweisung demütig und willig hin. Noch ein zufälliger Umstand trat hinzu, um dies untergeordnete Verhältnis auszubilden. Häring besaß die Musik, in der auch ich mich nicht ohne Beifall übte, in sehr hohem Grad. Er hatte vor seiner Reise [80] die Violine meisterlich gespielt, und diese Fertigkeit während jener Jahre in der Fremde noch ungleich höher ausgebildet. So stand er in dieser Rücksicht als vollendeter Virtuose vor mir, der den Dilettanten kaum ahnen ließ. Er akkompagnierte mir nun beständig, er studierte die herrlichen Werke Mozarts und Haydns mit mir ein; er hielt mich streng, ließ mir den kleinsten Fehler in Takt oder Betonung nicht hingehn, und meine Neigung für ihn, so wie mein hoher Begriff von seiner Vortrefflichkeit machten mich zur gelehrigen Schülerin und gaben diesen Musikübungen einen namenlosen Reiz. Sehr oft unterhielten wir uns, ein bißchen kindisch, ich muß es zugeben, damit, irgend einem gehaltvollen Tonstücke jener Meister einen Redesinn, eine dramatische Handlung oder Situation unterzulegen, die wir dann durch dasselbe vollkommen ausgedrückt zu hören vermeinten. Das war eine gar zu angenehme Unterhaltung für mich, und daß unsere Meinung sehr oft nicht zusammentraf, daß Häring in demselben Tonstück, das mir ein Gewitter darzustellen schien, eine Schlacht zu er kennen glaubte, oder, wo ich eine Klage der Sehnsucht fand, einen verliebten Vorwurf hörte usw. – schien mir natürlich; denn jene Bedeutungen waren gar zu willkürlich, um sehr bezeichnend zu sein. Nur gefiel es mir nicht, daß seine Auslegungen oft gar zu trocken und prosaisch klangen.

Auch in der englischen Sprache, die damals, vor 50 Jahren, Mode zu werden anfing, die Häring schon früher mit Fleiß und Genauigkeit getrieben, und in England, wo er mehr als ein Jahr lebte, zu großer Fertigkeit gebracht hatte, wurde er mein Meister. Wir lasen zusammen englische Gedichte, Romane usw. Er gab mir ordentliche Pensa auf, die ich übersetzen [81] mußte, und deren Fehler er korrigierte; aber hier waren meine Progressen denen in der Musik nicht gleich. Das Studium einer Sprache hat stets etwas Trockenes, Härings Methode wußte diese Trockenheit nicht zu mildern, mich fing das an zu langweilen, und ich dachte zuweilen, daß er die nicht häufigen Stunden, in welchen wir ungestört beisammen sein konnten, mit etwas Besserem als grammatikalischen Übungen ausfüllen könnte. So blieb die englische Sprache bald beiseite liegen, und erst lange Jahre darnach, als Walter Scotts und Byrons Schriften die ganze lesende Welt in Deutschland in Bewegung setzten, suchte ich mein fast ganz vernachlässigtes Englisch hervor, und trieb es mit Eifer, um jene Meisterwerke im Original genießen zu können.

Nach und nach suchte Häring statt der englischen Lektionen eine andere Beschäftigung in unsere Stunden des Beisammenseins einzuführen. Er brachte mir Bücher, mitunter gute, und las sie mir vor. Hätte ich sonst keine Gelegenheit gehabt, meinen Geist auszubilden, so wäre diese Bemühung meines Freundes immer dankenswert gewesen. So aber konnte sie in dieser Richtung kein großes Verdienst ansprechen; denn im Hause meiner Eltern und unter ihrer ebenso liebevollen als sorgfältigen Leitung mangelte es mir weder an Gelegenheit, noch an Zeit und Aufmunterung, meinen Geist mit den mannigfaltigsten Kenntnissen zu schmücken. Außer den Dichtern: Denis, Leon, Haschka, Alxinger, Blumauer usw., welches damals berühmte Namen waren, besuchten auch Männer von strengen Wissenschaften häufig unser Haus, wie ich schon früher angeführt. Überdies reiste beinahe kein fremder Gelehrter oder Künstler nach Wien, der nicht Empfehlungsschreiben an Haschka oder unmittelbar [82] an meine Eltern hatte, und sich von jenem vorstellen oder durch seine Briefe einführen ließ. So kamen der berühmte Reisende Georg Forster, die Professoren Meiners und Spittler, Becker, Gökkingk, der Schauspieler Schröder aus Hamburg, viele Musiker, Kompositoren, wie Paisiello, Cimarosa, zu uns; und daß die einheimischen Künstler Mozart, Haydn, Salieri, die Gebrüder Hickhel (Kammermaler des Hofes), Füger und andere nicht fehlten, versteht sich von selbst. Im Umgange mit diesen Menschen, deren bloßes Gespräch schon an sich selbst Unterricht für einen empfänglichen Geist war, von manchem unter ihnen aber, wie von Haschka, Leon, Alxinger, Maffei usw. wirklich in verschiedenen Gegenständen des Wissens angeleitet, bedurfte ich keiner Nachhilfe von Seite meines Freundes, ja, seine Bemühungen, allerlei Bücher mit mir zu lesen, oder mich im Englischen zu unterrichten, schienen mir in der Stellung, in welcher ich mich befand, überflüssig und unpassend; denn meine Phantasie hatte sich angenehmere Bilder von herzlichen Mitteilungen und süßem Gekose entworfen, welches die Stunden unsers Beisammenseins hätte ausfüllen, und ihm kein Verlangen nach einer trockenen Lehrstunde nähren lassen sollen, die mir wie ein Lückenbüßer der Langweile vorkam.

Allmählich drängten sich mir auch andere Bemerkungen auf. Nicht Häring allein, auch andere junge Männer, die unser Haus besuchten, brachten mir ihre Huldigungen; denn damals war es noch Sitte, daß die Männer in Gesellschaft sich um die Frauen und Mädchen bemühten, und jede, die einige äußere oder innere Vorzüge besaß, einen kleinen Hof um sich sah, der, [83] wenn auch ohne bestimmte Aussicht oder Hoffnung, sich bestrebte, der verehrten Königin gefällig zu sein. Diese nun fanden alles, was und wie ich es tat, gut und liebenswürdig, während Häring stets etwas an mir zu tadeln und zu hofmeistern hatte, das, wie eben der erste Zauber verschwunden war, greller hervortrat, mir manche Stunde des Beisammenseins verbitterte, manche unangenehme Erörterung herbeiführte, und mich in eben dem Maße gegen ihn kälter machte, in welchem ich mich immer mehr von seiner Kälte überzeugt glaubte. Dazu kam noch die Beobachtung, daß diese Kälte meistens nur erschien, wenn wir allein waren; vor den Leuten aber einem aufmerksamern, wärmern Benehmen wich, das mir zugleich so eingerichtet vorkam, um die Welt an Sicherheit und Unveränderlichkeit unsers Verhältnisses glauben zu machen.

Herr v. Alxinger, der warme und treue Freund unsers Hauses, hatte etwa um diese Zeit oder etwas früher eine allerliebste poetische Epistel an mich gedichtet, in der er mir sehr heilsame Lehren, besonders in Rücksicht auf sein Geschlecht, gab, und worin es unter andern heißt:


Von zwanzig Jünglingen, die sich

Wie Satelliten um Dich drehen,

Liebt auch vielleicht nicht Einer Dich.

Den blendet der Dukaten Schimmer,

Die Deiner warten, den reizt deines Vaters Rang,

Den lockt Dein Witz, den Deiner Saiten Klang,

Und Jener liebt in Dir nur bloß das Frauenzimmer.


(Dieser letzte Vers drückt dieselbe Idee aus, welche Grillparzer 40 Jahre darnach in die Worte hüllte:


– aber nicht, weil es die Rose,

Weil es – eine Blume ist).


Ich merkte mir diese Stelle sehr wohl, so wenig Schmeichelhaftes sie auch für meine Eitelkeit enthielt. [84] Sie drückte sich meinem Gedächtnisse ein; ich fing an, Härings Betragen daran zu prüfen, und ob ich gleich nicht entscheiden will, welche der dort aufgeführten Bezeichnungen gerade auf ihn paßte, so trat doch die Vermutung, daß ich nicht geliebt sei, wie ich es hätte sein sollen, wie ich es wünschte, wie ich es, wenigstens im Anfange selbst getan hatte, immer deutlicher hervor, und bildete sich durch jede Beobachtung, jeden Zwist mit meinem Freunde, jede seiner Zurechtweisungen bestimmter aus.

Noch eine Wahrnehmung gesellte sich dazu, die vollends mein Gemüt von ihm wandte. Ich habe früher schon erwähnt, daß mein religiöses Gefühl, trotz des Zeitgeistes und des ganz entgegengesetzten Tones, der um mich herrschte, sich ziemlich lebendig in mir erhalten, und ich sehr gewünscht hatte, bei näherer Bekanntschaft mit meinem Freund über jene Gegenstände, die mir so wichtig waren, zu sprechen, mich von ihm belehren, mein Gemüt durch ihn erheben zu lassen. Statt dessen machte ich nach und nach die höchst unerfreuliche Entdeckung, daß auch Häring dem Zeitgeiste wie fast alle jungen Leute huldigte, daß er beinahe nichts glaubte, und die kirchlichen Gebräuche, gegen welche meine Eltern stets Ehrfurcht beobachtet, und mich dazu angehalten hatten, nicht bloß geringschätzte, sondern verhöhnte. Er brachte meiner Mutter allerlei Bücher, z.B. das Système de la nature, Les liaisons dangereuses, und las sie ihr vor – wo ich denn auch dort und da ein Stückchen zu hören bekam. Das tat mir alles im Anfange sehr weh; ich versuchte es, mit Häring darüber zu sprechen, ihm die Schädlichkeit und Falschheit seiner Ansichten zu zeigen, aber ich kam übel an. So wie der Spötter und Leugner bei jedem [85] Streite immer das leichtere Spiel hat, so ging es auch hier. Ich war zu wenig in diesem Fache tief unterrichtet, und meine Religion zu sehr Sache des Gefühls, des Glaubens, was sie wohl im Grunde überall sein muß, um in dem Streit mit einem entschiedenen Widersacher auszulangen, der nun einmal alles Positive der Religion verwarf, und vielleicht, ich erinnere mich dessen nicht mehr genau, sogar an den Atheismus streifte. Diese Erörterungen griffen schmerzlich in mein Inneres ein. Sie wurzelten meine erste, mir einst so werte und beglückende Liebe gänzlich aus, und erschütterten noch überdies meine Ruhe, indem, teils aus Härings Ansichten, teils aus Büchern, teils aus den Gesprächen, die ich häufig um mich führen hörte, Zweifel und Unsicherheit in mein Herz drangen.

Drei Jahre hatte nun meine Verbindung mit diesem Manne gewährt; ich hatte mein achtzehntes Jahr erreicht, und jeder Tag ließ es mich deutlicher erkennen, daß wir zwei nicht für einander geschaffen waren; dennoch schleppte die Sache sich noch eine Weile hin, da Häring keine Lust und ich nicht Entschlossenheit genug hatte, um förmlich zu brechen. Eine Verkettung von Umständen trat wohltätig ins Mittel. Härings Aussichten, bald zu einer Stellung in dem Handelshause seines Schwagers »von Schwab«, in dem er angestellt war, zu gelangen, welche ihm, wie wir seit langer Zeit hofften, die Möglichkeit geben sollte, mir seine Hand zu bieten, und einen kleinen, aber anständigen Haushalt zu beginnen, trübten sich plötzlich. Aus widerwärtigen und sehr gemeinen Streitigkeiten mit den übrigen Interessenten ging nur allzu deutlich Härings prekäre Stellung in ihrer Mitte hervor. Mein Vater und noch ein Freund der gesamten Familie nahmen sich [86] endlich ernstlich der Sache an, jene Streitigkeiten wurden beigelegt, Häring behielt seine Anstellung; aber dieser Vorfall hatte meinen Eltern die Überzeugung gegeben, daß mein Schicksal als Härings Frau ganz von den Launen und dem Eigensinne einer gewissen Person abhängig sein würde, welche in jenem Streite eben die Hauptrolle gespielt, und durch einen plötzlichen Umschwung der ganzen Verhältnisse gezeigt hatte, welche Macht sie über dieselben besaß, und wie alles sich ihrem Willen würde beugen müssen!

Diese Aussicht in die Zukunft machte meinen Eltern für mein Glück bange, und da ihnen in unserm gegenseitigen Betragen die Erkaltung unserer Neigung längst bemerklich geworden war, so fing meine Mutter an, ernsthaft über diese Angelegenheit mit mir zu sprechen. Sie gab mir zu bedenken, daß man bei einer Heirat die innere Zufriedenheit oder wenigstens äußere Vorteile beabsichtigen müsse. Sie machte mich darauf aufmerksam, daß meines Freundes Zukunft in ökonomischer Hinsicht nichts weniger als gesichert sei, wie die erst abgetane Geschichte bewiesen hatte, und sie fragte mich dringend, ob ich denn Liebe genug für ihn fühlte, und auch der seinigen gegen mich auf einem solchen Grade sicher sei, um, falls wir künftig vielleicht durch feindselige Einwirkungen, welche bei Härings Lage nur zu wahrscheinlich waren, in beschränkte Umstände geraten sollten, für die äußern Vorteile durch inneres Glück entschädigt zu werden.

Da stand ich nun, und wußte nichts genügendes zu antworten, ja ich mußte die Frage meiner Mutter, die ich nur als zu gegründet erkannte, wenn ich aufrichtig sein wollte, geradezu verneinen. Nein! Ich fühlte diese Liebe, die für alles entschädigen konnte, [87] längst nicht mehr, und Häring hatte sie, wenn ich der Sache recht nachsann, wohl nie gefühlt. –

Unsere Trennung wurde also beschlossen. Sie tat mir weh, so klar ich auch überzeugt war, daß unsere Verbindung keinem von beiden mehr Glück bringen würde. Mein Herz hatte die alten Bande liebgewonnen, weil sie eben alt waren, und es kostete manchen Kampf, bis endlich die Vernunft siegte, und ich meinem Freunde schriftlich meinen Entschluß erklärte. Eine Weile glaubte ich in manchen Augenblicken an den Schmerz, den er zeigte; – allmählich aber erkannte ich, daß seine Ruhe und Behaglichkeit zu fest gegründet waren, um durch meinen Verlust erschüttert zu werden, und daß sein Bestreben eigentlich nur dahin ging, vor der Welt noch stets als mein Liebhaber zu gelten. Um dies zu erreichen, drängte er sich auffallender als je an mich, und wie ich, geärgert durch dies absichtsvolle Benehmen, mir erlaubte, es ihm fühlen zu lassen, entdeckte ich zu meinem großen Mißfallen und Ärger, daß er mein nachlässiges, ja manchmal unartiges Benehmen gegen ihn ganz geduldig hinnahm, sich, wenn wir allein waren, alle Kälte, alle Bitterkeit von mir gefallen ließ; aber in den Gesellschaften unserer Bekannten und Verwandten, wo wir uns, trotz unseres Bruches, zu sehen nicht vermeiden konnten, meinen Liebhaber zu spielen fortfuhr.

Wie sehr mich dies Betragen empörte, wird man leicht erachten, wenn man bedenkt, wie hoch meine erste Meinung von Härings moralischem Wert, wie schwärmerisch überhaupt meine Meinung von der Würde des Mannes war, der eine gebildete, feinfühlende Frau wirklich beglücken könne; wenn man weiß, daß ich ziemlich viele Romane gelesen, mir aus diesen [88] Ideale abgezogen, und endlich in der eigenen Phantasie lebendige Farben und Wärme genug gefunden hatte, um diese Bilder aufs Glänzendste auszumalen. Nun war auch jeder Kampf zu Ende, jede Rücksicht beseitigt. Ich erklärte Häring mündlich, aber mit großer Ruhe und Kälte, es sei alles zwischen uns geendet; ich wolle aber, daß die Welt es auch erfahre. Ich bäte ihn daher, sein Betragen darnach einzurichten, so wie ich meinerseits mich auch demgemäß gegen ihn verhalten würde. So erhielt ich endlich meine völlige Freiheit, und daß wir beide nach wie vor uns in den Zirkeln unserer Bekannten trafen, auch wohl zuweilen miteinander musizierten, späterhin auch auf unserm Haustheater miteinander spielten, ohne den geringsten Schmerz zu fühlen, war wohl der triftigste Beweis von der vollkommenen Gleichgültigkeit und Kälte, die in uns beiden herrschten. Es war wirklich ein seltsames Verhältnis!

Dies erste Band war nun gelöst oder vielmehr es war, wie eine Gerätschaft, die sich abnützt, auseinander gefallen. Mein Herz war unbeschäftigt, meine Phantasie hatte während der ganzen drei Jahre geschlummert, gleich als ob die Prosa, welche das Gemüt meines Freundes beherrschte, sich auch mir mitgeteilt und alle meine dichterischen Anlagen getötet oder eingeschläfert hätte. Sie fingen an, sich wieder zu regen, ich dichtete Lieder, Idyllen, ich träumte mir eine schöne Ideenwelt, und lebte in der wirklichen auch ganz vergnügt, indem ich an allen Freuden und Unterhaltungen, die teils unser eigenes Haus, teils die Häuser unserer Freunde oder öffentliche Feste mir darboten, lebhaften Anteil nahm.

Aber in der Tiefe meines Herzens oder – vielleicht meiner Phantasie lebte das Bedürfnis, einen ausschließenden [89] Gegenstand meiner Neigungen zu finden, an welchen diese Phantasie mit ihren Bildern sich heften konnte. Da brachte der ausbrechende Türkenkrieg einen jungen Mann, den ich früher kennen gelernt, und dessen Erscheinung nicht spurlos an mir vorübergegangen war, obwohl ich damals, meines Verhältnisses zu Häring wegen, keinen andern Gedanken in mir aufkommen ließ, nach Wien und in meine Nähe. Er war der Sohn eines hochgestellten Offiziers, eines alten Bekannten meiner Eltern, noch vom Hofe der Kaiserin her, und selbst schon Offizier. Ein paar Jahre früher hatte dieser junge Mann auf dem Lande in unserer Nachbarschaft bei Härings Eltern während der Ferien gewohnt, und sich durch Feldmessen, geometrische und mathematische Studien für seinen Beruf vorbereitet. Er war ein zierlicher Dichter, überhaupt sehr gebildet, von zartem Wuchs, feiner Gesichtsbildung, und, was für mich stets anziehend war, mit einem sehr wohlklingenden Sprachorgane begabt. In den Bäumen jenes Gartens, in welchem er damals wohnte, standen mancherlei Verse, die mir galten. Häring selbst hatte sie mir gezeigt, und sich wohl auch ein bißchen über den Dichter lustig gemacht. Bei mir waren diese Bemerkungen nicht auf die Erde gefallen. Baron K., den ich Fernando nennen will, war überhaupt der Aufmerksamkeit in vielem Betracht würdig, und wurde seitdem auch von mir nicht ohne Interesse betrachtet. Wir sahen uns zuweilen, wo er mich stets mit zarter Ehrfurcht auszeichnete, und als er zum Regimente abging, einen sehr bewegten Abschied von mir nahm. Während dieser Abwesenheit löste sich mein Verhältnis zu Häring ganz auf, und als Fernando bei Eröffnung des ersten türkischen Feldzuges wieder nach Wien kam, sah ich [90] ihn mit ganz andern Augen. Indessen blieb vor der Hand alles zwischen uns, wie es war, nur daß mein Herz und meine Einbildungskraft an allen Bulletins, die damals von den Diesseitigen und Jenseitigen (wie man unpassender Weise in den schlechtgeschriebenen Extrablättern Freund und Feind nannte) erschienen, sehr lebhaften Anteil nahm, und ich mich stets von dem Stande des Hauptquartiers, in welchem damals Fernando bei dem, später durch verschiedene Schicksale merkwürdigen Generalquartiermeister Baron von Mack als Adjutant stand, zu unterrichten suchte.

Schon diese Anstellung, das Vertrauen, welches ihm Baron Mack schenkte, und der Gebrauch, den er von den Fähigkeiten des jungen Offiziers machte, bewiesen sehr für Fernandos Geschicklichkeit und Wert, und erfreuten mein Herz, das nun in Liedern und Dichtungen freudig aufging, und mit dem bewegtesten Anteil die Zeitungsnachrichten ergriff. Um diese Zeit erschien Goethes Egmont. Wie so lebhaft konnte ich mit Clärchen sympathisieren, und das Liedchen, zu dem ich mir selbst eine Melodie auf dem Klaviere ausgesonnen hatte, singen:


Die Trommel gerühret,

Das Pfeifchen gespielt!

Mein Liebster bewaffnet

Dem Haufen befiehlt!


Das Leben in meiner Eltern Hause gestaltete sich um diese Zeit sehr angenehm, wie denn überhaupt in ganz Wien damals ein fröhlicher, für jedes Schöne empfänglicher, für jeden Genuß offener Sinn herrschte. Der Geist durfte sich frei bewegen, es durfte geschrieben, gedruckt werden, was nur nicht im strengsten Sinne [91] des Wortes, wider Religion und Staat war. Auf gute Sitten ward nicht so sehr gesehen. Ziemlich freie Theaterstücke und Romane waren erlaubt und kursierten in der großen Welt. Kotzebue machte damals ungeheures Aufsehen; – sein Menschenhaß und Reue, seine Indianer in England, seine Sonnenjungfrau, meisterlich von dem damaligen Personale: Madame Sacco, Adamberger (Mutter), Katharine Jacquet, Madame Nouseul, den Herren Lange, Brockmann, Müller, Dauer, Schütz usw. vorgestellt, waren eine geistige Angelegenheit des Publikums, und nicht wie jetzt bloße Ausfüllung der Avantsoiréen; denn damals gab es dies Erzeugnis der Langweile und Abstumpfung noch nicht, und selbst die höchsten Klassen der Gesellschaft widmeten in der Regel bloß den spätern Nachmittag und Abend bis etwa zehn Uhr der Geselligkeit.

Alle jene obengenannten Stücke, sowie Gemmingens deutscher Hausvater (nach Diderot), der Ring von Schröder, viele andere, die im Strom der Vergessenheit versunken sind und eine Menge Romane und Erzählungen (ich weise vor andern auf Meißners Skizzen hin) waren auf lauter unanständige Verhältnisse gegründet. Ohne Arg und Anstoß sah, bewunderte, las sie die Welt und jedes junge Mädchen. Ich hatte alles dies mehr als einmal gelesen oder gesehen, der Oberon war mir wohlbekannt, so wie Meißners Alcibiades. – Keine Mutter trug ein Bedenken, ihre Tochter mit solchen Werken bekannt zu machen, und vor unsern Augen wandelten der lebenden Beispiele genug herum, deren regellose Aufführung zu bekannt war, als daß irgend eine Mutter ihre Töchter in Unwissenheit darüber hätte erhalten können.

[92] Sehr viele, ja die meisten jungen, hübschen Frauen unter dem ersten und zweiten Adel hatten verliebte Verhältnisse mit andern Männern, oft mit solchen, die ihren eigenen Frauen untreu, aber dabei wohl überzeugt waren, daß auch diese sich ihrerseits zu entschädigen nicht versäumten. Bei vielen war es Sache des Herzens oder der Eitelkeit, der Mode, wenn man will, bei manchen lag eine niedrigere Absicht zugrunde und man nannte die Summen, für welche jene oder diese ihre Treue, ihre Ehre, ihr Bewußtsein an irgend einen reichen Wollüstling verkauft hatte. Bei manchen Ehen war der eigene Mann verworfen genug um den Handel selbst zu schließen, bei den meisten, wenn auch dies Ärgste nicht geschah, schloß er freiwillig die Augen vor dem Aufwand, der in seinem Hause herrschte und den seine Einkünfte zu beschaffen, nicht imstande waren, den er sich aber wohl gefallen ließ und mitgenoß.

In andern Ehen, wenn auch die Frauen ihre sittliche Würde behaupteten und ein geregeltes Leben führten, gingen die Männer ihren Abwegen außer dem Hause nach und tyrannisierten im Hause Frau, Kinder und Gesinde. Solche Männer wählten sich daher vorzugsweise gern sehr beschränkte Frauen, deren Einsicht und Wissen sich nicht weiter als auf Küche und Haushalt; erstreckte und diese Ehemänner, die keinen Begriff von häuslicher Glückseligkeit und weiblicher Würde hatten, vielmehr dies alles verachteten und verlachten, wie sie Religion und Sitte verlachten, gehörten meistens zum Orden der Freimaurer.

Ein charakteristisches Merkmal jener Zeit unter Kaiser Josef waren die Bewegungen, welche durch die sogenannten geheimen Gesellschaften in der geselligen [93] Welt hervorgebracht wurden. Der Orden der Freimaurer trieb sein Wesen mit einer fast lächerlichen Öffentlichkeit und Ostentation. Freimaurerlieder wurden gedruckt, komponiert und allgemein gesungen. Man trug Freimaurerzeichen als joujoux an den Uhren, die Damen empfingen weiße Handschuhe von Lehrlingen und Gesellen, und mehrere Modeartikel, wie die weißatlassenen Müffe mit dem blauumsäumten Überschlage, der den Maurerschurz vorstellte, hießen à la franc-maçon. Viele Männer ließen sich aus Neugier aufnehmen, traten dann, wenn der frère terrible nicht gar zu arg mit ihnen umsprang, in den Orden, und genossen wenigstens die Freuden der Tafellogen. Andere hatten andere Absichten. Es war damals nicht unnützlich, zu dieser Bruderschaft zu gehören, welche in allen Kollegien Mitglieder hatte, und überall den Vorsteher, Präsidenten, Gouverneur in ihren Schoß zu ziehen verstanden hatte. Da half denn ein Bruder dem andern; und wie man von dem würdig geheimnisvollen Orden der Pythagoräer erzählt, ging es hier auf unwürdigere und minder geheime Weise. Die Bruderschaft unterstützte sich überall; wer nicht dazu gehörte, fand oft Hindernisse, und dies lockte viele. Wieder andere, die ehrlicher oder beschränkter waren, suchten mit gläubigem Sinn höhere Geheimnisse, und glaubten Aufschlüsse über geheime Wissenschaften, über den Stein der Weisen, über Umgang mit Geistern in dem Orden zu erhalten. Da gab es allerlei Arten und Abteilungen der Maurerei – Rosenkreuzer, Templer, Schottische Maurer usw., endlich sogar die Illuminaten, und es ward damit in den letzten Jahren der Regierung Kaiser Josefs großer Spektakel und wohl auch großer Unfug getrieben. Indessen wäre es undankbar, nicht [94] auch das wenige Gute, das diesem an sich trüben Quell entfloß, zu erwähnen. Wohltätig waren die Freimaurer gewiß. In ihren Versammlungen wurden sehr oft Kollekten für Arme oder Verunglückte gemacht; und Prinz Leopold von Braunschweig, der bei einer Wassernot, als er den Bedrängten mit Lebensgefahr Hilfe brachte, selbst den Tod fand, war ein glänzendes Beispiel, mit dem der Orden sich sehr brüstete.

Diese einzelnen Züge, welche die Zeit bezeichnen, wie sie damals war, werden dem Leser zeigen, daß, so rege auch das geistige Leben war, so viele Fortschritte die Bildung und Aufklärung damals machte, doch auch manches anders und leicht besser hätte sein können und wenn unsere jetzige Zeit nichts vor derselben voraus hätte als eine größere Beobachtung des äußern Anstandes, so wäre dies schon dankenswert. Aber sie hat unstreitig noch manchen andern Vorzug. Wer lange genug gelebt hat, um Vergleichungen mit unparteiischen Augen anstellen zu können, wird gestehen müssen, daß das häusliche Leben, die ehelichen Verhältnisse, die Kinderzucht, die Stellung der Kleinen gegen die Eltern viel besser und zweckmäßiger, sowie überhaupt der ganze gesellschaftliche Ton feiner und geschliffener ist, und selbst aus den untern Ständen und aus ihrem Umgange sich das allzu Rohe und Derbe verloren hat. Wohl hat die viel weiter verbreitete Bildung dies letztere bewirkt, und auch an den ersten Verbesserungen ist ihr Anteil nicht zu verkennen. Indessen glaube ich doch, daß das Beispiel nicht bloß unseres, sondern der meisten europäischen Höfe, wo das Maitressenleben und die arge Zügellosigkeit des achtzehnten Jahrhunderts verschwunden sind, viel zu der Beobachtung wenigstens des äußern Anstandes beigetragen hat.

[95] In jener Zeit hatte denn auch die Gärung in den politischen Ideen ihren höchsten Punkt erreicht. Die Revolution brach in Paris aus. Ihre Vorboten hatten sich schon früher in Lyon gezeigt, und eine achtbare Familie, deren Haupt, Baron Geramb, eigentlich aus Ungarn stammte, und sich in Lyon, wo er geheiratet, niedergelassen hatte, war schon seit langer Zeit, unter dem Vorwand einer großen Reise, mit seiner Familie aus Frankreich weggezogen, um sich nach Österreich zu retten, wo seine Kinder und Enkel noch jetzt geachtet und in Ansehen leben; der älteste Sohn aber, welcher der berühmte Trappistengeneral geworden, sich in Rom aufhält.

Auch bei uns in Österreich machten sich diese geistigen Erschütterungen und Umstaltungen fühlbar. Vieles gärte und glimmte im Verborgenen, und Oppositionen, Reaktionen gegen das Bestehende, immer stärkerer Tadel der Maßregeln und Anordnungen des Monarchen sprachen sich überall laut aus. Während dieser unruhigen Stimmung hatte der Türkenkrieg in Ungarn mit sehr wechselndem Glücke fortgedauert. Kaiser Josef hatte ihn, wie man damals erzählte, aus einer Art von ritterlicher Galanterie gegen die geistvolle Herrscherin im Norden angefangen, der er vorher einen Besuch in ihrem Reiche abgestattet hatte, von welchem uns die Memoiren des Fürsten von Ligne und des Grafen von Segur d.Ä. interessante Notizen liefern. Er liebte den Soldatenstand, er trug stets die Uniform seines Regiments, und er wollte vielleicht in diesem Kriege, in welchem er einen untergeordneten Gegner und keinen Friedrich II. mit seinen Preußen vor sich hatte, seine militärischen Kenntnisse zeigen und auch diesen Lorbeer in seine Kronen flechten. [96] Aber der Erfolg entsprach keineswegs diesen stolzen Erwartungen. Schlachten wurden verloren, die Einschließung der festen Plätze mißlang, verderbliche Rückzüge schwächten das Heer, von dem ohnedies ein großer Teil, durch das ungesunde Klima erkrankt, in den Spitälern zugrunde gegangen war. Kurz, der Feldzug von 1788 unter des Kaisers und Feldmarschalls Lascy Führung war ein durchaus mißglückter. Der Monarch kehrte im Winter nach Wien zurück und brachte leider einen Keim des Übels mit sich, das seinem Leben ein paar Jahre darauf, viel zu früh für seine Staaten und seine Entwürfe, ein Ende machte. Im Frühling 1789 ging Loudon ins Feld; – das Glück, der Sieg folgten überall seinen Spuren, und nach verschiedenen großen Vorteilen und Eroberungen, welche diesen Feldzug bezeichneten, krönten ihn am Schlusse die Einnahme von Belgrad durch Loudon und der Sieg bei Martinjestie unter Prinz Koburg.

Fünfzig Jahre war Belgrad für Österreich verloren gewesen, Loudon hatte es wieder erobert, und der Tag, an welchem der Kurier mit der Siegesnachricht einritt (12. Oktober 1789), wird allen Wienern, die Zeugen dieses freudigen Ereignisses waren, unvergeßlich bleiben.

Es war ein schöner, heiterer Herbstmorgen. Wien hatte sich auf die Straßen, an die Fenster ergossen, von denen man den ankommenden Siegesboten – General Klebeck, einen Verwandten des großen Türkenbesiegers – sehen konnte. Ich war wie natürlich auch an einem unserer Fenster, welche in die Kärnthnerstraße, durch die er kommen mußte, gingen. Mein Herz schlug hoch; – kriegerischer Ruhm und der Glanz meines Vaterlandes hatten von jeher begeisternd [97] auf mich gewirkt, jetzt vielleicht gesellte sich noch eine geheime Beziehung dazu, welche mir alles, was diesen Krieg, diese Siege und die, welche Anteil daran hatten, betraf, näher rückte. Nun erklang von weitem das Geklatsche der Postillonpeitschen, das Schmettern ihrer Hörner. – Er kommt! Er kommt! so tönte es in mir und gestaltete sich unwillkürlich in mir zum Gesang:


Er kommt! er kommt! Wie jauchzt die trunkne Menge!

Ha! welch ein Tag, beglücktes Wien!

Der Siegesbote naht in jubelndem Gedränge,

In deine Mauern einzuziehn.

Der Hörner Ton, der Peitschen lautes Knallen

Verkündet seine Ankunft schon.

Die Scharen mehren sich, gedrängte Reihen wallen

Ihm vor und nach bis hin zum Thron.

Es lebe Loudon! tönt aus jedem Munde usw.


Die 24 oder 48 Postillone kamen nun näher, eine ungeheure Menschenmasse wälzte sich vor, neben, hinter ihnen daher durch die Straßen. Vivatgeschrei durchschmetterte die Luft; eine Art Trunkenheit schien sich der ganzen Einwohnerschaft bemächtigt zu haben. Nun erschien der General; – da verdoppelte sich das Jauchzen, das laute Rufen, und so im allgemeinen Jubel, den ich, den Kurier von der Leipziger Schlacht 1813 kaum ausgenommen – denn das Volk war unter Josef II. mehr gewohnt, seine Empfindungen auszusprechen – nie wieder so gehört habe, gelangte der General in die Burg.

Aber mit diesen paar schönen Stunden waren die Glückseligkeit der Wiener und die Bezeugungen ihrer Freude nicht vorüber, wie es wohl jetzt, in zahmeren Zeiten der Fall ist und sein muß. Ich habe schon gemeldet, daß ein sehr schöner Tag war. Nach Tisch flog alles da-, dorthinaus, die meisten in den Prater;[98] – auch wir machten es so. – Wie wir gegen den roten Turm kamen, tönte uns neues Vivatrufen entgegen und ein Menschenschwarm sperrte den Weg. – Was war es? – Ein Träger von der Hauptmaut, wenn ich nicht irre, trug sehr zufälliger Weise den Namen Loudon. Dieser Umstand identifizierte den Mann in den Augen des Volkes auf gewisse Weise mit dem Helden des Tages, und so wurde dann von tollen, begeisterten Kameraden und andern Leuten der dicke, kupferige Mann, dem wohl von solcher Ehre nie geträumt hatte, in seinem leinenen Arbeitskittel, das Bündel Stricke auf der Achsel, wie im Triumph auf den Schultern herumgetragen, mit Wein bewirtet, den er sich tapfer schmecken ließ, und es wurden allerlei Possen mit ihm getrieben.

Als es dunkelte, entbrannten plötzlich in allen Fenstern der Stadt die Lichter und eine allgemeine, freiwillige, extemporierte Illumination bezeugte und verherrlichte die Freude meiner guten Mitbürger. Die ganze Welt wanderte auf den hellen Straßen in der milden Luft des schönen Herbstabends und alles fühlte sich von der Bedeutung des Tages gehoben und begeistert. Auch Klänge sollten dem schönen Abend nicht fehlen. In rascher Entschließung hatten die Studenten sich vereinigt (damals war es noch erlaubt, solche Entschlüsse auf der Stelle zu fassen und sie, ohne sich bei der Polizei anzufragen, auch auszuführen), eine vollstimmige, schöne Instrumentalmusik zusammengebracht und zogen nun, alle durch weiße Kokarden bezeichnet, mit Transparents und ihren Instrumenten durch die Stadt. Eine Unzahl junger Männer aus den höheren Ständen schloß sich an sie und qualifizierte sich durch eine weiße Schleife, im Notfalle durch ein [99] Stückchen weißes Papier auf den Hut gesteckt, als einer der ihrigen. So bewegte sich der lange Zug durch die Straßen der Stadt und brachte seine Ständchen in sehr wohl ausgeführten Symphonien vor dem Hause, in welchem Loudons Gemahlin wohnte, vor dem Kriegsgebäude, der Universität und auf dem Burgplatz vor Kaiser Josefs Fenstern und überall wiederholte sich in lautem Beifallsjauchzen der Jubel dieses zwölften Oktobers.

Nicht lange darnach folgten andere Kuriere mit den Nachrichten von der Einnahme von Orsova, dem Sieg bei Martinjestie usw. und so schloß dieser Feldzug höchst glänzend.

Meine poetische Laune war schon seit längerer Zeit, seit nämlich das höchst prosaische Verhältnis mit Häring ein Ende genommen, wieder lebhaft erwacht. Ich vollendete das Gedicht, das ich beim Einreiten des Kuriers am Fenster begonnen; es fand Beifall. Freunde des Feldmarschalls erbaten es sich, es wurde gedruckt, ihm übersandt und bald darauf erschien einer seiner Neffen bei uns (der nun auch längst tot ist), um mir im Namen seines Oheims zu danken. Es freute mich sehr; doch durch eine Eigenheit meines Wesens, die mich nur so lange, als ich dichtete, lebhaften Anteil an meinen Kompositionen nehmen, sie aber, wenn sie einmal aus mir herausgetreten waren, ruhig und wie etwas Fremdes betrachten ließ, machte auch diese Auszeichnung keinen sehr tiefen Eindruck auf mich, und die Artigkeit des jungen Loudon, der zufälligerweise die damalige Uniform des Generalstabes wie Baron K** trug, sprach mich beinahe lebhafter an, als der literarische Ruhm, den ich geerntet hatte.

Wie überhaupt um mich herum reges geistiges Leben war, so bewegte es sich auch in mir. Man hatte [100] mir lange nicht gestatten wollen, die Messiade zu lesen, weil ich sie nicht verstehen und folglich nicht genießen würde, wie man sagte. In Klosterneuburg, dessen Probst ein Verwandter meiner Eltern war, und den wir öfters in seiner herrlich gelegenen Abtei besuchten, trafen wir einst den Chef des Pontonierkorps, das dort und in der Umgegend stationiert war. General Riepbe war ein geistvoller, liebenswürdiger Greis. Er fand Gefallen an meiner Unterhaltung, und ich schätzte mir es (nach den Begriffen jener Zeit, die nun freilich anders sind) zur Ehre, von dem würdigen Manne als ein junges Ding von 18–19 Jahren ausgezeichnet zu werden. Ausschließend unterhielt er sich mit mir, fragte nach meinen Beschäftigungen, meiner Lektüre und riet mir, die Messiade zu lesen, indem er sich mit schöner religiöser Wärme über die Erhabenheit dieses Werkes aussprach.

So wurde ich auf diese Dichtung hingeleitet. – Ich las sie; mein Innerstes faßte begierig die himmlischen Strahlen auf, die aus ihr hervordrangen. Ich hatte früher schon die Noachide, den Tasso, selbst den Ariost gelesen; denn, wie ich schon erwähnt, man dachte damals in Rücksicht lockerer Schriften sehr liberal. Indessen hatte Ariost auf mich wenig Eindruck gemacht. Ich betrachtete ihn wie ein Feenmärchen aus der Tausend und einen Nacht, und einzig Zerbinos und Bellas Geschick und einige ähnliche Szenen aus Ruggieros Schicksalen prägten sich mir tiefer ein. Viel inniger hatte mich Tasso angesprochen, dessen Gerusalemme ich regelmäßig jedes Jahr las, und dessen tiefergreifendste Stellen sich in meinem Gedächtnisse noch jetzt erhalten haben. Auch die Iliade und Odyssee war mir wohlbekannt, und auf die Gefahr[101] hin, getadelt oder verspottet zu werden, bekenne ich ganz offen, daß ich die letzte (die Odyssee) bei weitem meinem Geschmacke zusagender fand, als die Ilias. Das häusliche, idyllische Leben sprach mich an, ich fand mich wohl zurecht in der Wohnung des Odysseus, bei dem göttlichen Sauhirten Eumäos, und mit Freude begrüßte ich stets einen unserer großen Hofhunde, dem mein Vater den Namen Argos gegeben, wie ihn jenes treue Tier des vielgereisten Helden trug.

Alles dies aber wich in meinem Gemüte vor der Messiade in Schatten zurück. Hier fand ich meine religiösen Gefühle, meine Engel, selbst meinen Schutzengel Ithuriel wieder (leider als den Hüter eines nicht ehrenvollen Schützlings, des Iskarioths). Unbeschreiblich erhoben fühlte ich mich durch dies Gedicht. Klopstock ward der Gegenstand meiner innigsten Verehrung. Ich schrieb mir, wie ich das überhaupt gewohnt war, eine Menge Stellen daraus ab, und beschloß nun, auch dies Werk alljährlich einmal ganz durchzulesen, ein Vorsatz, den ich auch durch viele Jahre hielt und meine Lieblingsstellen auswendig behielt, davon ich die meisten noch jetzt herzusagen imstande bin.

Bald nach der Messiade las ich auch den Ossian, und ergab mich mit süßem Hange dem düstern, aber namenlosen Zauber, der für mich in diesen Dichtungen wehte. Auch hieraus wurden Stellen abgeschrieben und viele davon im treuen Gedächtnisse bewahrt. Es war eine ganz neue Welt voll Wehmut, Erinnerung, Nebel und unbestimmten Gestalten, die aber eben deswegen mein jugendliches Herz um so mächtiger anzog und mich zu Liedern begeisterte, in denen Anklänge aus jener düstern Region walteten und sich seltsam mit andern Eindrücken, die ich damals auf ganz entgegengesetzten [102] Wegen erhielt, vermischten. In diese Zeit, nämlich 1788, 1789, 1790 fiel die Erscheinung der ersten Ritterromane jener Periode, von welchen die Schlenkertschen, so wie Veit Webers Sagen der Vorzeit ihrer Roheit und affektierten Schreibart wegen nicht viel Eindruck auf mich machten, dahingegen mich Herrmann von Unna, Walter von Montbarry, Elisabeth von Toggenburg, vor allen aber Alf von Dülmen, mit einem Wort die Naubertschen Romane – von denen damals niemand in Deutschland den Autor kannte oder nur mutmaßte – ganz unbeschreiblich entzückten und in jene Zeiten versetzten, die sie so lebhaft schilderten. Alles im Hause gestaltete sich mir auf ritterlich altertümliche Art. Ich betrachtete alles in diesem Sinne, ich lebte in diesen Vorstellungen und war ganz glücklich, wenn ich wieder ein Werk aus dieser Feder zum Lesen erhielt. In meinem Kopfe wirbelten diese Bilder, diese Szenen, diese Gefühle; ich dichtete einige Romanzen, die ich jetzt im ganzen für herzlich schlecht erkennen muß, deren Eingänge aber nicht ohne poetischen Wert, und da sie nie gedruckt wurden, doch des Aufbewahrens in diesen Blättern nicht unwert sind.

Die eine war dem Walter von Montbarry entnommen. – Ihr Inhalt war ein gefabeltes Abenteuer Richard Löwenherz, das er in Wien, am Hofe Herzog Leopolds sollte bestanden haben. Daß Österreich und seine Herrscher ziemlich schlecht in jenem Romane und so auch in meinem Gedichte erscheinen, irrte mich damals nicht und irrte auch niemand in meiner Romanze. Es war die Zeit der Verirrungen. Protestanten hatten sich seit der Reformation der deutschen Literatur bemächtigt, um den katholischen Glauben und[103] den Staat herabzusetzen, der seit 300 Jahren dessen mächtigster Schirm in Deutschland gewesen; eine Tendenz, welche durch die ganze deutsche Literatur und wohl auch durch die Literatur anderer Länder geht. Wahrlich! wäre Österreich so in Nacht und Barbarei versunken, wie sie uns gewöhnlich und mit Lust schildern; hätten seine Herrscher, seine Staatsmänner und Kriegshelden sich solche Schwächen, Fehler, Ungeschicklichkeiten, Ungerechtigkeiten usw. zu schulden kommen lassen, als nach den Angaben jener Schriftsteller geschehen war, so hätte der österreichische Staat längst in sich zusammenstürzen müssen. Daß dies nicht geschehen ist, daß er nach so vielen Bedrängnissen, schweren Kriegen, blutigen Niederlagen und beständigen Anfeindungen, obwohl aus heterogenen Teilen bestehend, sich nicht allein erhalten hat, sondern gewichtiger und glänzender im Staatenvereine von Europa dasteht als je, ist wohl die beste Widerlegung jener parteiischen Schmähungen, deren allzu lauter Ton sich erst seit 1813 etwas gemildert und billigern Ansichten Platz gemacht hat. Seit nämlich das, von allen im Kampf mit dem Riesen der Revolution verlassene Österreich, das einsam, blutend, aber doch herrlich nach der Schlacht von Aspern auf dem Wahlplatze stehen geblieben war, von jenen Feinden selbst um seinen Beitritt, Schirm und Hilfe ersucht ward und sich aufs neue in seiner Kraft erhob, um Deutschland zu retten. Ohne Österreich, was hätte Preußen ausrichten wollen, dem seine lobhudelnden Schriftsteller doch gern den Ruhm jener Befreiung allein zuschreiben möchten?

Damals also, um wieder auf jene Zeiten einzulenken, von denen früher die Rede war, dachte niemand an [104] Österreichs Ruhm, an seine geschichtliche Würde, an die Taten seiner Voreltern. Was hinter dem sechzehnten Jahrhundert lag, wurde Barbarei genannt, unsere Nationalgeschichte war uns fremd, wir lernten sie als etwas neues in der Jugend wie die französische oder englische, und die meisten Geschichtsbücher, die man der Jugend gab, waren ja von Protestanten oder protestantisch aufgeklärten Katholiken geschrieben. So gestaltete sich vor unserm Blicke Vaterland und Religion in diesem Sinn. Wir waren weder rechte Katholiken noch rechte Österreicher und in selbstgefälligem Eigendünkel, der nur uns allein von dem allgemeinen Tadel ausnahm, sehr bereit, über alles zu spotten, was in unserm Vaterland geschah. Das war damals Geist der Zeit, er hatte auch mich ergriffen, und so wählte ich den Stoff zur Romanze aus dem Romane, der auf mich einen tiefen Eindruck gemacht hatte und hielt mich an die Fiktion desselben, vermöge welcher Blondel nach Richards und Walters Tod sich mit Mathilden, der Geliebten, der Gattin des er sten, auf eine Insel des Mittelmeeres zurückzieht (wenn ich nicht irre, eine der Hyères) und dort ihrem und seinem Schmerze lebt.


Ein leises Lüftchen schwebt um mich,

Füllt mich mit süßer Trauer.

Der Harfe Saiten regen sich,

Es bebt das Gras der Flur, und mich

Ergreift ein heilger Schauer.


Woher, o Lüftchen? Spieltest du

Um eines Freundes Hügel?

Wie – oder schwebet ungesehn

Ein Geist um mich, bist du sein Wehn,

Das Rauschen seiner Flügel?


Bist du vergangner Zeiten Hauch,

Die längst vergessen liegen?

[105]

Wie um den Fels ein Windstoß irrt,

Die Wellen hebt, im Schilfe schwirrt,

Wenn längst die Stürme schwiegen?


All meine Freunde schlummern schon,

Zerrissen sind die Bande.

Auf meines Walters 6 grünend Grab

Streun Palmen ihren Duft herab,

Fern im gelobten Lande.


Auch Richard schläft – der Name weckt

Die Seele Blondels wieder.

Ein halbverklungenes Gefühl

Wird laut – es bebt mein Saitenspiel

Und tönt vergeßne Lieder.


Bewohnerin des Eilands, komm,

Steig' von dem Felsenhange.

Mathilde, helle deinen Blick,

Die Toten ruft kein Schmerz zurück,

Komm, lausche dem Gesange.


Man wird wohl erkennen, daß die Lesung von Ossians Gesängen vielen Einfluß auf die Art der Darstellung hatte. Ebenso war der Anfang einer andern Romanze den Ossianschen Gesängen nachgebildet, aber die erste Anregung dazu kam mir im damaligen Garten des Grafen Kobenzl auf dem Kahlenberge, der mir überhaupt durch seinen einfachen, etwas düstern und erhabenen Charakter ungemein gefiel, und den ich allen übrigen bis dahin gesehenen Gärten, selbst dem Dornbacher Park, vorzog. Es war noch überdies an einem etwas trüben Herbsttag, als ich ihn zum erstenmal besuchte. Das verschwiegene Waldtal mit seinem durch die Wiese schlängelnden Bach, die majestätische Grotte am Ende desselben, aus der sich der Quell herausstürzte und sein eintöniges Rauschen [106] mit den trüben Schatten des Waldes und dem schwermütigen Anblick der Landschaft vereinigte, machte einen tiefen Eindruck auf meine Seele, welcher sich dann in der Romanze aussprach, wovon ich den Anfang hiehersetze:


Was schallet dort aus jener Felsenhöhle

Das rings umschloss'ne Tal entlang

Für ein beweglicher Gesang?

In Wehmut löst sich meine ganze Seele

Bei dieser Stimm' und dieser Laute Klang.


Wer bist du, Felsensohn, deß laute Klage

Den Widerhall in diesen Bergen weckt?

Jetzt, da der Mond noch halbversteckt

Sein Silberhorn nach einem trüben Tage

Aus den zerriss'nen Nebelwellen streckt.


Sei mir gegrüßt! O schöpf' aus deiner Quelle

Mir eine Schale Wasser nur.

Durch Feld und Wald, durch Haid' und Flur

Verfolg ich seit des Morgens erster Helle

Auf diesen Höhn des flüchtgen Wildes Spur.


»Hier ist der Trank, und hier sind Brot und Früchte,«

Erwidert ihm der Eremit,

Wie er den muntern Jäger sieht,

Auf dessen Stirn und bräunlichem Gesichte

Der Jugend Mut, der Jagd Ermüdung glüht.


Der Eremit befragt den Jüngling um seine Herkunft, seinen Namen; er erwidert:

Ich heiße Wood. Am wasserreichen Clyde,

Dort, wo von Nebeln stets umschwebt,

Ein Berg sich in die Lüfte hebt,

Dort wohnt mein Vater, ich bin seine Freude,

Der einzge Sproß, in dem sein Stamm noch lebt.


Seit langer Zeit, seit meinen Kinderjahren,

Ruht meine Mutter schon im Grab,

Sie sank zu früh für mich hinab;

Ach, ihre ersten süßen Küsse waren

Die letzten, die sie ihrem Sohne gab.


[107]

Nun kommt sie nur zu meinen stillen Träumen,

Ein Schattenbild, gewebt aus Luft,

Ihr Kleid ist wie des Hügels Duft.

So leise seufzt der Abendwind in Bäumen,

Als ihre Stimme tönt, wenn sie mir ruft.


Es ergibt sich im Verlauf der Romanze, daß Wood der Sohn der Jugendgeliebten des Einsiedlers ist, und dieser erzählt dann die Geschichte seiner unglücklichen Liebe. Wer hätte mir damals gesagt, daß 25–30 Jahre später aus jenen nebligen Gegenden Schottlands, die meine Seele so mächtig ansprachen, eine Reihe von Dichtungen hervorgehen würde (Walter Scotts Werke), welche nicht allein mich, sondern ganz Europa entzücken würden!

Ungefähr um diese Zeit bekam ich auch Herders Schriften, seine zerstreuten Blätter, seine Ideen zur Philosophie einer Geschichte der Menschheit in die Hände und da von jeher Naturlehre und Geologie einen wunderbaren, geheimnisvollen Reiz für mich gehabt hatten, so faßte ich diese letzteren Schriften sehr begierig auf ....


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Während der letzten hier geschilderten Jahre hatte meines Bruders Geist, so wie sein Charakter und selbst sein Äußeres sich sehr vorteilhaft und ganz anders, als seine frühern Anlagen vermuten ließen, entwickelt. Zwar hatten die Blattern seine kindische Schönheit zerstört, aber seine Züge, der Ausdruck seines Gesichts war bedeutend, ernst und doch von unendlicher Güte zeugend, die denn auch wirklich in seinem Gemüte herrschte. Dabei war sein Wuchs hoch, tadellos, und sein Anstand vortrefflich, so daß er zwar nicht zu den schönen, aber zu den sehr interessanten Männern gezählt [108] werden konnte. Auch gefiel er den Mädchen, meinen Gespielinnen sehr wohl, und manch kleiner Liebeshandel, wie es denn die damalige Sitte und Denkart mit sich brachte, knüpfte sich trotz seiner Jugend an. So wenig meine Gesinnung und mein Betragen gegen diesen trefflichen Jüngling in unserer Jugend zu billigen gewesen war, so hing ich doch jetzt mit desto wärmerer Liebe an ihm; ich kannte seinen tiefen Wert, ich achtete ihn aufs innigste, ja ich ordnete oft und gern mein Urteil dem seinigen unter, das sich stets höchst eigentümlich und richtig erwies, und sagte ihm oft im Scherz, doch mit sehr ernstem Gefühl, daß ich ihn lieber heiraten möchte als alle anderen jungen Männer, die mich umflatterten; aber du, setzte ich dann hinzu, du würdest mich nicht nehmen, denn mir fehlt, was dich an Mädchen am meisten reizt, ein majestätisches Ansehen und würdiger Ernst des Benehmens. Ich war nämlich stets sehr munter, nicht immer besonnen, und vor allem, ich weiß nicht, ob es mir zum Lob oder Tadel gereicht, nicht imstande, mein Betragen gehörig abzumessen, und meinem lebhaften Gefühl, dessen Ausdruck sich meist unwillkürlich in meinen sehr beweglichen Blicken und Zügen malte, so zu gebieten, daß ich mir Herrschaft über andere dadurch hätte erwerben können. Ich gab mich und mußte mich geben, wie ich war, und wem ich so nicht gefallen konnte, auf dessen Neigung mußte ich verzichten, besonders da keine einnehmende oder schöne Gestalt mir zu Hilfe kam.


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Zu unsern geselligen Freuden hatte sich eine neue gefunden. Durch einen Jugendfreund und Schulkameraden [109] meines Bruders, einen Vetter jenes Baron K***, der jetzt im Felde stand, hatte die Lust und der Geschmack für kleine Hauskomödien sich bei uns eingebürgert. Des jungen Menschen Eltern, altbekannte und geschätzte Freunde der meinigen, die sich vor ein paar Jahren in Wien niedergelassen hatten, da sie früher in Ofen gelebt, erneuerten die freundschaftlichen Verhältnisse gern; eine Tochter, nur um ein paar Jahre älter als ich, fand sich ebenfalls in dem Hause, und so bildeten wir jungen Leute einen vierblättrigen Klee, an welchem sich zwei und zwei Blätter stärker einander zu neigen begannen. Meinen Bruder zog die schlanke, ernste, hochgesinnte Therese, ein übrigens sehr schätzbares Mädchen an, und ihr Bruder, den ich, um ihn von seinem Vetter zu unterscheiden, Karl nennen will, brachte mir seine Huldigungen dar. Aber er vermochte mein Herz nicht zu rühren. Um einige Jahre jünger als ich, noch Student, gutmütig, aber eitel, voll Talente, aber ohne Fleiß und erworbene Kenntnisse, war er von dem Bilde eines ernsten, würdigen Mannes, den ich von ganzer Seele achten, oder eines geist- und kenntnisvollen, den ich bewundern hätte können, viel zu entfernt, um mir anziehend zu erscheinen. Auch trug die Erinnerung an seinen Vetter, der bereits als Mann wirkend und tätig ins Leben getreten war und seinen Platz mit Auszeichnung füllte, ebenfalls bei, ihn bei mir in Schatten zu stellen. Aber der junge Mensch war ein Tausendkünstler. – In wenigen Tagen hatte er für den Geburtstag des Vaters ein kleines Theater gebaut und gemalt, ich wurde gebeten, ein Schäferspiel oder so etwas zu schreiben, das sich für unser Personal, aus vier Personen bestehend, paßte. Gesang sollte auch dabei sein. – Ich entwarf [110] einen winzigen Plan, wir legten bekannte Arien ein, behielten den ursprünglichen Text bei, wenn er sich zur Szene paßte, oder ich dichtete einen andern, wie das Stück ihn erheischte. Am Ende war ein Schlußchor mit dem Glückwunsch und der Anwendung angebracht. So armselig das Ganze war, wenn man es absolut als Schauspiel, Dichtung, Operette und Dekoration betrachtete, so machte es doch an Ort und Stelle durch Überraschung und gute herzliche Meinung den gehörigen Effekt, und wir erhielten alle großes Lob.

Von da an erwachte die Lust und Freude an dieser Art von geselliger Unterhaltung in meinem Bruder und mir, und wir wußten bald unsere Eltern zu vermögen, uns ein kleines Theater bauen zu lassen, das, geschickt eingerichtet, sich leicht und in wenig Stunden abbrechen und wieder aufrichten ließ, um den großen Salon, den mein Vater zu seinen Musiken, und wir selbst im Fasching sehr gern zu den kleinen Picknickes brauchten, die bei uns statthatten, immer zu gehöriger Zeit in einen Tempel Thaliens, und aus diesem wieder in seine ursprüngliche Gestalt umzuwandeln. Sobald unser Vorsatz, Hauskomödien (eine damals sehr gewöhnliche Unterhaltung) bei uns zu geben, bekannt wurde, fand und sammelte sich bald ein sehr ansehnliches und in einigen Mitgliedern bedeutendes Personal um uns. Ein Herr von Kirchstettern gab die Rollen, welche man 8–10 Jahre vorher von dem großen Schröder hatte spielen sehen, mit einer für einen Dilettanten bewundernswürdigen Kunst und Kraft. An einem Herrn Eberl, einem sehr artigen und gebildeten Mann, besaß unsere Truppe einen ersten Liebhaber, der dies schwere Fach auf, und auch wohl außer der Bühne mit seltenem Glücke übernahm, und dem eine [111] auffallende Ähnlichkeit mit dem berühmten Schauspieler Lange, der eben dies Rollenfach auf dem Hoftheater inne hatte, sehr zustatten kam. Wie Lange schmächtig, blond, zierlich und voll Anstand, hatte er auch die Ähnlichkeit mit ihm, daß seine im Grunde gar nicht hübschen Züge auf dem Theater und mit der Schminke beinahe schön erschienen. Überdies erbot sich der vieljährige, treue Freund meiner Eltern, Herr von Alxinger, mit Vergnügen zur Teilnahme an unserm Projekte, und übernahm, nebst einer Art von Direktion, jene Rollen, die damals die Brockmannschen von diesem Schauspieler genannt wurden, junge Ehemänner, launigte Charaktere, auch einige komische oder Charakterrollen, und führte sie, wenn es nur keinen Anstand oder tiefere Empfindung bedurfte, sehr gut aus. Mein Bruder übernahm das Fach der komischen Bedienten, zweiten Liebhaber usw. Andere hübsche, junge Mädchen fanden sich zu zärtlichen oder ernsten Rollen, mein Fach war das der muntern jugendlichen Charaktere, schnippischer oder koketter Mädchen, wohl auch der Soubretten. Etwas Zärtliches oder Rührendes brachte ich durchaus nicht aus meinem Innern heraus; in jenen Rollen aber gefiel ich, und unsere ganze Truppe erwarb sich Beifall.

Ein Zyklus von geselligen Freuden bildete sich nun in unserm vielbesuchten Hause. Wenn wir vom Lande (einem hübschen Gartenhaus, das meine Eltern in der Nähe besaßen) im Herbst nach der Stadt zogen, wurde gleich das Theater aufgeschlagen und einige Stücke gegeben: Minna von Barnhelm, die falschen Vertraulichkeiten, Maske für Maske, die unversehene Wette, der seltene Freier, die Glücksritter nebst vielen andern. Wie der Advent heran kam, mußte das Theater fort, [112] und die wöchentlichen Quartetten begannen, bei welchen ich jederzeit spielen mußte, und die von einer sehr zahlreichen und glänzenden Gesellschaft besucht wurden, nicht weil sie so vorzüglich waren, sondern weil es Mode war, unser Haus zu besuchen. Dann folgten im Fasching ebenso wöchentliche Picknicks, an denen aber nur, eben des Raumes wegen, ein kleiner, gewählter Kreis von bessern Bekannten Anteil nahm, und an deren zwanglose und lebhafte Freuden sich jetzt noch, nach viel mehr als dreißig Jahren, die wenigen Teilnehmer, die diesen Zeitraum überlebt haben, mit Vergnügen erinnern. Nach dem Fasching begannen die Quartetten abermals, und nach Ostern wurde das Theater aufgerichtet und die Komödien nahmen ihren Gang, bis wir aufs Land zogen, und einen Sommer spielten wir sogar in unserer Gartenwohnung, bis die Hitze dem Spaße ein Ende machte.


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Mein Geist und meine ganze Denkart hatten sich unter dem Einflüsse eines zerstreuten, vielbewegten Lebens und der allgemeinen Richtung des Zeitgeistes diesem in manchen Stücken gemäß, in manchen zuwider ausgebildet. In meinem Innern hatte sich ein tiefer Grund von Religiosität erhalten, der den Einwirkungen freigeistischer oder sogenannter philosophischer Schriften widerstrebte. Dennoch vermochte mein Verstand nicht, den Behauptungen, Schlüssen und Spöttereien jener Schriften ganz zu widerstehen. Sie machten unwillkürlich Eindruck auf meinen Geist, und wenn hier der Witz, mit dem irgendein wirklicher Mißbrauch oder ein Aberglauben verspottet wurde, mich unterhielt, indem er mich ärgerte, [113] so war ich nicht immer, ja leider nur selten imstande, das Sophistische, Seichte oder Falsche in dem gegen die Lehren des Christentums und dessen eigentliche Wesenheit gerichteten Angriffe ernsterer Bücher dieser Art zu erkennen und dadurch unschädlich für meine Überzeugung zu machen. Tief im Innersten erschütterte und empörte mich Schillers »Resignation«; aber ich wußte ihr nichts entgegen zu setzen, als mein Gefühl, daß dem nicht so sei, wie er behauptete. Gar viele, und gewiß sehr gefährliche Bücher fielen in meine Hände, welche ich früher schon genannt: Bahrdts Bibel im Volkston, Horus, die Ruinen von Volney, L'antiquité dévoilée usw. Wie mich die Ideen gequält, welche aus diesen Schriften gleich scharfen Pfeilen von allen Seiten in das innerste Heiligtum meiner Seele eindrangen, vermag ich nicht zu beschreiben. Ein Streit meines Verstandes und meines Gefühles begann, und manche wichtige Lehre der Offenbarung sank unter diesem Kampfgetümmel nieder, und ich vermochte damals nicht, sie wieder in mir zu beleben. Es war ein peinlicher Zustand, dessen ganze Widrigkeit ich empfand, ohne die Macht zu haben, ihn auf irgendeine Weise zu ändern. Zum Freigeist war mein Inneres zu fromm, zu weich, und alte Ideen behaupteten noch immer ihr Recht über meine Seele; zum kindlichen Glauben hatte ich zu viel gelesen, und ihn bald mit Ernst erschüttert, bald mit Witz verspottet gesehen. Gott erbarme sich meiner. Ein tiefer Schmerz mußte mich zu ihm zurückführen.


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Die Taten des Feldzugs von 1789 waren glänzend gewesen, sie verbreiteten einen hellen Schimmer über[114] die abnehmenden Lebenstage Kaiser Josefs, der in der vollen Reife männlicher Kraft, noch nicht 50 Jahre alt, an einem unheilbaren Übel seinem Ende entgegenging. Gewaltig war der Umschwung, den seine Denk- und Handlungsweise seinen Staaten und mit ihnen der Gesinnung seiner Untertanen gegeben hatte. Ich habe oben, wo von dem Tode seiner Mutter und Vorfahrerin die Rede gewesen, gesagt, daß damals eine neue Zeit für Österreich begonnen habe; und so war es auch, obgleich Kaiser Josef vielleicht nur, wie manche behaupten, mit eigener Hand die Schranken öffnete, welche seine Untertanen von jenen freisinnigen Begriffen, erhöhten Forderungen und eigenmächtigerm Hervortreten noch trennten, zu welchen sich in Frankreich das Volk selbst gewaltsam Bahn gemacht hatte. Ja, ich habe es mehr als einmal von Männern, welche dies genau zu wissen vorgaben und es wohl auch wissen konnten, gehört, daß Kaiser Josef bei seiner letzten Anwesenheit in Paris, kurz vor dem Ausbruche der Revolution, sich selbst von der Stimmung des Volkes, von den Umtrieben der Mißvergnügten und den Systemen und Entwürfen der Schriftsteller unterrichtet und dadurch die Überzeugung gewonnen habe, der Neuerung sei nicht mehr zu widerstehen und es sei besser, wenn die Reformen, die nun einmal unumgänglich notwendig geworden, vom Throne selbst ausgehen, als wenn das Volk sie gewaltsam ertrotze. In dieser Überzeugung habe er seine Schwester, die unglückliche Königin Antonie noch treulich, aber leider vergeblich gewarnt, und dann bei sich zu Hause mit großartigem Sinn selbst vorzubereiten und zu verbessern sich bemüht, was er dem mächtig herandrängenden Zeitgeiste gemäß erachtet.

[115] Wie dem immer sei, der unglückliche, von dem blendenden Wahnbild echter Freiheit geäffte Forster, der in Paris als ein Opfer seines Enthusiasmus und der folgenden bittern Enttäuschungen starb, hat in seiner Reise nach Niederland ein Wort über Kaiser Josef gesagt, das mich mächtig ergriff und mir höchst wahr scheint. – Er sagt nämlich: »Aus der Fackel seines (Kaiser Josefs) Geistes ist ein Funke in Österreich gefallen, der nie verlöschen wird«. Glänzend, feurig belebend war dieser Funke allerdings; aber wie alles Feuer tat er auch weh, wenn man ihm zu nahe kam, und war ebenfalls von Rauch nicht ganz frei.

War es Vorgefühl der kurzen Laufbahn, die ihm von der Vorsicht gestattet war? war es innerer stürmischer Antrieb, der sich durch den Widerstand, den er überall fand, noch mehr erhitzte? war es überwiegende Kraft des Verstandes, die das Gefühl oft zum Schweigen brachte – genug, so menschenbeglückend auch Kaiser Josefs Pläne und Vorbereitungen waren, so wenig man in der Idee daran tadeln konnte, so fielen sie doch in der Ausführung oft zu hastig, meist zu hart und schonungslos aus, und es schien öfters, als sollte alles Alte, Langbestandene, Langverehrte bloß deswegen, weil es dies war, niedergerissen werden. Wenn ich jetzt, nach 40 Jahren, auf jene Zeit zurückblicke, geht mir aus der Vergleichung mit dem, was nun in Frankreich und auch in Deutschland geschieht, erst recht das Verständnis jenes Strebens auf, das Kaiser Josef in mancher seiner Anordnungen zu beseelen schien. Das Alte sollte fort – gleichviel ob es schädlich oder nützlich, dem Menschen gleichgültig oder drückend oder wohl gar lieb war – genug, es war alt, und taugte darum nicht mehr in die neue Welt, [116] die sich damals zu gestalten anfing. Aber in der Praxis geht nur langsam, ruckweise und mit oft krebsgängigen Schritten die Umwandlung vor, die der Gelehrte oder Staatsmann in seinem Kopf schnell erzeugt, und wohl kann man die Zeit in dieser Hinsicht jenen Pilgern des Mittelalters vergleichen, die auf einer Wallfahrt stets nach 2 bis 3 Schritten vorwärts einen zurück taten; indes kamen sie doch, wiewohl langsam, weiter, und jene Rückschritte hemmten nur, aber sie hinderten die Reise nicht. So ist es auch mit der Ausbildung dieser neuen Zeit und ihrer Gesinnung; aber man ist jetzt klüger und überstürzt sich nicht wie damals.

Damals, vor 40 Jahren, war man noch nicht so weit vorgeschritten. Es gab viele, die sich dieser Neuerungen, dieser Aufklärung, dieses Wegräumens alten Schuttes von Vorurteilen, Kastenzwang usw. als glücklicher Schritte zu einem sichern Heil erfreuten; weit mehrere indes, die sie mißbilligten, weil entweder ihr Vorteil darunter litt oder weil ihre in entgegengesetzten Begriffen erzogenen Geister sich über diese neuen Ansichten, als über Ketzereien, entsetzten. Mitten zwischen diesen beiden Äußersten befand sich aber eine bedeutende Anzahl von Personen, die vielleicht eben durch ihre gemäßigtere Meinung sich als diejenigen bewiesen, die ohne Vorurteil oder Eigennutz, ja vielleicht von Hoffnung eben so weit als von Furcht entfernt, ein richtiges Urteil besaßen. Diese ließen zwar dem edlen Willen des Monarchen alle Gerechtigkeit widerfahren, sie billigten, ja sie erfreuten sich der meisten seiner Anordnungen, welche die Erleichterung und sorgfältigere Bildung der untersten Klassen, die Abstellung alter Mißbräuche, die Einschränkung lästiger Vorrechte und Privilegien, endlich [117] die Gedankenfreiheit und allgemeine Duldung zum Gegenstande hatten. Aber sie konnten die rasche Hastigkeit, womit alles betrieben wurde, und die oft jenseits des Zieles schoß, sowie den Mangel an Schonung und Billigkeit bei Ausübung der strengsten Gerechtigkeit nicht gutheißen. Ebensowenig waren diese gemäßigten Beurteiler mit dem übereilten Aufklären der untern Volksklassen und mit dem gewaltsamen Wegräumen so mancher Schranken und hindernden Begriffe zufrieden, welche in dem Gewissen des Volkes dort ihre stille Macht gegründet hatten, wohin das Gesetz zu reichen nicht imstande ist.

Ich war wohl im ganzen noch zu jung, um dies alles nach meinen eigenen Ansichten zu beurteilen; aber ich hörte verständige Menschen von verschiedenen Parteien sprechen, und mein eigenes Gefühl fand sich durch manche Neuerung, die an die Stelle eines alten, liebgewordenen Gebrauchs, einer wohlbekannten Gewohnheit getreten war, abgestoßen, sowie durch manches Harte und Schonungslose in dem Verfahren des Monarchen verletzt. Ich erinnere hier nur an den – freilich nicht durchgesetzten – Befehl, die Leichen künftig ohne Sarg, in Säcken zu begraben und mit Kalk zu überschütten. Vielleicht konnte der kalte Verstand hierin eine zweckmäßige Verordnung finden und verteidigen; aber das Gefühl der ganzen Stadt war empört, und die Sache mußte unterbleiben, weil »meine Untertanen«, wie Kaiser Josef bei Aufhebung dieses Befehls schrieb, »länger Äser bleiben wollen!!« Ebenso unbillig schien mir die strenge Gerechtigkeit, welche, alles vor dem Gesetze nivellierend, einen Grafen, einen Hofrat, einen angesehenen Privatmann zu eben der Strafe des Gassenkehrens wie [118] den Taglöhner, den Hausknecht usw. verdammte, deren tägliches Geschäft jenes ohnedies war, und die noch dazu von niemand vermißt, von niemand gekannt, als den wenigen, ebenfalls der Welt verborgenen nächsten Verwandten, ihre Schmach in ihrer Dunkelheit begruben und daher minder fühlten.

Was aber auch immer mit Recht und Unrecht an dem Verfahren des Kaisers getadelt worden war, und wie stark sich die Unzufriedenheit darüber fast überall in seinen Staaten zeigte, litt doch vielleicht niemand von all den Tausenden, die über ihn klagten, darunter so tief, so schmerzlich als er selbst. Gleich als wollte das Schicksal ihn für dieses stolze Vorausnehmen strafen, mußte der Monarch mitten in einer ruhmvollen Laufbahn, lange vor der natürlichen Todeszeit an einem langwierigen Siechtum dahinwelken, und noch vor seinem Ende viele seiner kühnen Pläne in sich zusammenstürzen sehen; viele seiner Verordnungen, durch die drohenden Umstände gezwungen, selbst zurücknehmen. So trotzten die Ungarn, bei denen er sich ebensowenig als in den übrigen Erbstaaten hatte krönen oder huldigen, und deren Krone er wie die böhmische und den Herzogshut von Österreich aus den respektiven Orten, wo sie bisher als Heiligtümer waren bewahrt worden, nach Wien hatte bringen lassen, ihm die ihrige noch bei seinem Leben ab, und er mußte es zugeben, daß sie wie im Triumphe von ihnen nach Ungarn zurückgeführt wurde. Die Niederlande waren in vollem Aufstande; die Steuerregulierung, die wohl eigentlich dem Untertan zu einer großen Erleichterung gemeint und wohltätig gewesen wäre, hatte den ganzen Adel gegen den Monarchen aufgeregt; die Geistlichkeit, die sich seiner [119] nie und nirgends zu beloben, Ursache gehabt hatte, suchte die Herzen des Volkes von ihm abzuwenden. – Überall war Unzufriedenheit, Gärung, und zuletzt mußte der unglückliche Fürst noch den schmerzlichen Schlag in seinem Hause erleben, daß die Gemahlin seines Neffen und Nachfolgers, unsers geliebten Kaisers Franz, die liebenswürdige Elisabeth von Württemberg, zwei Tage vor ihm an den Folgen einer schweren Niederkunft starb. Sie war dem k. russischen Hause nahe verwandt, diese Rücksicht machte diese Verbindung dem Kaiser besonders wert, der Erzherzog liebte seine junge Gemahlin, alles das zerstörte der kalte Hauch des Todes, und Josef sah so noch, bevor er die Augen schloß, die meisten seiner Pläne zusammenbrechen und seine Hoffnungen vernichtet. Die Erzherzogin war am 18. Februar 1790 um 6 Uhr morgens verschieden; Kaiser Josef folgte ihr am 20. darauf, und zwei fürstliche Leichen lagen zugleich im kaiserlichen Palast auf den Paradebetten.


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Es sei mir erlaubt, einige Züge, einzelne Striche zu dem Bilde des großen Verewigten, das in seiner vollen Herrlichkeit nun vor den Augen der Nachwelt steht, hier einzuschalten, welche, wie mich dünkt, manche Eigentümlichkeit seiner Sinnes- und Handlungsart erklären, und die ich teils den Erzählungen meiner Mutter, teils Mitteilungen von Personen danke, die wohlunterrichtet sein konnten, weil ihre Geburt und Stellung in der Welt sie dem Hofe nahe brachten.

Kaiser Josef war ein äußerst schönes, herrliches, geistvolles Kind, mit ausgezeichneten Anlagen und einer sehr starken Willenskraft. Diese Willenskraft[120] wurde gefürchtet; man wollte sie bändigen, man wollte dem eigensinnigen Knaben, wie man sich ausdrückte, den Kopf brechen. Das wäre auf jeden Fall ein mißliches Unternehmen gewesen, auch wenn Eltern und Erzieher alle nötige Kraft, Einsicht und Muße besessen hätten, um dies Experiment zu leiten. Aber Maria Theresia war Regentin großer Staaten, und konnte, so wichtig ihr ihre Mutterpflicht war, sich dieser doch nicht widmen. Ihr Gemahl war von allen Geschäften entfernt. Wohl wählte sie die Männer, deren Leitung sie den Prinzen, den künftigen Erben ihrer Krone übergeben wollte, mit Rücksicht und Sorgfalt; dennoch fielen diese Wahlen unglücklich aus, und der Prinz, mit seinem überwiegenden Geiste, mit seinem vorstrebenden Genius sah sich von Männern umgeben, und, was schlimmer war, solchen untergeben, die er weit und leicht übersah. Seine Ansichten, seine Entschlüsse waren immer die bessern, klügern, passenderen gewesen, und er wurde gezwungen, sie fahren zu lassen, um sich beschränkten, unstatthaften Meinungen zu fügen, die ihm noch dazu mit einer kränkenden Superiorität aufgedrungen wurden. Das wars, was man hieß: ihm den Kopf brechen, und was vielleicht den Keim jenes Starrsinns in ihm entwickelte und mächtig nährte, der ihn später zu manchem falschen Schritt verleitete. Kaiser Josef hatte mehrere Brüder, wovon einige ihn überlebten. In früherer Jugend stand ihm der Zweitgeborne, der Sohn des Kaisers, während Josef nur der Sohn des Großherzogs war, am nächsten. Dieser Erzherzog, Karl genannt, scheint in vieler Rücksicht in einer Art von Opposition mit dem ältern Bruder gestanden zu haben. Schon der Vorzug der Purpurgeburt – so zufällig, [121] so unbedeutend er bei dem entschiedenen Rechte des Erstgebornen sein mußte, war eine Art von Zankapfel zwischen den Knaben, von denen der ältere das Übergewicht durch Verstand und Geisteskraft, sowie der jüngere durch Gemüt und Liebenswürdigkeit behauptete. Immer aber ist solch ein Antagonismus von schädlichem Einfluß auf die Herzen der Geschwister, und es war vielleicht ein Glück, daß ein frühzeitiger Tod im beginnenden Jünglingsalter den gefährlichen Nebenbuhler Karl hinraffte und so diesen Zwist löste. Aber in Josefs Seele keimte nach und nach etwas Bitteres, Scharfes, Schneidendes empor, das einen verdunkelnden Schatten auf seine großen Eigenschaften warf.

Das Unglück seiner beiden Ehen mochte ebenfalls vieles dazu beigetragen haben. Man hatte die Prinzessin von Parma, Isabella, für ihn gewählt. Diese Prinzessin hatte sich früher dem Kloster bestimmt, und eine Anekdote, welche ich von ihr erzählen hörte, läßt helle Blicke in die Tiefe ihres kräftigen und eigentümlichen Gemütes werfen. Ihr war eine geliebte Person – wenn ich nicht irre, ihre Mutter – gestorben. Ganz in den tiefsten Schmerz aufgelöst, kniete sie am Sarge und flehte zu Gott, sie bald mit der Vorangegangenen zu vereinigen. Da war es ihr, als spräche jemand die Zahl drei aus. Ihre hocherhobene Seele ergriff mit Begierde diesen, wie sie glaubte, prophetischen Ausspruch, und in drei Tagen hoffte sie die Erfüllung ihres sehnlichen Wunsches. – Aber es vergingen drei Tage, drei Wochen, drei Monate, und der erwartete Friedensbote, der die der Welt Überdrüssige abrufen sollte, erschien nicht. Wohl aber erschienen bald darauf die Boten des österreichischen Hofes, welche die[122] Hand der Prinzessin für den Erben so vieler Kronen, für einen der schönsten, geistvollsten und versprechendsten Prinzen forderten. Nur ungern, nur aus Zwang entsagte die Prinzessin ihrem Wunsche, ihr Leben in Einsamkeit und Trauer hinzubringen und ward des römischen Königs (denn das war Josef damals schon) Frau. Er umfaßte die nicht schöne, aber höchst liebenswürdige und anziehende Braut mit aller leidenschaftlichen Glut eines starken Gemütes. Er liebte sie heftig, innig, zärtlich, und obwohl sie, diese Gefühle zu erwidern, sich außerstand fühlte, so mußte sie doch, von ihrem richtigen Verstand und einem geläuterten Gefühle geleitet, sehr wohl verstanden haben, selbst den Forderungen seines liebenden Herzens zu entsprechen; denn solange sie lebte, glaubte er sich von ihr geliebt.

Eine Prinzessin ward bald darauf zum neuen, beglückenden Bande zwischen den jungen Eheleuten; doch dies Glück sollte nicht von Dauer sein. Ehe drei Jahre nach jenem verhängnisvollen Ereignis am Sarge der Verewigten dahingegangen waren, starb Isabella von Parma an bösartigen Blattern im Arme ihres verzweifelten Gemahls.

Während ihres kurzen Lebens an seiner Seite hatte sich ihr Herz, vor allen andern, einer seiner Schwestern, der wunderschönen Erzherzogin Christina, nachmaligen Gouvernantin der Niederlande, zugeneigt. Mit dieser hatte die Verstorbene einen Freundschaftsbund errichtet und häufige Briefe gewechselt, in welchen sie ihr Herz und den wahren Stand ihrer Empfindungen treu darstellte. Als nun Christina ihren geliebten Bruder so der Verzweiflung zum Raube sah, sie, die doch wußte, daß er um ein Gut trauerte, was[123] er im Grunde nie besessen, um Isabellas Liebe – glaubte sie sich aus Mitgefühl und Rechtlichkeit verpflichtet, dem Getäuschten die Wahrheit zu eröffnen, und so seinen allzuheftigen Schmerz zu mäßigen. – Sie zeigte ihm die Briefe der Verstorbenen. – Es war ein Mißgriff, ein unseliger Einfall! und er verfehlte seine Wirkung nicht. Josef sah sein blutendes, hingebendes Herz verschmäht – getäuscht; seine hohe Meinung von der Verstorbenen zernichtet. – Wohl mögen seine Tränen um die Verlorne versiegt sein; aber Erbitterung, Verachtung gegen das ganze weibliche Geschlecht setzten sich in seiner Brust fest, von denen sein besserer Sinn nur wenige ausnahm, indes er die übrigen als bloße Puppen oder Gegenstände der Sinnlichkeit betrachtete. – Dennoch besuchte er in spätern Jahren gern einige ältere Damen, eine Fürstin Liechtenstein, eine Kaunitz und andere, und unterhielt sich gern mit ihnen, die verständige, gebildete Matronen waren.

Seine zweite Vermählung war nicht geeignet, diese Vorstellungen zu berichtigen. Schon vor der Bewerbung hatte er sich schroff und kalt über die Notwendigkeit seiner Wiederverheiratung und die traurige Wahl zwischen mehreren, gleich unliebenswürdigen Kompetentinnen um seine Hand ausgesprochen, aus welchen er doch seine künftige Lebensgefährtin wählen müsse. Eine Prinzessin von Bayern traf dieses unglückliche Los. Von der Natur höchst stiefmütterlich behandelt, ohne Anmut, ohne Takt, um den Charakter ihres Gemahls aufzufassen und sich in ihn zu schicken, dienten selbst ihre guten Eigenschaften, ihre Sanftmut, Herzensgüte und Liebe zu ihm nur dazu, ihn noch mehr von ihr zu entfernen. Beschämend war[124] die grelle Entfernung, in der er sich von ihr hielt, so daß er unter anderm auf dem Balkon, der vor ihrem gemeinsamen Appartement war, ein Separatim machen ließ, damit sie ihm dort nicht begegnen könne, und er lieber vor aller Welt Augen beim Fenster hinausstieg, um nur nicht durch den gemeinschaftlichen Salon gehen zu müssen, in welchem sich die Türe zum Balkon befand. Auch dieses Band, welches ganz kinderlos blieb, löste endlich der Tod, auch die unglückliche Maria Josefa von Bayern befreite dieser unausbleibliche Freund aus ihrer schweren Lage und gab dem ungeduldigen Gemahl seine Freiheit wieder. Aber die Art, wie diese Prinzessin von ihm war behandelt worden, hatte den alten Nationalunwillen zwischen Bayern und Österreich nicht gemindert, und gar viele ihres Volkes behaupteten noch lange nach ihrem Tode, sie sei nicht gestorben, nur verstoßen, und lebe unbekannt in einem Kloster in Bayern, wo sogar einige sie gesehen haben wollten.


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Für mich hatte eben jetzt auch eine neue Periode meines Lebens begonnen. Baron K ... war als Hauptmann aus dem Türkenkriege in die Winterquartiere nach Wien gekommen und bei seinem Oheim abgestiegen, von wo er sogleich zu uns eilte. Therese, seine Kusine, hatte mich früher schon benachrichtigt – und einen gewaltigen Sturm mit dieser Neuigkeit in meiner Brust erregt. Das Wiedersehen war bewegt und zärtlich von beiden Seiten, und wir sahen uns von nun an oft, sowohl bei seinem Oheim als in unserm Hause. Doch kam es nicht zu einer eigentlichen Erklärung, und der schönste Zeitpunkt in [125] der Liebe zweier jungen Herzen, der Zeitpunkt der Erwartung, des Zweifels, der Hoffnung dauerte einige Wochen. Schon fing man an, in den beiden Familien von dieser Verbindung zu sprechen. Mein Vater hatte nichts gegen die Persönlichkeit des jungen Mannes, die in vieler Rücksicht achtungswert war, und der schon jetzt mit kaum 23 bis 24 Jahren eine bedeutende Stufe erstiegen hatte, aber desto mehr gegen seinen Stand. Meine Eltern hatten sich nämlich mit Liebe an mich und das, was ich ihnen im Hause leistete, gewöhnt, meines Vaters Liebe zur Musik hatte ihm meine Hilfe und Mitwirkung in diesem Fache sehr erwünscht gemacht; meiner Mutter zunehmende Augenschwäche und der größere Fuß, auf den unser Haus eingerichtet war, machte ihr meine Hilfe und Tätigkeit in der Führung der Wirtschaft notwendig. So kam es, daß beide bei einer künftigen Verheiratung für mich hauptsächlich darauf sahen, mich, wo nicht ganz nebst meinem Gemahl in demselben Hause, doch wenigstens in der Nähe zu behalten. Ein Offizier aber hätte ihnen die Tochter sogleich entführt, und darum sprach mein Vater ernstlich mit mir, und meinte, wenn es dem jungen Manne Ernst um mich wäre, würde er wohl seinem Stande (der damals vor vierzig Jahren vor den Augen des ruhigen Bürgers in ganz anderm und viel ungünstigerm Lichte als jetzt erschien) gern entsagen und eine friedliche Anstellung suchen, welche ihm bei dem Ansehen und Einfluß seiner Familie und durch meines Vaters Verwendung nicht fehlen würde.

Meine Mutter sagte gar nichts. – Sie wußte um meine Neigung, sie hatte nichts dagegen, aber sie sah wohl vielleicht schärfer und weiter als ich, welche durch mein Herz irregeführt wurde, und als Papa, der[126] dann, wie die Männer überhaupt, in solchen Dingen oberflächlicher beobachtete und urteilte. Allmählich kam mir das Schweigen über unsere gegenseitige Stellung, das Stehenbleiben auf dem Grade der Annäherung, auf welchem wir uns seit Fernandos Anwesenheit seit beinahe drei Monaten noch immer befanden, befremdend vor. – Doch da, wie gesagt, noch keine Erklärung zwischen uns stattgehabt hatte, glaubte ich kein Recht zu haben, ihn zur Rede zu stellen. Nun aber hörte ich bald dort, bald da von frühern oder spätern kleinen, zärtlichen Verhältnissen, die Fernando während des Krieges in Ungarn (seinem Vaterland) gehabt haben sollte; ja endlich sprach man davon, daß ihn nicht allein die Pflicht an seinen Chef, den damals schon sehr geachteten General Mack binde, sondern daß der stete Umgang mit dessen schöner und liebenswürdiger Gemahlin vielen Anteil an dieser Anhänglichkeit habe. Wirklich auch verließ Fernando das Haus seines Oheims, und folgte seinem General auf dessen Landhaus in Penzing. Zugleich wurden seine Besuche bei uns immer seltener, sein Benehmen gegen mich kälter. – Ich erkannte nur zu deutlich, daß dies Herz, das trotz vieler andern edlen Eigenschaften doch zu schwach gegen weiblichen Liebreiz war, keiner wahren, dauernden Liebe fähig sei; – ich konnte mir die traurige Wahrheit nicht verbergen, daß ich nicht mehr ausschließend in Fernandos Herzen herrschte, ja daß dieser Alleinbesitz wohl immer nur eine Selbsttäuschung gewesen sein mochte.

Damals fühlte ich mich sehr unglücklich. Mein Herz war in seinen zartesten Gefühlen verletzt. Ich hatte gehofft, arglos vertraut, ich hatte des jungen Mannes Herz nach dem meinigen beurteilt, ich hatte mich [127] ohne Rückhalt meiner Neigung überlassen, die durch die Vorzüge des Gegenstandes, durch die Empfindung, die er mir zeigte, durch die Beistimmung der beiden Familien gerechtfertigt war. – Ich glaubte, bald ein Band für meine ganze Zukunft schließen zu können, und ich mußte erkennen, daß ich nur das Spielwerk einer flüchtigen Laune gewesen war, und nun rücksichtslos einer andern angenehmem Beschäftigung eben dieser Laune aufgeopfert wurde.

Jetzt waren mir Tröstungen höherer Art notwendig, als sie die Welt und die Menschen um mich mir geben konnten. – Die religiösen Gefühle wollten ihr altes Recht behaupten und mich mit meinen Schmerzen dahin leiten, wo allein wahrer Trost und Ruhe zu finden ist, zu Gott, zu seiner Offenbarung, zur Aussicht auf ein anderes, besseres Leben. Aber da erhoben sich mit feindlicher Kälte alle jene Zweifel und Unsicherheiten, welche durch die Lesung von irreligiösen Büchern und Anhörung solcher Gespräche sich nach und nach wie verfinsternde Nebel in mein Gemüt gelagert und mir den tröstlichen Ausblick in die Ewigkeit verdunkelt hatten. Ich glaubte nicht mehr und ich wußte doch nichts; – und diese Haltlosigkeit meines Innern vervielfachte auf die bitterste Weise den Schmerz, der dasselbe zerriß.

In dieser unsichern, peinlichen Stellung meines Geistes griff ich nach allen Beruhigungen, die ich mir verschaffen konnte. Ich las Mendelssohns Phädon, Hallers Briefe über die Offenbarung und andere Werke ähnlicher Art. Wohl waren sie alle geeignet, dem Herzen, das ohne dies schon im allgemeinen glaubte oder von den Wahrheiten, die sie mit ihren Gründen zu unterstützen sich [128] bemühten, zum Teil überzeugt war, diese in vollem Lichte zu zeigen; aber ein irregemachtes, zweifelndes Gemüt zu beschwichtigen, fand ich sie wenigstens nicht imstande. Meine Unruhe, und somit mein Schmerz, blieben dieselben. Da fielen mir Youngs Nachtgedanken in die Hände, und begierig versenkte sich mein blutendes Herz in die Tiefen dieser Schwermut. – Meine Empfindungen waren hier ausgesprochen – »durch die Hintertüre der Vergangenheit begegneten mir die Geister meiner abgeschiedenen Freuden, ein zahlreicher Haufe« – mir »flocht die Erinnerung die Stacheln entflohenen Glückes in die Geisel ein, womit sie mich nun doppelt schmerzhaft züchtigte«; ich erkannte, »daß der Raupe dünnster Faden ein Schiffsseil ist, mit dem Band verglichen, das den Menschen an seine irdische Glückseligkeit bindet, und das jedes Lüftchen zerreißt« 7. Von diesen so wahr, so energisch ausgesprochenen Schmerzen erhob sich mein gedrückter Geist zu den überirdischen Tröstungen, welche dem Dichter die Religion beut und die beiden Nächte, ich denke, es ist die siebente und achte, welche die Aufschrift führen: The Infidel reclaimed, vollendeten auch meine Bekehrung. Was philosophische Spekulation und wohlgemeinte Abhandlungen nicht vermochten, bewirkte die Poesie, die unmittelbar an das tiefverletzte Gefühl sprach und aus dessen eigenem Grund die Wahrheiten entwickelte, denen der Verstand seinen Beifall nicht versagen konnte. Nun ward mir wieder leichter. Mit beruhigterem Gefühl blickte ich auf mein getrübtes Leben; denn jenseits desselben öffnete sich mir die Aussicht in die Ewigkeit, und es [129] war die Vorsicht, der Wille eines höchst weisen, unendlich gütigen und allmächtigen Wesens, das mir diese Wunden geschlagen und mein Glück zertrümmert hatte. Es war doch zu meinem Besten, davon fühlte ich mich überzeugt, und so gewann ich Ergebung und Ruhe.

Wohl schmerzte K**s Flattersinn und meine zerstörten Hoffnungen mich tief; – wohl war meine beängstigte Seele durch schwere Kämpfe gegangen, ehe sie einige Ruhe fand; aber nebst dem Glauben kam ihr der Stolz zu Hilfe. Unerträglich war mir der Gedanke, die Rolle der Verlassenen vor der Welt zu spielen und dem Wankelmütigen den Triumph zu gönnen, daß sein Verlust mich kränken könne.

Damals dichtete ich verschiedene Lieder, die aber niemand zu sehen bekommen durfte. – Das eine begann also:


Wie still ist alles um mich her!

Es ruht die Nacht mit ihrem Schatten

Auf diesen farbenlosen Matten;

Kein Wild regt sich im Haine mehr,

Des Vogels Haupt ist unterm Flügel,

Von ferne rauscht der Felsenbach,

Und in den Eichen dieser Hügel

Seufzt ihm ein sterbend Lüftchen nach.


dann kam eine Anrufung an meinen Lieblingsstern, die Lyra, der früher von K** ebenfalls war besungen worden, und dann schloß das Lied mit den Zeilen:


O lehre mich den Gram besiegen,

Und ihn, der dein und mein vergißt,

Nun auch um den Triumph betrügen,

Daß sein Verlust mir schmerzlich ist.


Ein anderes Lied enthielt folgende Strophen:

Jetzt, da die Nacht vom Winterhimmel sinket,

Kein Stern den trüben Nebelflor durchblinket,

Eil' ich zu dir mit allen meinen Wunden,

O mein Klavier!


[130]

Du spottest nicht, kein Hohngelächter schrecket

Dies arme Herz, das dir sich gern entdecket,

Du lachst der Schwachheit nicht, die ich empfunden,

Drum klag' ich dir!


Hier fällt die Maske, die ich sonst getragen,

Hier darf ich weinen und mein Schicksal klagen,

Ach, in dem Zirkel, der mich sonst umrauschet,

Darf ich das nicht.


Dort wehrt mein Stolz dem Ausbruch heißer Zähren,

Dort darf kein Ohr den leisen Seufzer hören,

Dort, wo auf jeden Blick ein Spötter lauschet,

Lügt mein Gesicht. usw.


Die Empfindungen und Ansichten, welche aus diesen Liedern sprachen, waren tief aus meinem Innersten geschöpft. Vielleicht findet man sie weder poetisch noch romantisch, wenigstens die Heldinnen von Romanen und Theaterstücken werden gewöhnlich mit andern Gefühlen geschildert. – In mir war es nun einmal so und eine gewisse Elastizität meines Gemütes, wenn ich also sagen darf, half mir stets, besonders nachdem das Licht des Glaubens mir wieder heller zu scheinen angefangen hatte, mich aus den Fluten, der über mich ergangenen Leiden emporzuheben, sowie sie mich abhielt, durch weichliches Klagen fremdes Mitleid zu suchen und zu erregen. Von jeher fand ich es erbärmlich, die Didone abbandonata zu spielen, in Liedern und Klagen der Welt zu vertrauen, daß ein Wankelmütiger mir eine andere vorgezogen hatte, und ebensowenig konnte ich damals mit zwanzig Jahren, sowie jetzt mit mehr als siebzig, in die Jeremiaden so vieler meiner Schwestern, und unter diesen namentlich vieler Dichterinnen, über die Gefühllosigkeit, den Leicht- und Flattersinn oder die Roheit des männlichen Geschlechts einstimmen. Selbst meiner Mutter Ansichten von dem [131] unbilligen Verhältnis, worin wir gegen die Männer stehen, von den Anmaßungen, die sie sich im bürgerlichen und häuslichen Leben über uns erlaubt haben sollten, von den sogenannten Rechten des Weibes fanden keinen Anklang in meiner Seele, soviel Gewalt auch in jeder andern Hinsicht ihr sehr starker Geist und ebenso starker Wille über mich ausübte. Ich konnte die Männer weder hassen noch verachten und noch viel weniger beneiden. Ich fühlte mich überzeugt, daß der notwendige Geschlechtscharakter und die Einrichtungen in der physischen wie in der moralischen und bürgerlichen Welt uns die untergeordnete Rolle mit Recht angewiesen hatten; ich konnte es mir nicht verhehlen, daß nicht allein in Künsten und Wissenschaften, sondern selbst in den ganz eigentümlich weiblichen Beschäftigungen wie Kochen, Schneidern, Sticken die Männer, wenn sie sich darum annahmen, doch immer die Leistungen unsers Geschlechts weit hinter sich ließen. Willig also räumte ihnen mein Herz diese geistigen Vorzüge ein, aber eben so bestimmt erkannte ich auch, daß von Seite des Gefühls, des richtigen Taktes, der Herrschaft über uns, ja selbst in einer gewissen Art von Mut wir den Männern wo nicht voran, doch völlig gleich stehen, und daß die Vorsicht, unendlich weise in allen ihren Veranstaltungen, auch hier sich also bewiesen und die Eigenschaften, welche dem Menschen in abstracto zukommen, auf solche Art zwischen die beiden Geschlechter verteilt hat, welche für das Wohl des Ganzen am zuträglichsten war. In dieser Ansicht nun kam mir das Los unsers Geschlechts, dem die erste mühsame Pflege und Bildung des jungen Menschen anvertraut und in dessen Hand es gelegt ist, guten, edlen Samen in die jungen Herzen zu streuen,[132] der im Mannesalter seine segensreichen Früchte tragen soll, immer ehrwürdig und schön vor, und ich fand (wie ich es späterhin in dem Roman »Frauenwürde« deutlicher auseinander zu setzen mich bemüht habe), daß der Himmel sehr gütig gerade dadurch für uns gesorgt hatte, daß er uns unsere Pflichten so deutlich vorgezeichnet und uns dadurch vor so vielen gefährlichen Irrtümern und schmerzlicher Reue bewahrt hatte.

So wehrte ich denn meiner Zunge, meinen Mienen und Blicken, daß sie nicht das schmerzliche Geheimnis meiner Brust verrieten, und es gelang mir so wohl, daß vielleicht nur ganz wenige meiner nächsten Bekannten eine Ahnung davon hatten. Dies war auch um so mehr zu hoffen, da Fernando sich nie lange in Wien aufgehalten hatte, unser Verhältnis ohnedies kein erklärtes war und wir uns vor der Welt stets mit der nötigen Zurückhaltung betragen hatten. Die Sache löste sich ganz leicht und unbemerkbar auf und ich entging dem Gespötte und dem kränkenden Mitleid.

Aber mein Geist war ernster geworden. Manche laute Freude, die mich früher vollgenügend angesprochen und mein ganzes Wesen erfüllt hatte, wie z.B. der Tanz als Tanz, große Gesellschaften, wo eine Menschenflut durch die Säle auf- und abwogte, Praterfahrten an Frühlingssonntagen, besonders hinab bis ins Lusthaus, wo zahllose Equipagen und eine wimmelnde Menschenmenge im buntesten Putz alle Sinne betäubend beschäftigten; – alles dies, was ich sonst mit jugendlichem Mute gewünscht und genossen hatte, fing an, seine Reize für mich zu verlieren, ja manches beinahe mir lästig zu werden, vorzüglich die großen Gesellschaften und überhaupt das Geschwirre und Getreibe vieler, mitunter auch unbekannter Menschen. [133] Ich suchte die Einsamkeit öfter und lieber, ich fand eine Art von Beruhigung und Beschwichtigung meiner schmerzlichen Gefühle in derselben, welche mir keine sogenannte Zerstreuung und Unterhaltung gewähren konnte, und schon damals begann diese Richtung meines Geistes sich zu entwickeln, vermöge welcher ich jede Kränkung, jeden Schmerz, ja auch jede Sorge und Angelegenheit am liebsten ganz für mich und mit mir allein ausmachte, bekämpfte oder zur Ruhe sprach. Mehrere ernste Bücher fingen an, mich tief anzusprechen. Ich las Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte, mehrere lateinische Klassiker, den Virgil, Lucan, Tacitus, Seneca, Horaz, Tibull, meist mit den beiden Freunden meiner Eltern, Alxinger und Haschka, deren kenntnisreiche Erklärungen mir das Verständnis dieser Schriften erleichterten und meinen Geschmack leiteten; ja sogar einige Satiren des Juvenal und Persius durfte ich unter Alxingers Anleitung und nach strenger Auswahl lesen. Großen Eindruck machten einige Stellen des Virgil, die ich jetzt noch auswendig weiß, auf mein Gefühl – und häufige Tränen flossen dem Tode des Nisus und Euryalus, sowie dem des Turnus, den ich, sowie beim Homer den Hektor, nun einmal als den unschuldig Verfolgten und Beeinträchtigten in mein Herz geschlossen und gegen den Äneas in Schutz genommen hatte. Vielleicht war der Umstand, daß ich Blumauers Travestie früher als das Original gelesen, viel schuld an meiner Abneigung gegen den frommen Helden, aber ich konnte nicht umhin, diesen Mann, der der begegnenden Nymphe in den Lybischen Wäldern sich selbst als den »pius Aeneas fama super aethera natus« ankündigt, bei jeder Gelegenheit steif und fade zu finden und immer in ihm den Äneas [134] ganz von Butter zu sehen, wie ihn Blumauer auf einer Torte darstellt 8.

Viel tiefer aber ergriffen mich des Tacitus und Seneca Schriften und die Gesinnungen, die in denselben ausgedrückt sind. Vieles übersetzte ich mir daraus, machte aus andern Auszüge und strebte, soviel ich konnte, in den Geist dieser beiden Schriftsteller und besonders des Seneca einzudringen. Ich hatte eine Jugendfreundin, ein Fräulein von Ravenet, die im Hause sehr werter Freunde meiner Eltern erzogen wurde. Ihr leuchteten, als die würdigsten Beispiele weiblicher Tugend, die Gemahlin und Schwiegermutter ihres Pflegevaters, des Regierungsrates von Heß, vor; zwei Frauen, deren Erinnerung mir noch jetzt vorschwebt, und deren Charakter ich in der Larissa meines Agathokles zu schildern mich bestrebt habe. Josefinen, so hieß meine Freundin, mit der mich eine große Ähnlichkeit der Geistesrichtung verband – denn auch sie erhielt eine mehr als gewöhnliche Bildung und vielseitigen Unterricht – teilte ich denn auch meine Liebe und Verehrung für den Seneca mit. Sowie er fleißig an seinen Lucilius schreibt, und jedem Briefe eine kleine Gabe, irgendeine Sentenz, einen Gedanken als eine Frucht seiner Lektüre anderer Autoren beifügt, so schrieb auch ich Josefinen oft aus einem Hause in das andere (denn wir wohnten nahe) bogenlange Briefe über alle kleinen Vorfälle, die sich mit mir ereigneten und fügte dem Briefe einen Spruch des Seneca bei, von welchem oft der ganze Brief nur eine Erläuterung war.

Ich stand damals, wie ich glaube, auf einem Wendepunkte meines Lebens, wo das fröhliche Mädchen sich [135] von der ernsten Jungfrau scheidet. Und wenn dies bei mir vielleicht etwas später als bei andern, nämlich erst im 20., 21. Jahre geschah, so muß ich bemerken, daß eine sehr gesunde körperliche Konstitution (ich war eigentlich nie krank gewesen), ein leichtes Blut, ein lebhafter und doch klarer Geist, eine unvertilgbare Anlage zur Frömmigkeit und eine im ganzen glückliche äußere Lage mir von jeher viele Heiterkeit und Lebensfreudigkeit erhalten hatten. So war ich lange dem Frohsinn und der Empfänglichkeit für geringe Freuden nach ein glückliches Kind geblieben, als ich schon mehr als halb zu den erwachsenen Mädchen gehörte, so erhielt eben dieser Frohsinn sich auch noch bei reiferen Jahren in mir und hat mich tief ins Alter begleitet. Gott sei dafür gedankt!

Dieser Frohsinn war aber jener ernsten Richtung meines Geistes, die dieser jetzt zu nehmen anfing, nicht im geringsten hinderlich, vielmehr fand er seine Rechnung auf gewisse Art noch besser dabei. Denn wenn jene strengeren Ansichten der Stoa, wenn die großartige Denk- und Empfindungsart der römischen Klassiker mich viele, bisher von mir und andern meines Geschlechts geschätzte und gesuchte Dinge in ihrer eigentlichen Nichtigkeit erkennen ließen, so lernte ich durch eben diese Bücher auch, mich über vieles, was andere betrübte, beruhigen. Mir erschien eine höhere Weltordnung; ich konnte mich mit meinen Hoffnungen und Erwartungen jetzt leichter über die Bedingungen unsers irdischen Seins erheben. Die Ruhe, mit der ich, selbst in früheren Jahren, an den Tod gedacht hatte, begründete sich mehr und mehr, und jene Ansichten, die späterhin Schiller in zwei Versen so unübertrefflich schön und wahr ausgedrückt hat:


[136]

Das Leben ist der Güter höchstes nicht,

Der Übel größtes aber ist die Schuld;


entwickelten sich, nicht so klar und erschöpfend, wie dieser erhabene Dichter sie ausspricht, aber doch in bestimmtern und unbestimmtern Anklängen in meiner Seele. Sie ließen mich Glück und Unglück, Leben und Tod, Gegenwart und Zukunft in ernsten, aber heitern Beziehungen sehen, und benahmen selbst dem Tode immer mehr seine Schrecken, denn er war ja, wie Seneca sagt: »der Geburtstag der Ewigkeit«.

Die Natur hatte von jeher lebhaft an mein Gemüt gesprochen, jetzt fühlte ich mich immer mehr zu ihr hingezogen; Herders Ideen, von denen ich zuvor gesprochen, Bonnets Betrachtungen über die Natur; ein kleines Buch, das vielleicht wenige kennen: La chaumière indienne von Bernardin de St. Pierre (aus dem Michel Beer seinen Paria geschöpft), öffneten mir gleichsam das geistige Auge, um die Wunder der Natur zu erkennen und sie in ihren geheimnisvollen Beziehungen auf uns und unser Verhalten zu betrachten. Damals faßte ich die erste Idee zu den Gleichnissen. Wenn ich einsam, aber recht seelenvergnügt durch den weitläufigen Garten meiner Eltern wandelte, wenn ich an Gott dachte, seine Gegenwart zu fühlen glaubte und dann meinen Blick auf Blumen, Gräser, Bäume richtete, dann traten allerlei seltsame und, wie es mir vorkam, geheimnisvolle Beziehungen zwischen der körperlichen und sittlichen Welt mir vor Augen, und der Gedanke, daß ähnliche Gesetze in beiden regierten, ergriff mich mit großer Gewalt. Ich versuchte es, ihn darzustellen, und so entstanden die Gleichnisse, die ich damals, weit entfernt, an die Bekanntmachung einer so unbedeutenden [137] Kleinigkeit zu denken, bloß meiner Freundin Josefine; zugedacht und in einer reinlichen Abschrift mit einer Dédicace in Versen ihr übergeben hatte.

Es ist vielleicht hier der Ort, mich auch über meine Ansichten von der Freundschaft auszusprechen. Sie waren denen der Alten nachgebildet, und folglich streng und würdig. Mir galt die Freundschaft als ein Bund für das Leben und noch weiter hinaus, dessen eigentlicher Zweck gegenseitige Vervollkommnung war. Jener Ausspruch Ciceros (wenn ich nicht irre): Omnia cum amico delibera, sed prius te ipso, schwebte mir vor. Jedes Verhehlen auch nur eines Gedankens oder Gefühles schien mir Verrat. Wohl sollte meine Freundin jedes kleine Begegnis, das ich erlebte, erfahren; aber das Erzählen desselben war nicht, wie ich es bei den meisten meiner Gespielinnen sah, der einzige Zweck dieses Vertrauens; denn dazu hätte ja wohl die Grube hingereicht, in welche jener geschwätzige Barbier des Königs Midas sein Geheimnis hineinrief. Nein, meine Freundin sollte mich ganz erkennen, beurteilen, ermahnen, tadeln, mit einem Worte, bessern können, sowie ich das gleiche bei ihr zu tun bereit war. Hierzu ist nun freilich eine große Ähnlichkeit der Jahre, der Bildungs- und Lebensweise erforderlich Es gehört aber auch, um solch ein Band in seiner ganzen Würde und Schönheit aufrecht zu erhalten, dazu, daß jene Bedingungen fortdauern. Ändern sich die Beziehungen der beiden Personen zueinander merklich, führen Schicksale, fremde Einwirkungen die eine oder die andere einen ganz verschiedenen Lebensweg und hält sie lange auf demselben, so daß dessen Gewohnheiten und Einflüsse die früheren Eindrücke verwischen, so kann wohl Neigung und Achtung noch [138] wie ehemals fortbestehen, aber die feineren Beziehungen, der innere Anklang, der der Empfindung oder dem Gedanken der verwandten Seele entgegenkommt, müssen sich dann verlieren.

Etwa um diese Zeit wurden mir zwei Bücher zu lesen erlaubt, von denen ich früher sehr viel gehört und sie oft näher zu kennen gewünscht hatte. Doch meine Mutter hatte es für zweckmäßig gehalten, solange sie mein Herz für zu empfänglich und meinen Geist für noch nicht reif genug hielt, mir dieselben (es waren der Werther und Agathon) zu entziehen. Nun las ich sie, und sowohl meine Mutter als ich selbst mußten uns wundern, daß der Eindruck, welchen diese Werke auf mich machten, ganz dem erwarteten oder gefürchteten entgegengesetzt war.

Mich ließ der Werther, als Roman, kalt, so lebhaft mich die Schönheit der Darstellung, die psychologische Wahrheit der Charaktere, die tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens, die Naturschilderungen usw. anzogen. Meine Phantasie, deren Aufregung man hauptsächlich gefürchtet hatte, blieb ruhig; – dieser junge Mann (Werther) flößte mir kein Interesse ein; denn ich konnte ihn nicht achten, höchstens Mitleid mit dem verschrobenen Gemüte haben, dem es nur immer nach dem Verwehrten lüstete, weil es verwehrt war, und an dessen endlicher Verzweiflung und Selbstmord gekränkte Eitelkeit und zurückgewiesene Anmaßung in jener Gesellschaft des Präsidenten wohl ebensoviel, wo nicht größern Teil hatte, als seine unglückliche Leidenschaft. Ich prüfte mich aufmerksam, und ich glaubte damals, wenn ich durchaus zwischen ihm und Albert hätte wählen müssen, ich mich doch eher für den letztern entschieden haben würde, der mir [139] als Gefährte für ein ganzes Leben viel würdiger und passender vorkam.

So ging beim Werther die gefürchtete Gefahr für meine unruhige Einbildungskraft schadlos vorüber, und was es immer gewesen sein mochte, das meine Mutter abhielt, mir den Agathon früher in die Hand zu geben – ob Besorgnis vor den zu lüsternen Schilderungen oder den philosophischen Ansichten, die das Buch enthielt – genug, auch diese Stacheln glitten ab an mir. Zwar erregten der Charakter und die Schicksale Agathons meine lebhafteste Teilnahme, und ich fühlte viel mehr für ihn und mit ihm als für Werther; aber die Stelle, welche den tiefsten, unauslöschlichsten Eindruck auf mich machte, einen Eindruck, der lange in mir nachwirkte, war die Schilderung jener Periode in Agathons Leben, als er und Psyche im heiligen Haine zu Delphi miteinander erzogen wurden. Dies stille, gleichsam im Heiligtume der Gottheit verborgene Leben, das wie ein ruhiger Bach einförmig, aber klar dahinfloß, und in dessen heller Tiefe sich der Himmel und der Gott spiegelte, dem beide dies Leben gewidmet glaubten, die reinen und doch so warmen Gefühle, welche die jungen Herzen aneinanderzogen und ihnen doch nichts von ihrer Unschuld und Frömmigkeit nahmen, rührten und bewegten mich aufs tiefste. Das war ein irdisches Paradies, in dem ich mich unendlich selig gefunden haben würde, wenn es Gott gefallen hätte, mich in ein solches zu versetzen und die Wunden, an denen mein Herz im stillen noch immer blutete, vermehrten die wehmütige Sehnsucht, welche jenen Zustand vor den Augen meines Geistes mit himmlischem Lichte verklärte.

Ich war nicht bestimmt, ein solches Glück zu genießen! [140] Zweimal hatte sich ein trügerischer Schimmer desselben mir gezeigt, zweimal war er verschwunden; hatte sich das erstemal in die erbärmlichste Prosa aufgelöst, war das zweitemal durch Flattersinn zerstört worden.

Je schmerzlicher ich diese Ausschließung von jener Seligkeit fühlte, die ich dem frommen Paar im heiligen Hain so tief und lebhaft nachempfand, je leichter und lebendiger entwickelte sich der Gedanke in mir, das Glück der Liebe und häusliche Freuden seien nicht das Los, welches mir die Vorsicht zugedacht und diese Ansicht setzte sich durch verschiedene, zufällig zusammentreffende Umstände immer fester in meinem Gemüte. Aber auch sie benahm mir meine innere Heiterkeit nicht; denn ich hatte mich, durch religiöse Trostgründe und durch Young und Seneca gestärkt, mit ruhiger Wehmut in dies Geschick ergeben, und strebte jetzt nur dahin, diese neue Ansicht mit meinen übrigen Verhältnissen und meinen Aussichten für meine kommenden Jahre, wenn ich sie erreichen sollte, in Einklang zu bringen.

Jene Schilderung von Agathons und Psyches Lebensweise in Wielands Werke; viele Stellen im Seneca, welche Mäßigkeit, Beherrschung der Leidenschaften und Begierden, Geringschätzung der rauschenden Weltfreuden lehrten und uns dadurch den Weg zur wahren geistigen Freiheit zeigten; Youngs Aussichten in jene bessere Welt, welche die Rätsel der gegenwärtigen lösen sollte – Nothing this world unriddles but the next – endlich allerlei seltsame Ansichten, Ahnungen, Ereignisse usw., welche ich aus Erzählungen glaubhafter Menschen und aus manchen Büchern, vorzüglich aus Moritz Magazin der Seelenerfahrungskunde [141] geschöpft, hatten mir Ideen von einer schon auf Erden möglichen Annäherung an die Geisterwelt gegeben. Es schien mir nicht untunlich, daß der Mensch durch große Mäßigkeit in allen sinnlichen Genüssen, durch große Stille und Einfachheit der Lebensweise, durch strenge Herrschaft über seine Leidenschaften und Regungen, durch steten Rückblick auf Gott, in einem nützlich, aber nicht zu sehr beschäftigten Leben, es schon auf Erden zu einer hohen Stufe der Vollkommenheit, ja vielleicht dahin bringen könnte, wenigstens auf einzelne Lichtmomente seines Lebens, seinen Geist der Herrschaft des Körpers zu entziehen und sich der Geisterwelt zu nähern oder wenigstens hellere Blicke in dieselbe werfen zu dürfen.

Diese Vorstellungen beschäftigten mich sehr. Ich sammelte mit Fleiß alles, was ich in klassischen und andern Schriftstellern damit Übereinstimmendes fand. Ich entwarf meinen künftigen Lebensplan, und nachdem ich alles reiflich erwogen und geordnet hatte, brachte ich einen Aufsatz zu Papier, den ich in Briefform an Josefinen richtete, und der ungefähr folgende Ansichten und Vorschläge enthielt.

Wir wollten beide unverheiratet bleiben, da ich eine Ehe ohne Liebe für Entheiligung hielt und dieser Leidenschaft, nach zweimaliger Täuschung, mein Herz abgestorben glaubte. Die Lage meiner Freundin versprach damals auch ihr keine glänzenden Aussichten; so wollten wir denn, wenn wir unsere Pflichten gegen unsere Eltern, solange sie lebten, erfüllt haben würden, mit dem nicht beträchtlichen, aber hinreichenden Erbteil, welches ich hoffen konnte, uns eine kleine Besitzung auf dem Lande kaufen und dort still beisammen leben.

[142] Um aber auch andern nützlich zu werden, und das Gute, welches wir beide für das Höchste hielten, sittliche Ausbildung, nach unsern Kräften zu verbreiten, wollten wir einige Mädchen aus der Nachbarschaft zu uns nehmen und erziehen. Das sollte unser mäßiges Tagewerk sein; außerdem aber wollten wir so viel möglich abgezogen und beschaulich leben, wenig Umgang und Verkehr mit andern Menschen haben, und selbst unsere Nahrungsweise sollte darauf hinzielen, das Irdische an uns ja nicht ohne Not zu vermehren. Wir wollten uns nämlich nur von Pflanzenspeisen nähren (ich hatte damals eben die Rede des Pythagoras in den Metamorphosen gelesen), grobe Fleischnahrung, Wein und alle Leckereien vermeiden und so dahin streben, uns schon hienieden soviel als möglich zu vergeistigen, damit unsere Seelen, wenn der Tod sie einst abriefe, keine so schwere Hülle abzustreifen und nur lockere Bande zu zerbrechen hätten. Alle diese Ansichten und Vorschläge waren mit Zitationen aus den Schriftstellern, die meine beständige Lektüre ausmachten, und aus denen ich jene Ideen auch geschöpft, belegt.

Diese Arbeit machte ich während eines Sommers auf dem Lande mit großer Liebe und ebenso großem Fleiße und fühlte mich ungemein beruhigt, getröstet, gestärkt, als ich sie vollendet und nun den Pfad für mein künftiges, einsames, aber nicht zweckloses Dasein mir fest vorgezeichnet zu haben glaubte. Was ist der Mensch und seine Entwürfe!

Ich war, wie ich schon einmal in diesen Blättern berührt, eigentlich nie krank gewesen, und ein kaltes Wechselfieber mit einer Ergießung der Galle, die mich sehr verdroß, weil sie mich auf eine Weile sehr entstellte, [143] waren bisher meine einzigen körperlichen Leiden gewesen. Doch auch selbst während dieser kleinen Anfälle, die sich durch zwei Sommer wiederholten, lag ich nur selten und nur auf Stunden zu Bette, und meine kräftige Natur überwand den bösen Keim gänzlich.

Daß mir nur eine seltsame Geneigtheit zu Ergießungen der Galle überblieb, die sich dann jedesmal, wenn irgendeine andere Unpäßlichkeit oder noch vielmehr ein Kummer, eine schwere Sorge mich drückten, durch eine gelblichere Hautfarbe offenbarte, wobei sich selbst im Weißen der Augen ein gelblicher Schein zeigte, diese Geneigtheit währte lange bei mir und bis in meine höheren Jahre hin.

In jener Epoche aber, wo ich den obenerwähnten Aufsatz schrieb, war ich völlig gesund. Die Fieberanfälle hatten sich nicht mehr gezeigt, ich genoß eines ungestörten Wohlseins und habe jene Krankheitszufälle nur darum berührt, um mit mehr Bestimmtheit zu zeigen, daß kein körperliches Übel damals Einfluß auf meinen Seelenzustand hatte. Dennoch hatte sich meiner eine Art von Todesahnung bemächtigt. Wir standen damals am Anfange des Winters; – ich war, Gott weiß warum, fest überzeugt, daß ich ihn nicht überleben und der nächste Frühling mein Grab begrünen würde. Dies war mir so ausgemacht, daß ich einen prächtigen Mousselin, den ich damals bei einer Freundin meiner Mutter, der Gräfin Truchseß Zeill zum Geschenk erhalten hatte, die ihn mir von einer Reise in die Schweiz mitgebracht, gar nicht machen lassen wollte, damit ihn die Mutter gleich behalten und für sich zurichten lassen könnte. Diese Gewißheit meines nahen Todes beunruhigte mich aber nicht im geringsten. Ich setzte sogar mit Vergnügen eine Art[144] Testament auf, worin ich, da ich kein Eigentum besaß, meine Eltern bat, aus meinen kleinen Habseligkeiten von Nippen, Geschmeide usw. meinen Freundinnen Andenken bestimmen zu dürfen.

Literarisch oder eigentlich poetisch beschäftigte ich mich damals nicht viel. Mein Gefühl war zu sehr verletzt und meine Gedanken zu sehr teils mit jenen ernsten Vorstellungen, teils mit wirklichen und prosaischen Dingen erfüllt. Meine Mutter war, trotz ihres hochgebildeten Geistes und dem glänzenden Fuße, auf dem unser Haus eingerichtet war, ihrer Wirtschaft bis ins kleinste Detail stets selbst vorgestanden, und hatte mich schon früh ebenfalls dazu angehalten. Sie wehrte mir nicht, meinen Geist zu bilden, ja sie hielt mich, wie man sich durch die Lesung dieser Blätter überzeugt haben wird, selbst dazu an. Aber – und diese Ansicht werde ich ihr ewig, nebst so vielem andern danken – aber jene Beschäftigungen durften erst an die Reihe kommen, wenn jeder häuslichen Pflicht, jeder nötigen Arbeit ein Genüge geschehen war. Sie sagte mir oft: das Hauswesen in Ordnung zu halten, ist der Frauen erste Pflicht; diese muß streng und vollständig erfüllt werden. Bleibt uns dann Zeit übrig, so dürfen wir sie nach Gefallen auf erlaubte Dinge verwenden. Die eine geht spazieren, die zweite macht künstliche Arbeiten, eine dritte empfängt und gibt Besuche oder liest Romane; – willst du in deinen freien Stunden dich mit Poesie, mit Übersetzungen aus fremden Sprachen (was ich gern und häufig tat) beschäftigen, so ist dir dies unverwehrt; aber dem Hauswesen darf kein Abbruch dadurch geschehen.

In eben diesem Sinne hielt sie mich zur Sparsamkeit und zur Selbsttätigkeit an. Ich mußte lernen, [145] mich soviel wie möglich überall zu behelfen, mich selbst zu bedienen und vorzüglich meinen ganzen Putz selbst zu verfertigen. Damals waren die Frisuren künstlich und zeitraubend; ich mußte mir, vom Wickeln und Brennen der Haare an, bis zum Putz mit Blumen und Federn alles dies selbst leisten, meine Hauben und Hüte selbst stecken, und ich lernte es endlich so gut, daß ich meinen Freundinnen hierin half, manches Käppchen oder Häubchen für andere verfaßte, und selbst meine Blumen zum Putz verfertigte. Bei diesen Ansichten war ihr nun freilich die große Liebe meines Vaters zur Musik und die Forderungen, die er deswegen an mich stellte, oft ein Anstoß. Mit Klavierspielen, Üben, Produzieren, Singen gingen viele Stunden des Tages hin, und das billigte meine Mutter wohl nicht; aber sie vermochte es nicht zu ändern, nur zu mäßigen.

Durch vieles Lesen, besonders beim Kerzenlicht und in oft schlechtgeschriebenen Papieren, welches meine Mutter während ihres Dienstes bei der seligen Kaiserin täglich durch mehrere Stunden üben mußte, vielleicht auch durch körperliche Disposition, fingen ihre Augen eben zu jener Zeit an, sehr zu leiden. Lesen und Schreiben kostete sie viele Anstrengung, ich wurde also allmählich von ihr auch in diesen Teil des Hauswesens eingeführt und mußte für sie alle Rechnungen, Schreibereien, Quittungen, Briefe, Attestate, kurz alles, was in einer Wirtschaft und bei Grundbesitz (meine Eltern hatten mehrere Häuser in und vor der Stadt) vorfällt, verfassen lernen. Überdies ließ sie sich viel von mir vorlesen, da ihre Augenschwäche ihr diese, sonst so werte Beschäftigung nur selten gestattete.

Man kann leicht erachten, daß meine Zeit unter diesen Umständen sehr besetzt war. Meistens hatte ich[146] ein gutes Teil mehr Arbeit vor mir, als wozu der Tag hinreichte, und meine poetischen Übungen wurden ziemlich auf die Seite gedrängt. Dennoch lernte ich nach und nach meine Stunden so haushälterisch einteilen, die verschiedenen Geschäfte, die mir oblagen, so ineinander passen, so manche, wo es sich tun ließ, gleichzeitig verrichten, daß ich es dahin brachte, allem, was meine Mutter im Haushalt, mein Vater für seine Musikübungen, endlich unsere ganze Lebensweise an geselliger Rücksicht, mit Putz und Empfang zahlreicher Besuche von mir forderte, zu leisten, und doch noch hier und dort ein Stündchen für einsamen Genuß, der mir zum Bedürfnis geworden war, und literarische Arbeiten zu finden. Diese genoß ich denn auch mit doppelter Lust, und habe mich durch eigene und fremde Erfahrung in meinem langen Leben überzeugt, daß Dichter und Künstler, die nichts als dieses waren und sein wollten, sich selten mit Glück in dieser allzu unbestimmten Bahn hielten, und noch viel seltener ein großes Ziel erreichten. Daß aber jene unter ihnen, die außer ihrer Kunst sich noch irgendeiner andern ernsten Beschäftigung ergeben hatten, diese mit strengem Pflichtgefühl trieben, und die Muse mehr wie eine Geliebte, als wie ihre Hausfrau betrachteten, meist Größeres und Allgemeingültigeres leisteten. Gar zu selten sind jene privilegierten Geister, die die Kunst in allen ihren Tiefen zu erfassen und zu halten vermögen, ohne auf Abwege dabei zu geraten. Selbst diese Freiheit und Ungebundenheit von jedem bürgerlichen Verhältnisse wird oft zur Verräterin an ihrer Kunst, noch öfter an ihrem sittlichen Wert oder ihrem physischen Wohl. Daher habe ich es stets für höchst gefährlich gehalten, wenn ein junger Mensch den Vorsatz [147] äußerte, sich keinen bürgerlichen Beruf zu erwählen, sondern der Kunst zu widmen, wie sich diese Leute auszudrücken pflegen. Im Grunde heißt das gewöhnlich nichts anders, als einen Freibrief suchen, um gar nichts zu tun. Hat aber einer den göttlichen Funken wirklich in der Brust, spricht die Kunst oder Wissenschaft wirklich allmählich an sein Gemüt, so fürchte man ja nicht, wie ich es oft von verblendeten Eltern gehört, diesen Funken zu ersticken, indem man den Jüngling zu ernsten Berufsstudien, die Tochter zu Häuslichkeit, Fleiß und Wirtschaft anhält. Da erprobt sich erst die Echtheit der Begeisterung und durch Zwang und Hindernisse macht das wahre Talent sich Bahn, wie ich es oft erlebt habe und namentliche Beispiele anführen könnte. Carpani vergleicht in seinem Werke: Le Haydine, wo er von diesen höhern Anlagen spricht, die der Mensch oft unbewußt in sich trägt, und die sich auch unter den ungünstigsten Umständen Platz zu machen wissen, diese mit einer schönen Statue, die noch in dem unbearbeiteten Marmorblocke verschlossen liegt: »Die Statue ist schon da, aber es bedarf gewöhnlich der Arbeit des Meißels, um sie zutage zu fördern. Ist sie aber rechter Art, so springt sie wohl selbst aus dem Blocke hervor.« Diesen Ansichten, die meine gute, verständige Mutter in mein noch jugendliches Gemüt legte, meinem Gehorsam, sie zu befolgen und vieljähriger Übung danke ich es nun im Alter, daß ich bei vieler Anlage zur Poesie, bei vieler Zeit, die ich der Beschäftigung damit widmete, so daß ich in dem langen Raume meines Lebens die Zahl meiner Werke bis gegen 50 Bände brachte, doch meine häuslichen Pflichten, wie ich zu Gott hoffe, nicht versäumt, meiner Mutter, solange ich sie an meiner Seite hatte, treu beigestanden, [148] meines Mannes Leben erheitert, und meine Tochter zu einer sehr braven Frau gebildet habe. Oft hörte ich verwundernde Lobsprüche darüber, daß ich alles dies so gut zu vereinigen gewußt hätte; ich kann aber vor Gott bekennen, daß es mich weder Studien noch Mühe gekostet, sondern daß alles aus früher Gewöhnung und den Lehren meiner Mutter ganz natürlich entflossen ist.


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Meine Todesahnungen, mit denen ich den Winter begonnen hatte, wollten sich im Laufe desselben nicht bewähren, ja selbst meine Stimmung wurde nach und nach wieder heiterer. Der Zyklus gesellschaftlicher Freuden, der sich jedes Jahr im Hause meiner Eltern abrollte, hatte auch diesen Winter sein Recht behauptet. Die theatralischen Vorstellungen begannen, so wie wir vom Lande zurückgekehrt waren; dann kamen die wöchentlichen Quartetten während des Advents an die Reihe. Im Karneval lösten ebenso wöchentliche Picknicks unter unserer näheren Bekanntschaft die Quartetten ab, die mit der Fastenzeit wieder eintraten, und nach Ostern wurde das Theater abermals aufgerichtet und fortgespielt, bis es Zeit war, aufs Land zu ziehen. Noch eine Art von geselliger Unterhaltung hatte sich seit einiger Zeit in unsern Kreisen etabliert, die eigentlich im Hause eines nähern Bekannten, des berühmten Hofrats von Born, begonnen hatte, mit dessen jüngerer Tochter, einem liebenswürdigen, sanften Mädchen, mich eine herzliche Zuneigung verband, und wo alle Sonnabende im ganzen Winter sich größere Gesellschaften versammelten, die eigentlich in drei Abteilungen zerfielen. Den mittelsten [149] Salon, das eigentliche Tafelzimmer, okkupierten wir junge Leute und durften uns auch noch in die, zu beiden Seiten anstoßenden Kabinette verbreiten. Neben dem Kabinette linker Hand aber war der Salon der Hofrätin, in welchem die Väter und Mütter der im Tafelzimmer versammelten Jugend oder andere ältere Bekannte der Frau vom Hause sich mit Kartenspielen unterhielten, während in dem Salon neben dem Kabinette rechter Hand – dem Studierzimmer des ebenso geistreichen als gelehrten Herrn vom Hause, sich Gelehrte, bedeutende Fremde oder ausgezeichnete Geschäftsmänner höheren Ranges einfanden. Durch den Saal, in dem wir unser, oft sehr lautes Wesen trieben, gingen alle die Eingeweihten, die in eines der höheren Gemächer zugelassen wurden; wir sahen sie durchpassieren, wir knixten und verbeugten uns achtungsvoll und waren wieder froh, wenn die kartenspielende Dame oder der gelehrte Herr, der Herr Graf oder Präsident linker oder rechter Hand abdesitiert und in eines der beiden Heiligtümer eingegangen war. – Hier wurde ein Spiel eingeführt, das große Ähnlichkeit mit den zehn bis zwanzig Jahre nachher ebenso beliebten als kostspieligen Tableaux hatte. Unsere Gesellschaft teilte sich nämlich in zwei ziemlich gleiche Hälften, und jede Partie stellte abwechselnd irgendeine Szene aus einem bekannten Theaterstück, aus der Profan-oder heiligen Geschichte oder der Mythologie pantomimisch dar. Die zur Verständigung nötigen Kostüme und Requisiten wurden, so gut sich es tun ließ, aus den nächsten Umgebungen herbeigeschafft; denn eine Hauptsache war, daß die Zubereitungen nicht zu viel Zeit hinwegnahmen und möglichst viele Geschichten in einem Abend aufgeführt werden konnten. Wir[150] nannten es auch Geschichten spielen. Aus dem Bornschen Hause, welches bald darauf durch den Tod des ausgezeichneten Mannes und durch den zerrütteten Zustand, in dem er sein Vermögen hinterließ, sich aufgelöst hatte, verpflanzte sich jenes Spiel in unser Haus. Jeden Montag kam eine zahlreiche Gesellschaft junger Leute bei uns zusammen. Ihre Eltern und auch andere Personen fanden sich mit ihnen ein, und unterhielten sich recht gut, indem sie unserm Spiele zusahen. Verschiedene freundlich gesinnte Zuseher spendeten uns allerlei Gerätschaften, Maskenanzüge, Waffen, Helme, Lanzen, Mäntel usw., und es bildete sich eine hübsche Theatergarderobe, in der sich denn die auftretenden Personen ganz leidlich und kenntlich ausnahmen. Ein großer Schritt zur Vervollkommnung dieser Spiele wurde dadurch gemacht, daß die Geschichten nicht mehr pantomimisch und sukzessive wie früher, sondern auf einmal in einem glücklich oder unglücklich gewählten Moment als Tableau dargestellt wurden, wodurch mancher Ungeschicklichkeit und manchem lächerlichen Mißgriff der darstellenden Personen vorgebeugt wurde. Nach und nach wurde auch auf Gruppierung, Beleuchtung, Effekt geachtet, und diese Darstellungen bekamen dadurch ein immer lebhafteres Interesse für die Spielenden sowohl als für die Zuseher, welche sich stets in größerer Menge einfanden. Besonders erinnere ich mich einer sehr gelungenen Vorstellung: Julie im Sarge im verfinsterten Grabgewölbe, die in dem Augenblicke erwacht, wo die Türe sich öffnet, Männer mit Fackeln über Stufen herabsteigen und sie und den toten Romeo finden. Auch wurde das Theater, wenn es stand, zu diesen Darstellungen benutzt. Der Sturz der Engel, den die jungen Männer [151] unserer Gesellschaft sehr gut vorstellten, die Stürmung des Olymps durch die Titanen, das Gastmahl Belsazers, Medea auf dem Drachenwagen usw. erhielten großen Beifall, und mußten gewöhnlich am nächsten Montag wiederholt werden. – Wo sind diese jungen Leute nun alle, die damals munter und eifrig an dieser Unterhaltung teilnahmen? Kaum, daß außer mir vielleicht noch vier bis fünf leben; wie wenige von einem Kreise, der gegen dreißig Personen umfaßte! Alle, alle vorangegangen, wohin wir wenigen übrigen bald folgen werden.

Das sind ganz andere und ernstere Todesahnungen, als jene Grillen – so mag ich sie wohl nach fast einem halben Jahrhunderte nennen – welche damals durch verliebte Schmerzen und eine düstere Geistesrichtung in mir erzeugt worden waren. Dennoch kann ich mit Wahrheit sagen, daß sie jetzt, wo sie eine große und nahe Gewißheit für mich haben, mich ebensowenig erschüttern, als jene mich damals verstörten oder um den innern Frieden, der mein Jugendleben begleitete, zu bringen imstande waren.

Sie trafen damals nicht allein nicht ein, sondern die Elastizität meiner Empfindungen, möchte ich sagen, half mir bald wieder aus der trüben Stimmung, in die jene Liebesschmerzen mich versenkt hatten. Auch heitere, sanfte, hoffnungnährende Gefühle begannen wieder an mein Herz zu sprechen. Durch die vielen Zerstreuungen, welche dem Kreis unserer Bekannten in unserm Hause geboten wurden, und vorzüglich durch das Haustheater, knüpften sich allerlei kleine Verbindungen und Interessen zwischen den jungen Leuten um mich herum an, und auch mein Gefühl ward hier oder da, freilich nur leicht, wieder angeregt.

[152] Ein junger, ziemlich wohlgebildeter Kavalier, Graf H, der im Bureau meines Vaters seit einiger Zeit arbeitete, kam fast täglich in unser Haus. – Er zeigte mir viele Aufmerksamkeit; – es ist sogar möglich, daß, wäre er nicht der älteste Sohn eines hochadeligen Hauses, und ich ihm ebenbürtig gewesen, er sich mir bestimmter genähert haben würde. – Manche seiner Reden, seiner Handlungen ließen es vermuten, und ganz verfehlte dies Betragen mein Herz nicht. Graf H., dessen treffliches Gemüt und ernstes Pflichtgefühl trotz seiner wenigen Geistesbildung mir Achtung einflößten, und dessen herzliches Zutrauen zu mir – denn ich war mit allen seinen Familienangelegenheiten, Leiden und Freuden, Hoffnungen und Entwürfen bekannt – mich nicht ungerührt ließ, war mir, vielleicht eben der Hindernisse wegen, die sich einer Verbindung zwischen uns in den Weg gestellt haben würden, sehr wert geworden. Lange darnach habe ich Graf H.s Persönlichkeit in der kleinen Erzählung »Alt und neuer Sinn«, freilich verändert und verschönert, dargestellt. Er war ebenso blond, so schlank, so rechtlich, so herzensgut wie Blankenwerth, aber weder im Anfang so plump und linkisch noch am Ende so interessant wie jener. Aus dieser Periode stammt auch das kleine Gedicht: »Der Eichbaum und die Weide, eine Fabel«, das ich damals um keinen Preis veröffentlicht haben würde, so wenig als die Klagen um einen Treulosen, das aber bei seiner Erscheinung vierzig oder fünfzig Jahre später einen Beifall fand, über den ich selbst erstaunte.

Jener Herr Eberl, der auf unsrer und mehreren Privatbühnen die Lange'schen oder Liebhaberrollen spielte, war ebenfalls eine ausgezeichnete Erscheinung [153] in unserem Kreise. Ein düsterer Sinn, ein scharfer Verstand, eine melancholische Weltansicht zog die Aufmerksamkeit seiner Umgebung, zumal die der Frauen, auf ihn. Seine Verhältnisse (er bekleidete eine kleine Stelle bei einer Rechnungsbehörde), sein Sinn, der nicht ohne Ehrgeiz und Wunsch nach Auszeichnung war, seine beschränkten Umstände und seine Kränklichkeit, die (wie wir später erfuhren) ihn an jedem Aufstreben hinderte, erklärten leicht jene melancholische Stimmung; aber sie machten ihn, verbunden mit dem feinsten Ton, mit Anstand und hoher Geistesbildung zu einer sehr bedeutenden Persönlichkeit in der geselligen Welt. Wenn er in den Rollen des Schauspielers Lange auf Privatbühnen auftrat, dem er auffallend im Wuchse, Haltung und Bewegungen glich, flogen ihm viele Blicke und auch manches Herz entgegen. Dieser, von vielen gesuchte Mann fing nun an, mich sehr merklich auszuzeichnen, und ich gestehe, daß ich nicht ganz gleichgültig gegen ihn blieb, besonders da uns oft das Los traf, bei unsern Komödien die zärtlichen Rollen miteinander zu spielen.

Ich habe viele Jahre darnach das Gefährliche einer solchen Lage, wenn der Mann, der uns nicht gleichgültig ist, seine Empfindungen unter der Maske einer einstudierten Rolle uns ungescheuter gesteht, und wie leicht sich da ein Mädchenherz täuschen und hinreißen läßt, in einer meiner Erzählungen: »Das gefährliche Spiel« dargestellt.

Sei es aber, daß Eberl, als gesetzter und vernünftiger Mann, der bereits über die Jünglingsjahre hinaus war, die Schwierigkeiten, ja die Unmöglichkeit einer ernsthaften Verbindung mit mir so gut als ich selbst einsah; sei es, daß ein anderes Verhältnis zu einem sehr [154] liebenswürdigen Mädchen, deren beschränkte Umstände ihnen auch keine Aussicht auf Vereinigung boten, mehr war als bloße Freundschaft; kurz, wir hielten uns stets in gehöriger Entfernung voneinander; aber Fräulein L-l (so hieß dies Mädchen) ward mir sehr wert, und wir wurden einander herzlich gut. Sie mochte den gefährlichen Mann wohl inniger lieben als er sie, und der Verfolg zeigte es auch ziemlich klar.

Hier scheint es mir der geeignete Platz, einer früheren zärtlichen Verbindung dieses Mannes mit einem der interessantesten Mädchen in Wien, dem Fräulein Gabriele Baumberg, zu erwähnen, die vor etwa anderthalb Jahren, ganz ignoriert von der Welt, in Linz starb, und erst durch ihren Tod und ein Gedicht, welches bei dieser Gelegenheit erschien, wieder ins Angedenken der Zeitgenossen zurückgerufen wurde. Sie war ein liebenswürdiges Geschöpf, wohlgebildet, anmutig, mit einem schönen Talent für Poesie (damals ein viel selteneres Geschenk der Natur als jetzt) begabt, angenehm im Umgang und voll feinem Geschmack für alles Zierliche, Wohlanständige. Als Eberl sie liebte, traf ihn das Los, in seiner Anstellung nach Brüssel, das damals noch österreichisch war, gehen zu müssen. Jede Aussicht auf eine Verbindung mit der einzigen Tochter einer geachteten und wohlhabenden Familie mußte jetzt aufgegeben werden. Am Vorabend seiner Abreise schrieb er in Gabrielens Stammbuch unter das Bild eines Amors, der weinend sich bemüht, eine Fackel auszulöschen: »pour l'éteindre il n'a que des larmes.« Die Unruhen, welche ein paar Jahre darnach in Niederland ausbrachen, führten Eberl mit andern kaiserlichen Beamten wieder nach[155] Wien; aber jenes Verhältnis knüpfte sich nicht wieder an.

Der Verfolg rechtfertigte, wie ich oben gesagt, meine Ansicht vollkommen. Eberl wurde bald darauf bei einer andern Privatbühne gebeten, die Liebhaberrolle zu übernehmen. Er tat es abermals auf und außer der Bühne. Eine verheiratete Dame wurde diesmal der Gegenstand seiner Aufmerksamkeit, nachdem er schon längere Zeit der der ihrigen gewesen war. Bald zog sich dies Verhältnis noch fester. Eberl wurde der Hausgenosse der Gräfin und, was gewiß für den Wert seiner Denkart bürgt, zugleich der wärmste Freund des Grafen, ihres Gemahls. In diesem Hause stand er eine bedeutende Krankheit aus, und während derselben besuchte ihn Fräulein L.., seine Freundin, fleißig und pflegte seiner nach Möglichkeit. Dies alles zusammengenommen stellt wirklich ein seltsames Verhältnis und eine ungewöhnliche Richtung der Charaktere dar. Von diesen Personen starb das Mädchen, das so treu, so aufopfernd geliebt hatte, zuerst, die Gräfin folgte nicht lange darnach. In ein paar Jahren darauf, als ich schon längere Zeit verheiratet war, starb auch Eberl, und, wie es bei seinem Tode erst kund ward, an einem unheilbaren Übel, das er bis dahin verheimlicht, und das ihn wahrscheinlich bestimmt hatte, nie sich in eine ernste oder gar eheliche Verbindung ein zulassen.

Ich bin etwas weitläufiger, als es gerade die Beziehungen forderten, in denen ich mit diesen Personen stand, für die Geschichte meines Lebens in diesen kleinen Begebenheiten gewesen; aber sie dünkten und dünken mich noch in psychologischer Hinsicht nicht unmerkwürdig, und ich brachte nach so vielen Jahren[156] mit diesen wenigen Zeilen den Manen jener schätzbaren Menschen gern noch den Tribut einer achtungsvollen Erinnerung.


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Noch muß ich mir gestatten, an dieser Stelle, wo so vieler Vorfälle gedacht wird, die sich damals ereigneten, und so vieler Personen, die uns zunächst umgaben, dieser letzteren, die später mehr oder minder in meine Verhältnisse verflochten wurden, mit flüchtigen Worten ausführlicher zu erwähnen.

Härings Familie war mit der unsrigen verwandt, darum dauerte das gegenseitig freundschaftliche Verhältnis mit ihnen sowohl als dem Schwabschen Hause, mit dessen Chef Härings Schwester seit langen Jahren verheiratet war, trotz jenes Bruches zwischen unsern jugendlichen Herzen fort. Ebenso alt und herzlich war unsere Verbindung mit der Kurländerschen Familie, die damals außer den Eltern aus zwei Töchtern und drei Söhnen bestand, wovon die ersten mir ungefähr an Alter glichen. Später geschlossen, aber darum nicht minder warm, war unsere Freundschaft zur Familie von Mertens, des berühmten Arztes, aus der aber nur eigentlich zwei Töchter, Sophie und Henriette mir und meinem Bruder näher standen und sehr oft bei uns waren, ja im Sommer oft mehrere Wochen bei uns auf dem Lande zubrachten. Dann waren mir auch jenes Fräulein v. Born und eine ihrige Kusine und ein Fräulein von Hackher, v. Moter, ein Fräulein v. Ravenet, deren schon Erwähnung geschah, die Kempelensche Familie und einige andere, recht werte und liebe Gefährtinnen auf den heitern Pfaden der Jugend. Ein Haus muß ich noch erwähnen, mit [157] dem das meiner Eltern, schon wie ich noch ein Kind war, in sehr freundschaftlichen Beziehungen stand. Es war die Familie des berühmten Freiherrn v. Jacquin, die schon damals vor 60–70 Jahren, ein helleuchtendes Augenmerk für die wissenschaftliche Welt in und außer Wien war, und die auch ihrer angenehm geselligen Verhältnisse wegen von vielen gesucht wurde. Wenn die Gelehrten oder gelehrt sein Wollenden den berühmten Vater und den ihm nachstrebenden Sohn (den erst vor wenig Jahren verstorbenen Josef Freiherrn v. Jacquin aufsuchten, so sammelte sich die junge Welt um den jüngeren Sohn Gottfried, den ein lebhafter, gebildeter Geist, ein ausgezeichnetes Talent für Musik, mit einer angenehmen Stimme verbunden, zum Mittelpunkt des heitern Kreises machte, und um seine Schwester Franziska, die jetzt noch lebende Frau v. Lagusius. Franziska spielte vortrefflich Klavier, sie war eine der besten Schülerinnen Mozarts, der für sie das Trio mit der Klarinette geschrieben hat, und sang noch überdies sehr hübsch. Da wurden nun an den Mittwochabenden, die, seit ich denken kann, in diesem Hause der Geselligkeit gewidmet waren, auch selbst im Winter, wann die Familie Jacquin, wie jetzt Professor Endlicher, im Botanischen Garten wohnte, in den Zimmern des Vaters gelehrte Gespräche geführt, und wir jungen Leute plauderten, scherzten, machten Musik, spielten kleine Spiele und unterhielten uns trefflich. Schöne Zeit der heitern, sorglosen Jugend! Liebliche Bilder längstentschwundener Freuden! Noch jetzt im Greisenalter beschwört euch mein Geist gern herauf aus dem Dunkel der Vergangenheit und ergötzt sich an euch und gedenkt gar manches scherzhaften Vorfalls, so [158] z.B. des Erstaunens, ja der Betroffenheit, mit der ich als Kind von 9–10 Jahren einst auf meines Vaters Tische ein dünnes Büchelchen fand, das unser ernsterer Spielgefährte, der ältere Jacquin, der damals 12–13 Jahre zählte, über irgendeinen naturhistorischen Gegenstand geschrieben hatte, und das gedruckt wurde. Es kam mir wie eine Zauberei vor, und ich konnte es kaum begreifen, wie man noch fast ein Kind sein und ein Buch schreiben könne. Von nun an betrachtete ich unsern Josef mit einer Art Ehrfurcht. Viel lieber aber unterhielt ich mich mit seinen jüngern Geschwistern und ihrer gleichgestimmten Gesellschaft, mit der ich denn allmählich, wie es diese Blätter zeigen, aus dem Kindesalter in das jugendliche, beweglichere und bedeutendere getreten war, in dem nun statt heiterer Kinderspiele lebhaftere Empfindungen, abwechselnde Hoffnungen und Schmerzen uns beschäftigten.


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Es ist Zeit, nunmehr nach Erzählung vieler kleinen Begebenheiten den Faden der allgemeinen, an dem sich ja das Leben der einzelnen auch mit abspinnt, aufzufassen, da jene Ereignisse doch nie ohne Einwirkung auf deren Schicksal bleiben können.

Als Kaiser Josef gestorben war, hofften viele mit Grund ungemein viel Gutes von seinem Nachfolger und Bruder Leopold II. Es war nicht bloß jenes unbestimmte Hoffen auf einen Wechsel, auf ein Anderswerden so mancher Dinge, die im Laufe der Zeit drückend geworden waren, es waren bestimmte und gerechte Erwartungen von dem Herrscher, der sein kleines Toskana zu einem der bestgeordneten, glücklichsten [159] Staaten gemacht und den Namen des Weisen mit Recht erworben hatte.

In unserm Hause sah man seiner Thronbesteigung mit großer Freude und lebhaftem Anteil entgegen. Mein Gemüt wurde durch alles, was ich über Kaiser Josef hatte sprechen hören, was ich selbst gedacht und gefühlt hatte, durch die Begriffe der Zeit endlich, welche jeden Tadel der bestehenden Regierungen begünstigten, ebenfalls auf eine Weise angeregt, daß ich mir von dem kommenden Herrscher unendlich viel Gutes versprach, und da meine Seele sich bei vieler Liberalität meiner politischen Gesinnungen (welche ich fast mit allen jungen Leuten teilte) stets mit innerem Widerwillen von den gar zu freien und nüchternen religiösen sowohl als moralischen Grundsätzen abgewendet hatte, die mit jenen meist Hand in Hand gingen, so hoffte ich denn von Kaiser Leopolds Familientugenden, von seiner Achtung für häusliches Glück, das er auf fast bürgerliche Weise in Florenz genossen hatte, Wiederherstellung der alten guten Zeit, vermehrte Sittlichkeit, Achtung für Religion usw., und feierte seine Ankunft mit einem herzlich gemeinten Gedichte, worin ich jene Ansichten aussprach.

Doch die Zeit für eine solche Verbesserung war damals noch nicht gekommen. Schwere Regentensorgen empfingen den neuen Monarchen. Die Erbländer waren in furchtbarer Aufregung, aus Frankreich drohte die Revolution sich herüber nach Deutschland zu verbreiten. So viel nahe Gefahren mochten den Kaiser erschreckt haben. Er eilte, den Türkenkrieg nach so vielen glänzenden Siegen und gerechten Hoffnungen durch einen, vielleicht übereilten Frieden zu schließen, der Österreich wenig oder gar keine Vorteile von dem [160] ließ, was es durch Anstrengung und Tapferkeit erworben. Belgrad, Orsova usw. wurde abgetreten, der greise Held Loudon starb gleich darauf, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Gram über diesen Friedensschluß, der nicht allein die Frucht aller seiner frühern Kämpfe dahin gab, sondern ihn auch um die neuen Lorbeern betrog, welche zu erkämpfen er bereits den Feldzug wieder begonnen und sich ins Lager begeben hatte, seinen Tod herbeigeführt hatte. Genug, der Friede ward geschlossen, Preußen erwies sich wie früher immer aufs feindseligste gegen Österreich, und Kaiser Leopold wandte nun seine Sorgen auf die Koalition, welche denn auch zu Pillnitz zwischen den großen Mächten Europas und den französischen emigrierten Prinzen zustande kam. Ihr Zweck war, die Greuel der Revolution zu hemmen, das Haus des Königs auf dem Throne zu erhalten und die Fortschritte der neuen Ideen auch in Deutschland soviel wie möglich zu unterdrücken. Eingeleitet waren diese Pläne; die Ruhe im Innern war ziemlich hergestellt, manches Drückende, aber auch dort und da etwas Gutes aufgehoben oder verändert. Noch wußte man nicht recht, wessen man sich zu dem neuen Herrscher zu versehen habe, als auch ihn ein frühzeitiger und schneller Tod plötzlich abrief, und der Staat, noch stets in unruhiger Bewegung von innen und außen, in diesen bedenklichen Zeitläuften von der Vorsicht in die Hände eines dreiundzwanzigjährigen Jünglings gelegt wurde.

Wohl glaubten viele, eben darum manches befürchten und nicht viel hoffen zu können. In unserm Hause herrschte ebenfalls Trauer über diesen Todfall in einer so verhängnisvollen Epoche; aber mein Herz hatte sich im stillen zu dem gleichalterigen Prinzen gewendet. [161] Ich sah in ihm das Bild der Hoffnung, und mein Gefühl sprach sich in einem Gedichte aus, das ich zum Teil bei der Leichenfeier des Kaisers Leopold an unsern Fenstern dichtete, von wo man den Zug um die Kapuzinerkirche, in der sich die k.k. Gruft befindet, sehen konnte.


Wir flehn zu Dir gleich frühverwaisten Kindern,

O tu an uns wie ältre Brüder tun!

Du kannst allein des Volkes Leiden mindern,

Du,

Du warst uns Bruder; – sei uns Vater nun!


Und Kaiser Franz wurde uns Vater, im schönsten, besten Sinne des Wortes. Meine Hoffnung hatte mich nicht getäuscht, meine poetische Vorhersagung war wahr geworden, und mit großem Vergnügen erinnere ich mich noch jetzt des lebhaften und frohen Eindrucks, den dessen Silhouette auf Goldgrund auf einer Tabatière und mit der hübschen Aufschrift


O decus, o patriae per te florentis imago!
auf mich machte.

Im Sommer 1792 rückten nun die kombinierten Armeen der Österreicher und Preußen (zum erstenmal in friedlicher Vereinigung) ins Feld; an den Rhein und über den Rhein. Den ungünstigen Erfolg dieses Feldzugs kennt die Welt. Statt den König zu retten, war sein Tod beschleunigt worden, und statt die Greuel zu unterdrücken, die den Thronen den Umsturz drohten, zogen sie sie gleichsam erst recht nach Deutschland herüber, wo ohnedies schon längere Zeit vorher Freimaurer und Illuminaten diesen Ideen vorgearbeitet hatten: wie wenn sich jemand unvorsichtigerweise einer Feuersbrunst naht und von den Flammen, die er löschen wollte, ergriffen, diese im Fliehen mit sich fortträgt [162] und so das Feuer in die vorher noch ruhige Gegend bringt. Gebe Gott, daß von dieser Erinnerung gewarnt, die Fürsten Europas den unheilschwangern Vulkan in Frankreich am besten in sich selbst verglühen und sich verzehren lassen!


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Während der Krieg am Rheine begann und der unselige Brand entzündet wurde, der noch fast ein Vierteljahrhundert lang Deutschland verwüstete, hatten meines Vaters Geschäfte und auch sein Wunsch, Oberösterreich, das er zehn Jahre früher mit meiner Mutter schon einmal besucht, wieder zu sehen, die Veranlassung zu einer Reise in diese Provinz gegeben, wo meinen Eltern viele werte Freunde lebten, vor allen der Bischof Gall, eben jener würdige Priester, der mich in meiner Kindheit unterrichtet und von seinem eigenen großen Verdienst und einem glücklichen Zusammentreffen der Umstände gehoben, diesen bedeutenden Platz erreicht hatte. Kaiser Josef fand es seinem, dem Adel nicht sehr geneigten Systeme zusagend, würdige Geistliche bürgerlicher Herkunft zu solchen hohen Stellen zu erheben, die bisher dem langeingeführten Gebrauche gemäß nur Adeligen zuteil und gleichsam ihr Eigentum, auf das sie Anspruch zu haben meinten, geworden war. Mit Erstaunen, mit Freude und auch wohl mit Mißbilligung, je nachdem die Parteien gesinnt waren, wurde die Besetzung mehrerer Bischofstühle, wie des von Linz, von Brünn usw. durch Bürgerliche angesehen; aber wer Gall näher kannte, mußte sich seiner Erhebung erfreuen, die in religiöser und sittlicher Rücksicht ein Segen für das Land ward.

[163] Bischof Gall hatte meine Eltern eingeladen, ihn in Linz und mit ihm seine schöne Besitzung Mondsee (welches jetzt dem Fürsten Wrede gehört, demselben, der am Tage der Wagramer Schlacht unserer Armee den schon errungenen Sieg entriß, indem er um elf Uhr Vormittag mit seinen Bayern den bereits weichenden Kolonnen der Franzosen zu Hilfe eilte! zu besuchen. Acht Tage ungefähr lebten wir in Linz im bischöflichen Palast ein sehr angenehmes, aber etwas geräuschvolles Leben, dann trennten wir uns von meinem Vater, welcher in seinen Geschäften die Kreisämter bereiste, während wir, meine Mutter, mein Bruder und ich, nach Mondsee gingen, woselbst er uns in acht bis zehn Tagen abzuholen verhieß. Wunderschön war diese kleine Reise, auf der ich zum erstenmal in meinem Leben das Hochgebirg (denn eine Fahrt nach Mariazell, als ich sechs bis sieben Jahre zählte, hatte mir keine bleibenden Eindrücke hinterlassen) und den weit ausgegossenen Attersee erblickte. Durch tiefe Waldungen, auf ziemlich beschwerlichen Wegen, wo oft die Tannenäste auf und in unsern Wagen schlugen, gelangten wir an Sägemühlen, Hammer- und Sensenschmieden mit ihren rauschenden Wassern und dampfenden Schornsteinen vorbei, am Abend eines meist trüben und oft von mit Schnee gemischtem Regen gekühlten Tage, plötzlich aus dem Walddunkel hervor in ein weites Tal. Vor uns lag breit, klar und tiefgrün ausgegossen der Spiegel des Mondsees, und ringsum starrten uns himmelhohe Berg- und Felsenkuppen an, die ihn in ihrem sichern Schoß halten und mit Schnee bis an den Fuß bedeckt waren. So viel Schnee, solche Kälte, und der erste Juni! Das kam mir wie ein Märchen vor, und ich würde mich mehr an dieser, [164] mir, der Flächenbewohnerin, so seltsamen Abnormität ergötzt haben, wenn der Gedanke, statt der ländlichen Freuden, Spaziergänge, Wasserfahrten usw., denen ich schon im voraus entgegengesehen hatte, mich durch Schnee und Kälte auf einem einsamen Schloß im Gebirge durch mehrere Tage eingesperrt zu finden, nicht ängstigend vor meinen Geist getreten wäre.

Am andern Tage war alles anders. Aller Schnee von Höhe und Tal verschwunden, die Berge herrlich mit ihren Wäldern und Felsen und dem spiegelnden See im Frühlingssonnenstrahl, der zwar noch nicht mild erwärmte, aber doch der freien Natur zu genießen erlaubte. Was waren das für köstliche Tage in dieser wild-schönen Gegend, im Umgange mit zwar an Jahren von mir sehr verschiedenen, aber höchst gebildeten, geistreichen Männern, dem Bischof und einigen seiner Domherren, die uns begleitet hatten, und deren einer, Vierthaler, der Bruder des damals schon berühmten Professors der Geschichte in Salzburg war! Freundlich waren die Herren beflissen, uns die Zeit aufs angenehmste zu verkürzen. Wir machten Spaziergänge und Fahrten zu Land und auf dem See. Bei diesen letzten war es unterhaltend und wunderbar, den Effekt der Musik, des lauten Rufens oder wohl gar einer abgeschossenen Pistole zu beobachten, wie die vielen nähern und fernern Echos in den Gebirgen den Schall bald vollkommener, bald unvollkommener zurückgaben, und wenn das erste donnerähnliche Getöse vorüber war, alles im Schiffe still wurde, die Ruderknechte ihre Ruder in die Höhe hoben, daß ja kein Laut die Stille unterbreche, und nun nach zwei oder drei Minuten der Donner des Echos sich noch einmal, der Himmel weiß von welchem fernen Berge, hören ließ.

[165] Auf dieser Reise kam ich auch in das, damals ganz unberühmte Ischl, das aber in seiner heimlichen Lage zwischen waldgrünen Bergen, von der lautbrausenden Traun der Länge nach durchrauscht, deren Getose mich oft des Nachts in Schlummer wiegte, mir so wohl gefiel, mich so anheimelte, daß ich beinahe gewiß bin, es würde mir jetzt, wo es von Badegästen, Fremden und prächtigen Erscheinungen belebt, von Eleganz und städtischen Bequemlichkeiten verherrlicht ist, schlechter als damals vor ungefähr einem halben Jahrhundert gefallen. Überhaupt hat mir dies Ergießen der Städte hinaus aufs Land, diese Sucht, an jedem freundlichen oder romantischen Plätzchen die Komforts eines Kaffee- oder Wirtshauses aufzuschlagen, schon eine Menge hübscher Gegenden verleidet, und wie oft sind mir Schillers Worte im Wallenstein eingefallen: »Dies Geschlecht kann sich nicht anders freuen als bei Tisch.« Freilich aß und trank man damals auch; denn das ist Gebot der Natur; aber man aß zu Hause, nachdem man sich vorher auf einem Spaziergang erheitert und ermüdet hatte, oder bei einem Freunde, den man auf dem Lande besuchte, und so fand das Familien- und gesellige Leben seine Rechnung neben dem Genuß der Naturfreuden, dahingegen der Genuß in den Wirtshäusern nur die egoistische Bequemlichkeit unserer Tage und die Vergeudung des Geldes begünstigt, in denen er auch seinen Ursprung hat.

Von Ischl aus sahen und befuhren wir auch den düstern Hallstätter See, an dessen Ende man umkehren muß, weil keine Straße weiter führt, und zuletzt trug unser schwebendes Schiffchen uns über den prächtigen Traun- oder Gmundner See bis zu diesem Ort, der [166] sich, so an der Krümmung des Ufers hingebaut, wo seine besten Häuser beisammen stehen, ganz stattlich ausnimmt. Übrigens enthalte ich mich jeder Beschreibung dieser Gegenden; denn seit es Mode geworden ist, sie zu besuchen, sind sie »in Wort und Tat, in Bild und Schall« so oft gepriesen, geschildert, gemalt und von allen Seiten dargestellt worden, daß noch eine Beschreibung ganz überflüssig wäre. Das glaube ich aber behaupten zu können, daß ihre teils reizenden, teils erhabenen Schönheiten von unserer kleinen Karawane mit tieferem Gefühl aufgefaßt wurden, als es jetzt wohl bei der Mehrzahl der Ischler Kurgäste der Fall sein mag, welche nur Zerstreuung, Veränderung und das, was Mode ist, aufsuchen.

Die Masern, eine eigentliche Kinderkrankheit, die uns früher verschont hatte, ergriff jetzt plötzlich meinen Bruder, der sie sich in einem Hause geholt, wo wir für den Abend gebeten waren und wo ein krankes Kind, dessen wahres Übel wir nicht kannten oder das man uns verheimlichte, auf dem Sofa neben uns lag und sie meinem Bruder mitteilte, der ihm zunächst saß. Erst am achten Tage ergriff die Krankheit auch mich; sie war, wie bei Xaver, sehr gutartig, dennoch fühlte ich mich sehr übel, und besonders bei der Eruption, indem ich zwar nirgends am Körper einen Schmerz, aber in jedem Fleckchen der Haut ein unnennbares Unbehagen fühlte. Nach 8–10 Tagen war alles vorüber, und wir kehrten beide in die gewohnte Lebensweise unsers väterlichen Hauses zurück. Während dieser Zeit hatten unsere jugendlichen Freunde und Freundinnen uns ohne alle Scheu an unsern Betten besucht, was uns höchst willkommen war. – Sei es nun, daß die meisten diese Krankheit schon gehabt[167] hatten oder sich nicht davor fürchteten. Überhaupt erinnere ich mich recht wohl, daß dazumal (etwa die Kinderblattern ausgenommen, deren Verheerungen indessen die Inokulation schon mächtig entgegengearbeitet hatte) diese Scheu vor möglicher Ansteckung nicht so groß, so allgemein, so – ich möchte sagen, kindisch war wie jetzt, da man, wenn es nur angeht, das Haus nicht betritt, in welchem bei irgendeiner Partei eine Kinderkrankheit: Scharlach, Masern usw. herrscht, oder es kaum wagt, einen Bedienten nach Erkundigung hinzusenden. Waren wir damals unbesonnener oder weniger egoistisch?

Ich komme nun zu einem wichtigen, wohl dem wichtigsten Abschnitt in meinem Leben, zu den kleinen Ereignissen und Verkettungen scheinbarer Zufälligkeiten, welche mich zu der Bekanntschaft mit meinem Gemahl, und somit zu dem Ursprung meines Lebensglückes führten.

In dem Bureau meines Vaters arbeiteten nebst meinem Bruder noch mehrere junge Männer, welche alle von ausgezeichneten Fähigkeiten und sittlicher Würde waren, wie denn, ich darf es mit Stolz sagen, um meine Eltern sich von jeher stets ein Kreis vorzüglicher Menschen sammelte und unser Haus (der edle Heinrich von Collin sagte uns das zwanzig Jahre nachher noch oft) das Augenmerk besserer junger Leute war, die nach feinerer und höherer Bildung strebten. Auch haben die ausgezeichneten Plätze im Staate, zu welchen jene Männer späterhin meist gelangten, bewiesen, daß sie bedeutenden Wert hatten. Diese Herren waren alle genaue Freunde meines Bruders und besuchten beinahe täglich unsere Abendgesellschaften. Einer aus ihnen, der denn auch, seiner außerordentlichen [168] Geschicklichkeit sowie seiner Sittlichkeit wegen meines Vaters Liebling war, zog bald, eben durch das viele Gute, das mein Vater von ihm sprach, meine Aufmerksamkeit auf sich. Aber eine große Schüchternheit, eine Ungewohntheit, sich in den Kreisen der größern Welt zu bewegen, gaben ihm eine etwas gezwungene Haltung, und dies schadete ihm, ich muß es zu meiner Beschämung sagen, in meinen Augen im Anfange unserer Bekanntschaft. Ich glaubte wohl das Gute, das andere von ihm sagten, doch ich ließ es auf sich beruhen, ohne ihn näher kennen lernen zu wollen. Aber mein Vater suchte ihn selbst, immer mehr in unser Haus zu ziehen. Er war bei allen unsern Bällen und kleinen Unterhaltungen gebeten, und hat mir später gestanden, wie peinlich ihm dies war, da er nicht gern unter vielen Menschen sich befand, und doch auch seines Hofrats Einladungen nicht wohl ausschlagen konnte.

Allmählich nun, im often Zusammensein, fingen seine vortrefflichen Eigenschaften an, Eindruck auf mich zu machen, wozu wohl die Bemerkung beitragen mochte, daß auch ich ihm nicht gleichgültig war, und sein Gefühl, trotz seiner Schüchternheit oder vielleicht eben dadurch, sich unwillkürlich zuweilen verriet. Meine Eitelkeit war durch die Eroberung dieses vorzüglichen, und trotz seiner Steifheit sehr hübschen Mannes geschmeichelt, und obwohl nur mein Verstand und noch nicht mein Herz für ihn sprach, so war ich doch sehr zufrieden, wenn er oft kam und ich mich seines gehaltvollen Umganges sowie der kleinen Sprühfunken seiner nur schlecht verhehlten Empfindung für mich erfreute.

Ich halte es für Pflicht, bei einer Selbstbiographie ganz aufrichtig zu sein, insoweit es die Klugheit, welche [169] zwar nie eine Lüge, aber Stillschweigen gebieten kann oder die Schonung erlaubt, welche man noch lebenden Personen oder nahen Verwandten Verstorbener schuldig ist. Daher dünkte mich der Titel von Goethes Werke: Wahrheit und Dichtung aus meinem Leben, eine Art von Beleidigung für den Leser, der sich nun weder eine psychologische Beobachtung noch eigentliche Belehrung versprechen kann, weil er bei keiner Beschreibung, keiner Begebenheit oder Gefühlsäußerung weiß, ob sie sich wirklich so in Goethes Geist oder Leben zugetragen hat oder bloß von ihm zur anziehenderen Unterhaltung seiner Leser erfunden worden ist.

In dieser Ansicht habe ich mich bestrebt, in der Schilderung meines, übrigens unbedeutenden Lebenslaufes stets so vor dem Leser zu erscheinen, wie ich mir selbst bei strenger Prüfung vorkam, und so bekenne ich also, daß ich gegen den jungen Mann, von dem ich eben gesprochen, mich durch kindische Eitelkeit im Anfange unserer nähern Bekanntschaft manchmal versündigt und mich im stillen auf unerlaubte Weise daran erfreut habe, ihn oft an einem Abend mehr als einmal bald in stilles Entzücken, bald in Trauer zu versetzen, je nachdem ich ihm gütig begegnete oder einen seiner gefürchteten Nebenbuhler auszeichnete, deren er – manche wahrlich oft mit Unrecht – in den übrigen jungen Leuten zu sehen glaubte, die unser Haus besuchten.

Mein Bruder hatte um diese Zeit mit seinen Gefährten im Bureau, mit Herrn Eberl und noch ein paar jungen Männern den Plan zu einer Art von literarischem Verein entworfen, in welchem Aufsätze über mancherlei Gegenstände geschrieben, diese gegenseitig [170] vorgelesen, beurteilt und auch bei Gelegenheit Reden aus dem Stegreife gehalten werden sollten; denn die französische Revolution, das Repräsentativsystem und die öffentlichen Reden beschäftigten die Geister der meisten und gerade der bessern jungen Leute.

Der Plan war sehr lobenswert, sowie der Zweck desselben: gegenseitige Ausbildung und Vervollkommnung zu ihrer künftigen Laufbahn. Da nun bei keinem der übrigen Mitglieder das Lokal und die Umstände sich so dazu eigneten, den Platz für die Versammlungen anzubieten als bei meinem Bruder, so wurde beschlossen, die Zusammenkünfte jeden Sonnabend nach geendigten Bureaugeschäften bei diesem zu halten. Meine Mutter begünstigte gern einen Plan, der ihrem Sohn Nutzen und Vergnügen versprach, aber es verstand sich von selbst, daß die Herren nicht in unser Zimmer, sondern in das meines Bruders kamen und wir nicht dabei erschienen.

Doch konnten wir uns die kleine Befriedigung unserer Neugier nicht versagen, uns von dem Bruder manchmal die Aufsätze der Herren mitteilen zu lassen, wenn er sie zur Beurteilung bei sich hatte (was von jedem Mitglied mit jedem Aufsatz der andern geschah). Die Gegenstände der Aufsätze waren teils philosophischer, teils moralischer, teils politischer Art, und da die Gesellschaft sich gegen drei Jahre erhielt und sie sich regelmäßig jede Woche versammelte, wo dann stets einmal die Aufsätze und das nächste Mal die Beurteilungen in Gegenwart aller Mitglieder vorgelesen wurden, so kann man leicht ermessen, daß der Ausarbeitungen eine bedeutende Zahl und von den verschiedensten Arten werden mußten. Die Gegenstände wurden von den Mitgliedern nach der Reihe aufgegeben.

[171] Meine Mutter und ich hatten also einige der Aufsätze gelesen und viel Vergnügen daran wie überhaupt an der ganzen Anstalt gefunden. Allmählich stieg in mir der Gedanke auf, mich ebenfalls auf dieser Bahn zu versuchen, und ohne, wie es sich versteht, persönlich zu erscheinen, ja auch ohne meinen Namen zu nennen, über einige der Aufgaben, die meiner Fassungskraft sowie meinem Geschlecht zusagten, ebenfalls kleine Aufsätze zu schreiben. Diese übergab ich meinem Bruder, der sie nebst den seinigen vorlas, wenn die jungen Herren sich bei ihm versammelten, und ein paarmal ließ sich sogar meine Mutter herbei, ungenannterweise an dieser Geistesübung teilzunehmen. So erinnere ich mich bestimmt, daß sie über die Todesstrafen mitschrieb, eine Wahl des Gegenstandes, die schon zeigt, wie ernst und männlich ihr Geist war und worin sie gegen Beccaria sich für die Todesstrafe, aber aus dem Grunde erklärte, weil sie lebenslänglichen Kerker für etwas subjektiv viel Quälenderes und objektiv minder Abschreckendes hielt, wodurch also die Menge nicht von Begehung ähnlicher Verbrechen abgehalten und der Gesellschaft nur ein unnützes oder schädliches Glied erhalten würde.

Die Gegenstände, welche ich mir zur Bearbeitung wählte, waren die Aufgaben philosophischer oder moralischer Art, und da deren die größte Anzahl war, so war ich eine sehr fleißige Teilnehmerin, und kann wohl sagen, daß ich diesem Verein zu gemeinschaftlichen Übungen der Denkkraft und den strengen, aber meist gerechten Beurteilungen der übrigen Mitglieder einen großen Teil meiner Fortschritte in der Leichtigkeit verdanke, meine Gedanken über irgendeinen Gegenstand zu sammeln, zu ordnen und soviel möglich[172] logisch richtig und in angenehmer Schreibart vorzutragen.

Aber es sollte aus dieser Geistesübung, die nur unsere gegenseitige Ausbildung zum Zwecke zu haben schien, ein anderer und für mich viel wichtigerer Vorteil, der über das Glück meines Lebens entschied, hervorgehen. Unter den Mitarbeitern befand sich nämlich jener junge Mann, der in meines Vaters Bureau arbeitete, längst von mir mit Auszeichnung war bemerkt worden und mich zum Gegenstande einer stillen, ehrfurchtsvollen, aber innigen und edlen Zuneigung erwählt hatte. Sonderbar genug fand es sich, daß, wenn die sechs bis sieben Mitglieder jenes Vereins ihre Meinungen über denselben Gegenstand meist sehr verschieden, ja oft entgegengesetzt äußerten, Pichlers (dies war der Name jenes jungen Mannes) Aufsätze mit denen des Unbekannten (unter welcher Bezeichnung ich schrieb) in Ansicht und Beurteilung meist vollkommen zusammen trafen. Daß vorher darüber zwischen uns nicht gesprochen wurde, versteht sich von selbst; denn ich sollte ja mein Inkognito behalten; es war also wirklich Übereinstimmung der Seelen, die sich durch dieses Mittel wahrhaft und offen zeigte.

Wie sehr die Bemerkung dieses Zusammenklanges uns beiden auffallen, und wie sehr sie den Anteil, den wir bereits aneinander nahmen, erhöhen mußte, ist leicht zu erachten. Pichler wurde mir immer werter, und ich fühlte wohl, wie sehr mit seiner vermehrten Achtung für meinen Geist, auch seine Empfindung für mich lebendiger wurde. So entwickelte, vermehrte und stärkte sich unsere wechselseitige Neigung und ward zuletzt zum unauflöslichen Seelenbande, das [173] unsere Gemüter auch nach mehr als 40 Jahren treu und innig zusammenhielt.

Wohl habe ich viele Jahre darnach (1808) aus dem Munde des geist- und gemütreichen Dichters F.Z. Werner, der, als er noch Protestant und weltlich war, während seiner ersten Anwesenheit in Wien unser Haus sehr oft besuchte, eine Äußerung vernommen, welche, wenn sie gegründet wäre, bewiese, daß die Liebe, welche nur nach und nach aus Achtung und Wohlwollen erwächst, nicht die rechte, echte Liebe sei. »Diese muß«, so drückte der schwärmerische Dichter sich aus, »wie der Blitz auf einmal in zwei Herzen schlagen, sie entzündend reinigen und ewig dauern.« Ich hörte das mit an, erwiderte dann, daß ich auf diese Weise freilich nie recht geliebt hätte; dachte aber im stillen daran, wie bei Wernern selbst der Blitz, der nur einmal fürs ganze Leben entzünden sollte, zwei- oder dreimal eingeschlagen habe, und ließ den Streit auf sich beruhen. Es nimmt sich eine Sache, besonders ein Gefühl, in einem Romane oder Gedichte ganz anders aus als in der wirklichen Welt. Manches, was dort glänzt und strahlt, ist hier unbrauchbar, wo nicht gar schädlich, und manches, das sich in der Wirklichkeit unendlich beglückend und segensvoll bewährt, würde in einem Gedichte wenig oder gar keine Figur machen. So sehr ist Dichtung und Wirklichkeit verschieden, und so gefährlich ist es, die erste aus Romanen und Gedichten zur Führerin auf der Lebensbahn zu wählen, was indessen sehr vielen jungen Leuten begegnet, und vor Zeiten, wo man sentimentaler dachte, noch viel mehreren begegnet ist.

Während diese Neigung in unser beider Herzen wuchs und erstarkte, knüpften sich neben uns unter[174] den Freunden auch allerlei Bändchen und Bande an. – Unter den jugendlichen Gefährtinnen, mit denen ich am meisten zusammen kam, war mir wohl jenes Fräulein Ravenet die nächste, weil sie mir noch am längsten und genauesten bekannt, und meine eigentliche Vertraute war. Außer ihr aber schätzte und liebte ich sehr die beiden Fräulein von Mertens, Sophie und Henriette, und ein Fräulein Therese Hackher. Alle drei sehr hübsch, schön darf man wohl sagen, viel reizender als ich, aber alle drei so gut, verständig, gebildet und liebevoll, daß eine herzliche Zuneigung und gegenseitige Achtung uns verband. Mein Bruder, dieser ausgezeichnete junge Mann, entschied sich für Henrietten, deren ruhiges, anstandsvolles Betragen ihm sehr zusagte. Sophie, die ältere Schwester, viel lebhafter und geistvoller als jene, aber vielleicht minder besonnen und ruhig, wurde von einem der edelsten, besten Menschen, dem jungen Grafen Chorinsky, einem innigen Freund Pichlers und meines Bruders, und nicht dem unbedeutendsten in diesem seltenen Kleeblatt guter Menschen und treuer Freunde, geliebt; und Therese Hackher, eines der liebenswürdigsten und schönsten Mädchen Wiens, stand durch mehrere Jahre in einem sehr treuen Verhältnis mit einem vorzüglichen jungen Mann, meinem Jugendgespielen und vertrauten Freunde, dem Sohne des Hofrats Dürfeld. Diese drei Paare, sowie Pichler und ich, waren nun oft und viel beisammen; wir kannten uns alle genau, und liebten uns herzlich untereinander, und ich mag wohl sagen, Dürfeld und Graf Chorinsky waren ebenso sehr meine Freunde, als ihre Geliebten meine Freundinnen. Es war ein schönes Leben damals – das Jugendleben guter Menschen, wie Iffland[175] in der Elise Valberg so wahr sagt; wir genossen es mit Innigkeit, Treue und Mäßigung, und unsere gegenseitige Vertraulichkeit war ein schönes Band mehr in diesem Kreise.

Mein Bruder indessen löste sein Verhältnis zu Henrietten bald oder vielmehr, sie tat es. Es war ein braves, sittsames, aber heiteres und lebensfrohes Mädchen, von sehr bedeutender Lieblichkeit der Gestalt; meines Bruders Begriffe von weiblicher Würde waren hoch, ja überspannt, darf ich wohl sagen, und seine Forderungen an das Wesen, das er sich erwählt hatte, allzustrenge. Henriette hatte sich in allen Schranken des Anstandes und der Rücksicht auf den Geliebten gehalten; dennoch fand mein Bruder stets etwas in ihrem Betragen gegen andere Männer zu tadeln, und das reizte sie gegen ihn auf. Zudem glaubte sie in der Art, wie er mir zuweilen, wenn seine Strengheitsprinzipien lebhaft hervortraten, begegnete – die mich aber minder verletzte, weil ich den Bruder und seine gute Meinung genau kannte – etwas zu finden, das ihr Besorgnisse für ihr zukünftiges Glück an seiner Seite geben könnte, und so trennten sich diese beiden Herzen, die vielleicht mit etwas mehr Geduld und Nachsicht von beiden Seiten sich einander beglückt haben würden.

Lange hatte der Verbindung zwischen der schönen Therese Hackher und ihrem Freunde kein günstiger Stern geleuchtet. Meine innige Teilnahme an ihrem Schicksal sprach sich in einem kleinen Gedichte aus, welches ich ihr zu ihrem Geburtstag dichtete. Endlich ebnete später sich ihnen der Pfad, der sie zu ihrem Glücke führen sollte, und im Mai 1795 sprach der Priester den Segen über diesen Bund, den auch wir alle mit unsern besten Wünschen begleiteten.

[176] Auch dieses Ereignis feierte ich durch ein kleines Gedicht, wie denn überhaupt meine Gedichte minder freie Ergießungen eines poetischen Gefühls waren, sondern meist irgend einer Veranlassung bedurften, die den Funken in mir weckte, und das Gedicht ins Dasein rief.

Während dieser Zeit hatte Graf Chorinsky viele Mühe und Kummer um seine Liebe zu Sophien getragen. Sie war ihm nicht ebenbürtig, und so trefflich sie an Herz und Geist, so hübsch sie von Gestalt, und so gut und liebevoll gegen den Sohn auch der alte Graf gesinnt war, dennoch ließen sich, besonders damals, die Standesvorurteile oder Ansichten nicht leicht überwinden. Der Vater wollte seine Einwilligung nicht geben, der Sohn das Mädchen nicht lassen. Es war eben noch eine Liebe und Treue aus jener Zeit, wo man im allgemeinen wärmerer Gefühle und eines höhern Schwunges in den Lebensansichten fähig war.

Indessen hatte Chorinsky zum Schein sich dem Befehle seines Vaters gefügt und Sophien entsagt, die er mit seines Vaters Einwilligung nie hätte besitzen können. Wir bedauerten ihn alle recht herzlich, und gaben uns Mühe, dem unglücklichen Paar unsere wärmste Teilnahme zu beweisen. Im stillen aber währte, uns allen, selbst Sophiens Mutter und Chorinskys besten Freunden, meinem Bruder und Pichlern verborgen, diese Verbindung fort. Die Zusammenkünfte wurden mit Klugheit und Vorsicht eingeleitet. Ein gemeinsamer Freund, der gar zu gern Geistestätigkeiten dieser Art übte, wurde ins Vertrauen gezogen. Er vermittelte die geheimen Besuche, und erst lange darnach, als eben dieser allzu tätige Vertraute wegen anderer Verhältnisse Gefahr für sich selbst fürchtete, und seine[177] Mitwirkung aufgeben mußte, erfuhren wir übrigen Freunde, nicht ohne Schrecken und inniger Mißbilligung, den wahren Stand der Dinge, daß nämlich Graf Chorinsky fest entschlossen sei, sich mit seiner Geliebten auch heimlich, auch wider den Willen seines Vaters, zu verbinden.

Zu tun, abzuwarten, zu hindern war nichts mehr; das sahen seine Freunde klar ein. Man ließ also die Sache ihren Weg gehen, nachdem man beiden noch einmal allen Kummer und alle Mißverhältnisse, denen sie sich unausbleiblich durch jenen Entschluß aussetzten, vorgestellt hatte.


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Wir standen jetzt im Jahre 1794. Die französische Revolution hatte indessen alle ihre Greuel entfaltet, der König und die Königin waren ermordet, Ströme von Blut in der Hauptstadt sowohl als den Provinzen geflossen; viele bessere Herzen, die im Anfang warm für die neuen Ideen geschlagen hatten, wandten sich mit Abscheu ab, als statt der jugendlichen Göttin der Freiheit ihnen eine bluttriefende Mänade entgegen taumelte. Klopstock sandte dem Konvent das Bürgerdiplom zurück, das er früher als eine ehrende Anerkennung angenommen hatte); der edle Georg Forster, den wir bei seiner Anwesenheit in Wien oft in unserm Hause gesehen, und den meine Eltern sehr liebgewonnen hatten, war vor Gram über seine getäuschten Erwartungen in Paris gestorben. Der Krieg, den die verbündeten Mächte gegen Frankreich begonnen hatten, brachte mit den Heeren der Republik, die die Angreifenden zurückdrängten und ihnen auf dem Fuße folgten, ihre Vorstellungen von Freiheit, [178] Gleichheit, Menschenrechten usw. mit sich herüber; der Schwindel ergriff die Geister jenseits wie diesseits des Rheins und entzündete verwandte Gemüter auch in Österreich und Ungarn. Es waren geheime Verbindungen geschlossen, Katechismen der Freiheit unter den Mitgliedern verteilt, und noch sonst allerlei bedenkliche Bewegungen versucht worden, welche die Regierung aufmerksam machten. Plötzlich brach das Geheimnis hervor. In einer Nacht wurden sowohl hier in Wien als hier und dort auf dem Lande viele Personen ergriffen, ihre Papiere in Beschlag genommen, sie selbst in strengere oder gelindere Haft gebracht. Dasselbe geschah in Ungarn. Wie ein Donnerschlag aus heiterm Himmel wirkte diese Nachricht auf die lebensfrohen Wiener, die plötzlich aus ihrer Mitte eine bedeutende Zahl wohlbekannter und mit vielen befreundeter Männer gerissen, diese als Staatsverräter beinzichtigt, und einem sehr ungewissen, vielleicht schrecklichen Schicksal entgegengeführt sahen. Die Ergriffenen gehörten meist dem gebildeten Mittelstande an, es waren Beamte, Kaufleute, Advokaten, Gelehrte – mit einem Worte, jenen Kategorien, aus denen auch in Frankreich viele bedeutende Männer der Revolution hervorgegangen waren.

Im ersten Schreck wurden noch gar viele als arretiert genannt, die es nicht waren; denn die Bestürzung war groß und allgemein. Eine Kommission aus Mitgliedern des Hofkriegsrates, der Polizeihofstelle und der Justizkollegien wurde zusammengesetzt, um über die Schuldigen zu erkennen, und nachdem die Untersuchung ziemlich lange gewährt hatte, wurden einige zum Tode, andere zur Festung, wieder andere zu längerer oder kürzerer Haft verdammt, einige verwiesen.[179] Einer oder ein paar hatten sich im Gefängnisse selbst das Leben genommen. Worin ihr Verbrechen eigentlich bestanden, was sie bezweckt, wieviel ihnen davon schon gelungen, blieb stets mit dichtem Schleier bedeckt. Manche, die sehr ängstlich oder entschiedene Widersacher aller neueren Ideen waren, überzeugten sich bald von der ungeheuern Strafbarkeit dieser Verschwornen und ihren staatsgefährlichen Plänen, während andere, echte Frondeurs, denen alles mißfiel, was immer die Regierung tat, an gar keine oder nur höchst geringe Vergehen glauben wollten und der Meinung waren, man habe Schuldige finden wollen, um Schrecken zu verbreiten, und die Demokraten einzuschüchtern. Gemäßigte hielten dafür, daß zwar allerdings eine geheime Verbindung, die in Wechselwirkung mit der ungarischen unter Martinovich stand, existiert, und daß sie bedenkliche, wohl auch staatsgefährliche Absichten gehabt habe, daß es notwendig, und der Gerechtigkeit, ja der bürgerlichen Ordnung und Sicherheit gemäß war, diese nicht zu dulden und streng zu bestrafen; daß man aber doch mit zu großem Lärmen und unnötiger Strenge verfahren sei, weil einige der Hauptentdecker und Mitglieder jener Kommission sich gern recht in die Augen fallende Verdienste erwerben wollten, und daher dem Monarchen die Sache im gefährlichsten und nachteiligsten Lichte zeigten. So dachten viele, und meine Ansicht stimmte schon damals damit überein, weil ich a priori unserm Kaiser Franz keine Unbilligkeit zutrauen konnte und die spätere Erfahrung, ja das eigene Geständnis manches damals Verurteilten, und dann nach der Strafzeit wieder Freigegebenen bestätigten vollkommen diese Meinung.

[180] Von diesem Zeitpunkte an sprach sich der Parteigeist recht laut und gehässig in Wien aus. Da fing man an, die Benennung Jakobiner oft und vielmals zu hören, und mit diesem Worte wurden nicht allein jene bezeichnet, welche allerdings Grundsätze hegten gleich denen des französischen Konvents, sondern leider ward sie von den übertrieben loyalen und orthodoxen Gegnern jedem als Brandmal aufgedrückt, der nur irgendeine freisinnige Idee äußerte; c'est le mot pour perdre les honnêtes gens, wie einer unserer Hausfreunde sagte. Im Gegenteil wurde wieder von der andern Partei jeder ein Aristokrat, ein Bigott, ein Feind aller Aufklärung gescholten, der seine kirchlichen Vorschriften befolgte, seinem Herrscherhaus treu ergeben war und öffentliche Ruhe und Sicherheit wünschte. Dieser Geist der Parteiung verbreitete ich bald über alles, ja auch über die heterogensten Gegenstände. So kamen damals oder bald darnach Herr und Madame Vigano nach Wien und führten eine neue Art von pantomimischen Tanz, mit ganz neuer Art sich zu kleiden, ein. Die römischen und andern steifen Kostüms, die Reifröcke usw. usw. verschwanden vom Theater; die Natur wurde aufs treueste nachgeahmt; fleischfarbe Trikots umhüllten Arme und Beine, die Tänzer und Tänzerinnen waren kaum bekleidet; ja in dem sogenannten rosenfarben Pas de deux hatte Madame Vigano über dem Trikot, der ihren ganzen Leib umgab, nichts an, als drei bis vier flatternde Röckchen von Krepp, immer eins kürzer wie das andere, und alle zusammen mit einem Gürtel von dunkelbraunem Band um die Mitte des Leibes festgebunden. Eigentlich also war dies Band das einzige Kleidungsstück, das sie bedeckte, denn der Krepp [181] verhüllte nichts, im Tanze flogen auch oft noch diese Röckchen oder eigentlich Falbalas hoch empor und ließen dem Publikum den ganzen Körper der Tänzerin in fleischfarbem Trikot, der die Haut nachahmte, also scheinbar ganz entblößt, sehen.

Mir kam das empörend frech vor; dennoch mußte ich gestehen, daß die Bewegungen dieser Künstlerin hinreißend anmutig, ihr Mienenspiel voll Ausdruck (sie war noch überdies sehr hübsch), ihre Pantomime meisterhaft waren. Die Sensation, welche diese Frau und die Ballette, welche ihr Mann aufführte, hier machten, war ungeheuer; sie waren aber auch zugleich der Wendepunkt der alten und neuen Kunst sowie des alten und neuen Geschmackes. Scharf und gehässig trennten auch hier sich die Parteien. Der Ballettmeister Muzzarelli repräsentierte mit seiner Art und Kunst die alte Zeit, die Viganos die neue, und in diesem Sinn teilten sich die Anhänger dieser beiden Führer, nur mit der einzigen Ausnahme, daß manche ältere Herren, die sonst ihrer Geburt und Sinnesart nach sehr wohl zu den Verteidigern des Alten gehörten, Aristokraten im vollen damaligen Sinne des Wortes, den Reizen der wollustatmenden Vigano doch nicht völlig zu widerstehen vermochten und so gleichsam eine Versöhnung zwischen dem Alten und Neuen zu machen strebten.

Auch auf die Mode in der Frauenkleidung geschah jetzt eine auffallende Einwirkung. – Unsere steifen, faltenreichen Anzüge machten leichteren Formen Platz, die langen Taillen mit den Schnabelspitzen vorn und hinten verschwanden samt den Bouffants und Siebröcken, welche schon nach und nach eine Annäherung vorbereitet hatten. Der Gürtel des Kleides [182] wurde nicht mehr an den Hüften, sondern unter der Brust gebunden; der Puder wurde allmählich abgeschafft, die Hackenschuhe abgelegt, die ganze Kleidung näherte sich mehr der Natur und eigentlich dem griechischen Geschmacke, in welchem Sinne man in den folgenden Jahren immer weiter und weiter schritt, bis zu Knappheiten in der Kleidung, die kaum eine Falte übrig ließen, so daß die genaueste Bezeichnung der darunter befindlichen Körperform der eigentliche Zweck und Ruhm dieser Mode zu sein schien. Dazu gehörten denn die wirklich oder scheinbar unter Trikots entblößten Arme, entblößte Schultern, geschnürte Schuhe, die den Kothurn nachahmten, reiche Armbänder, nicht bloß am Vorderarm wie sonst, sondern über dem Ellenbogen; abgeschnittenes und in kurze Locken gelegtes oder, wenn es lang blieb, in einen Knoten am Hinterkopf geschlungenes Haar – kurz ein, soviel es möglich war, griechisierendes Kostüm.

Die Männer stutzten ihre Haare ebenfalls, kein Zopf, kein Haarbeutel, keine Seitenlocken wurden mehr gesehen; der Puder verlor sich ebenfalls, und bei vielen traten ungeheure Backenbärte hervor. Hierin aber genierten sich doch viele, und gerade die sittlichsten, geregeltsten der jungen Männer; denn so ein Schwedenkopf, wie man sie zuweilen nach den Porträten Karls XII. nannte, und ein starker Backenbart galt bei Loyalgesinnten oft für das wahre Abzeichen eines Jakobiners und mancher, der die Mode als Mode mitmachte und vielleicht ganz rechtlich gesinnt war, mußte sich mit diesem Namen brandmarken lassen, der nicht ohne übeln Einfluß auf die Gunst seiner Vorgesetzten und somit auf sein Fortkommen in der Welt blieb.

Es ist natürlich, daß die jungen Männer unserer [183] Sozietät die Einwirkung dieser öffentlichen Ereignisse ebenfalls fühlen mußten, und obwohl sie in Kleidung, Äußerungen und Betragen sich alle in den Schranken des Anstandes und der gebräuchlichen Formen hielten, so beschlossen doch diejenigen, die zu der gewissen Samstagsgesellschaft gehörten, diese nun aufzulösen, um der Regierung und öffentlichen Meinung keinen Anstoß zu geben; besonders da einer unter ihnen, Graf Chorinsky, der Neffe jenes hohen Staatsbeamten war, der sich am tätigsten in der Verfolgung der Verdächtigen und Verschwornen bewiesen hatte. Die meisten vertilgten also ihre Aufsätze sowie die Beurteilungen, besonders jene, welche politische Gegenstände behandelten und worin freisinnige Meinungen ohne Scheu, weil bloß vor Freunden, waren ausgesprochen worden. Man fürchtete damals nicht ohne Grund sogar Haussuchungen, und diejenigen, welche noch ihre Karriere in der Welt zu machen hatten, durften keinen solchen Makel auf ihren Ruf laden.

So hatten denn die angenehmen Samstagsvereine ein Ende; es tat mir ungemein leid; aber eine gute Folge war mir doch davon geblieben. Pichler und ich hatten uns einander nicht bloß genähert, sondern wirklich vereinigt. Wir liebten uns herzlich und waren ernstlich entschlossen, uns für das ganze Leben zu verbinden. Mitten unter politischen Gärungen und Dissonanzen wuchs und erstarkte die Harmonie unserer Seelen, und da meine Eltern, denen wir kein Geheimnis aus unserer Liebe machten, ihren Segen dazu sprachen, so beseligte uns ein stiller Frieden, und wir sahen mit Geduld, obwohl mit recht innigem Verlangen, einer glücklichen Wendung von Pichlers Geschick entgegen, die ihm eine Beförderung verschaffen, [184] und ihn dadurch in den Stand setzen sollte, mir seine Hand anzubieten. Er selbst besaß kein Vermögen, aber meine Eltern konnten und wollten uns gern unterstützen, und Pichlers Geschicklichkeit, Fleiß und Rechtlichkeit waren so bei allen Behörden, die zu der politischen Branche gehörten, anerkannt, daß wohl an seinem baldigen und glücklichen Fortkommen nicht zu zweifeln war.


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Der Krieg mit Frankreich ging seinen Gang mit dem bekannten Erfolge fort. Im Jahre 1795 machte Preußen seinen Separatfrieden, und ließ Österreich allein den furchtbaren Kampf fortsetzen. Dafür rückte es, unter dem Vorwande, die Gefahr jakobinischer Gesinnungen zu beseitigen, welche ihm von Polen aus drohte, mit Rußland vereint in dies unglückliche Land ein, und es ward zum drittenmal geteilt. Genau habe ich die Folge dieser, nach meiner Ansicht höchst widerrechtlichen Eingriffe in die Freiheit eines selbständigen Volkes nicht behalten. Immer aber hat mir geschienen, diese Zerstückelung und die Ungerechtigkeit, deren sich die Höfe dabei schuldig machten, sei der Giftkeim gewesen, der in dem europäischen Gemeinwesen, erst verborgen, dann immer offener wie ein Krebsschaden um sich gegriffen hat. Jene Gewaltschritte mögen wohl dem furchtbaren Eroberer zum Vorbild wie zur Rechtfertigung gedient haben, als er später, nachdem der Wille der Vorsicht das Schicksal der Nationen in seine übermächtige Hand gelegt hatte, mit Ländern und Völkern wie mit Spielmarken umging, die man heute diesem, morgen jenem zuteilen kann, um eine Weile [185] damit zu glänzen und sie bei dem nächsten Wechsel der Herrscherlaune wieder zu verlieren. Seitdem hat ein ungeheures Unglück dies bedauernswerte Land ganz um jeden Schatten der Selbständigkeit und Nationalität gebracht, den Kaiser Alexanders milde Gesinnungen ihm noch gelassen. In mir aber lebt der feste Glaube, daß es so nicht bleiben wird und kann, und die Vorsicht solche schreiende Ungerechtigkeiten nicht durch ihren Beistand sanktionieren kann. Polen wird einst, – ob bald, ob später weiß nur der Lenker unsrer Geschicke, und in der Weltgeschichte zählen ja die Jahre nur wie Tage – also Polen wird und muß sich wieder erheben, es muß wieder ein eignes, selbständiges Reich werden, das die kultivierten Staaten Europas als ein mächtiges Bollwerk gegen die Horden des nordischen Riesenreiches schirmen, den Weltteil vor einer zweiten Völkerwanderung und die Nationen germanischen und keltischen Stammes vor einer Unterjochung durch Slaven bewahre, die das k, welches in ihrem Namen ausgelassen ist, durch ihre Denkart immer mit hineinbringen, drücken, wo sie können und kriechen, wo sie müssen. Und nur dann, wenn Polen hergestellt, die Nemesis gesühnt und Recht befriedigt ist, wird auch rechte Ruhe in Europa wieder. Immer erfüllt es mich mit einer stolzen Beruhigung, daß schon vor sechzig Jahren (it is 60 years since) bei der ersten Teilung dieses unglücklichen Reiches, als Preußen und Rußland ihren schlimmen Plan entwarfen, Österreich, d.i. die Kaiserin Maria Theresia, diese wahrhaft große und christlichgesinnte Monarchin, nicht einwilligen wollte, wie ihr Billett an Fürst Kaunitz beweist, welches uns Baron Hormayr im historischen Taschenbuch bei Gelegenheit von Kaunitz Leben [186] mitteilt. »Ich fürchte, es werde ein übles Beispiel geben«, schrieb die weise Fürstin in prophetischem Geiste, und sie hatte richtig gesehen, wie der Erfolg bewiesen. Nur gezwungen gab sie endlich nach und schämte sich bitter dieser harten Notwendigkeit.

Damals also, mehr als 20 Jahre später, fiel bei der dritten Teilung das sogenannte Westgalizien mit Krakau an Österreich. Viele Beamte fanden dort Anstellungen, und Graf Chorinsky ward zum Kreishauptmann in Kielçe ernannt. Fast zu gleicher Zeit gingen auch hier große Veränderungen vor. Graf Saurau, Graf Chorinskys Oheim, wurde Regierungspräsident, mehrere ältere oder mißfällige Räte und Sekretäre wurden jubiliert, und, wie denn das so oft in der Welt geht, das Mißgeschick jener (an dem wir übrigens auch nicht die entfernteste Schuld hatten) wurde der Grund unseres Glückes.

Pichler erhielt die Stelle eines Regierungssekretärs und war durch den damit verbundenen höhern Rang und Gehalt imstande, an unsere Verbindung zu denken, da meine Eltern (um mich nicht aus ihrer Nähe zu verlieren) uns eine sehr ausgiebige Unterstützung versprochen hatten. Es wurde also eine kleine, aber sehr nette Wohnung, welche gerade an die meiner Eltern, »auf der Mehlgrube«, grenzte, und mit jener das ganze Stockwerk ausmachte, für uns gemietet, die wir im nächsten Herbst beziehen sollten. Unsere Vermählung aber war auf den Frühling 1796 festgesetzt und sollte in unserer Gartenwohnung zu Hernals gefeiert werden, wo wir auch den Sommer über leben wollten.

Chorinsky nährte dieselben Hoffnungen und Pläne wie Pichler. Auch er war entschlossen, das Mädchen, das er liebte, Sophie Mertens, zu heiraten, da aber[187] sein Vater diese Verbindung nicht zugeben wollte, sollte die Trauung ganz in der Stille sein, acht Tage vor der unsrigen, und so sahen denn wenigstens zwei Paare der Jugendfreunde froh dem Ziele ihrer Wünsche entgegen, wie vor zwei Jahren Dürfeld mit seiner Therese, nur daß leider dies Band seitdem schon wieder zerrissen worden war. Therese hatte ein überglückliches Jahr, vom Mai 1794 bis zum Juni 1795, mit dem trefflichen Gatten gelebt; sie hatte Hoffnung, bald Mutter zu werden. Wir sahen uns oft bei meinen Eltern im Garten oder auch in Theresens Wohnung in der Stadt. Gegen den Zeitpunkt, wo jene Hoffnung erfüllt werden sollte, bemerkten ich und viele, welche die junge schöne Frau sahen und Anteil an ihr nahmen, daß sich ihre Züge in etwas geändert hatten, ohne daß man eben sagen konnte, sie sehe krank aus. Erfahrene Matronen wollten daraus Besorgnisse schöpfen; aber Therese ward glücklich von einem schönen und gesunden Mädchen entbunden, die noch jetzt als Mutter von neun Kindern und Gattin des Vizepräsidenten von Hauer lebt. Indessen hatte man bei der Taufe des Kindes oder nach derselben die schöne Wöchnerin zierlich geputzt, eine Menge Besuche bei ihr eintreten lassen, und diesem, freilich verkehrten Verhalten ward es zugeschrieben, daß Therese plötzlich sehr krank wurde, ihr Übel von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag stieg, und das blühende, edle, liebenswürdige Weib, die glückliche Gattin und Mutter noch vor dem Ende der neun Tage eine Leiche war.

Ich fühlte diesen Verlust sehr tief und schmerzlich, nicht bloß um der Verblichenen selbst, sondern auch um ihres untröstlichen Mannes, meines teuern Freundes [188] willen, und ich sprach mein Gefühl in einem Gedicht aus, das dieses traurige Ereignis besang und in der Sammlung meiner Gedichte enthalten ist.


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Als mein Hochzeitstag heranrückte, den meine Eltern auf den 25. des schönsten Monats, des Mai, festgesetzt, wünschte ich, daß meine wertern Jugendfreunde daran teilnehmen und mich an diesem Tage umgeben sollten. Fräulein Ravenet bat ich, meine Kranzjungfrau zu werden, ihr Pflegevater, der Regierungsrat von Heß, wurde zu meinem einen Zeugen oder Beistand erwählt, und mein lieber Dürfeld, dem ich es kaum zuzumuten wagte, ein Jahr nach seinem unendlichen Verlust bei meiner Hochzeit gegenwärtig zu sein, übernahm doch aus freundschaftlicher Güte für mich die Stelle des zweiten. Pichlers Beistände waren der damalige Hofrat von Sonnenfels, dessen Name in Österreich in dankbarem Andenken lebt, und ein junger Baron von Lederer, der denn nun auch so gut wie die beiden älteren Beistände und Dürfeld längst schon hinübergegangen ist und die Brautleute dort erwartet, wo wir uns wahrscheinlich in nicht langer Frist alle zusammenfinden werden.

Dieser 25. Mai 1796, ein Mittwoch, war von dem herrlichsten Frühlingswetter begünstigt und in unserm Hause vom frühen Morgen an ein geschäftiges Treiben und Drängen, das mich in innerer und äußerer Unruhe und Spannung erhielt. Gegen Abend erschienen die Hochzeitsgäste und unsere nächsten Freunde und Bekannten; denn wir beide, Pichler und ich, wünschten kein rauschendes Fest, und es sollte doch eines werden! Meines Mannes Bruder, der würdige Pfarrer, [189] traute uns, und mit tiefbewegter Seele kam ich von der Trauung zurück, wo ich zwar nicht geweint, aber desto mehr gezittert hatte, wie denn überhaupt meine Tränen nicht bei jenen Anlässen fließen, die sie sonst bei meinem Geschlechte hervorzurufen pflegen, wohl aber bei Regungen und Äußerungen öffentlicher Erhebung oder Freude. So haben sie später die Landwehrlieder meines Freundes Collin und die Anstrengungen und Siege der Jahre 1813–14 reichlich fließen gemacht.

Wir waren also nach Hause gekommen, ein sehr elegantes Gouter war eingenommen, und es fing an zu dunkeln, da bemerkten einige von der Gesellschaft, die zufälligerweise an ein Fenster, welches in den Garten sah, getreten waren, daß es im Garten von Menschen wimmle, und in der Entfernung der Schein von Lichtern zu sehen sei. Meine Mutter lächelte bei dieser Bemerkung ganz geheimnisvoll; aber sie schwieg, denn sie allein wußte von der Überraschung, welche liebe Freunde uns bereitet hatten, nämlich das Fräulein von Paradis, deren unglücklicher Blindheit und ihres seltsamen Geschicks schon erwähnt worden ist. Ihr Vater war ein vieljähriger Bekannter und Freund des meinigen, Fräulein Therese, obwohl viel älter als ich, trug von jeher eine lebhafte Neigung zu mir, die ich herzlich erwiderte, und die Musik, welche sie, mit so vielem Glück als Freude, als den vorzüglichsten Trost in ihrer Lage trieb, wurde zu einem neuen Band zwischen uns. Wir hatten bereits kleine Komödien, auch einige Oratorien und Opern, meistens ohne Theater und Spiel miteinander aufführen geholfen; »Cora« und »Amphion« von Naumann und viele andere, auch einige Kompositionen von Fräulein Paradis [190] selbst; doch fand ich, daß weder ihre noch die Kompositionen des Fräuleins von Martinez (die einzigen Werke von weiblichen Kompositeurs, die mir bekannt geworden) von großem Belange waren.

Es ist überhaupt eine seltsame Bemerkung und sie möge hier stehn, weil sie eine Veranlassung gefunden hat, daß es noch nie einer Frau gelungen ist, sich als schaffende Musikerin auszuzeichnen. Es gibt glückliche Malerinnen und Dichterinnen und wenn gleich nie eine Frau es in irgend einer Kunst oder Wissenschaft so weit wie die Männer gebracht hat, so haben sie doch bedeutende Stufen erstiegen. In der Musik nicht. Und dennoch sollte man glauben, daß diese Kunst, welche die wenigsten Vorstudien erheischt und viel eigentlicher Sache des Gemüts und der Phantasie ist als die andern Künste, das rechte Organ wäre, in dem sich der weibliche Geist aussprechen könnte.

Doch ich kehre zu Fräulein v. Paradis und meiner Hochzeitsfeier zurück. Gleich nachdem jene Bewegungen im Garten bemerkt worden waren, ertönte Musik, die sich immer mehr näherte; es kam die Treppe herauf, und ein Zug ländlich gekleideter Gestalten trat, einen Chor singend, den Instrumente begleiteten, in den Vorsaal. – Alles eilte ihnen entgegen, und mit lebhaftem Vergnügen erkannte ich in den Bauern und Bäuerinnen des Zuges meine Schauspiel- und Operngefährten aus dem Paradisschen Hause. Ein Paar nach dem andern trat nun vor Pichler und mich hin und überreichte uns in kleinen Körbchen niedliche Spielsachen, die in verkleinertem Maßstabe eine ganze Hauseinrichtung vorstellten, und sangen eine Strophe des Chors, der also begann:


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Wir kommen mit Gaben und Steuer,

Zu ehren die ehliche Feier,

Die heute das glücklichste Pärchen vereint;

Und scheinen gering auch die Gaben,

Die wir zum Geschenke hier haben,

So denkt nur, wir haben es redlich gemeint, usw.


Als alle vier Paare ihre Körbchen, jedes mit andern, auf den Inhalt des Korbes bezüglichen Versen übergeben hatten, wurden wir gebeten, dem Zuge in den Garten zu folgen. Hier standen am Fuße der Treppe vier weißgekleidete Mädchen, die einen Baldachin von Zweigen und Blumen hielten, unter den der Bräutigam treten und sich von ihnen führen lassen mußte. Ebenso erwarteten mich vier junge Herren mit ihrem grünen Dache, und nun strömte die ganze zahlreiche Gesellschaft uns nach durch die langen Alleen bis zu dem Platze, wo eine Art von natürlichem Theater aus lebendigen Hecken und Spalieren gebildet, ein passendes Lokal für einen Altar des häuslichen Glückes bot, an welchem Fräulein Therese v. Paradis als Priesterin der Freundschaft stand, noch andere Mitspielende in verschiedenen Attituden umher gruppiert waren (das Ganze von unzähligen Lampen geschmackvoll erleuchtet) und uns mit einem Chorgesange empfingen.

Es war ein schönes und rührendes Fest herzlicher Freundschaft, das mich damals ungemein erfreute, die Bande wechselseitiger Zuneigung zwischen uns und der Paradisschen Familie fester zuzog, und wofür ich noch jetzt, nach langen Jahren, den Manen der längstvorangegangenen Freunde einen Zoll dankbarer Erinnerung entrichte.

So ward unser Hochzeitfest, das nach unserer Meinung still und geräuschlos hätte vorüber gehen sollen, doch unvermutet durch die Mitwirkung wohlwollender [192] Freunde glänzend gefeiert, und »so vieler Geister wohlgemeintes Streben« konnte nicht anders als Segen über diese Verbindung bringen, die sich denn in dem langen Zeitraum, in Glück und Unglück als eine der zufriedensten und vergnügtesten Ehen bewährt hat.


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Wir waren vermählt und lebten mit meinen Eltern nicht bloß in einem Hause, sondern aßen auch mit ihnen an einem Tische, und machten nur eine Haushaltung aus, obgleich wir junges Ehepaar ein ganz separiertes Appartement, sowohl auf dem Lande in meiner Eltern Haus als in der Stadt, neben ihnen bewohnten. Hier sei es mir erlaubt, eine Bemerkung und Erfahrung einzuschalten, die ich an meinem eigenen – Schicksal gemacht, und dadurch angeregt, noch so oft und vielmal bei andern zu machen, Gelegenheit gehabt habe, daß ich sie wohl als untrüglich aussprechen darf. Es taugt nicht, und stört das häusliche Glück beider Teile, wenn Schwiegerkinder mit den Eltern auf eine solche Art beisammen wohnen, daß sie nur einen Haushalt ausmachen. Wenn auch Grundsätze und Lebensverhältnisse der Kinder und Eltern sich ziemlich gleichen, so bringt schon der Unterschied der Jahre und die daherrührende Verschiedenheit der Ansichten und des Geschmacks einen notwendigen Zwiespalt hervor. Überdies gibt es Eigenheiten, Angewöhnungen, Hausbräuche, die an sich völlig gleichgültig sind, aber der Schwiegersohn, die Schwiegertochter bringt solche aus dem väterlichen Hause mit, und findet hier ganz andere. Über vieles setzt sich wohl ein wohlgeordnetes Gemüt hinaus aus Liebe zu dem Gatten, aus Liebe zum [193] Frieden. Auch werden zwei junge Gemüter, sich selbst überlassen, sich leichter ineinander finden und schicken. Schroffer, kälter, starrer stehen die Ansichten der Schwiegereltern, ihre Eigenheiten dem fremden Teil gegenüber, und es kommt dann darauf an, ob die alten Leute nachgeben und in ihren späten Jahren sich eine Art von Unterordnung gefallen lassen oder ob die jungen Leute sich willenlos hingeben sollen? Immer muß ein Teil, die Alten oder Jungen, geopfert werden, und wer das Leben kennt, wird hier nicht von Nachgeben, Ausweichen usw. sprechen. Im engen Zusammenleben treten solche Verschiedenheiten grell und immerwährend hervor, und die jungen Leute müssen sehr gut sein, und sich sehr lieben, wenn sich nicht durch dies Zusammensein mit den Eltern des einen Teils ein Keim der Unzufriedenheit erzeugt, der in der Folge bittere Früchte trägt. Und hier ist nur von Verschiedenheit der Angewöhnungen, der Lebensweise die Rede. Wie aber, wenn heftige Leidenschaften, bedeutende Unarten, Zanksucht usw. bei einem oder andern der Mitglieder eines so eng verbundenen, doppelten Haushalts hervortreten; wenn große Verstimmungen entstehen und sich ärgerliche Auftritte, empörende Zänkereien daraus entwickeln? Bei uns war dies, Gottlob! nie der Fall, und dennoch machte uns dies Zusammenleben nicht glücklich. Es tötete manche unserer jugendlichen Freuden im ersten Keim und säte manchen bösen Samen, der spät bittere Früchte trug.

Hier ist wohl der Ort, wo ich nach einer glücklichen Ehe von mehr als vierzig Jahren meinem vortrefflichen Gatten den innigsten Dank für die Güte, Nachsicht, Liebe und Geduld sagen kann, mit welcher er sich durch [194] die ersten ganzen 19 Jahre unserer Ehe in ein solches schwieriges Verhältnis gefügt, und mich nie mit einem Worte oder auch nur mit einem Blicke hat fühlen lassen, wie viele Opfer es ihn gekostet, wie viele seiner und meiner besten Freuden auf diesem unerbittlichen Altar des notwendigen Zusammenlebens mit den Schwiegereltern geschlachtet wurden. Gott segne ihn dort dafür; denn nie werde ich es ihm vergelten können.


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Meine Lebensweise im Hause meiner Eltern erlitt wenig Veränderung, nur schlief ich und kleidete mich in einem andern Zimmer; denn so wie mein Mann in sein Bureau ging, und selbst wenn er zu Hause war, forderte meine Mutter alle die Dienstleistungen und Pflichten von mir, die mir als Mädchen obgelegen hatten. – Das war schon ein sehr schwerer Punkt für uns beide; denn da wir mit den Eltern auch frühstücken, zu Mittag und Abend essen sollten, blieben uns kaum einzelne Augenblicke, in welchen wir uns angehören durften. Mein Vater zeigte mehr Nachsicht und Achtung für mein neues Verhältnis, und obgleich auch er nicht auf die Leistungen und Aushülfen ganz verzichtete, welche er von mir zu erhalten gewohnt war, so fühlte ich doch wohl, daß er mir mehr Freiheit ließ. Er erkannte als Mann die Rechte seines Schwiegersohnes an, wo hingegen meine Mutter bei ihrer oben geschilderten Denkart gegen das männliche Geschlecht von keinem Rechte desselben etwas wissen wollte.

Wir fühlten wohl beide den Druck, der auf uns lag, und fühlten ihn manchmal schmerzlich, mir aber half die Gewohnheit des Gehorchens und mein heiterer[195] Sinn über manche holprige Stelle meines Lebensweges hinüber, und mein Mann liebte mich so sehr, daß er auch nicht oder nur selten sich beklagte, und so verging der erste Sommer unserer Ehe ziemlich vergnügt.

Mit dem Herbste bezogen wir unsere neue kleine, aber sehr angenehme Stadtwohnung, welche in demselben Stockwerke wie die meiner Eltern gelegen, mit der ihrigen eigentlich eine ausmachte, und zu der sie mir später noch ein daranstoßendes Zimmer der ihrigen einräumten. Voll Freuden, unser eigenes Nestchen für uns zu haben, bezogen wir es vielleicht zu früh; denn die Öfen waren noch nicht alle gesetzt, und die frisch geweißt und gemalten Wände feucht. In einer der ersten Nächte wurde ich von einer heftigen Kolik befallen, aber wenig bekannt mit Krankheiten und meiner guten Natur vertrauend, wollte ich weder meinen Mann noch unsere Magd im Schlafe stören, und erst gegen Morgen, als ich es nicht mehr vor Schmerzen aushalten konnte, weckte ich Pichler, der sogleich um den Arzt schickte. Dieser, ein treuer Freund unseres Hauses, der nachmalige k.k. Leibchirurgus v. Herbek, ein als Arzt und Mensch gleich schätzbarer Mann, erschien sogleich, erklärte meinen Zustand für entzündlich und nicht ohne Gefahr. Denselben Tag kam er noch dreimal, um nachzusehen, man wendete mit Sorgfalt und Liebe alle verordneten Mittel an, und nach einigen Tagen konnte ich bereits das Bett verlassen. Doch zeigte sich von jener Zeit an öfters eine große Reizbarkeit der Eingeweide, und ich mußte mich vor Verkühlung sehr in Acht nehmen.

Im folgenden Karneval, dem ersten, den ich als vermählte Frau zubrachte, und mich sehr wohl unterhielt, fing ich an, die ersten Anzeichen einer sehr erwünschten [196] Veränderung zu bemerken, und die Hoffnung bestätigte sich immer mehr, daß ich wahrscheinlich bis zum Herbst das Glück Mutter zu sein genießen würde. Von diesem Augenblicke an beobachtete ich mich sorgfältig, tanzte nicht mehr so viel, und befand mich übrigens sehr wohl.

Öftere kleine Unbehaglichkeiten waren alles, was ich in den ersten Monaten von diesem Zustand zu leiden hatte, und meine gesunde, kräftige Natur bewährte sich auch hierin. Desto ängstlicher wurde mir diese Zeit durch politische Vorgänge und Schrecken. Die französische Armee unter General Bonaparte rückte aus Italien immer näher heran, eine Schlacht nach der andern ging für uns verloren, und die Feinde standen endlich im März bereits in der Steiermark. Ein allgemeiner Schrecken bemächtigte sich der ganzen Hauptstadt. Die wilden Scharen der jungen Republik hatten in Deutschland und Italien auf eine Art gehaust, daß alles vor ihnen zitterte und an Flucht, Rettung und möglichste Verteidigung dachte. Dazumal erfuhren die Wiener zum erstenmal die Schrecken, welche einer Invasion vorausgehen, sie sollten jene noch einmal fühlen, bis endlich die Wirklichkeit ebenfalls zweimal im Jahre 1805 und 1809 eintraf, und uns lehrte, was bei so vielen großen Übeln der Fall ist, daß Erwartung, Angst und aufgereizte Phantasie uns das wirkliche Unglück ungebührend vergrößern, daß die Furcht etwas Ansteckendes hat, daß sie sehr oft die Vernunft ausschließt, und daß die böse Wirklichkeit leichter zu ertragen ist, als die grundlosen Schreckbilder, welche die Angst in uns aufregt.

Was wurde damals im Frühlinge 1797 nicht alles erzählt, gefürchtet und mit dem verkehrtesten Sinn entworfen [197] und ausgeführt! Alles wollte fliehen; alles nur fort, nur fort aus der, von allen möglichen Schrecken bedrohten Stadt! Wie schlecht die Wege, wie schwer die Pferde zu haben, wie elend die Unterkunft auf den überfüllten Poststraßen nach Böhmen und Ungarn sein mochten; was den Geflüchteten an den, zum Aufenthalte erwählten Orten bevorstehen konnte, wenn der Sieger seine Eroberungen verfolgen, sie vielleicht auch von jenen Zufluchtsstätten vertreiben würde, und sich dann ohne Geld, ohne Schutz, unter Fremden befänden, – das alles wurde nicht bedacht. Man wollte nur fort, und die unsinnigsten Erzählungen fanden Glauben, wenn sie zu der ruhelosen Angst stimmten, die damals die Bevölkerung von Wien großenteils ergriffen hatte. Wir haben in unserer Zeit bei der ersten Annäherung der Cholera eine zweite Erfahrung dieser Art gemacht, und auch sonst sehr vernünftige Menschen kopflos, verderblich und oft lächerlich handeln gesehen, wenn es anders erlaubt wäre, über etwas, was andere quält, zu lachen.

Indessen muß man zur Entschuldigung der damals Lebenden auch sagen, daß die Sachen um uns herum ernst und drohend aussahen. Es wurden Anstalten zur Verteidigung der Stadt gemacht, und im Anfange davon gesprochen, die Linien zu verteidigen. Als aber erfahrene Militärs aussprachen, daß, um diesen weiten Umkreis zu beschirmen, eine Besatzung von 150000 Mann nötig sein würde, so gab man den Plan auf und wollte sich auf die innere Stadt, die eigentliche Festung beschränken. Ein Aufgebot aller waffenfähigen Mannschaft in der Stadt und den Vorstädten wurde beschlossen, und diese dazu in verschiedene Bezirke eingeteilt. Die jüngern Beamten der Landesregierung[198] wurden zur Organisation dieser Scharen verwendet, und auch meinem Mann ein Bezirk, nämlich die Jägerzeile, angewiesen. Während alles dies uns in steter ängstlicher Bewegung aufregte, erhielt mein Vater Befehl, sich mit den Zöglingen des k.k. Theresianums, dessen Oberleitung ihm damals anvertraut war, von Wien wegzubegeben, um die Söhne der angesehenen Häuser, die sich in jener Anstalt befanden, nicht den Gefahren eines feindlichen Überfalls preis zu geben. Erwünscht erschien meinen Eltern diese Gelegenheit, um sich mit ihrer Familie dieser Reise anzuschließen, und ich war zu gewohnt, meinen Eltern in allem unbedingt zu gehorchen, als daß ich es gewagt hätte, zurück zu bleiben und mich im Zustande der Schwangerschaft den Schrecken und Gefahren auszusetzen, welche, wie doch die Mehrzahl der Wiener befürchtete, uns bei der Eroberung der Stadt durch die Truppen der damaligen Republik drohten.

Es wurde also in einem Familienrate beschlossen, daß ich mit meinen Eltern nach Dürnholz (einem Schlosse an der mährischen Grenze, welches dem Theresianum gehörte) reisen sollte, und mein Bruder vermochte meine Eltern dahin, auch seine Geliebte und künftige Braut, ein Fräulein v. Kurländer, die Tochter einer mit uns durch alte Freundschaftsbande verbundenen Familie, mitzunehmen, um auch sie vor den möglichen Gefahren, die sich ereignen konnten, zu sichern. Freilich mußte ich mich nun von meinem Manne trennen, und das tat mir unendlich leid; aber ich glaubte in dem ausgesprochenen Befehl meiner Mutter ein Gebot zu sehen, wider welches keine Appellation stattfand; und so trat ich denn mit recht schwerem Herzen diese an sich freilich unbedeutende Reise an, die unter andern [199] Umständen allerlei Angenehmes und selbst Komisches hätte haben können.

Auf bequem eingerichtete, lange Wagen, nach Art der »Zeiselwagen«, wurde eine ziemliche Anzahl junger Leute, wovon viele noch im Knabenalter standen aufgepackt; bei weitem nicht alle Zöglinge, denn diejenigen, für die ihre Eltern sorgen konnten und wollten, wurden ihnen übergeben. Einige Patres Piaristen (welchen das Theresianum damals wie einst den Jesuiten übergeben war) begleiteten sie. Dann folgten unsere beiden Kutschen, mit unsern eigenen Pferden bespannt, und so bewegte sich der Zug ziemlich gemächlich und langsam auf der Brünnerstraße fort und wir erreichten unser Ziel, das mit Postpferden kaum eine Tagereise weit war, erst am folgenden Tag.

Ein altertümliches Schloß, einst ein Besitztum des letzten Barons von Teuffenbach, der es zu einer Stiftung bestimmt hatte, nahm uns auf. Wir bewohnten ein paar hohe, große Stuben, deren weiße Wände und wenige Möbel keine großen Bequemlichkeiten versprachen. Die Zöglinge des Theresianums mit ihren Hofmeistern waren auf einem andern Flügel einquartiert und nur die zwei angesehensten der geistlichen Herren aßen mit uns an demselben Tische. Es gestaltete sich ein, im Ganzen ziemlich angenehmes Leben, obwohl die unbedeutende, flache Gegend, welche erst kürzlich von der, hier in der Nähe fließenden Thaya war überschwemmt worden, und auf Feldern und Wiesen noch genug Spuren davon in Schlamm, Sumpf und toten Fischen zeigte, verbunden mit der frühen Jahreszeit im Anfange des April wenig ländliche Freuden bot. Aber die beiden Geistlichen waren gebildete, welterfahrene Männer und meine Eltern sowohl als [200] wir jungen Leute fanden in ihrer Unterhaltung, in Lektüre, Arbeit und einigen Spaziergängen Stoff genug, unsere Zeit leidlich zu verbringen. Aber mein Herz war nicht ruhig. Mir standen die Gedanken nach Wien zu meinem Manne, und je länger unser Aufenthalt in Dürnholz dauerte, je unbestimmbarer seine Dauer überhaupt und unsere ganze prekäre Lage war, je schwerer wurde mir die Trennung von Pichler. Mich überfielen düstere Einbildungen, die ich für sichere Ahnungen hielt, daß ich hier in Dürnholz krank werden und fern von meinem Manne sterben würde, ohne den Trost, in seinen Armen mein Leben zu endigen und ohne die Freude, mein Kind zu gebären. Vielleicht war dieser körperliche Zustand, verbunden mit dem natürlichen Weh der Trennung, die sehr begreifliche Ursache meiner melancholischen Vorstellungen, die ich indessen niemand, selbst nicht den Briefen an meinen Mann anvertraute und nur mit gespannter Angst auf jede Nachricht von Wien wartete, die uns über die Lage der Dinge, das Vorrücken der Feinde und die Anstalten, welche in Wien getroffen wurden, etwas Zuverlässiges berichten konnte.

Beinahe vierzehn oder noch mehr peinliche Tage waren auf diese Art für mich langsam dahingeschlichen. Meines Mannes Briefe waren meine einzige Freude. Aus ihnen schöpfte ich den nächsten Trost, daß es ihm wohl ging und er gesund war; aus ihnen auch den entferntern, daß sich Friedensgerüchte in Wien zu verbreiten anfingen, und General Bonaparte, der mit seinen sieggewohnten Scharen bis Leoben gedrungen war, sich zu friedlichen Unterhandlungen geneigt zeige und man hoffen dürfe, die Präliminarien bald abgeschlossen zu sehen. Das war eine freudige[201] Botschaft für alle; aber vielleicht unter unserer Gesellschaft für niemand mehr als für mich; denn nieman von uns hatte etwas so Liebes in Wien zurückgelassen als ich.

Wirklich kam die Nachricht von diesem Abschluß der Präliminarien bald mit Zuverlässigkeit, und ein Brief meines, nun auch schon lange verstorbenen Schwagers Schweiger, der damals Konsistorialkanzler des Bischofs von Leoben war, meldete uns noch die genauern Details und manchen interessanten Zug von dem jugendlichen Helden, dessen Ruhmes-Morgenröte eben über Europa zu leichten begann, und der den Lorbeer, welcher damals seine Schläfe schmückte, noch mit keiner Ungerechtigkeit und Gewalttat befleckt hatte. Überhaupt hatte er sich in Leoben und Göß (dem eigentlichen Sitze des Bischofs) viele geneigte Herzen erworben und ein rühmliches Andenken an seine Gegenwart hinterlassen, das noch lange zu seinen Gunsten nachwirkte. Der Bischof (ein Graf von Engl) empfing ihn bei seiner Ankunft ehrfurchts-, aber auch angstvoll; Kränklichkeit und Alter hatten dem Greise nicht erlaubt, sich, wie es andere getan, vor der Ankunft der Franzosen zu entfernen. Bonaparte begrüßte ihn mit Anstand und der freundlichen Bemerkung, daß er sich sehr freue, ihn auf seinem Bischofssitze anzutreffen; er sei wirklich der einzige seiner Kollegen, den er bis jetzt zu Hause gefunden. Auch entsprach das nachfolgende Betragen des jungen Helden ganz diesem ersten Anfange; denn er benahm sich mit beinahe kindlicher Schonung gegen den Greis, und ritt nie aus oder kam nie nach Hause, ohne seinen Wirt ehrerbietig zu begrüßen.

In einem Pavillon des Schlosses Göß, in der Nähe von [202] Leoben, der als ein neutraler Ort erklärt wurde, versammelten sich die Abgesandten unsers Kaisers und die französischen Machthaber, die Präliminarien wurden unterzeichnet, und die Tinte, welche dazu gebraucht worden war, nach einer sonderbaren Etikette, sodann auf den Boden geschüttet, wo man mir nach acht Jahren, als ich dahin kam, noch das schwarze Mal zeigte.

Es war also, wenigstens für jetzt, Waffenruhe, Wien hatte nichts von der Annäherung der Feinde zu fürchten, welche sich bald darauf aus Steiermark zurückzogen, und wir durften mit den, meines Vaters Obhut anvertrauten jungen Leuten wieder nach der Residenz zurückkehren. Nun war ich wieder glücklich; wir brachen auch bald auf, und mit Entzücken umarmte ich meinen Mann, der uns, von unserm Eintreffen benachrichtigt, schon jenseits der Donau in den Auen entgegen kam. Freudig kehrten wir in unsere kleine, heimliche Wohnung zurück, aber eine neue Sorge begann sogleich, denn Marie, die Braut meines Bruders, welche uns nach Dürnholz begleitet hatte, befand sich schon den Abend vor unserer Abreise unwohl, kam noch viel kränker hier an und lag mehrere Wochen hindurch an einem bedeutenden hitzigen Fieber darnieder.

Die militärischen Vorkehrungen, welche schon vor unserer Abreise begonnen, waren während derselben fortgesetzt worden, indem wirklich einige ausgezeichnete Militärs (unter andern General Mack) an die Möglichkeit einer dauernden Verteidigung geglaubt hatten, und ein gewisser General Zopf oder Zapf, der mit dem Kommando in der Stadt beauftragt war, sich geäußert hatte, er werde die Wiener schon lehren, Pferdefleisch essen; die Stadt trug wirklich bei unserer Zurückkunft noch manche Spuren dieser Anstalten und sah [203] etwas verändert aus. Aber bald verschwand dieser fremdartige Schein, der denn auch, nach der Meinung aller vernünftigen, vorurteilslosen Menschen, nur ein Schein war, und keine Realität und Dauer haben konnte, wenn es wirklich zu einer Belagerung oder nur zu einer kurzen Verteidigung kam, wie es die Erfahrung im Jahre 1809 bewies. Am 17. April wurde das ganze Wiener Aufgebot, welches ziemlich zahlreich, und, wie man allgemein bemerkte, von einem guten Geiste beseelt war, auf dem Glacis aufgestellt und feierlich entlassen, wobei denn jede Abteilung von ihren Kommissären mit einer kleinen Rede haranguiert wurde, und auch Pichler eine recht hübsche an seine Truppe von der Jägerzeile hielt.

So hatte denn unsere Angst und Not für diesmal ein Ende, und ich fing sogleich eine Beschäftigung ganz anderer Art an, nämlich die Vorbereitungen für den Empfang des unbekannten, teuren Wesens, das ich erwartete, und das, meiner Rechnung zufolge, etwa in der Hälfte des Oktober erscheinen sollte. Der Sommer war sehr trocken und sehr heiß, ich fühlte das durch meine körperliche Lage doppelt, doch war ich im ganzen sehr wohl und hatte eben keine großen Beschwerden zu ertragen. Dennoch betrachtete ich den Zeitpunkt, welcher mir bevorstand, mit sehr ernsten Blicken, und gewohnt, den Gedanken an den Tod mir oft zu vergegenwärtigen, entwarf ich, wenige Wochen vor meiner Entbindung, mein Testament.

Mit Ende des Septembers verließen wir unsere Gartenwohnung, um die bevorstehende Katastrophe in der Stadt abzuwarten, und diese erfolgte denn unter sehr glücklichen Umständen am 11. Oktober 1797 spät gegen Mitternacht, nachdem ich schon die vorhergehende [204] Nacht sehr unruhig zugebracht hatte. Denn zu den körperlichen Vorempfindungen, welche mir den Schlaf verkümmerten, gesellte sich auch noch eine moralische Angelegenheit, die mir die Ruhe nahm, und das war, so seltsam dies klingen mag, das Schicksal des Generals Lafayette.

Dieser Mann war von seinem ersten Auftreten in der Revolution von 1789 an, durch sein Benehmen in der Nationalversammlung (wo er einer der ersten seine Adelsvorrechte und den wohlerworbenen Ruhm seiner Ahnen willig auf dem Altar des Vaterlandes opferte), auf dem Marsfelde, bei der Flucht des unglücklichen Königs, kurz bei jeder Gelegenheit mir so groß und edel erschienen, daß er meine ganze Bewunderung erworben hatte, und wahrlich, sein Lebenslauf und die Weise, wie er nach vierzig Jahren wieder als Retter und Schirmer des Vaterlands auftrat, hat meine Ansichten vollkommen gerechtfertigt. Damals nun war die Nachricht von seiner höchst unbilligen Gefangennehmung und Einkerkerung in Olmütz entweder erst in Wien oder wenigstens mir bekannt geworden. Genug, sie beschäftigte meine Einbildungskraft unaufhörlich, und Lafayette, seine Frau, die ihn begleitete oder besuchte, und überhaupt seine Lage auf der unfreundlichen Festung war in der Nacht vor meiner Niederkunft das Bild meiner Träume und der Gegenstand meiner wachen Gedanken.

Aber die Erscheinung eines gesunden, wohlgebildeten Töchterchens, die Leiden und Freuden, die Unruhe und Geschäfte, welche eine solche Epoche begleiten, löschten wenigstens für den Augenblick Lafayettes Andenken in meiner Phantasie aus, und ich war ganz glücklich und beruhigt im Besitz des lieben, kleinen Wesens, [205] das ich selbst zu stillen beschlossen hatte und es auch sogleich ausführte. Die Kleine bekam den Namen ihrer Mutter und Großmutter und hieß Karoline wie wir.

Mein Wochenbett war glücklich und wäre auch vergnügt gewesen, wenn nicht ein häusliches Mißverständnis den Frieden meiner Eltern, hierdurch die Laune meiner Mutter und folglich die Heiterkeit unsers Zusammenlebens gestört hätte. Ich habe schon erzählt, daß mein Bruder seine Neigung einem Fräulein von Kurländer zugewendet hatte, ein Mädchen von unstreitig vielen vorzüglichen Eigenschaften, deren Wuchs majestätisch, deren Anstand edel, ihre Gesichtszüge aber nicht schön und ihr Betragen nicht gewinnend waren. Unter uns Mädchen hatte sie keine eigentliche Freundin oder Vertraute gefunden. Es lag etwas Kaltes, Stolzes in ihrem Benehmen, und so fein und artig ihr Umgang war, fühlten wir uns doch nicht befriedigt in ihrer Nähe. Meinem Bruder gefiel sie außerordentlich. Ihr edler Anstand bezauberte ihn, ihre Kälte gegen die übrigen verhieß ihm eine ausschließende Wärme für ihn, und je weniger sie sich den andern mitteilte, je fester und unumschränkter hoffte er in ihrem Herzen zu herrschen. Wir übrigen konnten seine Überzeugung nicht teilen; wer aber von uns recht behalten hätte, das hätte nur die Zeit entscheiden können, und hierzu lebte die arme Marie nicht lange genug. Doch ich darf meiner Erzählung nicht vorgreifen.

Auch meine beiden Eltern, obwohl sie keine bestimmte Einwendung gegen das Mädchen machen konnten, freuten sich dieser Schwiegertochter nicht sehr, und auch hierin war ich glücklicher gewesen als mein Bruder; denn meine beiden Eltern, vorzüglich aber mein Vater, waren ganz zufrieden, ja vergnügt durch meine [206] Ehe. Endlich aber erhielt mein Bruder doch die Einwilligung zu seiner Vermählung, und nun kam es darauf an, in unserer Wohnung in der Stadt sowohl als auf dem Lande eine Möglichkeit auszumitteln, damit wir beide junge Paare, ohne den Eltern eine neue Ausgabe aufzubürden, in demselben Quartiere mit ihnen wohnen könnten; denn ohne eine großmütige Unterstützung von Seite meines Vaters hätten weder Pichler und ich, noch mein Bruder mit Marien anständig leben können. Hier nun traten große Schwierigkeiten ein. Meine Mutter trug auf Einschränkungen an, die meines Vaters Hang zu geselligen Freuden und einem gewissen Glanz seines Hauses sehr zu beschränken drohten. Er versagte seine Zustimmung, es gab unangenehme Auftritte und die Heiterkeit und Ruhe unseres häuslichen Lebens war sehr dadurch gestört. Ich ertrug das in meinem Wochenbette gar ungern, es verbitterte mir meine Mutterfreuden, und so gab ich mir alle erdenkliche Mühe, um hier eine Auskunft, welche alle Parteien zufrieden stellen konnte, wenigstens für den Aufenthalt auf unserm Landhause, zu ersinnen. Ich überlegte, ich verglich, ich rechnete und fand endlich, daß mit einer ziemlich geringen Summe ein Teil der Wirtschaftsgebäude, der überflüssig geworden war, zu einer kleinen, aber niedlichen Wohnung für meinen Bruder umgeschaffen werden könnte. Meine Eltern und wir behielten unverändert die Zimmer, welche wir jetzt in dem Landhause inne hatten, alles war in einem Hause vereinigt, und da der Bau nicht kostspielig sein konnte, alle Wünsche befriedigt. Diesen Vorschlag trug ich denn meinen Eltern und dem Bruder vor, er wurde geprüft, genehmigt, und ich sah nach ungefähr vierzehn recht trüben Tagen wieder heitere Gesichter [207] und gute Laune um mich – eine Lebensbedingung, die mir von jeher Bedürfnis meines eigenen Glückes gewesen und es fortwährend geblieben ist; mich aber dadurch oft sehr abhängig von denen gemacht hat, deren guten Willen ich mit Opfern zu erkaufen bereit war.

Auch in dieser Angelegenheit erprobte sich, was ich seitdem so oft in meinem langen Leben durch Erfahrung bestätigt gefunden habe: wie kurzsichtig unser Blick in die Zukunft ist, wie oft wir uns ohne Not mit Sorgen quälen, deren Abwendung dann gar nicht mehr statt hat, und wie manchen Kummer man sich ersparen könnte, wenn man, nach den eigenen Worten des Heilands, nicht immer für den kommenden Tag sorgen, sondern jedem Tag seine eigene Sorge überlassen wollte.

Der Bau in unserm Landhaus in Hernals war also beschlossen und die streitenden Parteien befriedigt. Ruhe und Heiterkeit kehrte in unsere Familie zurück, mein Kind gedieh an meiner Brust, und ein paar Monate vergingen ganz angenehm. Der Fasching war mittlerweile herangekommen; mein Mann, mein Bruder, seine Braut und meine übrigen Gespielinnen genossen seine Freuden, mich schloß meine Pflicht als Amme von diesen Unterhaltungen aus, die ich nur mit großen Einschränkungen hätte genießen können, und ihnen daher lieber ganz entsagte. Aber noch im Laufe des Karnevals fing mein guter Vater an, zu kränkeln. Es war dem Anscheine nach nur sein gewöhnliches Übel, Heiserkeit und Husten, aber es zeigte sich so hartnäckig, es sanken die Kräfte des Leidenden so merklich bei einer an sich unbedeutenden Krankheit, daß dies alles uns sehr aufmerksam und besorgt machte, und der Arzt, eben jener Dr. Herbek, ein Schüler des großen [208] Stoll und unser Hausfreund, jetzt beinahe täglich erschien, um nach dem Papa zu sehen.

Die Hochzeit meines Bruders war auf den nächsten Frühling festgesetzt, und im Hause der Eltern der Braut, so wie in dem unsrigen, wurden bereits Voranstalten getroffen. Aber meines Vaters Kränklichkeit und zunehmende Schwäche breitete einen düstern Schleier über diese herannahende Verbindung, und wahrlich, das Schicksal dieser Ehe hielt der düstern Stimmung Wort, in welcher sie bereitet und vollzogen wurde!

Auf eine wunderbare, aber uns alle sehr beunruhigende Weise fing meines Vaters Geschmack und Sinnesart an, sich in dieser Periode ganz zu verändern. Was ihm früher und noch bis vor wenigen Wochen sehr angenehm, ja sein liebster Wunsch und sein Streben war – nämlich stets viele Leute um sich zu sehen, wurde ihm jetzt lästig, ohne daß er doch über ein bestimmtes körperliches Leiden zu klagen gehabt hätte, ja ohne weder das Bette noch das Zimmer hüten zu müssen. Er fuhr selbst noch oft aus, und wenn er auch sein Bureau nicht mehr so fleißig besuchte, so zeigte er sich doch bisweilen dort oder arbeitete zu Hause mit seinem Personal und machte hier oder dort einen Besuch. Ebenso fing der Kaffee, sonst sein Lieblingsgetränk, von dem er täglich eine, vielleicht für seine Gesundheit zu große Portion zu sich nahm, an, ihm zu widern, und diese auffallende Umstimmung war es, welche uns alle beunruhigte und, wie der Erfolg zeigte, leider mit Recht. Denn wie allmählich der Frühling herannahte, alles Leben in der Natur erwachte, alles neu zu erstehen und Kraft zu gewinnen anfing, nahm nur meines teuren Vaters Kraft und Leben täglich[209] mehr und mehr ab, und doch war, wie schon gesagt, keine eigentliche Krankheit bei ihm vorhanden, welche ein so schnelles und gänzliches Hinwelken hätte begreiflich machen können. Ja sein Geist war ganz heiter, und eine seiner liebsten Unterhaltungen war es nun, wenn ich ihm vorlas; denn auch die Musik, ehemals seine Lieblingsleidenschaft, war ihm gleichgültig geworden, und wenn es ihm auch nicht zuwider war, wenn ich neben seinem Zimmer wie sonst spielte oder sang, zog er es doch vor, lesen zu hören.

Gegen den Anfang des Maimonats erklärten die Ärzte plötzlich, es wäre sehr heilsam, wenn mein Vater sogleich aufs Land gebracht würde, und wir sollten daher, sobald wir könnten, unsere Gartenwohnung beziehen, wo die reinere Luft günstig auf den Kranken wirken werde. So willkommen mir jeden Frühling der Ruf tönte, daß wir aufs Land gehen würden – denn ich war nie gern in der Stadt und kehrte jeden Herbst mit Widerwillen dahin zurück – so schien mir, bei der Unstetigkeit unseres Frühlingswetters und der größeren Luftigkeit einer Sommerwohnung, dieser Befehl doch ein bißchen zu voreilig. Damals nämlich, wo die Menschen minder empfindlich gegen Rheumatismus, Luftzug oder gähe Abwechslungen der Temperatur waren, fiel es niemand ein, so wie jetzt fast allgemein, die Landhäuser wenigstens mit einigen Öfen und allenfalls auch mit Doppelfenstern zu versehen, ebensowenig als man in der Stadt oder den Vorstädten alle Treppen, Vorhäuser oder Korridors mit Glasfenstern und Türen zu verwahren und die Wohnungen so kompakt zu machen, wie jetzt geschieht, bedacht war. Ein offener Gang, auf dem man im Winter durch den Schnee hindurch mußte, eine Treppe, ein Vorzimmer, das dem [210] kalten Luftstrom ausgesetzt war, fiel niemanden beschwerlich, und man bemerkte diese Unbequemlichkeiten entweder gar nicht oder ertrug sie als etwas, was nicht zu ändern war, mit Gleichmut.

In unserm ganzen, sehr geräumigen Landhause, in dem man wohl über zwanzig Zimmer zählte, war nur ein Ofen, und dieser mehr aus Vergeßlichkeit oder um sich keine Ungelegenheit mit dem Abbrechen zu machen, als aus Bedürfnis stehen geblieben. Das Kabinett, in dem mein Vater schrieb und in den letzteren Jahren seines Lebens auch schlief, lag gegen Norden, genoß zwar der schönsten Aussicht über Felder und Weingärten bis zum Gebirg, war aber eben deswegen der Kälte sehr ausgesetzt. Indessen ging es die ersten Tage unseres Aufenthalts noch leidlich. Mein Vater fühlte sich etwas besser; hoffen konnte ich nicht, denn die Abnahme der Kräfte war zu sichtbar und zu schreckend; aber es wurde doch möglich, an meines Bruders Vermählung zu denken, welche auf den 10. Mai bestimmt war. Welches traurige Fest!

Es wurde, wie natürlich, im Hause der Braut, aber sowohl des Zustandes meines Vaters wegen, als auch weil beide Verlobte keine Freude an rauschenden Vergnügungen hatten, ganz in der Stille gefeiert. Ach! noch jetzt, nach so langen, langen Jahren, schwebt mir dieser Tag und das Bild meines Vaters, dessen gesticktes Galakleid und stattlicher Hochzeitsputz einen noch schmerzlichern Gegensatz mit seinem kranken, hinfälligen Aussehen bot, vor Augen. Mit Anstrengung brachten wir ihn in den Wagen, von da in die Kirche und endlich ins Hochzeitshaus, wo wenige Freunde nebst uns versammelt waren, und der Abend bei einem zwar sehr glänzenden Gouter, aber in der Vorahnung [211] dessen, was uns allen nahe drohte, trüb und still verfloß. Dieser trübe Hochzeitstag war gleichsam der Vorbote eines noch trübern Schicksals dieser Ehe, und zwei gute, sich liebende Menschen, die von diesem Tage das Glück ihres Lebens mit gerechten Hoffnungen erwarteten, sollten beide in wenigen Jahren – doch ich will der Zukunft nicht vorgreifen.

Mein Bruder war nun nach seinem Wunsche vermählt, er bezog das kleine, niedliche Quartier, was meine Eltern ihm nach meinem Vorschlag aus einem Teil der Wirtschaftsgebäude hatten zurichten lassen, und wir hätten wohl alle vergnügt und still neben einander leben können, wenn nicht meines Vaters immer mehr sinkende Gesundheit diese häusliche Zufriedenheit zerstört hätte. Bisher hatte er es vermocht, die Treppe hinab in den Garten zu gehen, bald aber erlaubten dies die schwindenden Kräfte nicht mehr, und unglücklicherweise trat, wie ich es gefürchtet hatte, eine jener gähen Witterungsveränderungen ein, die bei uns wohl das ganze Jahr hindurch nicht selten, im Frühling aber sehr gewöhnlich sind. Es kam anhaltendes Regenwetter mit kalten Stürmen, wir wußten uns nicht zu helfen, um des Vaters Kabinett und ihn selbst hinlänglich mit Flaschen von heißem Wasser, Wachholderfeuer usw. zu erwärmen. Diese schädliche Einwirkung der äußern Kälte offenbarte sich nur zu bald. Zwar hörte der Regen und mit ihm der Frost auf, die Sonne schien wieder hell und warm, aber mein Vater welkte sichtlicher dem Grabe zu, und am 2. Juni verschied er sanft, fromm und liebend für uns alle besorgt, wie er gelebt hatte!

Fußnoten

1 Vielleicht machte der Umstand, daß dies Regiment den Namen des Geschlechts der Kaiserin Elisabeth, der Mutter Theresias trug, sie demselben geneigter.

2 Ein ziemlich naher Verwandter und Landsmann des Dr. Gall, des Kranologen.

3 Jene oben Seite 35 angeführten Verse wurden einige Jahre später gemacht.

4 In der Schreibweise des Originals.

5 In Vossens Luise.

6 Walter von Montbarry.

7 Stellen aus Youngs Nachtgedanken.

8 In Blumauers Äneis.

Zweites Buch 1798-1813
[212] Zweites Buch
1798–1813
[213][215]

Der Tod meines Vaters machte eine wichtige Epoche in unserm häuslichen Zusammenleben. Nicht bloß der zärtliche, treffliche Vater war uns allen entzogen, sondern mit ihm hörten auch die bedeutenden Einkünfte auf, welche mit seiner Stelle, als der eines ältern Hofrats, verbunden waren, und meine Mutter, nebst uns beiden jungen Paaren, war nun auf die aus unserm Stammvermögen entfallenden Einkünfte, und die noch sehr mäßigen Besoldungen meines Mannes und meines Bruders beschränkt.

Es wurden Einschränkungen nötig, besonders da wir jungen Paare keine bedeutenden Einkünfte hatten, und einer Vermehrung der Ausgaben entgegen sehen mußten. Es wurde also überlegt, Rat gehalten. Eine Wohnung in der Stadt, wie wir alle sie bisher gewohnt waren und nicht gern entbehrt hätten, und ein Sommeraufenthalt auf dem Lande, der uns allen seit Jahren zum Bedürfnis geworden, erforderten einen Aufwand, der unsre damaligen Kräfte überstieg. Wir beschlossen also – ein Vorsatz, der damals viel bedenklicher und schwerer zu fassen war, als es jetzt scheinen möchte – nur eine Wohnung fürs ganze Jahr, aber diese, um die Annehmlichkeit eines Gartens zu genießen, in einer schönen, nahen Vorstadt zu suchen. Unsere Bekannten und Freunde erstaunten über diesen Entschluß und die meisten mißbilligten ihn höchlich; denn damals standen die Vorstädte ungefähr in dem Verhältnis zur Stadt, in welchem sich jetzt die Dörfer befinden, wo nun auch nur wenige Familien [215] aus den angesehenen Ständen sich entschließen, Winter und Sommer zu wohnen, und eine solche Wahl immer Verwunderung und Tadel erregt.

Da wir alle wenig Ansprüche auf ein Leben in großen und glänzenden Gesellschaften machten, und unser Glück in zufriedner Häuslichkeit fanden, so ließen wir die Leute sagen, was sie wollten, suchten fleißig nach einem Hause, wie wir es in unsern damaligen Verhältnissen brauchten, und fanden endlich dasjenige, welches wir seit jener Zeit bis auf diesen Tag noch bewohnen.

Zur Ausführung dieses Planes gehörte denn auch, daß das Landhaus, das wir besaßen, und in dem wir zur Zeit des Verlustes unsers teuern Vaters und noch den ganzen Sommer von 1798 lebten, verkauft wurde. Es tat mir sehr weh, denn in diesem Landhause hatte ich die Zeit meiner Kindheit und Jugend zugebracht, und in den Schattengängen des großen, schönen Gartens waren die ersten Anregungen zur Poesie in meinem Gemüt erwacht. Wie oft hatte ich im dichtesten Gebüsche an meinem Lieblingsplätzchen gesessen, wo ein kleiner Quell über nette Steine hinabrieselte, und dem Geflüster der Blätter über mir, dem Gesang der Vögel, dem Gemurmel des Wassers horchend, mich still und selig gefühlt. Von solchen Stunden sagte ich später in einem ungedruckten Liede:


Ich war allein, doch einsam war ich nie;

Ich war bei Blumen, Büschen, Gras und Bächen,

Ich hörte sie in ihrer Sprache sprechen,

Und tief im Innersten verstand ich sie.


Dort lagen Saiten, die bei jedem Ton

In der belebten Schöpfung mit erklangen,

Sie sind's, woraus mir reine Freuden sprangen,

Sie tauscht' ich nicht um eines Fürsten Thron.


[216] In diesem Garten waren meine Gleichnisse und viele meiner frühern Gedichte entstanden, hier waren mir sehr angenehme Stunden verflossen, und diese Bäume hatten auch oft meine Tränen gesehen. Ich schied ungern von diesen Erinnerungen meiner Kindheit und ersten Jugend, aber es mußte sein, das erkannte ich, und so faßte ich mich mit Ernst und gutem Willen, und ergab mich in das Unausweichbare.

Das Landhaus wurde verkauft. Wir bewohnten es, dem Kaufkontrakte gemäß, noch bis zum Winter, und mit wehmütigem Gefühl genoß ich die zwei oder drei letzten Monate, welche es mir daselbst zuzubringen vergönnt war. Kaum aber waren wir weggezogen, so ging auch eine gewaltige Veränderung mit dem Garten vor. Der Strahl des reinsten Quellwassers, das – durch eine, meinem seligen Vater von dem Magistrat in Wien bewilligte Seitenleitung aus der großen Wasserleitung, welche das frische Quellwasser in die Röhrbrunnen der Vorstädte und der Stadt führt – in unserm Gartenbassin lustig in die Luft sprang, unser Haus und oft die Nachbarschaft mit köstlichem Trinkwasser und den Garten mit hinreichender Feuchtigkeit versorgte, dieser Wasserstrahl wurde sogleich von dem Magistrat zurückgenommen und das Bassin in unserm ehemaligen Garten stand leer. Der Sinn der neuen Besitzer war auch ein ganz anderer, die Anlagen wurden vernachlässigt, die Gebüsche verwilderten, die kleinen Partien – eine Einsiedelei, ein Wasserfall, zierliche Brücken usw. – verfielen, und oft mahnte mich dieses Zurücksinken einer vormals lieblichen Schöpfung in einen Zustand der Verwilderung durch den Tod eines einzigen vorzüglichen Mannes an jene Episode in Wielands Oberon, wie das kleine Paradies, das Titania [217] um des greisen Alphons willen in der Wüste hervorgezaubert hatte, nach seinem Tode sich wieder in eine Wüste verwandelt.

Der Winter verging uns in seinem Beginne bis nach dem Karneval ziemlich angenehm. Meine Kleine gedieh sichtlich, und es wurde beschlossen, sie nächsten Frühling, den wir schon in unserm neuen Hause in der Alservorstadt zuzubringen gedachten, dort einimpfen zu lassen. Dies Haus, das kürzlich seinen Besitzer, einen der berühmtesten Ärzte Wiens und einen guten Bekannten von uns, durch den Tod verloren hatte, war von ihm, der damals noch in der Blüte seiner Jahre stand, aufs zierlichste eingerichtet worden. Hunczovsky (das war sein Name, der gewiß bei manchem in Wien in lebhaftem und dankbarem Andenken sein wird) war ein sehr gebildeter Mann, ein großer Kunstfreund, und, was noch mehr sagen will, und was sein Tod bewies, ein edler Menschenfreund. Die meisten und schönsten Zimmer seines Hauses hatte er seinen Sammlungen gewidmet. Da war eine ansehnliche Bibliothek, ein ganzes Zimmer voll Handzeichnungen, die an den tiefblauen Wänden desselben in prächtigen Goldrahmen prangten, ein anderes mit den schönsten Kupferstichen, in dem sich überdies eine zahlreiche Mineraliensammlung in 10–12 höchst eleganten Glasschränken befand; endlich ein eigens dazu eingerichteter Saal mit Gemälden. Hier lebte der Besitzer mit einer hübschen, jungen Frau, die er kürzlich geheiratet, umgeben von seinen Kunstschätzen und in der nahen Erwartung, bald Vater zu werden. Da entriß ihm zuerst der Wille Gottes die Frau, welche, wenn ich nicht irre, bei der Geburt eines Knaben blieb. Kaum ein oder anderthalb Jahre darauf hatte Hunczovsky einen [218] Kranken zu behandeln, der an einem sehr bösartigen Geschwüre litt. Es sollte geöffnet werden, Hunczovsky war Arzt und ein sehr berühmter Wundarzt zugleich; er schickte sich an, die Operation zu machen und vollendete sie auch glücklich; aber er verwundete sich dabei in der Hand, und zwar so, daß er blutete, und zwar in dem Augenblicke, als die Lage seines Kranken ihm nur die Wahl ließ, entweder die Wunde, die er diesem gemacht hatte, fahren zu lassen, wodurch der Kranke aufs Äußerste gefährdet worden wäre, oder zuzugeben, daß die giftige Jauche seine eigene verwundete Hand berühre und in sein Blut übergehe. Hunczovsky wählte das letzte. – Er besorgte und verband seinen Kranken, der wahrscheinlicherweise genaß. Er selbst aber fühlte bald die Folgen seiner großmütigen Aufopferung. Seine Wunde verschlimmerte sich, die Hand schwoll, endlich der Arm; – das Übel verbreitete sich mit ungeheurer Schnelligkeit im ganzen Körper, und er starb als ein Opfer seiner Menschenfreundlichkeit. Friede sei seiner Asche!

Vielleicht wird manchem, der einst diese Blätter liest, diese kleine Anekdote unbedeutend, überflüssig erscheinen. Ich habe sie mit Vorbedacht erwähnt, weil ich erstlich gern das Andenken eines braven Mannes, den ich wohl kannte, feiern mochte; zweitens aber, weil solche Beispiele von pflichtmäßiger Aufopferung in unserer selbstischen Zeit immer seltener werden, und daher nicht sorgsam genug bewahrt werden können.

Nach seinem Tode mußte, den Verordnungen Kaiser Josefs in Vormundschaftsdingen gemäß, alles, was er besessen hatte, verkauft, zu Gelde gemacht, und dies in öffentlichen Papieren für seinen Knaben hinterlegt werden, obwohl damals der Kredit jener Papiere [219] schon sehr gesunken war, und jedermann das Schädliche dieser Maßregel einsah. Das Haus, freilich seiner kostbaren Einrichtung beraubt, aber auch so noch immer sehr elegant und bequem zugerichtet, nebst dem Garten, kaufte meine Mutter, und wir gedachten es im Frühling zu beziehen und angenehm zu bewohnen, da auch die Eltern meiner Schwägerin sich eine Wohnung in demselben vorbehielten.

Aber schon nach dem Karneval fing meine Schwägerin an, zu kränkeln. Wir hielten es für Folgen irgend einer Erkühlung; denn es gestaltete sich wie ein Katarrhalfieber, und sie konnte nach wenigen Tagen das Bett wieder verlassen. Doch war eine auffallende Mattigkeit und völlige Entkräftung zurückgeblieben, die uns allen und selbst dem Arzte nach einer so unbedeutenden Krankheit beunruhigend vorkam. Er beschloß, ihr China zur Stärkung zu geben; denn er glaubte, da sie in ihrer ersten Jugend schnell in die Höhe geschossen, und mit dreizehn Jahren bereits so groß und stark war wie mit zwanzig, die Natur habe ihre Kräfte in der Bildung der äußern Form erschöpft und das Innere zu schwach gelassen. Bald aber zeigte sich die Folge oder Ursache dieser auffallenden Schwäche auf eine für meinen armen Bruder und uns alle sehr erschreckende Weise. Ich wurde eines Morgens mit der Nachricht geweckt, Marie (so hieß meine Schwägerin) habe in der Nacht stark Blut gehustet und sei außerordentlich entkräftet. Diese Nachricht oder vielmehr diese Erscheinung war gleichsam die Totenglocke von meines Bruders häuslichem und überhaupt von dem Glücke seines Lebens. Es war eine Lungensucht, und wenn auch in den ersten Monaten zwischen jedem neuen Anfall ein Zwischenraum täuschender Besserung eintrat, [220] in dem die Kranke, und alle, die sie liebten, wieder hofften, so mußte doch, wer hier klar und ungeblendet beobachten konnte, den wahren und unheilbaren Grund des Übels erkennen.

Indessen war uns das Haus in der Alservorstadt eingeräumt worden. Wir bezogen es im Frühling und versprachen uns viel von der reinen Luft, von dem Leben im Garten für unsere Kranke. Dieser Garten war aber in einem Zustande völliger Verwilderung, obgleich reich mit schönen exotischen Bäumen und Sträuchern und mitunter auch edlem Obst besetzt. Der vorige Besitzer hatte den Vorsatz gehabt, ihn auf moderne Art geschmackvoll zuzurichten. Er hatte deswegen die alten, steifen Gänge kassiert, den Boden geebnet, die schönen Pflanzen hineingesetzt, aber sein früher Tod hatte diese Schöpfung in ihrem Werden auf gehalten, und wer einen Garten hat, weiß, was zwei Jahre ohne alle Aufsicht und Pflege für eine Wildnis daraus machen können. Vorderhand mußte alles so bleiben, wie es war, der nächste Winter und Frühling war dazu bestimmt, alles dies in Ordnung zu bringen.

Sehr angenehm, heiter, luftig und anständig war die Wohnung, und wir richteten uns mit Vergnügen daselbst ein. Sobald es die Witterung erlaubte, sollte auch mein kleines Mädchen geimpft werden. Eben um diese Zeit fing die, seitdem so viel besprochene Vakzine an, bekannt zu werden. Der dadurch berühmt gewordene Doktor de Carro, der mit der Tochter eines uns freundschaftlich verbundenen Hauses vermählt war, schickte mir Jenners Werk über diesen Gegenstand. Aber unser Hausarzt, Doktor Herbek, war nicht der Meinung, von dieser, damals noch so wenig konstatierten Entdeckung Gebrauch zu machen. Mein[221] Lottchen wurde mit Menschenblattern geimpft und überstand die Krankheit leicht, indem sie, nach der damals gewöhnlichen Behandlungsart, den ganzen Tag in der freien Luft gehalten, selbst ihre Fieber in einem mit Betten ausgelegten Wägelchen im Garten überstehen mußte, wobei nur die Vorsicht gebraucht wurde, den Platz und also die umgebende Luft zu wechseln, und so ging mit Gottes Hilfe diese wichtige Periode glücklich vorüber. Weniger günstig wirkte der kühle, regnichte Sommer vom Jahre 1799, wo sogar die Trauben am Spalier in unserm neuen Besitztum nicht recht reif wurden, auf meine arme Schwägerin. Die Anfälle von Fieber mit Blutauswerfen und heftigen Brustschmerzen traten in kürzeren Zwischenräumen und mit größerer Stärke ein, und mit dem Blätterfall, wie denn das so oft geschieht, war die Verschlimmerung so groß geworden, daß sie das Bett nicht mehr verlassen, und mein armer Bruder sich mit keiner Hoffnung mehr täuschen konnte.

Welche Tage tiefer Trauer und herzzerreißender Schmerzen traten nun an dem Krankenbette der, so heiß von ihrem Manne und ihren Eltern geliebten Frau ein, die mit jeder Woche dem Grabe sichtlicher zuwelkte! Was wurde nicht versucht, um ihr Leben zu erhalten! Welche Ärzte nicht gerufen, welche Heilmittel nicht angewendet! Es war vergebens. Am 12. Dezember saß ich eines Nachmittags, wo eben der letzte Schimmer des Tages in den trüben Winternebeln erstarb, an ihrem Bette. Kurz vorher hatte sie noch gesprochen, dann lag sie still, wie fast immer. Mein Bruder brachte ihr einen Trank, der ihr einige Labung zu geben pflegte. Er hielt ihr die Schale an den Mund, sie nahm sie nicht; er redete sie an, sie antwortete[222] nicht. Ich erschrak; denn die Wahrheit trat auf einmal furchtbar vor meine Seele – ich kniete am Bette nieder, ich sah ihr in die Augen –, sie schienen mir gebrochen; die Wärterin wurde gerufen – ein Spiegel gebracht – kein Hauch färbte ihn mehr; – sie war verschieden!

Mehr als dreißig Jahre sind seit dieser Szene über mich hingegangen, das Bild dieses Augenblicks und der Schmerz meines Bruders steht noch so lebhaft vor mir, als wären erst Monate darüber verflossen. Er stürzte fort aus dem Zimmer, wie er die furchtbare Gewißheit seines Verlustes erkannt hatte, und mir trug er auf, bei der Toten zu bleiben und mit Bürsten, Wärmen und allen andern Mitteln zu versuchen, das fliehende – entflohene Leben festzuhalten. Daß es uns nicht gelang, war vorzusehen. Ein paar Stunden darauf kam er wieder, und sah aus dem Nebenzimmer auf die Leiche hin, die noch eben in der Stellung, wie er sie verlassen hatte, in warme Tücher eingeschlagen, im Bette lag. Das ist mein Weib! schrie er nun mit einem Tone, dessen zerreißender Wehlaut noch in meinen Ohren klingt, und eilte aufs neue fort, einem Anblick zu entfliehen, den er auszuhalten nicht vermochte.

Später kamen die armen Eltern. – Ich gehe über alles das, über die Abreise meines Bruders, der am folgenden Tage Wien verließ und mitten im Winter nach Linz zu einem Jugendfreunde reiste, über die Beerdigung und alle Anstalten und Vorkehrungen, die dieser Todesfall nötig machte, und die mir aufgetragen waren, schnell hinweg. Es war eine traurige Zeit, ein sehr trauriger Auftrag; aber ich schien immer bestimmt, diese peinlichen Geschäfte zu übernehmen, denen sich gern jedes andere entzog.

[223] Nach sechs Wochen kam mein Bruder wieder. Die Reise, die Neuheit, die Verschiedenheit der Gegenstände hatten günstig auf ihn gewirkt. Der Zufall wollte es, daß gerade in diesem Winter die russische Armee durch Oberösterreich zog, um sich nach der Schweiz, wenn ich nicht irre, zu begeben. Die Kreisbeamten hatten außerordentlich viel mit ihnen zu tun, und dem Freunde meines Bruders, jetzt Gubernialrat Barchetti, war es daher sehr erwünscht, in dem Ankommenden einen ebenso tätigen als geschickten und geschäftskundigen Gehilfen zu finden. Meines Bruders Tätigkeit wurde sofort in Anspruch genommen, und mit Einquartierung, Etappen machen, Marschrouten ausmitteln, Händel schlichten, Ordnung halten, ward sein Geist von der steten Beschauung seines Schmerzes, der allerverderblichsten Verfassung eines Unglücklichen, abgezogen und auf wirkliche, aber ganz heterogene Gegenstände gelenkt, deren Beschaffenheit keinen Aufschub, keine Zögerung, und daher kein Versinken in Träumereien gestattete. Wohl erwachte der heftigste Schmerz wieder beim Anblick und Eintritt in das Haus, wo er so glücklich mit ihr gelebt, wo er sie so schmerzlich und so neuerlich verloren; aber er bezwang das wunde Herz als Mann und ernster Denker, und nur in vertrauten Stunden mit mir allein ergoß sich zuweilen sein Schmerz in Klagen und wohl auch in Tränen.

Diese ganze Zeit vor und nach meiner Verheiratung, da Krankheiten, Todesfälle und überhäufte häusliche Angelegenheiten aller Art meinen Geist, mein Gefühl und meine ganze Muße streng und gebieterisch in Anspruch nahmen, dachte ich beinahe an keine Poesie, und auch die Zeitumstände waren durch die Kriegsbegebenheiten [224] und die daraus entspringenden teils ängstenden, teils drückenden Verhältnisse, der Poesie nichts weniger als günstig. Meine Phantasie schwieg ganz, und mein Geist lag im eigentlichen Sinne brach. Auch war unser Leben ziemlich einsam geworden. Wir brachten den Winter fast ohne allen Umgang zu; denn wenn jetzt noch die meisten Bewohner der innern Stadt den Weg in die Vorstädte scheuen, und das Glacis für viele ein nicht zu überschreitender Ozean ist, dessen Stürmen und Fährlichkeiten sie sich im Winter kaum auszusetzen wagen, wenn nicht eine sehr lockende Unterhaltung sie dazu reizt und für die Beschwerlichkeiten einer solchen Fahrt entschädigt, so kann man sich vorstellen, wie das vor mehr als vierzig Jahren war.

Wenn wir nicht nach der Stadt gingen, um einen Abend im Theater oder bei Freunden zuzubringen, saßen wir meistens ganz allein, und unsere Unterhaltung bestand darin, daß Pichler, wenn er abends nach Hause kam, uns vorlas, bis es Zeit zum Souper war, während meine Mutter strickte und ich spann, nachdem ich meine Kleine schlafen geschickt hatte und mein Bruder ausgegangen war. Dennoch hatte auch dies sehr stille Leben, so auffallend es gegen das gesellige Geräusch in meines Vaters Hause abstach, und vielleicht eben des Kontrastes wegen, einen großen Reiz für mich. Pichler brachte uns die neuesten Erscheinungen im Fache der schönen Literatur, und wir genossen recht tief und innig die damals höchst beliebten und bewunderten Romane von Lafontaine. Kam dann manchmal ein unvermuteter Besuch aus der Stadt, so wurde er mit großer Freude empfangen, nach Neuigkeiten befragt, wenn es ein Freund war, mit Pichler politisiert, und so verstrichen die stürmischen [225] Abende wie auf dem Lande still und behaglich, bis endlich der Winter, in jenem Jahre etwas spät, dem Frühlinge wich, und nun die Arbeiten im Garten, um ihn neu anzulegen, beginnen konnten. Unter der Leitung eines Bekannten, welcher das, von den Schwiegereltern meines Bruders im Winter nicht bewohnte Quartier gemietet hatte, und der sich trefflich auf Gartenkunst verstand, wurde die Wildnis geordnet, die schönen Bäume und Sträucher an passende Plätze gesetzt, der schon erwachsenen so viel wie möglich geschont und so nach dem Geschmacke jener Zeit ein Garten voll Gebüsche, durch welche sich viele kleine, schmale Gänge schlängelten, hergestellt. Damals fand ihn jedermann schön, seitdem hat sich auch hierin, wie in allem, die Welt und der Geschmack verändert, und er mußte späterhin eben solchen Wechsel wie alle Dinge erfahren.

Um diese Zeit ungefähr fand mein Mann, als er eines Tages in meinen Schriften herumsuchte, das Manuskript meiner Gleichnisse, welche ich viele Jahre früher bei verschiedenen Anlässen gedichtet, meiner Jugendfreundin Josefine gewidmet, in einer reinlichen Abschrift übergeben, und seitdem nicht viel mehr daran gedacht hatte, außer daß ich gelegentlich, wie ein Gegenstand solche Betrachtungen in mir erweckte, wieder ein neues Gleichnis schrieb, und zu der Sammlung legte. Sie gefielen Pichlern, und zwar so sehr, daß er mir den Vorschlag tat, sie der Welt durch den Druck zu übergeben. Vor diesem Gedanken erschrak ich im eigentlichsten Sinn; denn wenn gleich einzelne kleine Gedichte von mir gelegentlich allein oder in Almanachen erschienen waren, so hatte ich doch nie daran gedacht, als Schriftstellerin mit einem eigenen Werke [226] aufzutreten. Vielmehr hatte ich solche Öffentlichkeit immer gefürchtet, und warnend trat ein Wort eines unserer Freunde, eines sehr gelehrten Mannes, vor meine Erinnerung, der, als ich ihn einst befragte, warum er denn der Welt nichts von den gelehrten Schätzen, die er gesammelt, mitteilen wollte, mir mit vieler Heftigkeit sagte: »Mein Fräulein, das werde ich nie tun. Ein Mann, der ein Buch herausgibt, ist wie ein Narr, der die Hand zum Fenster hinausstreckt; jeder Vorübergehende kann ihn darauf schlagen.«

Jetzt, als mein Mann eine ähnliche Aufforderung an mich ergehen ließ, fiel mir der gelehrte Abbé Br. und seine, wie mir schien, sehr treffende Bemerkung ein, und ich vertraute meinem Manne meine Angst. Er mißbilligte sie nicht ganz; aber er schlug mir vor, das Manuskript, ehe wir jenen großen Schritt vor die öffentliche Meinung täten, einigen vertrauten und durch ihre Gelehrsamkeit sowohl als ihr Wohlwollen gegen uns bewährten Freunden zu zeigen und ihr Urteil zu vernehmen. So wurde es denn nacheinander Herrn Haschka, der ohnedies so vielen Teil an meiner Geistesbildung genommen, Herrn Otto Wieser, einem Freund meines Mannes und Professor am Piaristenkollegium, Herrn Hofrat von Sonnenfels, der sich von jeher als einen väterlichen Freund Pichlers erwiesen, und dem Hofrat Denis, dessen Name schon Autorität genug ist, zum Durchlesen gegeben. Das einstimmige Urteil dieser Herren fiel günstig und ermunternd aus, und so erschienen denn, obgleich von mir noch immer mit Angst und Sorge aus dem schützenden Schatten der Unbekanntheit entlassen, die Gleichnisse, und ich trat öffentlich vor der Welt als Schriftstellerin auf.

[227] Zu meiner großen Freude und noch größerem Erstaunen fand das Büchelchen eine sehr günstige Aufnahme, und wurde von dem, damals mit Kotzebue gegen die Schlegelsche Schule bewaffneten Merkel – Herrn Garlieb Merkel, der aber vielen Leuten gar nicht lieb war – vermutlich, weil er meine Gleichnisse in ihrer Einfachheit der neumodischen Verkünstelung und widernatürlichen Verdrehung der Schreibart entgegensetzen wollte, sehr gütig angezeigt; so ungefähr, wie Tacitus in seinen Sitten der Deutschen diesen damals sehr rohen Völkern und ihren einfachen Tugenden wohl nur darum so warmes Lob spendet, um seinen entarteten Mitbürgern einen strengen Spiegel vorzuhalten. Genug, die Gleichnisse wurden sehr gut aufgenommen, und dieser unverhoffte Erfolg, verbunden mit der lebhaften Freude, welche mein geliebter Mann – ganz im Gegensatze von dem Manne einer berühmten Frau in Schillers Epistel – an meinen Schöpfungen empfand und zeigte, munterte mich auf, dem innern Drang meines Gefühls, den ich stets empfand, nachzugeben, und wieder auf eine neue Dichtung zu sinnen. Ein Traum – denn zu manchen meiner Erzählungen hat ein lebhaftes Bild, eine Situation, ein Charakter, von dem mir träumte, die erste Veranlassung gegeben – erregte in mir den Gedanken, zu schildern, wie in einem edlen weiblichen Gemüte die Trefflichkeit eines Mannes, ungeachtet eines widerlichen Äußeren, einen tiefen Eindruck machen, und ihm selbst unbewußt, ja wider dessen Willen, eine Leidenschaft erregen könnte. Wohl war eben damals Krates und Hipparchia von Wieland erschienen; aber meine Idee war eine ganz andere; jenes Bild war zu ruhig, zu klassisch. – Ich sann, ich bildete, und es entstand eine [228] Erzählung – Olivier, die im ersten Entwurf romantisch, ja eigentlich ein Märchen war.

Um diese Zeit fing der politische Himmel über uns sich wieder sehr zu trüben an. Die Schlacht von Marengo hatte die Angelegenheiten unsers Vaterlandes sehr drohend verschlimmert, und zum zweitenmal in vier Jahren mußten wir mit angsterfüllten Herzen der Annäherung der französischen Armeen, entweder von Italien oder von der Seite des damals noch bestehenden deutschen Reiches entgegen sehen. Der Sommer und Herbst vergingen in bangen Erwartungen, und zwei Todesfälle in unserer Familie, welche schnell aufeinander folgten, vereinigten sich mit jenen Ereignissen, um uns alle recht trüb zu stimmen, und die Verluste, die wir vor kurzem erlitten, uns mit neuer Wehmut fühlen zu lassen. Binnen vierzehn Tagen starben in unserm Hause und fast in unsern Armen beide Eltern meiner seligen Schwägerin, bei denen wohl der Schmerz über den Verlust des trefflichen Kindes alten Übeln, an welchen beide litten, bedeutenden Vorschub geleistet, und sie der vorausgegangenen Tochter nachgeführt hatte. Auf meines Bruders Gemüt wirkte dies sehr schmerzlich ein; aber es diente auch dazu, seine Tätigkeit zum Nutzen und Frommen der, nun im Jünglingsalter stehenden und ganz verwaisten Brüder seiner verstorbenen Frau aufzufordern, die außer ihm keine oder wenigstens keine hinreichende Stütze hatten; denn eine in Mähren an einen Arzt verheiratete Schwester und ein Bruder, der als Hauptmann im Felde stand, waren nicht zu rechnen. Mein Bruder war schnell entschlossen, er nahm die beiden jungen Leute zu sich, und sie gehörten fortan zu unserer Familie. Der ältere, Franz, der seitdem als Schriftsteller [229] und Verfasser vieler wohlgelungenen Übersetzungen französischer Lustspiele sich in Deutschland einen Namen erworben, wurde bald hierauf bei den hiesigen Landrechten angestellt, den jüngern, Karl, brachte mein Bruder durch die freundschaftlichen Verhältnisse, in welchen unsere Familie seit vielen Jahren mit dem Hause des Barons von Puthon gestanden hatte, als Kommis in dies Comptoir, und beide junge Männer zeichneten sich fortan als geschickte und in jeder Beziehung würdige Menschen aus. Den ältern aber zog sein Hang zur großen Welt bald in die Stadt, der jüngere blieb in unserm Hause, und war uns durch zwanzig Jahre ein treuer Freund und lieber Hausgenosse.

Im Herbst bezog eine sehr würdige Familie, die Witwe eines ungarischen Hofrates, Frau von Wlassics mit ihren Söhnen und einer, bereits an einen Cousin, der sich ebenfalls Wlassics nannte, verheirateten Stieftochter, die Wohnung im obern Stocke unsers Hauses, und ganz in unserer Nähe mietete sich ihre Schwester ein, die an den, nachmals durch verschiedene seltsame Schicksale bekannt gewordenen Baron von Geramb verheiratet war. Jetzt bildete sich für uns ein recht angenehmes, geselliges Leben. So wie es Abend wurde, kamen die beiden Frauen, welche bei uns wohnten, mit ihrer Arbeit zu uns herab, etwas später kehrten Herr von Wlassics und mein Mann aus ihren Bureaus nach Hause, und nun lasen uns die Herren, oder vielmehr meistens Pichler, die neuesten Erscheinungen der damaligen Literatur vor, Lafontaines Romane, eine zu jener Zeit sehr geschätzte Lektüre, oder wenn etwas noch Höherstrahlendes, aus Schillers oder Goethes Feder geflossen, vor ganz [230] Deutschland neu erglänzte. Die Knaben der Witwe, ihre Neffen, die Kinder eben jenes Barons Geramb und meine kleine Lotte spielten neben uns, und so vergingen uns die Abende still und genußreich. Mein Bruder und sein Mündel Karl (denn er war nach der beiden Eltern Tode zum Vormund seiner Schwäger ernannt worden), die selbst sehr gut und gern vorlasen, fanden aber ihre Rechnung zu wenig beim bloßen Zuhören, und so brachten diese ihre Abende meist in der Stadt zu.

Recht angenehm wäre uns allen der Winter auf diese Weise verflossen, hätten nicht unglückliche Kriegsereignisse das ganze Land, und somit auch uns, mit Furcht und Angst erfüllt. Die französischen Armeen rückten nach den Siegen in Italien und am Rhein immer näher heran, und man sprach, wie vor drei Jahren, von der drohenden Gefahr einer Invasion. In unserm stillen Abendkreise teilten wir uns unsere Besorgnisse mit, und eine wahrscheinliche Trennung, die unserm zufriedenen Beisammensein ein nahes Ende machen sollte, stellte sich ganz dicht vor unsere Augen; denn Frau von Wlassics dachte sehr ernstlich daran, sich samt ihrer Schwester und ihren beiderseitigen Kindern nach Ungarn zu flüchten, was denn auch im Laufe des Winters noch geschah, und seitdem – es sind nun beinahe vierzig Jahre – habe ich diese liebenswürdige Frau nicht mehr gesehen, und nur wenig und Unbefriedigendes, ja Schmerzliches von ihr vernommen. Sie hatte ein neues Eheband in Ungarn geschlossen, das unglücklich ausfiel und ihr Leben verbitterte.

Doch ich kehre zu meiner Erzählung zurück. Während wir noch alle beisammen, und alle voll Besorgnisse vor den Dingen, die da kommen konnten, waren, [231] trat Baron Geramb zum erstenmal aus der Unbekanntschaft seines bisherigen Privatlebens mit einem Projekte hervor, das Aufsehen genug erregte, um die Blicke der Stadt auf ihn zu lenken. Er wollte nämlich ein Freikorps errichten und es dem Kaiser in dieser bedrängten Zeit zur Disposition stellen. Geramb wohnte, wie ich oben gesagt, nicht weit von uns, der Zudrang der Leute in seinem Hause, die Unruhe, welche dieses Werbgeschäft in der Nachbarschaft verbreitete, das Aus- und Einmarschieren der regellosen, meistens zerlumpten Truppe mit Musik, die durch die ganze Straße schallte, das alles schien mir bei der wenigen Zuversicht, die man in einem, auf solche Weise zusammengerafften Haufen setzen konnte, das Unheimliche unserer Lage noch zu vermehren. Indessen hatte unsere Armee sich ander Grenze von Oberösterreich aufgestellt; die unglückliche Schlacht von Hohenlinden, auf die man die letzte Hoffnung der Rettung gesetzt hatte, ging verloren, der Damm war durchstochen, welcher die verheerenden Kriegsfluten von unserm Vaterlande hätte abhalten sollen, und nun ergossen sich die feindlichen Scharen unaufgehalten über Salzburg, Passau und Österreich ob der Enns.

Vor ihnen her retirierte unsere Armee und eilte durch die, bald dem Feinde zu überlassenden Provinzen bis gegen Wien. Dieses Ereignis bereitete auch mir ein unverhofftes Wiedersehen einer Person, die mehrere Jahre vorher einen zu tiefen Eindruck auf mein Gemüt gemacht hatte, als daß die Aufregung eingeschlafener Erinnerungen selbst jetzt, wo ich glücklich verheiratet und über jene Ereignisse längst ein beruhigender Schleier gezogen war, nicht dennoch eine vorübergehende Erschütterung in meinem Innern hätte verursachen [232] sollen, und weil es so war, so stehe es hier, zur Steuer der Wahrheit.

Fernando, der junge Offizier, dessen sich die Leser wohl noch erinnern werden, war indes zum Major im Generalstab vorgerückt, und befand sich, ohne daß ich es ahnte – denn ich hatte in Jahren nichts mehr von ihm gehört und geflissentlich nicht nach ihm gefragt – bei dem retirierenden Armeekorps, dessen Rückzug er unter vielen Beschwerden mitgemacht und leiten geholfen hatte.

Eines Abends trat er plötzlich und völlig unerwartet bei uns ein. Ich leugne es nicht, daß dies Wiedersehen mich erschütterte, daß ich einige Minuten bedurfte, um meine ruhige Fassung zu erhalten; aber es ging. Das Bewußtsein meines jetzigen Standpunktes in einer glücklichen Ehe und Fernandos feines Gefühl halfen uns über diesen Moment hinweg. Ich empfing ihn als einen werten alten Freund und er gab sich auch so. – Er besuchte uns nun oft, erzählte uns, was er bei dieser Retraite ausgestanden, erinnerte uns an manches vergangene Ereignis, und wir besuchten ihn wieder im Hause seines Oheims, des Hofrates, wo er sich aufhielt und noch eine Weile an den Folgen der Winterkampagne zu leiden hatte. Kurz, das Verhältnis ordnete sich zu unserer beiderseitigen Zufriedenheit. Alles Leidenschaftliche hatte sich läuternd abgesondert und nur gegenseitige Achtung und Wohlwollen waren zurückgeblieben. Nach dem bald erfolgten Waffenstillstand trat er als Obristleutnant aus dem Generalstab in ein Husarenregiment, produzierte sich in seiner prächtigen, reich mit Gold besetzten Uniform, und schied endlich unter herzlichen Freundschaftsbezeugungen und unsern wärmsten Wünschen von uns. [233] Bald darauf verheiratete er sich mit einem sehr jungen polnischen Fräulein, und hat, so viel ich weiß, in einer glücklichen Ehe mit ihr gelebt.

So hatte sich denn durch Zeit und veränderte Verhältnisse ein Eindruck wie ein flüchtiger Schatten aus meinem Gemüte verloren, der durch viele Jahre stark genug gewesen war, um mir manche trübe und bittere Stunde zu verursachen, und dessen ehemalige Gewalt ich erst recht dadurch erkennen konnte, daß sich unter ganz veränderten Umständen doch die letzten Spuren desselben bei dem unvermuteten Wiedersehen in meiner Seele regten.

Wichtigere und tiefer gehende Gedanken und Sorgen bemächtigten sich in dieser Zeit meiner wie aller Menschen. Die französische Armee stand auf österreichischem Boden und man zitterte in Wien vor den Ereignissen, die kommen konnten. Viele dachten abermals auf Flucht wie im Jahre 1797, und die Ungewißheit und Ratlosigkeit dieser Lage, in der niemand mit Sicherheit einen Entschluß zu fassen wußte, und wobei die Einbildungskraft freies Spiel hatte, alle möglichen Gefahren und Unfälle von den noch sehr wilden republikanischen Horden zu fürchten, waren unaussprechlich peinigend.

In diesen drangvollen Umständen ertönte plötzlich wie eine Stimme vom Himmel die Nachricht, daß der Erzherzog Karl, der früher schon einmal als Retter Germaniens 1 von der ganzen Welt war erkannt und verehrt worden, das Kommando wieder übernommen und sich an die Spitze der Armee gestellt habe.

[234] Alles fing an zu hoffen; nicht auf Sieg und Glück, das war nach der Lage der Dinge nicht möglich; aber auf Rettung, und diese erfolgte denn auch durch unsers teuern Helden Karl Vermittlung. Am 27. Dezember kam er unvermutet in Wien an und brachte selbst die Nachricht des abgeschlossenen Waffenstillstands. Das Verderben war für diesmal nicht ganz abgewendet, aber aufgehalten, und bei der Vorstellung der mannigfachen Übel, die uns so nahe drohen konnten, schien schon diese Waffenruhe uns ein wahres Heil.

Mit lautem Jubel empfing das Volk unsern Retter, ein freudiger Taumel bemächtigte sich aller Gemüter, und ihm folgte, wie man sich zu verständigen und zu besinnen anfing, die schöne Hoffnung auf den Frieden, der denn auch ein paar Monate später zu Lüneville geschlossen wurde.

In Wien atmete alles neu auf. Mit der Hoffnung kehrten Ruhe und Frohsinn wieder, unsere Abendunterhaltungen wurden wieder still und genußreich wie zuvor. Baron Geramb ließ sein Freikorps auseinander gehen, das ihm indessen den Titel und Rang eines kaiserlichen Obersten verschafft hatte, und beschäftigte sich jetzt wieder mit etwas neuem, nämlich ein Gedicht über die Geschichte des Habsburgischen Hauses von irgend jemand verfassen und in alle europäischen Sprachen, die türkische nicht ausgenommen, übersetzen, mit stattlichen Vignetten auszieren, und in einer Prachtausgabe in Folio erscheinen zu lassen. Auch dieses Unternehmen erregte Aufsehen, und wahrscheinlich war dies ein Hauptzweck des Unternehmers, der bald nachher durch ein Duell, dessen Kampfplatz der Ätna oder Vesuv sein sollte, in allen Zeitungen bekannt [235] wurde, und seine unruhige Lebensbahn im Kloster La Trappe endete.

Erzherzog Karl, an dem das Volk mit großer Liebe hing, war im Anfange des Jahres 1801 zum Chef der ganzen Armee und zum Hofkriegspräsidenten ernannt worden. Bald darauf ergriff ihn sein gewohntes Übel mit außerordentlicher Heftigkeit, er wurde nach Wien und ins Batthyanische Haus in der Schenkenstraße gebracht, das von nun an den ganzen Tag von Haufen Volkes umlagert war, welches Nachrichten von dem Befinden des allgeliebten Erzherzogs zu haben wünschte. Man zitterte allgemein für sein Leben, denn der Anfall war ungewöhnlich stark gewesen, und tausend Gebete und Wünsche stiegen für ihn zum Himmel. Endlich erhörte dieser unser einstimmiges Flehen, die Krankheit wich und man durfte mit Zuversicht auf Genesung hoffen.

Auch ich gehörte unter die Zahl seiner wärmsten Verehrerinnen, obgleich ich ihn nie anders als von weitem gesehen, aber schon seit seiner joyeuse entrée in Brüssel, so viel Edles, Schönes und Großes von ihm gehört und miterlebt hatte, daß in meiner Seele immer ein Altar für diesen Fürsten stand und noch steht, auf welchem eine nie verlöschende Flamme der Verehrung lodert, und mit allem, was ich Edles und Großes von ihm vernahm, genährt wird. So war es natürlich, daß mein Gefühl der Freude über die Genesung dieses Helden sich in einem Gedichte aussprach, von dem ich wünschte, daß es vor seine Augen kommen und ihm zeigen sollte, wie sehr und wie aufrichtig er von dem Volke geliebt werde, das ihm so viel zu verdanken hatte.

Graf Chorinsky, der Gemahl meiner Freundin, befand sich damals gerade in Wien, er hatte durch [236] einen Verwandten oder durch seine eigene Persönlichkeit, die so äußerst schätzbar war, leichten Zutritt zu dem Erzherzog, ihn bat ich also, es einzuleiten, daß der königliche Held das Gedicht bekomme, und in ihm den Ausdruck nicht bloß meiner, sondern der Verehrung des ganzen Volkes lese, daß er aber ja nicht glaube, es wäre auf ein Ehrengeschenk dabei abgesehen; denn damals und später noch mehr wurde der Erzherzog mit Dedikationen von Büchern und Lobgedichten, für die alle ein barer Lohn erwartet wurde, völlig bestürmt, bis er später dies förmlich verbat und verbot.

Wie ich gewünscht hatte, so ward es mir auch. Graf Chorinsky hatte mit feinem Gefühl sich der Sache angenommen, und ich erhielt das, was mir das Liebste war, ein Handbillett des allverehrten Helden, begleitet von einem verbindlichen Briefe seines, damals viel genannten und von der ganzen Welt beachteten Hofoder Staatsrates Faßbender.

Das Schreiben des Erzherzogs Karl ist schön an sich und zu teuer für mich, um ihm nicht einen Platz in diesen Blättern einzuräumen, die ja doch nur der Erzählung der an sich unbedeutenden Begegnisse meines Lebens für sich, und in Verbindung mit den öffentlichen Ereignissen, so wie den Fortschritten auf meiner schriftstellerischen Laufbahn gewidmet sind.

»Ich bin äußerst gerührt über die schöne und gefällige Art, womit Sie mir Ihre Teilnahme an meiner Genesung bezeugen, und freue mich, daß Wien eine Dichterin besitzt, die reine Empfindung, lebhafte Darstellung und richtige Sprache in so vollkommenem Maße verbindet. Sehr willkommen würde es mir sein, Ihnen etwas Angenehmes zu erweisen, so wie ich mit Vergnügen die gegenwärtige [237] Gelegenheit nicht unbenützt lasse, Sie meiner aufrichtigsten Ergebenheit und ganz vorzüglichen Wertschätzung zu versichern, womit ich stets verharre

Ihr aufrichtigst ergebener

E. Carl.«


23. März 1801.


Ich war ganz glücklich durch diese höchste Huld und gnädige Anerkennung, und mir schien es, als hätte ich nun eine Ursache, ja ein Recht mehr, mich der Verehrung und Bewunderung so vieler fürstlichen, kriegerischen und menschlichen Tugenden zu überlassen. Diese Empfindung strömte auch über in eine Idylle: die Geretteten, in der ich die gesicherte Ruhe der Bewohner des Landes unter der Enns, welche sie dem Helden Karl zu danken hatten, im Vergleich mit den Schrecken und Leiden schilderte, unter welchen die vom Feinde besetzten Provinzen seufzten und jene Ekloge Virgils nachzuahmen suchte, worin der Dichter den Augustus preiset, der sein (des Dichters) Vaterland vor ähnlicher Verwüstung schützte.

Die Stelle:


O Meliboee, Deus nobis haec otia fecit.

Namque erit ille mihi semper Deus;...


schien mir recht geeignet, um auf unsern Helden angewendet zu werden, und ich freute mich, ihm wieder öffentlich meine tiefe Verehrung bezeugen zu können. Diese Idylle sandte ich dem Staatsrate von Faßbender, von dem ich, wie oben gesagt worden, bereits einen Brief erhalten hatte, und er dankte mir wieder schriftlich im Namen seines Herrn.

Der Friede von Lüneville schloß indessen auf kurze Zeit die Pforten des Janustempels für uns und einen Teil von Europa, aber das Feuer glimmte unter der Asche fort, und bei der immer wachsenden Macht[238] Frankreichs und dem Weitergreifen seines kriegslustigen Oberhauptes, das zwar damals noch einen bescheideneren Titel trug, war wohl niemand, der ein bißchen weiter zu sehen vermochte, imstande, sich über die Gefahr, in der wir alle schwebten, und die prekären Bedingungen unserer damaligen Ruhe zu täuschen.

Unser Leben ging indes still fort und im ganzen ziemlich einsam; aber es knüpften sich nach und nach gesellige Verhältnisse in unserer Nähe an, welche uns viel Annehmliches versprachen. Die Familie des Hofrats von Kempelen entschloß sich, wohl durch meines Bruders Zureden vermocht, sich in der Alservorstadt gegenüber von uns anzusiedeln. Zu den früher erwähnten Gliedern derselben gehörte nun die wunderschöne und sehr interessante Frau des Sohnes. Da seit langen Jahren, wie der Leser dieser Blätter sich erinnern wird, eine genaue Freundschaft unsere beiden Familien verband, so war uns diese Nachbarschaft etwas sehr Erwünschtes, und wirklich begann auch von diesem Punkte an ein angenehmes geselliges Leben für uns, indem unser Kreis sich nach und nach erweiterte und durch bedeutende Mitglieder verschönte.

Zwar verloren wir die Familie Wlassics aus unserer Nähe, die Glieder derselben zerstreuten sich, wie das zu gehen pflegt, da- und dorthin; aber durch die Nachbarschaft des Kempelenschen Hauses ward unser Verlust mehr als ersetzt. Diesen Winter von 1801 auf 1802 wurde auch ein noch sehr junger Mann bei uns durch Herrn Haschka eingeführt, der eine, besonders in der Folge zu merkwürdige Erscheinung war, um seiner nicht hier zu erwähnen. Es war der Verfasser der Tirolergeschichte, Baron von Hormayr, ein Jüngling von vielleicht nicht mehr als zwanzig Jahren, vor[239] welchem aber schon ein bedeutender literarischer Ruf vorausging, und dessen sehr vorteilhaftes Äußeres den Eindruck angenehm verstärkte, welchen jener Ruf verbreitete. Damals kam er indessen nur selten zu uns, und erst eine spätere Epoche brachte uns in nähere Beziehungen.

Um diese Zeit ungefähr, da durch die Unfälle des Krieges, durch ungünstige Witterung, die Preise der Lebensmittel sehr gestiegen und viele Menschen in Wien sowohl als anderswo mit Mangel zu kämpfen hatten, bildete sich hier aus menschenfreundlichen Männern ein Verein, an dessen Spitze der verstorbene Fürst Josef von Schwarzenberg stand, und dessen Geschäft es ward, auf Mittel zu sinnen, um den untern Klassen, die damals am meisten litten, zu Hilfe zu kommen. Allerlei ward da erfunden und manches ausgeführt, was wenigstens eine Zeitlang seiner Bestimmung entsprach. Unter diese Hilfsmittel gehörte denn auch die Rumfordsche Suppe, und einer unserer genauesten Freunde, Herr von Perger, dessen lebhafter Geist sich leicht für alles neue interessierte und dessen kräftiges Gemüt das Ergriffene mit ungewöhnlicher Heftigkeit festhielt, war der eifrigste Beförderer dieses neuen Planes. Ja, er ließ mit großer Uneigennützigkeit seine eigene Küche zu diesem Behufe einrichten. Da wurde nun täglich nach der Vorschrift eines Herrn von Voght aus Hamburg, der auch in seiner Vaterstadt ein Beförderer, ja ein Stifter solcher Anstalten war, Rumfordsche Suppe nach den besten Rezepten gekocht, und gegen sehr mäßige Preise von zwei bis drei Kreuzern (Kupfergeld von geringer Valuta) unter die Armen verteilt. Mehrere junge Beamte von Pergers Bekanntschaft, unter ihnen auch mein Bruder, [240] nahmen wechselweise das Geschäft über sich, bei dieser Austeilung gegenwärtig zu sein und über dieselbe die Aufsicht zu führen.

Perger, der uns sonst sehr fleißig, selbst in den rauhesten Winterabenden, besuchte, ja bei stürmischem oder schlechtem Wetter fast unser sicherer Gesellschafter war, kam nun äußerst selten, und ich schrieb ihm deswegen eine komische Epistel in Knittelreimen, welche also begann:


O du, der jetzt mit kräft'ger Brühe

Wiens Leckermäuler täglich speist,

Und weder Ungemach noch Mühe,

Noch Küchenruß und Arbeit scheu'st,

– – – – – – – – – –

– – – – – – – – – –

Wenn durch das Lob von tausend Zungen

Dich noch mein Wort erreichen kann,

So neig', o hochberühmter Mann,

Dein Ohr mir wenig Augenblicke,

Und kehre dann ans große Werk zurücke.

– – – – – – – – – –

– – – – – – – – – –

Sind denn die stillen Abendstunden,

So manche finstre Regennacht,

Wo doch dein Herz den Weg zu uns gefunden,

Dir ganz aus dem Gemüt verschwunden?

usw. usw.


Kurz, ich beklagte mich über seine Vernachlässigung auf eine lustige Weise. Perger las das Gedicht in einer Sitzung des Wohltätigkeitsvereins, es erregte Lachen, und ward, vermutlich durch den Fürsten von Schwarzenberg selbst, vor die Augen des Kaisers gebracht, dem der heitere Scherz gefiel, wie denn überhaupt alles Gemütliche Anklang in seiner ebenso erhabenen als einfachen Seele fand.

Aber es schien mir, als verdiene diese Erfindung der Rumfordschen Suppe, wenigstens für Länder und[241] Orte, die mit weniger Fruchtbarkeit und Wohlleben als unser Österreich gesegnet sind, eine ernsthaftere und würdigere Anerkennung. Dies gab mir die Idee zu der Idylle: Die Rumfordsche Suppe, die aber vielleicht nicht halb so viel Aufmerksamkeit erregte als jene komische Epistel.

Indessen, trotz aller aufrichtigen und edlen Bemühungen jener Herren vom Wohltätigkeitsvereine, gedieh das Suppekochen und Spenden in unserm gesegneten Wien, wo damals und noch lange nachher der Bürgermeister selbst, sehr bedeutsam, Wohlleben hieß, nicht recht. Den ärmern Klassen, so viel sie auch sonst jammerten und schrien, behagte die Nahrung eines bloß aus Erdäpfeln, Graupen und Erbsen gekochten Breies, der nur durch etwas geräuchertes Fleisch eine Annäherung an eine Fleischspeise erhielt, nicht lange. Sie holten keine Billette auf eine oder mehrere Portionen mehr ab, die man ihnen an Almosen statt hatte austeilen lassen. Das Kochen der Suppe hörte auf, und Rumford mit allen seinen gutgemeinten Anstalten, seinen gespannten Betten, Brühen, Kochöfen usw., die gewiß für ärmere Gegenden wohltätig gewesen wären, fand keine entsprechende Aufnahme in dem Lande der Phäaken, wie uns die sehr mäßigen Norddeutschen nennen, die sich indes, wenn sie in Wien sind, unsere Schnitzel und Rostbratel trefflich schmekken lassen, auch ganze Abhandlungen darüber ihren Reisebüchern einverleiben.

Schon damals also zeigte sich, was die neuere Zeit noch viel öfter und auffallender ans Licht stellt, daß es, trotz des Jammerns der niedrigen Klassen, und trotz der menschenfreundlichen Klagen so vieler wohltätigen Seelen, welche jenen alles aufs Wort glauben [242] und von Mitgefühl für ihre Not durchdrungen sind, daß diese Not in den allermeisten Fällen nur eine relative, nicht absolute war. Wäre wirklich Not im allgemeinen vorhanden gewesen, wie in der Schweiz und in Hamburg damals, so hätte die Suppe Abnehmer und Liebhaber gefunden. Es gehe jemand an Sonntagen oder Feiertagen ins Lerchenfeld, in den Wurstelprater, nach Hietzing zum Domayer, nach Tivoli, ins Krapfenwaldel usw.; kurz, wo möglich an einem Tage an alle Erlustigungsorte der höheren und besonders der gemeinen Klassen, und er wird sie alle zum Erdrücken voll finden, er wird diese gemeinern Klassen in Anzügen sehen, die durchaus keine Not auch nur vermuten lassen. Aber in den Briefen eines Verstorbenen steht eine Stelle, welche, wie mich dünkt, ein helles Licht auch auf unsere Bevölkerung und ihre Klagen wirft. Der Verfasser nämlich redet auch von den Klagen des englischen Volkes, von seiner Unzufriedenheit mit den Maßregeln der Regierung, besonders von dem ungestümen Jammern der Fabriksarbeiter. Aber er setzt uns sogleich auseinander, daß diese Klassen durch früheren reicheren Erwerb sich an ein solches Wohlleben gewöhnt haben, daß sie über Mangel und Not schreien, wenn sie nicht täglich ein- bis zweimal Fleisch und Kuchen zum Tee haben können. So weit haben wir es noch nicht gebracht; denn es ist bei uns nicht so viel Geld in Umlauf wie in England, ich halte mich aber für überzeugt, daß die zunehmende Teuerung ebenso sehr von dem steigenden Luxus der untern Klassen als von den erhöhten Steuern, welche die Regierung auferlegt, herrührt, und daß in den allermeisten Fällen, wie oben gesagt, von keinem Mangel an eigentlichem Lebensunterhalt, sondern nur an feinern Lebensgenüssen [243] die Rede ist, an welche sich der gemeine Mann immer mehr und mehr hat gewöhnen lernen. Viel hat bei uns die Zeit der Bankozettel zu dieser Steigerung der Genüsse und somit der Bedürfnisse in den arbeitenden Klassen beigetragen, indem diese im Verhältnis viel besser daran waren als die kleinern, ja selbst die etwas höhern Staatsbeamten. Ob nun dies ein Glück für die Nation zu nennen ist, wie viele Statistiker und Nationalökonomen behaupten, oder ob es zum sittlichen Verderben führt, wage ich nicht zu entscheiden. Kluge und erfahrene Männer stehen auf beiden Seiten und ich denke, daß noch

sub judice lis est.


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Pichler war in diesem Jahre 1802 bei der sogenannten Wohltätigkeitskommission unter der Leitung des Grafen Mittrowsky angestellt. Es sollte diese Kommission der immer steigenden Teuerung der notwendigsten Bedürfnisse steuern so wie der obenerwähnte Wohltätigkeitsverein; aber sie erreichten beide ihren Zweck nur in sehr geringem Maße, weil, wie ich glaube, in solchen Umständen, welche sich frei und organisch aus der jedesmaligen Lage der Dinge entwickeln, ebensowenig durch partielle Einwirkung abzuhelfen, als gegen den Strom zu schwimmen ist. Die Zeitverhältnisse, die langen und unglücklichen Kriege, die Finanzverwirrungen, die Devaluation des Papiergeldes aller Art, der steigende Luxus der untern Stände und einige unfruchtbare Jahre hatten jene Not herbeigeführt, und ihr zu wehren oder sie aufhören zu machen, lag außer dem Bereich menschlicher Kräfte. Teilweise wurde hier und dort nachgeholfen, so z.B.[244] dem immer fühlbareren Mangel an Brennholz für den ungeheuren Bedarf der Hauptstadt teils durch vorsichtige Vorkehrungen hier auf dem Platze selbst, teils durch Eröffnung neuer Zuflüsse aus den reichen Waldungen von Unter-, Oberösterreich und Steiermark. Zu diesen beiden Arten von Tätigkeit verwendete Graf Mittrowsky meinen Mann. Er mußte im Bureau über die Austeilung des Holzes an die Parteien wachen und von Zeit zu Zeit Reisen in die Gebirge unternehmen, um dort mit Zuziehung der Kreisbeamten, Wasserbaukundigen, herrschaftlichen Beamten usw. für Fällung des Holzes in noch unbenutzten Waldungen, Herausschaffung desselben durch Riesen, Wehren, Rechen usw. und Verführung nach der Hauptstadt zu sorgen. Diese Reisen wurden noch durch mehrere Jahre fast jeden Sommer wiederholt und boten uns später die erwünschtesten Gelegenheiten, die schönsten Gegenden dieser Provinzen zu besuchen, uns an ihren malerischen Ansichten, ihren geschichtlichen Merkwürdigkeiten zu erfreuen und gaben mir die Veranlassung und Szenerie zu manchen meiner Romane und Erzählungen.

Aber noch bedeutender und angenehmer wirkten diese Dienstverhältnisse auf Pichlers und somit auf mein Leben ein. Es war damals die Kreishauptmannsstelle in Korneuburg nach dem Abgang des Baron von Lederer erledigt. Pichler bewarb sich mit mehreren darum – er war nahe daran, sie zu erhalten, das hätte ihn und mich sehr glücklich gemacht, denn wir liebten das Land oder das stille Leben in einer kleinen Stadt, wo wir einen Garten und ein bequemes Wohnhaus gefunden hätten. Hier aber erhob sich ein peinlicher Widerstreit. Meine Mutter erklärte geradezu, sie würde nicht mit uns ziehen und ihr Haus in Wien nur[245] mit ihrem Tode verlassen. Ich aber zitterte vor dem Gedanken, die hochbejahrte und fast ihres Augenlichts beraubte Frau allein unter Dienstboten zu lassen; denn das wußte ich im voraus, daß einen ihrer Entschlüsse zu beugen oder zu ändern, ein fruchtloses Unternehmen sein würde. Da half mir Gottes Fügung durch Graf Mittrowskys Dazwischentreten. Er erklärte nämlich, daß er Pichler bei der Kommission nicht entbehren könne und verlangte daher und erhielt es auch, daß er hier in Wien bei der Landesstelle, deren Chef damals Graf Mittrowsky war, als Regierungsrat angestellt wurde. Nun hatte Gott geholfen. Pichler hatte eine sehr ehrenvolle Stufe in verhältnismäßig sehr kurzer Zeit – er war erst sechs Jahre Sekretär gewesen und erst überhaupt seit 17–18 Jahren angestellt – er stiegen; eine Schnelligkeit der Beförderung, die jetzt wohl selten einem Bürgerlichen zuteil wird. – Der Zwiespalt in unserm Hause war geschlichtet, wir blieben hier und bei meiner Mutter, und so löste sich alles in Freude und Beruhigung auf.


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Mein Bruder hatte sein geliebtes Weib verloren, aber er war ein blühender Mann von 28–29 Jahren, der bereits einen nicht unbedeutenden Posten, als Hofkonzipist, bekleidete, und der einiges Vermögen besaß, welches durch das Gerücht wie gewöhnlich viel größer ausgeschrien wurde. Es konnte daher nicht fehlen, daß allerlei Pläne auf seine Hand gemacht wurden, welche aber meist spurlos von seinem Herzen abglitten. Nur ein Mädchen, die Tochter eines uns weitläufig verwandten Hauses, gewann ihm durch große Herzensgüte, noch mehr aber durch die sichtlichen Bemühungen [246] ihrer Familie, dieses Band zu knüpfen, und es vor der Welt als ein schon geknüpftes erscheinen zu lassen, einige Aufmerksamkeit ab. Sie liebte ihn gewiß sehr und aufrichtig. – Sei es aber, daß das Bild seiner Verlorenen, die durch ein imposantes und wirklich würdiges Äußere, bei einer kühlen und mehr verständigen als liebevollen Gemütsart ganz das Widerspiel Theresens (so hieß jenes Mädchen) gewesen war, ihm zu lebhaft vorschwebte; sei es, daß eben jene zu auffallenden Bemühungen der Familie ihm widersagten: genug, nachdem einige Monate zwischen Hoffen und Verzagen, Annähern und Entfernen hingegangen waren, entschloß sich mein Bruder, diese Verbindung, welche ihm kein Glück, wie er es forderte, zu versprechen schien, lieber mutig zu brechen, als sich in unbefriedigenden Verhältnissen eine Weile hinzuschleppen, das Mädchen immer tiefer in eine, am Ende hoffnungslose Leidenschaft sich verwickeln zu lassen, und nach einem halben oder ganzen Jahre doch endlich zu dem Resultate zu kommen, das jetzt schon vor ihm lag, nämlich, daß sie beide nicht für einander paßten.

Mir tat dieser Entschluß sehr weh. Ich war Theresen herzlich gut und hatte gehofft, an ihr eine liebevolle, teilnehmende Verwandte zu erhalten. Auch sie empfand diesen Riß schmerzlich, sie hatte meinen Bruder innig geliebt, wie er es auch in jeder Rücksicht verdiente; denn er war unstreitig einer der vorzüglichsten Männer, die ich je gekannt, aber in seiner Phantasie, die nun einmal von dem Bilde seiner Verstorbenen erfüllt und beherrscht wurde, war Anstand und hohe Würde im Äußerlichen von dem Ideal eines vollkommenen Frauenzimmers untrennbar, und diese besaß Therese, bei vielen andern guten Eigenschaften, nicht. Es [247] war ihr tröstend, daß wenigstens ich mich nicht von ihr entfernte; wir blieben einander gut, aber ich mußte es höchlich mißbilligen und widerraten, als sie ein halbes Jahr darnach, vermutlich aus Dépit amoureux, den dringenden Wünschen ihrer spekulierenden Verwandten nachgab und einen reichen, verständigen, aber unliebenswürdigen Mann heiratete, der um dreißig Jahre älter als sie war. Als ich auf die erhaltene Nachricht zu ihr eilte, um, so weit es möglich wäre, ihr von diesem Schritte abzuraten, fand ich sie mit jugendlich mädchenhaftem Vergnügen beschäftigt, an ihre Aussteuer zu denken und sich der neuen Equipage zu erfreuen, die ihr vorgeführt werden sollte. – Ich dachte:

the best repenting in a coach of six!

sagte ihr zwar redlich, was ich zu sagen nötig fand, gab aber gleich jede Hoffnung auf, eine Verbindung zu hindern, welche von der ganzen Familie heftig gewünscht wurde, und die dennoch, wie ich es vorhergesehen, das arme Wesen in eine Kette von Schmerzen, Fehltritten und Unglück verwickelte.

Aber dieser Versuch, meinen Bruder zu einer zweiten Heirat zu vermögen, so ungünstig er ausgefallen war, blieb nicht der einzige. Indessen brachten uns diese Pläne doch auch manches Angenehme, indem wir dadurch mit mehreren Familien in nähere Beziehungen kamen, und überhaupt unser geselliger Kreis auch durch andere Mitglieder, die gerade nicht in jener Absicht unsere Bekanntschaft suchten, auf recht genügende Art vermehrt wurde.

Zu diesen muß ich vor allen die Familie eines Majors Baron v. Richler rechnen, die aus seiner Frau und ihren beiden unverheirateten Schwestern bestand. Der Major hatte während des Krieges in Heidelberg [248] diese, damals noch sehr hübsche, lebhafte und gebildete Frau geheiratet. Sie war ihm später nach Österreich gefolgt, und nach dem Tode ihrer kränklichen Mutter zogen auch die beiden jüngern Schwestern der verheirateten nach. Da sie in derselben Vorstadt wie wir wohnten, lernten wir sie zu unserm großen Vergnügen im Kempelenschen Hause kennen, wo mein Bruder sie zuerst sah und uns auf sie aufmerksam machte. Auch ein Herr Unger, ein zierlicher Dichter und recht gebildeter Mann, der in unserer Nachbarschaft lebte, schloß sich unserm Kreis an. Seine Frau, eine geborne Baronesse Karvinsky, war ihrer Entbindung nahe – sie baten mich, ihr Kind zur Taufe zu halten, ich tat es gern; es war ein Mädchen, sie erhielt meinen Namen, und wurde die berühmte Sängerin Carolina Ungher.

In dem Hause dieser Heidelbergerinnen machten wir bald die Bekanntschaft noch anderer, sehr ausgezeichneter Personen vom Militärstande – und aus allen diesen ganz gewöhnlich begonnenen Verbindungen erwuchsen uns treue, lebenslängliche Freunde, die, so lange sie auf der Erde oder wenigstens in unserer Nähe weilten, verläßlich und unveränderlich an uns hingen, und mit welchen, insofern sie noch leben, noch jetzt warme Bande gegenseitiger Achtung uns verbinden. Nebst jenen drei Schwestern muß ich vor allen den damaligen Hauptmann Baron v. Rothkirch, jetzt Graf Rothkirch und Feldmarschalleutnant, und das Haus des Obersten Baron v. Engelhardt nennen. Seine Frau, eine der vorzüglichsten ihres Geschlechts, deren Schwester, und ihre beiden Brüder, alle vier höchst ausgezeichnete Menschen, trugen sehr viel zur Annehmlichkeit unsers kleinen Kreises bei, und noch jetzt verbindet Achtung und gegenseitige Wertschätzung uns [249] mit den noch lebenden, aber entfernten Gliedern dieser Familie, und macht uns ihr Wiedersehen, wenn es einmal unvermutet stattfindet, zum frohen Feste. Ich ergreife gern diese Gelegenheit, um allen diesen hochgeachteten Freunden, die einen großen Teil meines Lebensweges mir verschönerten, noch jetzt nach mehr als dreißig Jahren meinen Dank dafür abzustatten, und überhaupt jener schönen, an so manchen geistigen Genüssen reichen Periode ein kleines dankbares Denkmal zu errichten.

Unser Haus wurde bald der allgemeine Vereinigungspunkt dieses ganzen Kreises, da die andern Familien teils durch die Beschaffenheit ihrer kleinern Wohnungen, teils durch Kränklichkeiten eines oder des andern Mitgliedes, teils endlich durch eigenen Geschmack sich nicht dazu geneigt fanden, jeden Abend zu Hause zu bleiben und Gesellschaft bei sich zu empfangen. Das war aber meine Mutter, sie, welche durch lange Jahre gewohnt gewesen war, jeden Abend in ihrem großen und ganz dazu geeigneten Appartement zahlreiche Gesellschaft sich versammeln zu sehen, und die es so ganz verstand, durch geist- und sinnvolle Unterhaltung, so wie durch Benutzung kleiner gesellschaftlicher Talente in ihrer nächsten Umgebung, ihren Abendzirkeln einen lebhaften Reiz zu geben. Ein paar Jahre her war durch Umstände und hauptsächlich durch unsere Umsiedlung in die Vorstadt diese Lebensweise unterbrochen worden, jetzt bot sich die Möglichkeit wieder dar, da wir Bekanntschaften in unserer Nähe geschlossen hatten, und nun ward das Haus der Frau von Greiner wieder der Mittelpunkt eines ziemlich zahlreichen, gebildeten und freundschaftlichen Kreises. Wir jüngern Leute unterhielten uns mit gesellschaftlichen [250] Spielen, mit Musik, welche manche in dem Kreise verstanden, wie denn z.B. mein Bruder sehr hübsch sang, die junge Kempelen und ich Klavier spielten, usw. Wir arrangierten im Fasching Picknicks, wozu unsere großen, hohen Zimmer passend waren, und machten im Sommer gemeinschaftliche Spaziergänge und Landpartien.

So ging das angenehme Leben ein Jahr oder zwei hin, als mein guter Bruder plötzlich von rheumatischen Schmerzen in der Seite befallen wurde, die er anfangs wenig achtete und durch den Gebrauch der Badner Bäder zu heilen hoffte. Aber trotz der vorübergehenden Linderung, welche ihm diese Kur verschaffte, stellten sich die Schmerzen wieder ein, und Gott weiß, welche sonderbare Ansicht seines damaligen Arztes, des berühmten Doktors Closet, diesen veranlaßte, meinem Bruder zu raten, alles warme Verhalten, welches er bisher beobachtet, fahren zu lassen, sich mit kaltem Wasser zu waschen usw. Mein Bruder befolgte den Rat dieses sonst sehr erfahrenen Mannes, und nach einer scheinbaren Besserung von wenigen Tagen stellten sich die Schmerzen in der Hüfte heftiger als je ein. Sie waren so stark, daß mein Bruder das Bett hüten mußte, und wie ein Märtyrer litt. Von diesem Augenblicke an ging sein Übel mit Riesenschritten vorwärts. In der vielleicht sehr wohlgegründeten Meinung, daß Closets Ansicht unrichtig gewesen, berief er nun andere Ärzte, und endlich, da aller Kunst hier an einem unheilbar gewordenen Übel zu schanden wurde, einen damals sehr jungen, aber seines Scharfblicks und seiner seltenen Kenntnisse wegen schon sehr ausgezeichneten Arzt, den Freiherrn v. Türkheim. Er war der Arzt einer unserer Freundinnen, die ihn meinem Bruder [251] empfahl, ein Mann von seltenem Genie, von unbesiegbarer Liebe zu seiner Wissenschaft, der er sich, gegen den Willen seiner Familie, mit beispielloser Anstrengung und Aufopferung gewidmet hatte; außer seiner ärztlichen Laufbahn mit der Literatur und allen schönen Künsten vertraut und über dies alles mit einem Herzen begabt, das warmen Anteil an den Leidenden zu nehmen, und denen, welche es einmal seiner Achtung würdig gefunden, durchs ganze Leben unveränderlich treu zu bleiben fähig war. Türkheim übernahm, durch jene Freundin vermocht, meinen Bruder als seinen Patienten. Er kam an, verordnete; es besserte sich nichts; bald darauf erfuhr ich durch eine andere gemeinschaftliche Bekannte, gegen die er sich offen geäußert, daß er wenig oder gar keine Hoffnung hege, meinen Bruder wiederherzustellen. Ich erschrak aufs heftigste, indessen schien mir die Sache so unglaublich, daß eine Krankheit, die höchstens ein schmerzhaftes chronisches Übel genannt werden kann, einem jungen Mann von dreißig Jahren, in aller Blüte seiner Kraft und bei sonst ungeschwächtem Körper tödlich werden sollte, daß ich mir meine Angst selbst mit allen Vernunftgründen ausredete, und die Äußerung des Arztes, den ich damals nur wenig kannte, für jenen gewöhnlichen Kunstgriff hielt, den Fall für bedenklicher auszugeben, als er wirklich war, um die Ehre der Kur zu vergrößern.

Täglich versammelte sich nun, so lange der Gesundheitszustand meines Bruders noch leidlich war, weil er es wünschte, und er in dem Umgang mit unserm gebildeten Freundeskreise seine einzige, aber auch recht tiefgefühlte Freude fand, dieser Kreis in seinem geräumigen Zimmer. Wir schwätzten, spielten Karte, andere [252] kleine Gesellschaftsspiele, die sich sitzend und ruhig spielen ließen, lasen, kurz wir hätten diese Art von geselligem Leben sehr genußreich nennen können, wenn nicht die Leiden meines armen Bruders, welche sich mit jeder Woche vermehrten, und einen immer erschreckenderen Charakter annahmen, mir vor allen, aber auch den übrigen Freunden, welche warmen Anteil an ihm nahmen, diesen Genuß verbittert hätten. Bewundernswürdig war die Geduld, ja der Starkmut, mit dem er selbst, dieser treffliche und von so vielen Schmerzen gequälte Mann, diese Leiden ertrug. Mitten in den heftigsten Qualen, wenn seine Gesichtszüge den Schmerz, den er litt, aufs schrecklichste zeigten, blieb sein Geist ruhig, und unmittelbar nach einem solchen Sturm, dergleichen sich nur zu oft erneuerten, kehrten seine Mienen zu ihrer vorigen Ruhe, sein Geist zu derselben Fassung, ja Heiterkeit zurück, die uns in manchen Augenblicken vergessen machten, daß wir um das Lager eines gefährlich kranken Freundes versammelt waren.

Nie wird der 30. November im Jahre 1803 aus meinem Gedächtnisse schwinden. Es war der Namenstag meines Mannes, und der gute Bruder wollte ihn, so gut er es vermochte, feiern. Aber gerade einen oder zwei Tage zuvor trat eine große Verschlimmerung in seinem Zustande ein. Ein Konsilium wurde für nötig erachtet. Sein Ausspruch lautete erschreckend für uns; nur der Kranke allein, obwohl völlig bekannt mit dem Inhalte desselben, blieb ganz ruhig. Die Ärzte hatten erklärt, das Übel habe sich aufs Rückenmark geworfen. Mein Bruder sah dies als eine Krisis an, die entweder zur Genesung oder zum Tode, und somit in jedem Fall zum Ende seiner schweren Leiden führen[253] mußte, und zeigte sich gerade an diesem Tage in einer Ruhe, ja in einer Heiterkeit des Geistes, die uns allen, welche nach dem Ausspruche der Ärzte nur an einen von diesen zwei Ausgängen – nämlich an den traurigen glauben konnten, unendlich schmerzlich war, indem wir in diesem heldenmütigen Betragen des Kranken einen neuen Beweis seiner edlen Denkart und seines kräftigen Geistes erkannten. Mit frommer Erhebung wünschte er meinem Manne zu seinem Festtage Glück, ermahnte uns beide zu unseren gegenseitigen Pflichten, und sprach von der baldigen Wiedervereinigung mit seiner Marie, der er in dem Fall, daß er nicht genesen sollte, mit Freuden entgegen sah.

So verging dieser Tag in schmerzlicher und doch erhebender Stimmung; aber ihm folgten bald traurigere. Das Übel nahm zu, die Kräfte des Kranken schwanden sichtlich. Seine Geduld, seine Geistesruhe blieben dieselben, und selbst seine Heiterkeit zeigte sich manchmal, wenn an einem Tage, wo die Schmerzen nicht gar zu heftig waren, die Freunde sich um sein Bett sammelten, und lebhafte Gespräche oder ein gesellschaftliches Spiel ihn zu zerstreuen fähig war. In den einsameren Stunden war ich, so viel es meine häuslichen Verrichtungen zuließen, bei ihm, ich las ihm vieles vor, unter anderm auch Gibbons Geschichte vom Verfall des Römischen Reiches. Allmählich aber sanken seine Kräfte so sehr, daß er sich jenes Vergnügen, die Gesellschaft bei sich zu sehen, versagen mußte, und nur einzelne durften dann und wann ihn besuchen oder wir spielten an seinem Bette ein Kartenspiel, und er dirigierte das meinige, da ich ohnedies jedes solche Spiel sehr schlecht spielte. Bald war er auch dieser armen Erholung nicht mehr fähig, und die Lektüre blieb seine einzige Zerstreuung. [254] Gibbon interessierte ihn sehr, und mit einer bewundernswürdigen Aufmerksamkeit und Geistesruhe ließ er sich von mir die d'Anvilleschen Landkarten der alten Welt vor sein Bette bringen, suchte die vorkommenden Orte auf denselben, zeigte sie mir, und ich mag wohl sagen, unterrichtete mich auf seinem Todbette mit eben der Klarheit und Ruhe der Seele, mit welcher er früher bei jeder Gelegenheit gehandelt hatte.

Mich empörte indessen die Art, wie Gibbon sich über die christliche Religion in jenem, übrigens berühmten Werke äußert, aufs Tiefste, und ich sammelte schon damals die Ideen, Ansichten und Beweggründe für das Christentum im Gegensatz des Polytheismus, die ich später im Agathokles verarbeitete.

Es vergingen zwei und endlich drei Monate auf dieselbe stille und schmerzliche Art. Mit düsterer Gewißheit sahen wir, wenn wir alles recht erwogen und die Aussprüche der Ärzte bedachten, dem Augenblicke entgegen, der dies achtungswürdige Leben endigen, und einem Geiste, welcher inmitten schmerzlicher Leiden alle seine Würde und Kraft bewiesen hatte, die Freiheit geben würde, sich zu seinem Schöpfer aufzuschwingen. Mein Bruder hatte auch mit der Ruhe und Besonnenheit, als wenn es jemand andern beträfe, alle Anordnungen für diesen Fall gemacht und mir übergeben. Ich wußte seine Andenken an seine Freunde, was ich jedem zu geben, zu senden hatte, die Anordnungen über sein Vermögen waren getroffen – ich zwar zu seiner Erbin ernannt, aber er hatte die Jugendfreunde, die er in beschränkten Verhältnissen wußte, so großmütig bedacht, als es der Umfang seines Vermögens erlaubte, und gewiß auch keines von seinen [255] Dienstleuten vergessen, welches er einer Unterstützung oder auch nur eines Andenkens wert hielt. Dennoch, so nahe mir die Vorstellung sei nes Verlustes dadurch in manchen Augenblicken gerückt wurde, war doch die Hoffnung, diese unermüdliche Gefährtin des Sterblichen, nie ganz in meinem Herzen zu vertilgen, und wenn wieder, wie öfters geschah, ein paar bessere Tage eintraten, die Schmerzen ausblieben und sein Geist sich mit besonderer Heiterkeit erhob, ja dann erhoben sich auch die Möglichkeiten, daß das Übel von der unverdorbenen Körperkraft des jungen Mannes dennoch besiegt werden, und eine, wenn auch langsame Genesung eintreten könne, wieder in meiner Seele, sie wurden zu Wahrscheinlichkeiten, und ich glaubte an das Glück, den trefflichen Bruder zu behalten. Diese hellere Aussicht schloß sich indes nach ein paar Tagen wieder, wie die Schmerzen und übrigen bösen Symptome wieder eintraten, die Hoffnung wurde aufgegeben, und dennoch abermals nach einiger Zeit gefaßt, um neuerdings verloren zu werden, bis endlich mit dem Anfange des Märzmonates tägliche Fieber anfingen, und sogar mehr als ein Paroxismus in einem Tage eintrat. Nun ging es mit furchtbarer Schnelligkeit abwärts – sein Aussehen war auf eine Art verändert, daß, wer ihn lange Zeit nicht gesehen, ihn nur mit Mühe erkannt haben würde; mir aber schwebt dies Bild mit allen seinen Schmerzen und den Empfindungen, die es damals in mir erregt, mit allen Szenen, die dabei vorfielen, nach viel mehr als dreißig Jahren noch immer hell vor den Augen meines Geistes.

Am 17. März 1804, an einem Sonnabend, machte endlich der letzte Tod, wie der römische Schriftsteller sagt: [256] Mors non ultima venit, quae rapit ultima mors est – nach einem siebenmonatlichen Leiden und langem Todeskampfe diesem edlen, nur mit Gutem beschäftigten Leben ein Ende. Er fand die Ruhe, die er so lange schmerzlich entbehrt, und auch ich dachte nun, nach so manchen Anstrengungen, Sorgen und Kummer, doch wenigstens einiger Stille zu genießen, in der die aufgeregten Kräfte, die stürmisch bewegten Empfindungen zur Ruhe gelangen sollten. Aber der lange getragene und verhaltene Kummer meiner Mutter, der ihre Ansichten, sei es aus philosophischem Stolz oder einer andern Regung, nicht erlaubt hatten, die Erleichterung einer Klage oder einer freundschaftlichen Teilnahme zu suchen, hatte nun, nachdem der letzte Schlag gefallen war, auch sein Werk in ihr vollendet. Am Tage, nachdem mein Bruder verschieden war, befiel auch sie ein Unwohlsein, welches sogleich in seinen ersten Symptomen viel Bedenkliches zeigte. Auch brach wirklich eine Lungenentzündung aus, die ihr Leben in Gefahr setzte, und mich nach einem erst so schmerzlichen Verlust in neue Angst und Bekümmernis stürzte. Baron Türkheim wurde gerufen; denn uns allen hatte der Tod meines Bruders nicht allein das Vertrauen auf ihn nicht benommen, sondern sein zweckmäßiges und teilnehmendes Betragen während dieser langen Zeit hatte unsere Achtung für ihn noch vermehrt. Er rechtfertigte dies Zutrauen vollkommen, da er sogleich erklärte, obwohl ich es, der gewöhnlichen Erfahrung gemäß, wünschte, daß der Kranken zur Ader gelassen werde, dies sei eine Krankheit, welche durch langen Kummer und Erschöpfung der Kraft erzeugt worden, und daher durchaus nicht wie eine gewöhnliche Entzündung zu behandeln. Trotz meiner Achtung für Türkheims [257] Wissenschaft im allgemeinen, vermochte ich doch meine Angst nicht ganz zu beschwichtigen; ich wollte ganz beruhigt sein, und mit Türkheims Erlaubnis berief ich den Doktor Closet, der schon früher für wichtigere Fälle unsere Zuflucht gewesen war, und sein Ausspruch bestätigte vollkommen das Urteil, welches Türkheim mit seinem Scharfblick, der ihn vor so vielen Ärzten auszeichnete, erkannt hatte. Er nannte die Krankheit eine nervöse Lungenentzündung, und fand bei der vorliegenden Ursache derselben und den hohen Jahren der Patientin eine Aderlaß nicht nur nicht anwendbar, sondern schädlich.

Wirklich besserte sich meine Mutter zu meiner unbeschreiblichen Freude bald wieder, die Heftigkeit der Krankheit brach sich an der zweckmäßigen Behandlung und ihrer trefflichen Konstitution, und nach drei Wochen vermochte die mehr als sechzigjährige Frau bereits, von uns unterstützt, in ihren Garten zu gehen, wo denn der eben eintretende Frühling und die vereinte Bemühung aller unserer Freunde und Freundinnen, die sie fleißig besuchten, ihre Genesung, Erheiterung und Beruhigung nach und nach bewirkten.


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Es war im Mai dieses Jahres 1804 ungefähr, als uns durch einen unserer sehr gebildeten Freunde, einen gewissen Herrn Köderl, der ein sehr geist- und kenntnisreicher Mann war, und bei dem Revisionsamte angestellt, sich in Berührung mit den meisten Literatoren Wiens befand, der nachmalige Professor und Geschichtschreiber Schneller vorgestellt wurde. Damals war Schneller ein junger Mann von einigen zwanzig Jahren, hatte wohl noch nicht die Bedeutung und den Ruf, [258] den ihm später seine Arbeiten wie seine Schicksale erwarben, aber er war auf jeden Fall eine interessante Erscheinung, und wurde bald einheimisch in unserm Kreise.

Etwa um diese Zeit oder vielleicht etwas früher trat hier in Wien ein junger Dichter mit einem Trauerspiele auf, das bei der ersten Erscheinung im Publikum die höchste Aufmerksamkeit erregte. Es war der Regulus, und der Ruf dieses Stückes sowohl als der Name seines Verfassers, des Herrn Heinrich von Collin, flog bald durch ganz Deutschland, erregte die schönsten Erwartungen, und in unserm Hause den lebhaften Wunsch, die Bekanntschaft desselben zu machen, da es ja von frühen Zeiten her bei uns zur Hausordnung gehörte, die ausgezeichneten Geister Wiens oder auch des Auslandes, wenn sie sich hier befanden, um uns zu versammeln. Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht umhin, die Bemerkung beizufügen, daß, so merkwürdig solche Männer auch oft als Gelehrte oder Künstler in der Welt durch ihre Werke erscheinen, nur sehr wenige sich im nähern Umgange auch als Menschen achtungs- und liebenswürdig bewährten. Noch weniger liebenswürdig aber, mit sehr seltenen Ausnahmen, fand ich von jeher die weiblichen ausgezeichneten Geister, die femmes supérieures, wie Frau v. Staël sie nannte und wich ihrer Annäherung immer gern aus, da sie mir als Frauen im Umgange fast nie zusagten.

Bei unserm Collin hingegen traf zu unserer großen Freude diese Bemerkung nicht ein. Ein anspruchsloseres, einfacheres, herzlicheres Betragen läßt sich bei einem so ausgezeichneten Talente kaum denken, und mit dieser offenen Herzlichkeit verband sich ein gründlicher Verstand, eine ausgezeichnete Geschäftskenntnis [259] (er war Beamter und damals Konzipist oder Sekretär bei der Hofkammer) und hohe klassische Bildung. So warm und herzlich wir ihm entgegen kamen, ebenso warm und herzlich wurde diese Empfindung von ihm erwidert, und ich darf es mit stolzem Gefühle sagen, der edle Collin, der in so vieler Hinsicht über seine Mitbürger hervorragte, war unser aller warmer, treuer Freund geworden, der meine Mutter, meinen Mann und mich herzlich achtete, und selbst meine Tochter, damals ein Kind von 8–9 Jahren, mit gütiger Zuneigung und oft – denn er hatte nicht die Freude, Vater zu sein – mit einer Art von liebevoller Wehmut betrachtete.

Haschka lebte damals noch, und Collin, ebenso wie der früher genannte Baron von Hormayr, schlossen sich mit Achtung an den gelehrten und viel erfahrnen alten Herrn, der seinerseits gern jedes junge Talent aufmunterte und mit Rat und Tat zu unterstützen liebte. Damals bildete sich gar ein schönes geistiges Leben um uns. Collin, Hormayr, Haschka, Köderl, Schneller und noch einige andere schriftstellernde Herren besuchten fleißig unser Haus, in welchem sich jeden Abend auch jene gebildeten Frauen mit ihren Familien einfanden, deren ich früher erwähnt. Gemeinschaftliche Lektüre der besten, eben damals erscheinenden Stücke von Goethe, Schiller, Werner usw. mit ausgeteilten Rollen, Musik, gesellschaftliche Spiele, im Fasching auch wohl zuweilen ein Tänzchen, das bei uns oder einer unserer Freundinnen statthatte, füllten unsere Abende aufs angenehmste aus. Vor allem aber war uns eine Art geistiger Unterhaltung, die wir freilich nur selten genossen, vielleicht mitunter schon deswegen, ungemein wert. Es waren die eben damals in [260] Schwung kommenden Deklamationen, das gesteigerte und mit eigentlich theatralischer Betonung belebte Hersagen schöner oder bedeutender Gedichte. Collin und Hormayr waren es, die uns diesen Genuß kennen lehrten und verschafften, indem sie manchmal einen Abend bestimmten, wo sich unser ganzer kleiner Zirkel bei uns versammelte, und die beiden Herren nun abwechselnd die vorzüglichsten Produkte unserer vaterländischen Schriftsteller mit meisterhaftem Ausdrucke vortrugen.


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Es war ein wunderschöner Sommerabend im August 1804, als eines Abends Schneller einen jungen Dichter, Herrn Karl Streckfuß, auf dessen Bekanntschaft uns einige in Almanachen und Journalen erschienene, höchst liebliche Gedichte begierig gemacht hatten, bei uns einführte. Karl Streckfuß, jetzt preußischer Oberregierungsrat, Ordensritter, Lehrer und Freund des Kronprinzen, Übersetzer des Ariost und Dante, war damals ein schlanker, hochgewachsener Jüngling von 24–25 Jahren, mit blondem Ringelhaar und blauen Augen, Hofmeister in einem Bankierhause hier in Wien – eine für uns alle erwünschte, angenehme Erscheinung; aber in der Welt noch kaum durch einige Klänge seiner Leier bekannt. Unserm Kreise wurde er es bald, wurde es auf der Stelle möchte ich sagen; denn er gehörte zu den wenigen Menschen (Körner war ebenso), die uns beim ersten Blick wie befreundet ansprechen – jede Spur der Fremdheit abstreifen, und uns das Bewußtsein geben, als sprächen wir mit einem alten Bekannten. Vielleicht ist es auch so. – Wer kennt die Geheimnisse der Geisterwelt und die Bedingungen [261] einer vielleicht frühern Existenz unserer Seele, in welcher sie sich an andere Seelen anzuschließen Gelegenheit hatte? Genug, Streckfuß ward sogleich einer der Unsrigen. Unter dem Schatten unserer hohen Lindenbäume, durch die die Abendsonne schimmerte, sagte er uns auf unsere Bitten einige seiner Gedichte, namentlich die Harmonien her, und wirklich waren diese Verse Harmonien – und harmonisch fühlten alle Freundinnen und Freunde, die zugegen waren, sich dem Sänger verbunden. Was der erste Abend verheißen hatte, hielt die Folge. Streckfuß wußte durch seine anziehende Persönlichkeit wie durch einen gebildeten Verstand und ein würdiges, höchst rechtliches Betragen, aller Achtung und Zuneigung zu erwerben, und er wurde bald meiner Mutter so wert wie meinem kleinen Mädchen, das mit kindlicher Wärme an ihm hing und das er sein Bräutchen nannte.

Es ist natürlich, daß der stete Umgang mit Männern wie Collin, Hormayr, Schneller, Köderl, Streckfuß, Rothkirch und andern auf mein Gemüt erregend und erhebend wirken mußte. Ich hatte früher bereits einige Idyllen geschrieben. Haschka, dem ich so vieles verdanke, was meine literarische Ausbildung vervollkommnete, und bei dem ich mir über meine Arbeiten gern Rats holte, hatte mir, mit sehr triftigen Gründen, vorgeschlagen, den Stoff zu einigen Idyllen aus der Bibel, das heißt, aus der Zeit der Patriarchen zu nehmen, deren Lebensweise den eigentlichen Forderungen der Idylle, wie Haschka meinte, vollkommen entspräche, indem sie ein ländliches und in seiner Ausbildung einfaches Leben mit Wohlstand und Sorglosigkeit verbunden, darstelle, gleichweit von städtischer Verfeinerung und bäurischer Roheit entfernt, und [262] durch religiöse Gesinnung und innigen Verkehr mit Gott dem Gemälde einen eigenen anziehenden Charakter gebe. Mir leuchtete diese Behauptung sehr ein, denn fromme Empfindungen und Schilderungen hatten mir von jeher zugesagt. Ich hatte zufällig damals Jahns biblische Archäologie bekommen; diese studierte ich, verschaffte mir eine Luthersche Bibel, der kräftigen Diktion wegen, und wählte mir nun einige Stücke, die mir zu solcher Bearbeitung am dienlichsten schienen. Vor allem nahm ich mir vor, das Buch Ruth auf diese Weise zu behandeln; dann sollten Stücke aus Abrahams Leben kommen, und recht mit Lust überdachte und durchsann ich diese Gegenstände.

Eines Abends, als wir alle wie gewöhnlich beisammen waren, und Literatur und Poesie auch wie gewöhnlich den Gegenstand unserer Gespräche ausmachten, äußerte Streckfuß, daß er gesonnen sei, das Buch Ruth als Idylle oder kleines erzählendes Gedicht zu behandeln. Das klang mir sehr unangenehm; aber ich schwieg, und vertraute nur meinem Manne, als wir allein waren, meinen Verdruß, weil ich nun glaubte, meinen Vorsatz aufgeben zu müssen, denselben Stoff zu bearbeiten, wie ich mir früher vorgesetzt. Aber Pichler war nicht dieser Meinung, er brachte diese Ansicht eines andern Tages in unserm Kreise vor, und Haschka, Schneller, ja Streckfuß selbst munterten mich auf, meinen früher gefaßten Plan nicht aufzugeben, und die Ruth doch zu bearbeiten, wenngleich ein anderer Kämpfer sich in derselben Bahn einfinden sollte. So ward denn beschlossen, daß wir beide – Karl Streckfuß und Karoline Pichler – um dieselbe Palme laufen und unsern poetischen Wettstreit in herzlicher Freundschaft beginnen sollten. Nun gab das recht [263] köstliche Abende alle Sonntage, wenn wir jedes, was wir in dieser Woche gearbeitet hatten, vorlasen; es versteht sich, daß der, der weiter gediehen war, und das war gewöhnlich Streckfuß, nicht weiter las, als der andere, meist ich, gekommen war. Seltsam und für den kleinen Kreis, der an uns beiden lebhaften Anteil nahm, anziehend waren dann die Beobachtungen, wie derselbe Stoff unter zweierlei Bearbeitung etwas so ganz Verschiedenes wurde, so daß die Ruth von Streckfuß in Wendung der Fabel, in Kolorit, Schilderung der Charaktere, Haltung des Tons usw. sich ganz anders gestaltete als die meinige. Fast möchte ich nach der jetzigen Klassifikation der poetischen Produkte sagen, Streckfuß's Ruth war romantisch, die meinige klassisch. Auf ihn hatte die damals beginnende Zeitrichtung als auf einen noch sehr jungen Mann mehr gewirkt, so wie denn seine ganze Poesie damals mehr musikalisch als rhetorisch war, und ihm die Sonette ganz vorzüglich gelangen. Auf mich, die ältere, hatte die neue Gestalt der Dinge weniger Einfluß gehabt, und durch eigentlich klassische Literatur gebildet, mit den Werken römischer und griechischer Schriftsteller (den erstern in der Ursprache) wohl bekannt, hatte mein Gedicht mehr einen antiken Ton und einen Anklang homerischer Art angenommen. Das sah ich wohl, daß auf die Damen unseres Kreises die Streckfußsche Bearbeitung mehr Eindruck machte, wie ihnen denn überhaupt die damals moderne Poesie zusagte, und einiges mochte wohl des jungen, hübschen Dichters Persönlichkeit beitragen. Doch gönnte ich dem Freunde gern diesen Vorzug, und war – gewiß nicht mit Unrecht, überzeugt, wie es auch der Erfolg bewiesen hat, daß auch meine Bearbeitung ihren Wert habe.

[264] So verging der Winter höchst angenehm und auch Tanz, Musik und andere gesellschaftliche Freuden kamen wieder an die Reihe, es war eine liebliche Zeit!

Im Frühling verließ uns Schneller, der eine Professur in Linz erhielt; dafür aber hatte Streckfuß, der seine Hofmeisterstelle aufgegeben, meine Mutter ersucht, ihm eine hübsche, aber von uns nicht gebrauchte Stube, das Zimmer meines seligen Bruders, das wir nicht benützten und selten und ungern betraten, zur Miete zu überlassen. Meine Mutter willigte mit Freuden ein. Sie hätte es ihm am liebsten unentgeltlich überlassen; aber dies nahm Streckfuß natürlich nicht an, und so wurde er denn unser lieber Hausgenosse und jeden Abend (den Tag über ging er seinen Geschäften oder Arbeiten nach) nebst Karl Kurländer, der auch bei uns wohnte, unser Gast bei dem mäßigen Souper.

Nachträglich muß ich noch erzählen, was der Faden der Geschichte im Sommer 1804 mich überspringen machte, daß ein Zufall, ich weiß nicht welcher, mitunter aber waren es auch Streckfuß lebendige Schilderungen schöner Gebirgsgegenden, die er uns mündlich mitteilte, in Pichler und mir den Vorsatz weckte, eine Gebirgsreise, und zwar nach Maria Zell zu machen. Pichler hatte in amtlichen Geschäften schon öfters die Gebirgsgegenden in Österreich ob und unter der Enns durchstreift. Er kannte die Wege, die Gegenden, die Distanzen genau, und so wurde denn beschlossen, daß wir uns auf den Weg machen und Maria Zell besuchen sollten, das, wie Pichler sagte, in einer sehr mäßigen Entfernung von anderthalb Tagen, bei trefflichen Straßen und bequemer Unterkunft, große Schönheiten darbiete.

[265] Nachdem wir uns hierzu entschlossen, nahm sich mein Mann vor, noch einen Zweck mit dieser Reise zu vereinigen und eine ihm sehr teure Schwester, die nur eine Tagereise noch weiter als Maria Zell in Steiermark lebte, zu besuchen. Auch dieser Vorschlag ward gern angenommen; meine Mutter, obwohl damals schon hoch in Jahren, erklärte, uns gern begleiten zu wollen, und so brachen wir denn an einem sehr schönen Augusttage im Sommer 1804, nebst unserm damals sehr kleinen Lottchen, auf, und fuhren über Mödling und Heiligenkreuz die etwas unbequemere, aber nach Pichlers richtiger Ansicht viel schönere Wallfahrtsstraße bis Lilienfeld.

Nur in meiner Kindheit, beinahe dreißig Jahre früher, hatte ich mit meinen Eltern dieselbe Reise, aber über St. Pölten gemacht, und außer den Leuchtkäferchen, welche auf dem Annaberg, den wir damals abends erreichten, zu beiden Seiten der Straße in den Gebüschen schimmerten, so, daß es mich bedünkte, als sei der gestirnte Himmel hier auf die Erde gesunken, hatte ich von jener ersten Fahrt kaum eine Erinnerung behalten. Daher war mir jetzt alles neu und alles wunderschön, und auch die Leuchtwürmchen fanden sich wieder ein und stickten das Ufer der Traisen, die uns hier rauschend durch die nächtliche Dunkelheit entgegenströmte, mit hellen grünlichen Funken. Wir fuhren das Stift, das in großen dunkeln Massen in der Nacht halb sichtbar dalag, vorüber und zu dem sogenannten Steg-Wirtshause, das eine Viertelstunde aufwärts vom Stift am Ufer des Flusses lag. Freundliche Menschen, reinliche Zimmer und Betten, eine einfache aber schmackhafte Abendkost fanden wir hier, und blieben, weil es uns hier so wohl gefiel, auch noch [266] den folgenden Tag, gingen in der Gegend spazieren, weideten uns an dem saftigen Grün der Wiesen und Wälder, an den tausend Blumen, die hinter jedem Zaun hervorguckten, und tranken abends im Schimmer der sinkenden Sonne im Garten des Wirtes, an dem die Traisen hinabrauscht, einen deliziösen Kaffee – lauter Genüsse, die ich in der Stadt entbehren mußte und die ich allen Freuden des glänzendsten Balles oder der recherchiertesten Mahlzeiten in den elegantesten Zimmern vorzog. Mir war köstlich wohl zwischen diesen Bergen, an diesem hellen, wilden Waldwasser, unter diesen einfachen Menschen und den Einwirkungen der großen, freien Natur, die ich recht mit Lust in mein Innerstes dringen ließ.

Am andern Morgen fuhren wir dem Laufe der Traisen entgegen, tiefer in die immer höher steigenden Berge hinein. Ein wunderschöner Weg, der bald an den Seiten der Berge hoch über dem, unter Fichten und Tannen dahinrauschenden Wasser führte, bald sich durch enge, wilde Täler schlängelte, zwischen deren himmelanstrebenden Felsenwänden nur für diesen Weg und den Strom daneben Raum war; jetzt sich durch eine schöne, grüne Gegend zog, wo die zurückweichenden Berge einen freundlichen Talgrund, mit ländlichen Hütten besetzt, einschlossen, und dann wieder an rauchenden Essen und pochenden Hämmern und weißbeschäumten Wehren vorbeiging, wo das Eisen, welches diese Berge enthalten, zu allerlei, dem Leben unentbehrlichen Gerätschaften verarbeitet wird.

So gelangten wir nach dem freundlichen Türnitz, wo den Wallfahrtern sogleich Frauen und Männer mit großen Körben voll niedlich aus verschiedenem Holze gedrechselter Kleinigkeiten, Heiligenbilder und Rosenkränze [267] entgegenkommen. Während die Pferde getränkt werden, kauft man allerlei solcher Spielsachen, Bilder usw. und dann geht es wieder weiter durch eben solche Täler, bis dahin, wo der Annaberg mit seinem ganzen mächtigen Umfang alles Weiterkommen, ausgenommen über seinen Rücken, versperrt. – Betroffen blickten wir hinan – da zeigten sich, halb im Tannenschatten versteckt, ein Kirchlein und ein paar Häuser auf dem Gipfel des Berges, und dahin richtete sich nun unser Weg, nachdem wir den Wagen verlassen hatten, von dem man unsere Pferde ausgespannt und andere, die schon zu diesem Behuf stets hier warten, vorgelegt hatte. Nicht ohne Sorge dachte ich an die Beschwerlichkeit, jetzt in der Mittagsstunde (es war elf Uhr) den nicht unbedeutenden Berg hinanzuklimmen. Es ging viel besser, als ich gedacht. Bald nahmen uns Waldesschatten auf, bald ruhten wir an einem kühlen Quell, und jeder Blick zurück auf die besonnten Saatfelder, in denen ein frisches Lüftchen wühlte, das auch unsere erhitzten Wangen fächelte, jedes Einatmen der reinen Bergluft bei kurzem Stillestehn erquickte uns so sehr, daß wir nach einer guten Stunde zwar erhitzt, aber durchaus nicht ermüdet, gerade unter dem heimisch klingenden Mittagsgeläute auf den kleinen Platz vor der Kirche traten, wo der Brunnen mit einem quellenden Wasser plätschert und ein einfaches, aber reinliches Wirtshaus uns und unsern Tieren Erholung und Labung verhieß.

Seit jenem Male haben wir in den folgenden Jahren diesen Weg noch öfters gemacht, und einmal kam mir der Wunsch oder vielmehr meine Kleine bat darum, mir ein Pferd mit jenem bequemen Sattel, der wie ein kleines Bänkchen gestaltet, eigens für wallfahrtende[268] Frauen bestimmt ist, zu mieten, und so den Berg hinan zu reiten. Die Kleine hatte ich auf dem Schoße, und Pichler, der nicht reiten wollte, folgte zu Fuß. Da kamen einige junge, wohlgekleidete Männer in bequemem Fußwandereranzug, ihre Röcke an Stöcken über den Schultern tragend, den Berg herab, uns entgegen. Sie betrachteten uns und lachend riefen sie mir zu: »Grüß dich Gott, Maria!« und wirklich mochte der Anblick einer jungen Frau mit einem Kinde auf dem Schoß, auf einem Tier, das durch seine Haltung dem Esel vielleicht mehr als einem Pferde glich, und dem ein Mann, der Vater und Gatte, zu Fuße folgte – wohl die Vorstellung einer Flucht nach Ägypten in den Wanderern erregt haben.

Einen hohen Berg hat man erstiegen, aber so wie man zu dem Brunnen hintritt, erhebt sich vor dem erstaunten Blick ein noch viel höherer Riese, der mächtige Ötscher, der uns hier mit seiner seitwärts, wie an einer Männernachtmütze, geneigten Spitze gegenüber steht. Nun ist man recht in der Gebirgswelt darin, und immer folgen schönere Naturszenen.

Wir überstiegen nun auch den Joachims- und Josefsberg; denn alle Bergspitzen tragen hier Namen aus der heiligen Sippschaft, und der letzte ist der höchste und schönste. Auf jedem Gipfel dieser Berge stehen Kapellen, und überall knien betende Wallfahrter und werden Heiligenbilder u. dgl. zum Verkauf ausgeboten.

Auf der Spitze des Josefsberges findet man seine Kutsche und Pferde wieder, die Vorspann wird zurückgesandt, und nun geht es über noch zwei, aber minder hohe Berge nach Maria Zell.

Durch Waldesschatten, an raschen Bächen, in engen Tälern, neben Eisenwerken führt auch dieser Teil des [269] Weges hin, bis sich plötzlich das weite Tal öffnet, in welchem der Wallfahrtsort liegt.

Jetzt, nach dem großen Brande, der vor mehreren Jahren den ganzen Ort in Asche legte, soll alles ganz anders sein; aber wie mich manche Reisende versichern, zwar stattlicher und moderner, doch bei weitem nicht mehr so heimlich und ansprechend als ehemals aussehen. Ich bin seit 16, 17 Jahren ungefähr nicht mehr dort gewesen, und schildere also bloß, wie ich es damals gefunden und empfunden.

Aus engen Wegen, die durch Waldesdunkel und Felsen führen, kommt man heraus – und nun liegt ein weites freundliches Tal vor uns, ringsumher von begrünten Bergen umschirmt, mit einzelnen Wohnungen belebt, die hier und dort aus Büschen hervorschauen, und im Hintergrunde glänzt uns auf der halben Höhe des Berges die Wallfahrtskirche, das Ziel unserer Wanderung, im Abendschein, der an den Türmen spielt, entgegen. Kann das nicht recht zum Bild der ganzen Reise dienen? Mühsam windet sich der Pilger, der Abhilfe seiner geistigen oder körperlichen Schmerzen am Gnadenorte sucht, durch die engen Wege und beschwerlichen Berge wie durch die Leiden, welche ihm Gott auferlegte, hindurch. – Der letzte Teil der Reise ist der beschwerlichste, so wie fortwährende Leiden dem Ermüdeten immer drückender werden. Aber nun hat er den Gnadenort erreicht, nun weichen die einengenden Wälder und Felsen zurück, nun ebnet sich der Pfad, der vorher mühevoll über Berge führte, Heiterkeit im weit offenen Talgrund und Ruhe im Goldschimmer des Abends empfängt ihn, und der helle, Schein glänzt von der Kirche her, woher er eben seinen Trost oder seine Heilung zu hoffen hat.

[270] Das waren die Empfindungen und Betrachtungen, die sich in mir regten, während wir auf gutgebahnter Straß ein den reinlichen, freundlichen Marktflecken hineinfuhren, und an einem der vielen guten und mitunter stattlichen Wirtshäuser stille hielten. Während dessen war die Sonne längst hinab hinter die hohen Berge (es war in der ersten Hälfte des August, wo sie nach 7 Uhr unterzugehen pflegt), die Dämmerung lagerte bereits über den fernern tiefern Tälern, nur die Türme der hochgelegenen Kirche faßten noch die letzten Strahlen, und als jetzt das Abendgeläute von ihnen herab zu erklingen begann, um die ganze, nach den Lasten des Tages in Stille und Frieden daliegende Gegend zum Gebet aufzufordern, da drängte es auch uns, in die stille, einsame Kirche einzutreten, die übrigens, meinem Geschmack nach, gar nichts Schönes und Erhebendes in ihrem Äußern hat, und wo bloß der kleine mittlere Turm und ein altes Schnitzwerk über der ebenfalls alten, laubenähnlichen Pforte an jene längstverflossene Zeit erinnert, wo die beiden Fürsten Ludwig, König in Ungarn und Heinrich, Markgraf von Mähren, deren Statuen am Eingang der Kirche stehen, den Gnadenort entdeckten und begründeten. Desto überraschender und ergreifender wirkte das Innere der Kirche auf mich. Es war bereits dunkel in dem hohen geräumigen Gewölbe – nur wenige Beter knieten hier und da auf den Bänken oder lagen ausgestreckt auf der Erde. Aber tiefer darin, dort, wo mitten in der großen Kirche die kleine Felsenkapelle und in ihr das Bildnis der heiligen Jungfrau steht – dort strömte ein heller Lichtglanz aus und wir folgten dem Schimmer, der uns anzog und leitete. Er kam von diesem Bild oder eigentlich von dem hellerleuchteten Altar, dessen Lichter [271] und Lampen sich in dem Glanz des Goldes und Silbers, der ihn schmückte, noch verdoppelten, und um die Kapelle her standen Engelgestalten aus Silber geformt auf hohen Fußgestellen, deren jede eine Lampe trug und ihr Licht mit den blendenderen in der Kapelle vereinigten. So strömte also aller Glanz, alle Herrlichkeit gleichsam von der Hochgebenedeiten aus, und unwillkürlich ergriff ein erhebendes, andächtiges Gefühl jedes Herz, das sich hier dem Heiligtum nahte.

Ich habe später die Empfindungen, welche auf dieser ganzen Reise und in der Kirche selbst mein Herz beschäftigten, in der Romanze: Maria Zell, welche der Legende gemäß den Ursprung des Gotteshauses erzählt, beschrieben.

Von Zell fuhren wir dann noch weiter in die Steiermark hinein, einen reizenden Weg durchs Mürz- und Murtal bis Leoben, wo eine Schwester meines Mannes mit ihrem Gatten, dem Konsistorialkanzler des Bistums, und einer blühenden, recht liebenswürdigen Tochter von 17–18 Jahren lebte. Aufs Liebevollste empfangen, brachten wir ein paar Tage dort zu und gewannen diese Nichte so lieb, daß wir beschlossen, die Eltern zu bitten, sie uns für einige Zeit nach Wien zu geben, was denn auch im nächsten Winter geschah, und sehr zu der Annehmlichkeit unsers häuslichen und geselligen Lebens beitrug.

Der Winter von 1804 auf 1805 war auf die oben geschilderte Weise dahin gegangen. Im nächstfolgenden Sommer führten wir, ebenfalls über Maria Zell, das uns so sehr angezogen hatte, die gute Nichte, unsere liebe Charlotte (denn in unserm Hause regierte dieser Name vor allen, und nebst meiner Mutter, Nichte, Tochter, hießen ich, Streckfuß und Kurländer, folglich alle Glieder [272] des Hauses, Pichler allein ausgenommen, nach einem Namen) wieder zu ihren Eltern zurück, nachdem sie beinahe ein Jahr mit uns gelebt hatte und uns allen lieb geworden war. Nun sind nicht allein ihre beiden Eltern, sondern auch sie bereits lange tot, und nur in unsern Erinnerungen leben ihre Bilder noch.

Der Herbst von 1805 fing an, sich wieder ernst und furchtbar zu gestalten. Der Krieg war aufs Neue ausgebrochen. Große Zurüstungen wurden gemacht, aber, was man allgemein gehofft und gewünscht hatte, geschah nicht. Dem Erzherzog Karl wurde das Kommando nicht übergeben, sondern dem General Mack, der freilich in frühern Feldzügen sich als einen verdienstvollen Feldherrn bewiesen, dennoch aber in dem italienischen Kriege und bei der Annäherung der Feinde im Jahre 1797, wo er zur Verteidigung von Wien geraten hatte, der Welt Ursache zu gerechtem Mißtrauen, nicht sowohl in seine Kenntnisse oder seine Bravour, als eigentlich in die Klarheit und Unbefangenheit seines Geistes, gegeben hatte. Denn seine heftigen Nerven- und Kopfleiden erregten nicht ohne Grund die Mutmaßung, daß seiner Ansicht oder seinem Urteil nicht allemal unbedingt zu vertrauen sei, und der Erfolg hat diese ängstliche Besorgnis nur zu sehr bestätigt.

Ein abscheuliches Herbstwetter, mit Kälte, Nebel und unaufhörlichem Regen, der den ausmarschierenden Truppen unendlich beschwerlich fiel, war schon das erste ungünstige Vorzeichen kommender Unglücksfälle. Des (damaligen) Kurfürsten von Bayern Widerspruch, der unsern Truppen, dem Heere seines Kaisers, den Durchzug durch sein Land weigerte, unter dem Vorwand, daß sein Kurprinz (der jetzige[273] König) sich in der Macht der Franzosen, und folglich, wenn des Vaters Teilnahme an den Feindseligkeiten ihnen mißfiele, in Gefahr befände, war der zweite Schlag, und mit ängstlich besorgtem Gemüte blickte man einer Zukunft und der Entscheidung eines Feldzuges entgegen, welcher schon unter so ungünstigen Umständen begann.

Napoleon hatte indessen schnell das Lager bei Boulogne aufgehoben, und seine Armee marschierte mit Sturmeseile nach Deutschland. Es fand die Affäre bei Ulm statt, Mack ergab sich mit der ganzen Armee, das Kavalleriekorps ausgenommen, mit welchem sich der Erzherzog Ferdinand mitten durch die französische Armee durchschlug, und nun war das Unglück des Feldzugs und Österreichs entschieden. Die Reste unserer Armee, die noch nicht ganz hinausgelangt waren, zogen sich mit der größten Schnelligkeit zurück, verfolgt von dem siegreichen, ungestüm nachsetzenden Feind; denn was unsere Armee getan hatte, um Bayerns späterklärte Neutralität zu respektieren, taten die Preußen nicht oder Napoleon achtete nicht darauf, und so durchzog seine Armee das Anspachische Gebiet und drang bis nach Österreich, bis Krems, wo der wackere General Schmidt ihnen noch mit der letzten Kraft tapfern Widerstand leistete und seinen Heldenmut mit seinem Tode besiegelte.

Mit Angst, mit bangem Zweifel und peinlicher Erwartung sah die Bevölkerung der Hauptstadt der Annäherung der Feinde entgegen. Wieder wie 1797 wogten die Gemüter im Sturme der Empfindungen auf und ab. – Dableiben oder flüchten? nach Böhmen oder Ungarn? auf wie lange? mit welchen Mitteln? welche Vorkehrungen hier zu treffen? Vergraben der [274] Habseligkeiten? Absendung des Kostbarsten nach Ungarn? das waren die ängstlichen Fragen und Zweifel, welche sich der meisten Geister mit unwiderstehlicher Gewalt bemeistert hatten, und sie wie auf empörten Wogen herum und oft gerade zum Widersinnigsten trieben, das sie dann mit Hast ergriffen und zu ihrem Schaden durchsetzten.

Von Tag zu Tage, ja von Stunde zu Stunde liefen beunruhigende Nachrichten ein, und im steten Hin-und Herschwanken zwischen Gehen und Bleiben und allen oft widersprechenden Maßregeln, die man zu treffen dachte, vergingen einige höchst bange Tage. Wir teilten indes diese große Unruhe nicht ganz, durch Erfahrungen anderer, besonders sogenannter Reichsglieder, belehrt, und durch eigene Überlegung hatten meine Mutter und wir bald die Überzeugung gewonnen, daß, selbst bei einer wirklichen Invasion des Feindes, da zu bleiben, wo unsere Häuser, unser ganzes Hab und Gut gelegen ist, gewiß das Sicherste und Rätlichste sei. Wir hatten also unsern Entschluß gefaßt und ließen nun mit Ergebung in den Willen der Vorsicht über uns kommen, was kommen sollte, fest überzeugt, wie es denn auch der Erfolg bewies, daß jene, welche sich von Wien entfernten, ohne durch ihre Dienst- oder andere Verhältnisse dazu bestimmt zu sein, gewiß ein schlimmeres Los erwählt hatten.

Es wurden also einige Vorräte angeschafft, mit Möbeln und Zimmern die nötige Einrichtung getroffen, um die ungebetenen Gäste aufzunehmen und bewirten zu können, und so vernahmen wir nach und nach mit Bangigkeit, aber ohne eigentlichen Schrecken, wie das gefürchtete Ungetüm des feindlichen Heeres sich uns immer näher wälzte. An eine Verteidigung der Stadt [275] wurde damals nicht gedacht, und nur der Übergang über die Donau sollte durch Abbrennen der Brücken dem Feinde erschwert werden; dazu war, durch Anhäufung brennbaren Stoffes auf denselben, alle Anstalt getroffen worden, und Fürst Auersperg war mit Vollziehung dieser Maßregel beauftragt. Der Hof und die Dikasterien hatten die Stadt bereits verlassen und sich nach Ungarn begeben. Es lagen nur wenige Truppen mehr in Wien, und diese wenigen waren mit jeder Minute des Befehls zum Aufbruch gewärtig. Die Familie Richler lebte seit einiger Zeit in der Kaserne der Alservorstadt, nicht weit von uns, wo der Major das vierte Bataillon organisierte. Da aber, so wie dies den Befehl zum Ausmarsch erhalten würde, die Frauen keinen Augenblick länger in der Kaserne hätten bleiben können, welche sogleich von den feindlichen Truppen besetzt werden mußte, hatten diese sich eine Wohnung in der Nähe gemietet und nach und nach alle Möbel, bis auf die allerunentbehrlichsten, dorthin bringen lassen. Sie selbst aber wollten den Gemahl und Schwager in diesem verhängnisvollen Momente nicht verlassen, und wir übrigen wünschten denn auch die Abende in dem gewohnten Kreise zuzubringen, und in so kritischen Tagen, wo jedes sich nach Mitteilung und Freundestrost sehnt, des Umgangs der werten Freunde nicht zu entbehren. Da also Richler die Kaserne nicht verließen, so brachten wir die Abende, auf Koffern und Packkörben sitzend oder auf einigen Stühlen, die jede Familie sich von ihren Bedienten nachtragen ließ, bei ihnen zu, und gerade dies Zigeunerartige, Seltsame unseres Beisammenseins würzte die Abendunterhaltungen.

Damals auch trat Herr von Weingarten, der sich späterhin in unsern geselligen Kreisen und in der literarischen [276] Welt als ein zierlicher Dichter zeigte, mancherlei Aufmerksamkeit erregte, und vor ein paar Jahren als Major in einem traurigen Zustande starb, als ein Jüngling von 17–18 Jahren ins Militär, und zwar in dem vierten Bataillon des Baron Richler ein, und niemand von uns ahnte die Auszeichnungen, die ihm einst von geistreichen Damen werden sollten.

Indessen waren die Feinde der Stadt ganz nahe gekommen. Die Truppen erhielten Befehl, schleunig auszumarschieren – der Augenblick der Trennung war da – das Bataillon und alles, was sonst noch von Militär in Wien lag, eilte über die Brücken hinüber aufs andere Ufer; dem anrückenden Kaiser der Franzosen wurde eine Deputation des Magistrates und der Bürgerschaft entgegengeschickt (ich glaube bis Sieghartskirchen) und ihm die Schlüssel der Stadt und diese selbst seinem Schutze übergeben. Am 14. November, dem Vorabende des Schutzheiligen unsers Landes, rückten – ein bitteres Zusammentreffen! – die Feinde in die Stadt ein und eilten sogleich durch und um dieselbe an den Strom.

Hier, glaubte man allgemein, würden sie durch die Vernichtung der Brücken sich aufgehalten finden, und dieses Hindernis, indem es ihren Zorn reizte, könnte vielleicht stürmische Auftritte wenigstens in jenen Teilen der Vorstädte veranlassen, welche der Donau zunächst lagen. – Ach! es lief alles ganz und gar anders und sehr friedlich ab, denn die Brücke blieb stehen! Ein Faktum, das man schwer begreifen kann, das aber leider doch wahr war. Fürst Auersperg hatte sich unbegreiflicherweise vom General Murat (König von Neapel) täuschen lassen, als wäre das Nichtabbrennen der Brücke in den Bedingungen der Übergabe der[277] Stadt mit eingeschlossen gewesen. Der Fürst nahm das Wort des feindlichen Befehlshabers als unbezweifelbare Wahrheit an; die französische Armee eilte mit Sturmesschnelligkeit auf das andere Ufer, und alle Familien, welche teure Angehörige unter den zuletzt entfernten Truppen hatten, zitterten mit Recht für diese, deren Gefangenschaft und vielleicht üble Behandlung sie bei der damaligen Sitte oder Unsitte der noch halbrepublikanischen Armee fürchteten. Einige Tage vergingen, während welcher die Feinde in Wien einrückten, sich in der Stadt und den Vorstädten ausbreiteten, und dann erst vernahm man, daß die zuletzt ausgerückten österreichischen Truppen in Sicherheit waren.

Es war Abend, der 15. November, eine heitere, kalte Winternacht, als man uns, wie wir im kleinen Freundeskreise beisammen saßen, die erste französische Einquartierung meldete. Alles stand für ihre An kunft vorbereitet, meine Mutter schickte mich hinab, sie an der Tür zu empfangen. Unwillkürlich schüttelte mich ein krampfhafter Schauer – es war nicht Furcht, denn was hätte ich im menschenvollen Hause, wo sich viele Männer befanden, von ihnen zu besorgen gehabt? es war die Vorstellung dieser schmerzlichen Lage, die Demütigung meines Patriotismus, das gehässige Gefühl gegen diese Übermütigen, die nun den Fuß auf unsern Nacken setzen durften! Zwei Offiziere, Männer von mittleren Jahren, deren einer Derüe, der andere Trembly hieß, jener Kapitän, dieser Major war, von ihren Bedienten begleitet, welche vor der Türe die Pferde hielten, standen vor mir. Ich begrüßte sie französisch und bemerkte sogleich, wie der heimatliche Klang günstig auf sie wirkte. Sie benahmen sich artig, der [278] Major sogar mit Feinheit, und so lief denn die erste Bewillkommnung ziemlich gut ab. Beim Nachtessen erschienen die Offiziere, ein nicht unangenehmes, recht lebhaftes Gespräch entspann sich. Sie kamen unmittelbar von Boulogne nach Deutschland in Eilmärschen und hatten kaum die nötige Wäsche und Fußbekleidung, weil alles auf dem forzierten Marsche zugrunde gegangen war. Derüe, ein Fünfziger, wahrscheinlich von gemeiner Abkunft, war mit Leib und Seele Republikaner. Der gebildetere Major schien heller zu sehen. Jener nannte, als die Rede auf Napoleon kam, ihn: notre premier magistrat. – Il a au moins de belles gages! erwiederte der Major.

So hatten wir denn das Schmerzliche erlebt! Unsere Residenzstadt, der Wohnort der Kaiser, der zweimal den Angriffen der Türken widerstanden hatte, war in die Macht eines fremden Volkes gefallen, und diese Blauen, die Kinder einer Nation, gegen welche ich von Kindheit an stets eine fast angeborene Abneigung empfunden hatte, waren nun unsere Sieger und Herren! Als ich ein paar Tage darauf in die Stadt kam – wie bitter war mir dieser Anblick! Zwar an den Stadttoren stand kein französisches Militär, die Wachtposten hier so wie überall waren dem Bürgerkorps, unserer Nationalwache, übergeben; aber diese verhaßten Blauen schwärmten überall herum, und – ich muß es bekennen, wenn man es an einer Frau auch tadelnswert finden würde, der Wunsch des Kaisers Nero, daß sie doch alle nur einen Hals haben und ich ihnen den abschlagen könnte, stieg in mir auf. Ich haßte sie aufs Bitterste. Man erzählte dann später, daß es sie sehr befremdet und ihnen zugleich imponiert habe, zu sehen, wie an dem Tage ihres Einmarsches, am 14., kein [279] Kaufladen geschlossen, die Bürgerwachen überall auf ihrem Posten waren und die Einwohnerschaft still und gemessen, höchstens von Neugier sichtlich bewegt, dem Durchmarsch des fremden Heeres wie einem Spektakel zusah.

Unsere Einquartierten verließen uns nach einigen Tagen um, au delà du Danube, das heißt, nach Mähren zu eilen; denn bei der wirklich unbegreiflichen Unbekanntschaft der damaligen Franzosen mit der Geographie fremder Länder hieß ihnen Korneuburg und Brünn, der Manhartsberg und das Riesengebirge bloß au delà du Danube. Es kamen nun andere Truppen, und in unsere Vorstadt ein holländisches Regiment, dessen Oberster, mit Namen Bruce, bei uns einquartiert wurde. Nichts war auffallender als der Kontrast der französischen und holländischen Gestalten, so wie das Benehmen der Franzosen und Holländer selbst. Jene leichten, schlanken, dunklen Männer, mit dunklen, lebhaften Augen und sprechenden Zügen, wenn gleich das, was diese Züge aussprachen, nicht immer etwas Gutes oder Vertrauenerweckendes war, hatten großen, starken Figuren mit blonden Haaren Platz gemacht, deren Ehrlichkeit und Phlegma, Wohlsein und Arglosigkeit aus den freundlichen Augen und den blühenden Gesichtern schaute. Wir waren wohl mit dem Tausche zufrieden, und hatten an dem Obersten einen bescheidenen, ruhigen Hausgenossen und einen höchst gebildeten und artigen Gast bei Tische und in unserm Abendkreise gewonnen. Von ihm erfuhren wir, daß seine Familie ein Zweig des ehemaligen schottischen Königshauses war, der sich – per varios casus – in Holland, zu Leyden, niedergelassen; daß aber fortwährend ein Zusammenhang zwischen ihnen und den [280] Bruces in Schottland erhalten und jede Geburt eines Knaben dort gemeldet werden müsse. Wie oft sprach der rechtliche, teilnehmende Mann über die Zeitumstände offen mit uns, und über den Druck, den er willenlos über ein fremdes Land bringen helfen müsse, indes daheim in Holland derselbe Druck auf ihm und den Seinigen laste!

Gegen drei Wochen erfreuten wir uns seiner angenehmen Gesellschaft, während seine Leute mit großer Bonhomie und Freundlichkeit unsern Dienstleuten überall hilfreich an die Hand gingen. Endlich mußte auch er uns verlassen, die Schlacht von Austerlitz wurde inzwischen geschlagen, das Schicksal des Krieges und somit das unsers Vaterlandes war entschieden – Tirol, das edle, treue Land, schnöde abgerissen und an Bayern, zum Lohne der Abtrünnigkeit, womit das: Münchner Kabinett den Fürsten Schwarzenberg, der an dasselbe gesendet worden war, hingehalten, und den Truppen unsers Kaisers, des damaligen Reichsoberhauptes, den Durchzug verwehrt hatte, hingegeben.

Wohl erinnere ich mich noch mit bitterm und wehmütigem Gefühl jener für Österreich und somit für uns alle höchst traurigen Epoche. Es war an dem Tage, als die Nachricht von jener Unglücksschlacht (bei Austerlitz) in Wien bekannt wurde, daß ich zu einer Freundin (eben jener Therese V.d.N., die einst meines Bruders Frau hätte werden sollen) gebeten war, um mit zwei merkwürdigen Männern jener Zeit, mit dem Tonsetzer Cherubini und dem lieblichen Sänger des Romeo, Crescentini, bei ihr zu speisen. Die trübe Nachricht, welche sich allmählich in der Stadt verbreitete, verbitterte uns zwar alles Vergnügen einer [281] geistreichen Unterhaltung, dennoch blieb mir die Erinnerung an die Persönlichkeit und das Betragen dieser beiden merkwürdigen Künstler lebhaft eingeprägt und sehr wert.

Cherubini war ein junger Mann von etwa dreißig Jahren. Ein feiner Wuchs von mittlerer Größe und geistreiche Züge, welche den Italiener kenntlich machten, zeichneten sein Äußeres vorteilhaft aus. Im Gespräche zeigte er Verstand und Bildung – mehr, wie gewöhnlich Kompositoren besitzen. Er erzählte uns viel von der Schreckenszeit in Frankreich, die er als sehr junger Mensch mit erlebt, und in allem, was und wie er es sagte, zeigte sich ein richtiger Verstand und feines Gefühl. Aber viel mehr und tiefer fühlte ich mich von Crescentinis Wesen angesprochen. Auch sein Äußeres war vorteilhaft; etwas größer und bedeutend stärker als Cherubini, sprach sich in allem, was und wie er es sagte, ein zartes Gefühl und ein tiefes Gemüt aus, dem ein Anstrich von Melancholie, welche über sein ganzes Wesen verbreitet war, noch mehr Reiz erteilte. Mit warmer Teilnahme äußerte er sich über das Unglück, welches Österreich bereits getroffen hatte und uns noch bevorstand, und wenn uns Cherubini nur als ein feinfühlender Mensch von der feindlichen Partei schonend und billig gegenüber stand, so schien Crescentini unsere Sache zu der seinigen gemacht zu haben, und mit uns tief und schmerzlich zu fühlen. Das gewann ihm denn ganz meine Dankbarkeit, und noch jetzt denke ich, nach dreißig langen Jahren, mit Vergnügen jener beiden interessanten Bekanntschaften.

Die Einquartierungen wechselten nun öfters in unserm Hause, in welches man, so wie überhaupt in die[282] benachbarten Häuser, gern die Rekonvaleszenten verlegte, welche in den Affären verwundet, im nahen Spital geheilt, und nun zu besserer Pflege bei den Einwohnern einquartiert wurden – ein Verfahren, welches man auch im Jahre 1809 beobachtete. Nur einer von diesen Blessierten, ein Stabsoffizier, Guy mit Namen, zeichnete sich unter den übrigen durch ein feineres Betragen aus, und wurde denn auch wie der holländische Oberst in unsern Abendzirkeln einheimisch. Er war jung, wohlgebildet, artig; seine Verwundung am Arme, die ihm fremde Gefälligkeit notwendig machte, und ein etwas düsterer Sinn, gaben ihm in den Augen unserer jungen Damen einen höheren Wert, und besonders zeichnete ihn eine unter uns, die selbst durch Schönheit und Geist vor allen strahlte, Frau von Kempelen, beifällig aus, indes zu gleicher Zeit unser Freund und Hausgenosse Streckfuß ebenfalls von ihr angezogen wurde.

Ich besaß ein seltenes, aber sehr vorzügliches Instrument, organisiertes Fortepiano genannt, das zugleich Klavier und Positiv war, und das man auf jede dieser Arten einzeln oder auch zusammen benützen konnte, was denn einen sehr angenehmen Effekt machte, wenn der melodische Hauch der Orgelpfeifen sich mit den Saitenklängen des Fortepiano verband. Frau von Kempelen, die Gemahlin des Sohns jener alten Freunde unsers Hauses, welche schon lange in unserer Nähe lebten, spielte sehr schön Klavier; Streckfuß sang angenehm, noch einige Mitglieder unseres Kreises und ich selbst waren musikalisch, es wurde also abends die Zeit sehr oft mit Musik verkürzt; denn damals waren die Forderungen an die Leistungen der Dilettanten nicht so hoch gespannt als jetzt, und man [283] konnte sich mit Beifall unter seinen Freunden hören lassen, wenn man auch nicht imstande war, eine Bravourarie zu singen oder sich im Theater auf dem Fortepiano zu produzieren. Unser Franzose liebte Musik, er forderte uns oft auf, welche zu machen, und mancher Faden mag sich damals aus den Augen der schönen Frau und aus ihren Tönen um sein Herz geschlungen haben. Doch der Friede wurde in Preßburg geschlossen – die feindlichen Truppen bekamen Befehl, aufzubrechen – und eines Morgens war auf den Theateraffichen (vielleicht nur aus Zufall) eben der Tag der Erlösung! von Ziegler angekündigt, wo denn auch die Last der feindlichen Besatzung von uns genommen ward.


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Allmählich kehrte wieder alles in sein gewohntes Geleise zurück. Im Jänner des Jahres 1806 kam der Hof aus Ungarn zurück und der Kaiser hielt einen feierlichen Einzug in die wieder gewonnene Stadt. Die Bürgerkorps, alle diejenigen, welche sich während der feindlichen Besitznahme als unsere natürlichen Beschützer erwiesen hatten, genossen auch der Ehre, den Monarchen zu empfangen. Ihre zahlreichen Scharen waren bis in die Leopoldstadt aufgestellt, und ein herzliches und lautes Jubelgeschrei verkündete und begleitete den Einzug des Monarchen, dessen erster Weg nach der St. Stephanskirche zum Tedeum war. Es war ein schöner Tag – dieser Tag der feierlichen Rückkehr! – Meinem Gefühle nach wurde er von einem ähnlichen, aber viel merkwürdigern, am 27. November 1809 weit übertroffen. Doch davon später. – Unser Leben gestaltete sich, seit die Feinde entfernt waren, [284] wieder auf seine gewohnte Weise, aber im Innern einiger Gemüter waren bedeutende Veränderungen vorgegangen. Die Neigung, welche Frau v. K. zuerst für unsern liebenswürdigen Dichter gefühlt, hatte antwortende Flammen in seiner Brust entzündet. Zu seinem und ihrem Glücke hatte diese Leidenschaft seinem klare Besonnenheit und den redlichen Ernst seiner Gesinnung nicht überwältigen können. Er empfand die Gefahr, die ihm und ihr drohte, er ehrte ihr häusliches Glück, ihren Ruf, und er beschloß, sich loszureißen, Wien zu verlassen und nach seiner Vaterstadt Zeitz zurückzukehren. Wer den jungen Mann so kannte wie ich und einige wenige in unserm Kreise, wer wußte, wie angenehm er hier in der großen Stadt in mannigfachen geselligen und literarischen Beziehungen, geliebt und geachtet von allen, die ihn kannten, so recht nach seinem Sinn gelebt hatte, der konnte die Größe des Opfers, das er dem anerkannt Rechten brachte, ermessen. Freilich, nach der damals beginnenden und jetzt allgemein gewordenen Mode war es nicht. Dann hätte er bleiben, die unüberwindliche Leidenschaft hegen und pflegen, Szenen veranlassen, die Ehe zerreißen machen, und vielleicht am Ende durch einen Selbst- oder Wechselmord das moderne Trauerspiel beschließen sollen. Davon tat nun freilich Streckfuß nichts; – aber er handelte als rechtlicher Mensch.

Uns übrigen tat sein Entschluß sehr wehe. Wir hatten uns mit Liebe an ihn gewöhnt; wir hatten gehofft, er sollte hier in Wien sich mit seinen bedeutenden Talenten eine ehrenvolle Bahn eröffnen, wie er es später in Dresden und Berlin wirklich getan, und auf diese Weise bei seinen hiesigen Freunden bleiben. [285] Aber keines von uns konnte ihm seinen Entschluß verdenken, wir mußten ihn darum nur höher achten, und so sahen wir denn mit schmerzlichem Vorgefühl der nahen Abreise des werten Freundes still gefaßt entgegen.

Es war der 11. April 1806, ein Freitag. Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, da saßen wir alle, die Freundinnen, welche uns täglich besuchten, und ich um meine Mutter her, neben deren Kanapee Streckfuß seinen gewöhnlichen Platz einnahm, in stiller, banger Erwartung des kommenden Augenblicks, der uns, wie wir nicht mit Unrecht dachten, den Freund für immer zu entziehen bestimmt war. Es schlug 7 Uhr – da sprang Streckfuß auf – umarmte uns alle mit einzelnen Lauten von Lebewohl – und verschwand. Erst acht Jahre darauf sahen wir ihn ganz unvermutet im Kongreßwinter wieder.

In unserm Kreise war nun eine große Lücke gelassen. Sie hat sich auf diese Art, in diesem Sinne nie mehr ausgefüllt, wie denn kein Mensch, und wäre er auch nicht so ausgezeichnet wie Streckfuß, je ganz durch einen andern ersetzt wird. Dieser Remplaçant kann manche bessere, angenehmere Eigenschaften haben, der Abgegangene ist er doch nicht. Hier fehlt etwas – dort ist etwas zu viel. Das merkt man im Anfange gleich und oft schmerzlich. Nach und nach gewöhnt man sich an diese neue Persönlichkeit, und beruhigt sich über das, was nicht mehr so ist wie das früher Dagewesene. Ist aber der Entrissene ein Ausgezeichneter, sind uns seine trefflichen Eigenschaften im nähern Umgange recht klar geworden, haben wir uns mit Liebe an ihn gewöhnt, und sind wir versichert, daß auch er uns liebevoll in sein Herz geschlossen, dann [286] handelt es sich beim Verluste nicht um die oder jene einzelne Eigenschaft, die der Freund besaß und die wir fortwährend vermissen, sondern die Lücke bleibt ganz unausfüllbar, und nach dreißig Jahren lebt in dem Entfernten wie in dem Zurückgebliebenen noch dieselbe Überzeugung wie dieselbe Freundschaft fort.


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Mein Mann hatte durch die Art seiner Geschäfte öfters Veranlassung, kleine Reisen in den Gebirgen von Unter-Österreich und Steiermark zu machen, wo er die Wälder zu besehen, von Kreis- und Forstbeamten begleitet, die Lokalitäten zum Fällen, und zur Transportation des Brennholzes für den Bedarf der Hauptstadt und die nötigen Vorrichtungen und Vorkehrungen zu diesem Zwecke anzuordnen hatte. Auch in diesem Sommer von 1806 fiel eine solche, etwas längere Reise vor, und diesmal nahm Pichler auch mich, meine Mutter, die sich nicht gern von uns trennen mochte, und für ihr Alter noch sehr rüstig war, und unser kleines Töchterchen mit. Auch eine liebenswürdige Freundin, Frau v. S–l, die aus Ober-Österreich gebürtig war, seit ihrer Verheiratung in Wien gelebt hatte, und im vergangenen Winter Witwe geworden war, wollte mit uns zu gleicher Zeit einen Teil dieser Reise machen. Eine Unpäßlichkeit hinderte unsere gleichzeitige Abreise, ich traf sie erst in Linz wieder, und wir hielten uns, während Pichler seine Exkursionen machte, bei dem Lehrer meiner Jugend, jenem Bischof von Linz, den ich das erstemal 14 Jahre früher mit meinen Eltern und meinem Bruder besucht hatte, auf seinem Schlosse Gleink, unfern von Enns, auf. Ein stiller, einsamer Aufenthalt, der uns ein gewisses[287] wehmütiges Gefühl gab. Bischof Gall war wohl noch ganz derselbe treue Freund und gütig aufmerksame Wirt für uns, der er in jener Epoche gewesen; aber seine Geistesheiterkeit und seine körperliche Gesundheit hatten durch die Zufälle, Schrecken und Befürchtungen der langen Kriegsjahre, welche früher seine Familie in Schwaben, und ihn nun selbst bei zwei Invasionen in Oberösterreich getroffen hatten, so sehr gelitten, daß wir uns die traurige Überzeugung nicht verhehlen konnten, der verehrte Freund wanke dem, Grabe zu, und wir sehen ihn obwohl sein Alter noch vieles hätte können hoffen lassen (er hatte die Fünfzig kaum überschritten), diesmal zum letzten Male. Diesem Manne hatte und habe ich viel zu verdanken. Er war mein Lehrer in der Religion und der nahe damit verwandten Naturlehre; er pflanzte Keime in mein Herz, die spät noch mir segensreiche Früchte der Gottergebenheit und Zufriedenheit trugen. Dort – wo er schon lange ist und ich ihm wohl bald nachfolgen werde, wird ihn Gott dafür belohnt haben; denn er hat nicht bloß an mir, sondern an vielen Gutes geübt, und das Land segnet noch sein Andenken.

Auf jener Reise kamen wir auch nach Stift Florian, wo ich 14 Jahre früher ebenfalls gewesen war, als eben der Prälat Michael Ziegler, der uns jetzt 1806 wieder aufnahm, zu seiner Würde erhoben wurde. Hier lernte ich auch den, nachmals durch seine historischen Forschungen so sehr ausgezeichneten Chorherrn Franz Kurz kennen, wie denn überhaupt in diesem Stifte Männer von hoher Geistesbildung und mannigfacher wissenschaftlicher Richtung lebten und zum Teil noch leben, so daß es mich oft bedünkte, ich befände mich nicht in einem Kloster, sondern in einer[288] Akademie, in der mehrere Gelehrte oder sonst gebildete Männer sich in ihren Bestrebungen zu höhern literarischen Zwecken vereinigt hätten. Auch für die schönen Künste geschah manches – Dichtkunst und Musik wurde hier getrieben, und die Stiftsbibliothek hat vor andern ihresgleichen den Ruhm einer musterhaften Ordnung und eines steten Fortschreitens mit der Zeit. Mit Herrn Kurz, dessen lebhafte, geistreiche Unterhaltung mich sehr anzog, war ich indessen in ewigem Streite, da seine klaren, aber wohl etwas nüchternen Ansichten vom Mittelalter und der Poesie überhaupt, den meinigen gerade entgegengesetzt waren. Den würdigen Prälaten, einen ebenso gelehrten als höchst verehrungswerten Mann, belustigte unsere Opposition. Er veranlaßte daher fast bei jeder Mittagstafel eine solche Erörterung unter uns, und ging im Scherze so weit, zu fordern, ich sollte meinen Streit nach allen Regeln der Dialektik, nach den Schlußformeln des Barbara celarent usw. führen. Das gab denn allen vielen Spaß, und so verflossen in geistreicher Unterhaltung, in musikalischen Genüssen (jeden Abend nachdem Souper, das schon um 7 Uhr statt hatte, wurde in unsern Zimmern Musik gemacht) und den einfachen Freuden des Landlebens mir einige köstliche Tage.

Ich hatte damals eben angefangen, an meinem Agathokles zu arbeiten. In Stift Florian erzählte man mir, daß der Schutzpatron desselben, jener geharnischte Heilige mit dem Wasserkruge, den er über ein Haus in Flammen ausgießt, und sich so als ein Retter in Feuersgefahr kund gibt, und den man in Österreich besonders auf dem Lande vielfach abgebildet und vermehrt findet – daß dieser Heilige ein römischer Zenturio gewesen, und hier bei der Verfolgung unter Kaiser [289] Diokletian in den Fluten der Enns den Martertod erlitten habe. Das gefiel mir, mein Plan zum Agathokles war noch nicht ganz ausgearbeitet. Ich konnte die vaterländische Legende recht wohl in denselben verweben. Ich fragte also näher nach, und Herr Kurz hatte die Güte, mir folgendes zu erzählen: Florianus stand bei einer der römischen Legionen, die ihre Kastelle an den Ufern der Donau hatten, und war wahrscheinlich in dem alten Laureacum – Lorch –, das sich von dem heutigen Asten bis Enns erstreckt haben mag, stationiert. Seine Weigerung, den Götzen zu opfern, hatte ihm den Tod in den Fluten der Enns zugezogen. Eine fromme, christliche Witwe, Valeria mit Namen, ließ den Körper aus dem Strom ziehen und auf einen Wagen legen, der, von Ochsen gezogen, die teuren Reste bis in diese waldigen Hügel, wo jetzt das Stift liegt, zur christlichen Beerdigung bringen sollte. Aber der Weg war weit, der Tag heiß, die müden Tiere, nach Wasser lechzend, erlagen fast der Erschöpfung. Da entsprang plötzlich am Eingang der Waldschlucht eine Quelle, die Ochsen wurden getränkt, und gelangten nun ohne weiteres Hindernis bis an den bestimmten Ort. Hier wurde der christliche Held durch Valeriens fromme Sorge, und später auch sie begraben, und es erhob sich endlich ein bewohnter Ort und ein Stift daselbst, das noch jetzt keinen andern guten Brunnen, als den durch jenes Wunder entstandenen, unten im Markte besitzt; denn für das Stift bringt eine künstliche und kostspielige Wasserleitung den Bedarf aus einem eine Viertelstunde entlegenen Orte, Hohenbrunn genannt.

In den Katakomben des Klosters sind eine Menge Gebeine kunstvoll aufgeschichtet, und die Sage läßt[290] glauben, daß es Gebeine der in dieser Christenverfolgung umgekommenen Märtyrer sind. Auch eine Statue der Valeria findet sich, hier, und das Wunder des plötzlich entspringenden Wassers, welches dem Heiligen zugeschriebn wird, mag wohl die Veranlassung zu seiner Anrufung in Feuersgefahr gegeben haben; denn sonst kommt, wenigstens so viel mir bekannt wurde, nichts vom Feuerlöschen in dieser Erzählung vor.

Mit großem Vergnügen verfolgte ich nun den Vorsatz, diese Legende in den Stoff des Agathokles zu verweben, und zugleich eine kleine Neckerei gegen eben den verehrten Mann, dem ich die Erzählung dankte, auszuführen, und gleichsam ihm zum Trotze, der alle Vermischung der Poesie und Geschichte als strenger Wahrheitsfreund haßte, und der neueren Dichtkunst, Ossian ausgenommen, überhaupt abhold war, den Schutzheiligen seines Klosters und die Gegend umher als Episode in einen Roman zu verflechten.

Überhaupt war es oft, ja meistens etwas also Zufälliges, welches mir die erste Anregung zu irgend einer Ausübung meiner innern Anlagen darbot; wie denn z.B. der ganze Agathokles durch die Lesung Gibbons und meinen Unwillen über dessen Gesinnung gegen das Christentum, die Gestaltung desselben aber durch einen sehr schönen englischen Kupferstich, den Tod des heiligen Stephanus vorstellend, veranlaßt worden war. Auf diesem Bilde, das in dem, damals von unserm berühmten Schreyvogel errichteten Industriecomptoir zu sehen war, liegt der Märtyrer, ein Jüngling von der edelsten Bildung, tot im Kreise einiger trauernden Christen, die ihn umgeben, und die Schönheit dieser Gestalt, die selige Verklärung, welche seine Züge zeigten, und die ganze Idee, welche diesem Bilde zugrunde [291] lag, bestimmten mich, den Helden meines Romans einen christlichen Märtyrer sein zu lassen, der aus einem erhabenen Begriff von der Würde und Gemeinnützigkeit seiner Religion sich für dieselbe aufopfert, und alle Güter des Lebens, selbst die, welche bessern Menschen ewig teuer bleiben, für diese Idee hingibt.

Wenn mich irgend ein Gedanke auf diese Art ergriffen hatte, ging es wunderbar in meinem Innern zu. Ich war mir keines eigentlichen Nachsinnens, keines Erfindens bewußt; ja ich möchte sagen, mein Denken, mein ganzer Zustand war etwas Passives. Es war mir stets, als läge das Ganze meines Planes oder künftigen Werkes bereits fertig in meiner Seele. Da bedurfte es denn nur des Wiedererkennens, des Deutlichmachens, und ich kann das, was in meiner Seele vorging, mit nichts passender als mit der Wiederherstellung eines alten Bildes vergleichen. Dies ist auch schon ganz vorhanden, und man hat nichts anders zu tun, als es durch zweckmäßige Mittel aufzufrischen, damit es erkennbar werde. Wie zuerst die Hauptmotive anschaulich werden, dann allmählich die kleinern Formen deutlich hervortreten, nach und nach sich die Farben sichtbar zeigen, bis endlich das ganze Bild in allen seinen Umrissen, in Zeichnung, Kolorit usw. vor unsern Augen steht, so enthüllte sich, ohne ein bewußtes ferneres Nachsinnen, das Ganze wie von selbst allmählich in meiner Seele, und es kam mir stets wie etwas Gegebenes, nie wie etwas Erfundenes vor.

Dieser Prozeß, der in der Seele jedes Künstlers – seine Idee mag nun »in Wort oder Tat, in Bild oder Schall« ins Leben treten – in den Momenten der geistigen Empfängnis vorgeht, hat für mich stets etwas Geheimnisvolles, Rätselhaftes gehabt, das mir auf die [292] höhere Abkunft unserer Seele, auf ihren Zusammenhang mit der gesamten Geisterwelt zu deuten scheint. Jene Menschen, denen die Natur Anlagen anderer Art; gegeben hat, können sich keine Vorstellung von dem machen, was in der Seele eines Dichters vorgeht, und es ist dem Ähnliches, was Fenelon in einer seiner Betrachtungen über das innerliche Leben einer frommen Seele sagt, daß nämlich die Weltmenschen das, was in derselben vorgeht, für einen Traum, einen Wahn hallten werden. Es gibt viel solcher Rätsel, und eines derselben, vielleicht eines der wunderbarsten, ist die Anlage zur Musik und Komposition. In einem Aufsatze, den ich für irgend einen Almanach vor mehreren Jahren geschrieben, habe ich meine Ansichten darüber geäußert. Ich erinnere mich des genauern Details nicht, aber ich wiederhole im allgemeinen, was ich damals darüber dachte, und was nachfolgende Erfahrungen bestätigt haben. Es liegt etwas Wunderbares, Geheimnisvolles in diesem Sinn für Harmonie, und noch in der Fähigkeit, selbst Harmonien und Melodien zu schaffen. Sie findet sich oft bei Menschen, die außer dieser Himmelsgabe wenig geistige Fähigkeiten oder doch wenig Bildung besitzen. Sie selbst haben keine deutliche Vorstellung weder von ihren Anlagen noch weniger von dem Prozesse, der in ihrem Innern vorgeht, wenn sie sich bestreben, die Schöpfungen, die in ihnen gären, durch Töne deutlich zu machen oder irgend ein fremdes poetisches Produkt in diesen Tönen Auszusprechen. Mozart und Haydn, die ich wohl kannte, waren Menschen, in deren persönlichem Umgange sich durchaus keine andere hervorragende Geisteskraft und beinahe keinerlei Art von Geistesbildung, wissenschaftlicher oder höherer Richtung zeigte. [293] Alltägliche Sinnesart, platte Scherze, und bei dem ersten ein leichtsinniges Leben, war alles, wodurch sie sich im Umgange kundgaben, und welche Tiefen, welche Welten von Phantasie, Harmonie, Melodie und Gefühl lagen doch in dieser unscheinbaren Hülle verborgen! Durch welche innere Offenbarungen kam ihnen das Verständnis, wie sie es angreifen müßten, um so gewaltige Effekte hervorzubringen, und Gefühle, Gedanken, Leidenschaften in Tönen auszudrücken, daß jeder Zuhörer dasselbe mit ihnen zu fühlen gezwungen, und auch in ihm das Gemüt aufs tiefste angesprochen wird?

Auch Schubert habe ich gekannt. – Auf ihn paßte, was seine übrigen Fähigkeiten betrifft, genau dasselbe, was ich von jenen beiden großen Genien sagte. Auch er brachte das Schöne, das Ergreifende seiner Kompositionen fast unbewußt hervor, ja, ich darf mich hier auf eine Anekdote berufen, die ich aus unsers berühmten Sängers Vogl eigenem Munde habe. – Das, was er vor vor einigen Wochen aus der Tiefe seines Gefühls hervorgeströmt hatte, ein sehr schön komponiertes Lied, kannte er nicht mehr, als es ihm Vogl zeigte, und lobte den Satz, wie etwas aus einer fremden Seele Entsprungenes, ganz aufrichtig. So bewußtlos, so unwillkürlich sind diese Hervorbringungen, und man kann nicht umhin, hier an magnetische Zustände und jene geheimnisvollen Fähigkeiten der Psyche zu denken, die in ihr, wie die Schmetterlingsflügel in der Puppe verschlossen und zusammengewickelt liegen, bis sie sie einst, wenn die Puppe zerbrochen wird, entfalten darf. Hier in ihrem beengten Zustande ahnt sie nur in einzelnen Augenblicken, in Wahrnehmungen etwas davon, und diese Augenblicke sind es wohl, [294] von denen Fenelon spricht, und die der Weltmensch verlacht, weil er sie nicht kennt.

Nachdem ich dies vor einigen Tagen geschrieben, geriet ich in Eckermanns Gesprächen mit Goethe auf eine Äußerung dieses großen Mannes, daß nämlich »dem echten Dichter die Kenntnis der Welt angeboren sei«, daß er selbst seinen Götz geschrieben, ohne das, was er schilderte, erlebt oder gesehen zu haben, und daß er später über die Wahrheit dieser Darstellung erstaunt sei, er müsse also diese Anschauungen durch Antizipation besessen haben, ja er behauptete, daß, »hätte er nicht die Welt durch Antizipation in sich getragen, alle seine Erforschung und Erfahrung ein totes, vergebliches Bemühen gewesen wäre«. Sollte man, indem ein so mysteriöses Verfahren der Seele angedeutet wird, nicht lieber die Bezeichnungen aus der gewöhnlichen Welt mit denen aus einer höhern vertauschen dürfen, und, was Goethe klar und trocken – aber wie mir scheint, nicht erschöpfend Antizipation nennt, lieber mit Inspiration bezeichnen? Inspiriert sind diese Anschauungen, sie sind dem Dichter, ohne daß er weiß woher oder wozu, zugekommen, und auf ihrer Stärke, Deutlichkeit und ihrem Umfang beruht, wie ich glaube, die größere oder geringere Kraft des Dichters. Im Grunde ist es wohl gleichgültig, ob man nun, dies geheimnisvolle Wirken in der Seele des Dichters zu bezeichnen, sich des Wortes Antizipation oder Inspiration bediene; aber selbstzufrieden und vergnügt war ich durch die Entdeckung, daß dieser große Mann ähnliche Wahrnehmungen hatte und mit mir darin übereinstimmt.

Noch muß ich, bei Gelegenheit des Sinnes für Musik und Komposition eine Bemerkung anführen, die ich [295] vor langer Zeit bereits gemacht, und auch manchen gebildeten Menschen mitgeteilt habe, ohne von ihnen eine genügende Erklärung über eine, wie mir es scheint, sonderbare Erscheinung zu erhalten, diese nämlich, daß unter so vielen Frauenzimmern, die sich mit exekutiver Musik auf dem Klavier, auf andern Instrumenten oder im Gesang mit vielem Glück beschäftigten, unter so vielen geistreichen Künstlerinnen, die sich in der Malerei oder Dichtkunst auszeichneten, auch nicht eine ist, die mit bedeutendem Erfolge etwas in der musikalischen Komposition geleistet hat. Nur zwei habe ich in meinem langen Leben und bei besonders in meiner Jugend häufigen Berührungen mit der musikalischen Welt gekannt, die sich mit Komposition beschäftigten, ein Fräulein von Martinez, Schülerin des berühmten Metastasio, der bei ihren Eltern lebte und sich die Ausbildung dieses, in vieler Hinsicht ausgezeichneten Frauenzimmers zum angenehmen Geschäft machte; und meine Freundin, das blinde Fräulein von Paradis. Beide leisteten Artiges, aber es erhob sich nicht über – ja kaum an das Mittelmäßige, während doch in Malerei und Poesie Frauen, wenn auch nichts den Werken der ersten Meister in diesen Fächern zu Vergleichendes, doch vieles auch an sich und ohne Rücksicht auf das Geschlecht Schätzbare hervorgebracht haben. Sollte man aber nicht glauben, daß gerade dies Bewußtlose, bloß auf innern Regungen, auf Gefühl und Phantasie Beruhende der Musik, dem weiblichen Charakter besser zusagte als die Leistungen im Gebiete der Malerei und Dichtkunst, welche Vorkenntnisse, deutliche Begriffe, technische Fertigkeiten usw. voraussetzen? Es muß doch nicht also sein, weil wir bis jetzt wohl eine Sirani, Rosalba, Angelica Kauf mann, [296] Lebrun usw. – aber keine nur einigermaßen bedeutende Tonsetzerin erlebt haben. Doch ich nehme den Faden meiner Erzählung wieder auf.


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Im nächsten Winter wurden unsere gewöhnlichen Abendunterhaltungen fortgesetzt, und es fiel uns ein, uns doch einmal wieder im Komödienspielen zu versuchen. Zuerst wählten wir kleinere Stücke, Kotzebuesche, ein- oder zweiaktige Lustspiele: Den Mann von 40 Jahren, die Brandschatzung usw.. Endlich schlug uns Hormayr vor, uns an ein bedeutendes Stück zu wagen. Der Mann von Wort, von Iffland wurde gewählt, und auf eine Weise besetzt und gespielt, wie man es auf Haustheatern selten finden wird. Mein Mann, der überhaupt seine Rollen stets mit vieler Kraft und Würde und einem guten Anstande gab, wobei ihm seine vorteilhafte Gestalt sehr zu statten kam, gab den Archivar Lestang, die Titelrolle, vortrefflich; der Verfasser des Regulus, Collin – den blödsinnigen Oheim; der Verfasser des österreichischen Plutarchs, Hormayr, den Hofrat Wallner; Frau von Kempelen, jene interessante und schöne Gemahlin des Jugendfreundes von meinem seligen Bruder, welche schon dem dichterischen Freunde Streckfuß so gefährlich gewesen war, und in deren Nähe auch Hormayr sich nicht gleichgültig erhalten konnte, hatte die Rolle der Julie, der Pflegetochter des Hofrats; mir ward die der Frau des Archivars zuteil, und auch die übrigen Personen machten ihre Sachen gut. Wir hatten geschlossen, das Stück zum Namenstage meiner Mutter zu geben, der auch der meinige und der meines Töchterchens war, welche einen, von unserm alten Freund [297] Haschka gedichteten Prolog sprach, und so geschah es auch. Wer das Stück kennt, wird sich erinnern, daß jener blödsinnige Oheim seiner Nichte, der Frau des Archivars, den Brillant schenken will, der aus einer, durch sieben Jahre eingesperrten Kreuzspinne entstehen soll und an dessen Existenz und Besitz er festiglich glaubt. Es ist dies eine wirklich rührende Szene, denn der gute Alte will sich seines vermeinten unermeßlichen Schatzes willig entäußern, um nur seine Nichte zu vermögen, ihrem Manne die schuldige Treue zu halten. Collin hatte, wie gesagt, die Rolle des Oheims, die er trefflich durchführte. Ich, als Frau seines Neffen, war mit ihm auf dem Theater, und er zog nun das Schächtelchen mit der kostbaren Spinne hervor, auf welches ich, wie es im Stücke angegeben ist, das Jahr und den Tag, wann sie eingefangen worden war, geschrieben hatte, um Collin das Auswendiglernen dieser Worte zu ersparen. Man stelle sich meine Verwunderung und Verlegenheit vor, als der unvergeßliche, teure Freund nun statt des in dem Stücke benannten Tages den vierten November nannte, und mit einer höchst verbindlichen Wendung einen Glückwunsch für drei Karolinen, Großmutter, Mutter und Enkelin sprach. Der Beifall war allgemein, und nie werde ich diese kleine Szene, in welcher sich die Freundschaft des teuern Mannes für uns alle und seine wahrhaft kindliche Verehrung für meine treffliche Mutter so deutlich aussprach, vergessen.

Dieser Winter und der nächstfolgende Sommer vergingen in gleich angenehmen Verhältnissen. Unter verschiedenen Fremden, welche bei uns eingeführt wurden, zeichnete sich bald, durch seinen innern Gehalt sowohl als seinen warmen Anteil an uns, ein Baron [298] von Merian-Falkach aus, der in der Staatskanzlei angestellt und ein genauer Freund Hormayrs war, welcher ihn auch bei uns einführte. Dieser Mann war ganz klassische Literatur, scharfsinnig, gelehrt, wahrhaft freundschaftlich, aber auch höchst eigen, ja bis zum Paradoxen seltsam in seinen Ansichten, denen er übrigens im praktischen Leben nicht immer treu blieb. So war es sein Lieblingsthema, daß eine Frau nichts oder nicht viel lernen soll, weil ihre Liebenswürdigkeit, ihre Kindlichkeit usw. darunter leiden würde; daß eine Frau ganz willenlos dem Geliebten anhängen und gleichsam nur durch seinen Geist den ken, nur durch und für ihn leben solle. Er haßte deswegen weibliche Schriftstellerei, ging aber vorzugsweise gern mit meiner Mutter, welche eine der geistreichsten und selbständigsten Frauen war, die nur je vorgekommen und mit mir, einer Schriftstellerin, um. Er gefiel sich überhaupt sehr in unserm Kreise, ward bald einheimisch darin und blieb mir durch viele Jahre ein verläßlicher, treuer Freund, dessen Wärme eine langjährige Abwesenheit (ich sah ihn, seit er uns 1810 verließ, nie wieder, und er starb erst vor einigen Jahren) nicht erkältet hatte, und die ein eifriger Briefwechsel, durch immerwährende Streitigkeiten belebt, stets aufrecht erhielt. Ihn band seit vielen Jahren ein zärtliches Verhältnis an eine Frau, von der er stets den Ausdruck Petrarcas: Che sola a me par donna, brauchte. Ich kannte sie nicht, aber ihren Briefen nach zu urteilen, womit sie mich auf Merians Veranlassung beehrte, mußte sie wenigstens eine sehr verständige, gebildete Person sein. Im Jahre 1809 kam sie endlich nach Wien, und man denke sich unser aller Erstaunen! Diese Laura, diese sola Donna war eine – nicht sehr hübsche, nicht [299] ganz junge Frau, von kleinem Wuchse, unendlicher Beweglichkeit und Lebendigkeit, eine wirklich sehr gebildete, aber auch so positive Frau, daß unser guter Merian zu unser Aller Verwunderung und Leidwesen ganz unter ihrem Pantoffel stand, und solange sie in Wien war, es auch nicht ein mal wagen durfte, ohne sie bei uns zu erscheinen. So auffallend wie dies Beispiel sind freilich nicht viele; dennoch ist mir die Erscheinung zum öftern vorgekommen, daß gerade jene Männer, welche so viel von der Sanftmut, Unterordnung, Hingebung des Weibes sprechen, wenn sie einmal wählen, ziemlich gehorsame Liebhaber und Ehemänner werden; ja, daß sie schon von vornherein nicht leicht an einer Geschmack finden, welche nicht etwas Herrisches an sich hat. Im Gegenteile aber sind es gerade die Haus- oder Liebestyrannen und die sich einer unumschränkten Herrschaft nicht bloß über die Handlungen, sondern über die Gedanken und Ansichten ihrer Geliebten oder Frauen bemächtigen, welche vor der Ehe die schmiegsamsten, ehrerbietigsten scheinen und stets die sanfte Oberherrschaft der Frauen anzuerkennen bereit sein wollen. Ich könnte mehrere anführen, aber Exempla sunt odiosa.

Schon seit einigen Jahren kannten wir in Wien die Trauerspiele F.Z. Werners. Seine Söhne des Tales hatten ungeheures Aufsehen erregt und alles, was sich mit schöner Literatur beschäftigte, aufmerksam auf den, wie es hieß, noch jungen Dichter gemacht. Es war die Zeitepoche, in welcher auch die Schlegel, Tieck u.a. aufgetreten waren, das sogenannte Romantische sich zuerst und zwar mit großem Beifalle zeigte, die poetische Poesie im Gegensatz der bisher geübten und geschätzten aufgestellt, und viele Autoritäten, [300] die wir bisher verehrt hatten, durch: die neue Schule, wie sie genannt wurde, von ihren Altären herabgestürzt werden sollten. Gar viele glaubten auch diesem neuen Evangelium; ungleich mehrere aber ließen sich in ihrer billigen Verehrung für Schiller, Herder, Wieland, Klopstock usw. nicht irre machen. Es gab manche, die sogar behaupteten: Die Gebrüder Schlegel hätten gar zu gern eine große Rolle in der gelehrten Welt gespielt, da sie aber fühlten, und – weil sie wirklich treffliche Köpfe waren – auch deutlich einsahen, daß sie auf produktivem Wege neben den schon bestehenden Matadoren in der schönen Literatur doch nur einen untergeordneten Platz einnehmen würden, hätten sie sich auf die Kritik geworfen, und, indem sie das bisher Verehrte von seinem Standpunkt herabzuziehen bemüht waren, Raum für sich und ihre Anhänger zu gewinnen gesucht, wie das Vaudeville sagt:


Les arbustes sont des chênes,

Quand les chênes ne sont plus.


Nur einen unter den Lebenden ließen sie gelten, Goethe, und indem sie ihn zu ihrem Koryphäus wählten und ihn mit einer ungeheuern Portion Weihrauch dazu gleichsam installierten, suchten sie sich durch seinen Ruhm, sein Ansehen in Deutschland, seine Autorität zu schützen, sie flüchteten unter den Schatten seiner Flügel.

Zugleich mit diesen Bestrebungen, die neue Poesie und Ansicht auf Kosten alles Alten geltend zu machen, dämmerte auch ein gewisser hyperreligiöser Sinn in den neuen Erzeugnissen auf. Es war nicht eigentliche Frömmigkeit, Gottesfurcht, Hinblick aufs Ewige; es war ein krampfhaft wundergläubiges Unterordnen unter veraltete Ansichten, das sich mit krasser Sinnlichkeit und [301] unlautern Trieben ganz nachbarlich vertrug. Unlängst war die Lucinde, das berüchtigte Buch von Friedrich von Schlegel erschienen, ihm waren nicht so grelle, aber höchst seltsame Geburten: Lacrymas und Alarcos, gefolgt. Staunend betrachtete sie die Welt und wußte nicht recht, ob sie sie bewundern oder belachen sollte. Zum ersten bekannten sich die Anhänger der neuen Schule; denn das Neue findet jederzeit geneigte Gemüter, die es gern in sich aufnehmen, um es nächstens mit etwas noch Neuerem zu vertauschen. Die meisten, welche von diesen Werken Notiz nahmen, mißbilligten sie, und bedauerten einen reichbegabten Geist auf Irrwegen zu sehen.

Diese frömmelnde Tendenz griff immer mehr um sich. Das zweite Stück Werners: Die Templer auf Cypern, trug schon in seiner ersten Form etwas Mystisches, Rätselhaftes in sich, und jene Erzählung oder Mythe von Phosphor ließ die Leser in Ungewißheit, ob hier ein tiefgeheimer, wirklicher Sinn verborgen liege oder der Verfasser der Welt nur ein schwer zu lösendes Rätsel habe aufgeben wollen. Das dritte Stück: Das Kreuz an der Ostsee, in dem der heilige Adalbert, der bereits den Martertod erlitten hat, als Spielmann auftritt, auf dessen Haupt sich von Zeit zu Zeit eine Feuerflamme sehen läßt, und die Brautnacht zwischen Warmio und Malgona sprechen noch deutlicher den mystisch-asketischen und dabei lüsternen Sinn aus, der in so vielen Werken jener Zeit auftauchte. Endlich erschien seine Weihe der Kraft. Daß der Protestantismus in seiner nüchternen Kälte den Künsten verderblich sei, ging wohl deutlich daraus hervor, und Werners Lieblingsthema, daß die Liebe ein Blitzstrahl sein müsse, der zugleich in zwei Herzen [302] einschlägt und sie verzehrend reinigt, wurde sichtbar durch Katharinas freudiges Erschrecken, als ein dicker Augustiner vom Wagen steigt, und sie ihn als ihr Urbild erkennt. Ich gestehe, daß mir ein dicker Augustiner nicht eben sehr idealisch scheint, aber Fräulein von Bora war von anderm Geschmacke. Auch dieses Werk machte große Sensation und erregte viele widersprechende Urteile. Nicht lange darnach verbreitete sich die Nachricht, daß der Verfasser aller dieser genialischen Stücke nach Wien kommen solle, und wir hoffen dürfen, seine Bekanntschaft zu machen.

Der Tag, wo er kam und die Weise, wie er sich bei uns einführte, war gewiß merkwürdig und mir daher sehr lebhaft im Gedächtnisse geblieben. Es war ein schöner Abend im Anfange des Sommers von 1807, wenn ich nicht irre, und ich hatte einen kleinen Kreis gebildeter Freundinnen und literarischer Freunde gebeten. Der Erwartete kam, von unserm Freunde Collin eingeführt – ein ziemlich junger, wohlgebildeter Mann, damals Kammersekretär in Warschau oder Posen und im ganzen eine nicht unangenehme Erscheinung. Auch er schien sich nicht übel in der Gesellschaft zu gefallen, die ihn umgab, und in welcher sich einige hübsche, junge Frauen befanden. Bald gingen wir zum Gouter, bei welchem denn nebst Tee und Backwerk nach der Jahreszeit auch Obst herumgeboten wurde. Werner protestierte höchlich gegen dies letztere und versicherte uns laut – »die schönste Frau dürfte ihm, wenn sie zuvor einen Apfel oder anderes Obst gegessen hätte, keinen Kuß anbieten« – eine Äußerung, die uns allen etwas sonderbar und befremdend klang; denn obgleich Werner nicht eben häßlich war, hätte doch nur allenfalls sein Dichterruhm, wie in der alten Gellertschen [303] Erzählung, eine Frau, und zumal eine schöne Frau, bewegen können, ihm einen Kuß zu bieten.

Übrigens benahm er sich in den gewöhnlichen Formen und außerdem, daß er ungeheuer viel und oft Tabak schnupfte und mit einer eigentümlichen Bewegung des Daumens den Tabak stets zuletzt auf die rechte Wange hinüberstrich, so, daß es bald wie ein Schnurrbart aussah, war nichts Außergewöhnliches an ihm zu bemerken. Als sich die Gesellschaft hierauf im Garten zerstreute, fand ich ihn mit einer unserer Bekannten in ein eifriges Gespräch über die Liebe vertieft. Ich trat hinzu, und bald wußte Werner mich so hineinzuziehen, daß jene mich verließ und er nun mit mir, auf und ab gehend, sein voriges Thema fortsetzte und sich erklärte, daß er eigentlich den Beruf habe, über Liebe zu sprechen, sie zu suchen, zu verbreiten usw., Reden, deren eigentlichen Sinn ich nicht ganz verstand. Von der Liebe gerieten wir auf den Glauben, auf Religion, auf sein letztes Werk: Die Weihe der Kraft. Auch hier übersprach er viel, was ich nicht recht fassen konnte, doch schien mir der Hauptsinn dahin zu zielen, daß der Protestantismus die Künste totgemacht habe, was er denn auch durch den Tod jener Therese oder wie sie heißt, habe andeuten wollen. Zuletzt fragte er mich geradezu: was ich von der Transsubstantiation halte? Diese Frage kam mir höchst unerwartet. Ich wußte wirklich nicht, was ich sagen sollte; denn es schien mir hier gar nicht der Ort, noch die Gelegenheit, um solche Dinge zu erörtern. Ich antwortete also bloß: Ich sei Katholikin, und folglich könnte er denken, daß ich über diesen Punkt mich nicht von dem Dafürhalten meiner Kirche entfernen würde. Übrigens scheine mir der Gegenstand nicht[304] geeignet, um in geselligen Kreisen abgehandelt zu werden. Er ließ darauf das Gespräch fahren, aber er kam oft zu uns, las uns manche seiner Arbeiten vor, unter andern die sehr veränderte zweite Auflage seiner Söhne des Tales, in welchen ein Mädchen – Astralis – eine mystische Person, vorkommt, und der verstorbene Marschall Eudo, der in der ersten Auflage so unübertrefflich schön als Pilger eingeführt wurde – vielleicht die schönste und wirksamste Geistererscheinung, die mir in der neuen Literatur vorgekommen – nun als ein ziemlich materieller Geist auftritt, Brot bricht, Astralis unterrichtet usw. Noch recht lebhaft erinnere ich mich, daß meine Mutter ihn fragte: Lebt denn der Marschall Eudo? weil dieser Geist sich gar so körperlich benimmt, und Werner ihr antwortete: Er lebt und er lebt nicht, wie man es nimmt. Dann frägt Eudo die Astralis, ob sie gebetet habe? und sie antwortet: Ja! geglüht für Robert (ihren Geliebten). Diese wenigen Züge bezeichnen, wie mich dünkt, die ganze mystische, exaltierte, seltsame Richtung, welche Werners Geist damals schon genommen, und welche später solche Schöpfungen wie Kunigunde, Wanda, Attila ins Leben rief, von denen meine Freundin Therese Artner später sagte: »Es ist zu bedauern, daß ein solcher Geist sich also verirren konnte; aber er wird zusehends mit jedem Stücke toller.« Dennoch waren selbst in diesen Geburten einer verirrten Einbildungskraft große Schönheiten und offenbare Beweise von Genialität.

Diese Geistesrichtung erstreckte sich auch in sein Leben, er glaubte das, was er schrieb, selbst, und war ganz mit diesen Ideen erfüllt. Daher nahm auch meist das Gespräch, wenn er an unserem Abendkreise teilnahm, [305] wieder dieselbe sonderbare Richtung nach seinen Lieblingsideen.

Späterhin zog sich Werner von unserm Kreise zurück; er hielt sich viel zu Stoll, dem jungen und ebenfalls exaltierten Dichter, und zu andern ähnlichen Geistern. Endlich bekam ich einen Brief von ihm, in welchem er mit sehr herzlichen Worten von mir, von meiner Familie und von seinem lieben, lieben, lieben Wien Abschied nimmt. Er ging nach Italien, nach Rom und kam erst nach mehreren Jahren als Katholik und Priester von dorther zurück. Sein zweites Auftreten unter uns, in den letztgenannten Eigenschaften, erregte beinahe mehr Sensation als das erste; aber wir sahen ihn sehr selten unter uns. Er lebte bald in diesem, bald in jenem Kloster; bei den Serviten, Liguorianern, Franziskanern und zuletzt bei den Augustinern, wo er bis an seinen Tod verblieb. Sein Wirken als Prediger werden wir später zu schildern Gelegenheit haben.

Die Gestaltung der damaligen Zeit, in welcher das Deutsche Reich zusammengestürzt war, Napoleon durch den Rheinbund ins Herz aller deutschen Staaten, ins Herz der ganzen Nation mit eisernen Händen griff, das Schwankende, Unsichere aller politischen und somit auch aller sozialen Verhältnisse, das stets kühnere und gewaltsamere Ausbreiten der französischen Macht: dies alles drängte die Geister aus der freudenlosen, zerrütteten Gegenwart in die feststehende Vergangenheit zurück, an der wenigstens ein Eroberer und Unterdrücker aller politischer wie aller literarischen Freiheit nichts mehr ändern konnte, so gern er auch in den römischen Klassikern die Stellen, welche die Sache der Freiheit gegen Anmaßungen der Gewalt verteidigen, [306] weggewünscht hätte. Das Studium der Geschichte fing an, bei der damaligen Generation ein lebhaftes Interesse zu erregen. Viele Gelehrte verlegten sich darauf, und man suchte Halt und Trost in der Betrachtung der Vergangenheit. Diese allgemeine Stimmung und der häufige Umgang mit Hormayr, Ridler, Vierthaler regten auch in mir eine lebhafte Teilnahme für die Geschichte im allgemeinen und besonders für die meines Vaterlandes auf. Österreichs Plutarch erschien damals und erregte lebhafte Teilnahme. Mit Grund und überzeugenden Nachweisungen ward von Sachverständigen vieles an dem Werke getadelt, indes erreichte es den einen Zweck, den sich der Verfasser vielleicht vorgesetzt hatte, es weckte bei vielen wie bei mir den Sinn für vaterländische Geschichte und sprach Phantasie und Gefühl an, weil es mit Wärme und dichterischer Auffassung geschrieben war. Auch sonst noch suchte Hormayr auf seine Freunde und durch sie aufs Publikum nach dieser Richtung zu wirken. Er wußte die beiden Collin für seine Absicht, Dichtung und Künste mit vaterländischen Gegenständen zu beschäftigen, zu gewinnen, er regte noch mehrere andere Geister an, die sich um ihn willig sammelten; er suchte Künstlern denselben Sinn einzuflößen, und vieles geschah damals und auch später für die österreichische Geschichte, was den ersten Impuls durch Hormayr erhielt. Dies Verdienst muß man ihm zugestehen, obgleich er zwanzig Jahre später dieser Gesinnung in der Hauptsache ungetreu wurde.

Im Herbste des Jahres 1807, in der Nacht des Michaelistages, erhob sich jener denkwürdige Orkan, der in Wien Häuser abdeckte, den Turm der Augustinerkirche [307] herabwarf – glücklicherweise ohne jemand zu beschädigen – Fenster eindrückte und im Augarten und in der Brigittenau die größten Bäume entwurzelte und niederwarf, so daß der Garten und die Au am folgenden Tage einem großen Verhaue glichen, durch den man kaum durchkommen konnte.

Mein Name fing damals an, durch die Gleichnisse, Olivier, Leonore usw. in Deutschland bekannt zu wer den. Ich erhielt Aufforderungen von Buchhändlern, ihnen Beiträge zu Almanachen, Journalen usw. zu liefern. Die beachtenswertesten Aufforderungen der Art waren die von Fleischer in Leipzig für die Minerva, eines der besten damals erscheinenden Taschenbücher, und von Cotta in Stuttgart für den Damenkalender mitzuarbeiten. Der erste wies sich durch seine Briefe an mich, durch sehr hübsche Geschenke an Büchern, die er teils meiner Tochter, teils mir selbst noch über das sehr bedeutende Honorar verehrte, als ein wohlwollender Freund, und zeigte sich auch im Umgang so, als er 1810 eine Weile in Wien war und uns oft besuchte. Später scheinen häusliche Mißverhältnisse und eine, wie mich dünkte, etwas zu jugendliche Neigung zu einem Schweizer-Landmädchen, das er heiratete, ihn bewogen zu haben, Leipzig und seine Geschäfte zu verlassen und sich in die Schweiz zu begeben. Seitdem habe ich nichts mehr gehört und dies aufrichtig bedauert; denn Fleischer war mir sehr würdig und wohlwollend zugleich erschienen.

Cottas Aufforderungen brachten mich in ein noch werteres Verhältnis; Madame Huber, Heynes Tochter und Witwe von zwei ausgezeichneten Gelehrten: G. Forster und Huber, redigierte damals das [308] Morgenblatt. Sie schrieb mir bei Gelegenheit einer Sendung für den Damenkalender. Von da entspann sich zwischen uns ein fleißiger und nach und nach so herzlicher, zusagender Briefwechsel, daß wir zwei Matronen, die sich nie gesehen hatten und auch nie sahen, uns unsere häuslichen und innersten Angelegenheiten mitteilten, und dies währte bis an Therese Hubers Tod im Jahre 1829. So hat mir meine literarische Bekanntschaft manches sehr angenehme Verhältnis, manches Wohlwollen und herzliche Teilnahme von unbekannten Menschen, und nur äußerst selten etwas Unangenehmes gebracht. Wohl aber hütete ich mich stets aufs sorgfältigste, mich ja nie zu Redaktionen, Rezensionen usw. gebrauchen zu lassen, und mit den gelehrten Herren in eine nähere Beziehung zu kommen. Therese Huber, der ihre finanziellen Verhältnisse vermutlich jene Redaktion aufgedrungen haben mochten, hat dadurch, und namentlich mit dem Verfasser der Schuld, Müllner, Verdruß genug gehabt.

Mit dem Herbste dieses Jahres begann eine lebhafte, interessante Zeit. Unser geliebter Kaiser wollte sich das drittemal mit Marie Luise von Este, seiner Cousine, vermählen, und die Vorbereitungen, sowie die Vermählungsfeierlichkeiten dieser höchst anmutigen Prinzessin gaben Veranlassung zu allerlei Festen und rührigem Leben. Auch traf die Ankunft der berühmten Frau von Staël, welche mit A.W. v. Schlegel aus Weimar nach Wien kam, gerade auf diesen Herbst. Die Statue des Kaisers Josef, von Zauner in Erz gegossen, war auch eben fertig und aufgestellt worden. Die Enthüllung derselben wurde eine Art von Feier und Festlichkeit, welche das kindlich dankbare[309] Gemüt des Neffen seinem großen Oheim zu Ehren veranstaltet hatte.

Es war ein milder Herbsttag zu Ende Oktobers oder Anfang Novembers. Auf dem Josefsplatze, wo die kolossale Bildsäule unter ihren Umhüllungen wie ein kleiner Berg dastand, waren in freier Luft Tribünen errichtet, auf welchen man mittelst Billetten Platz erhielt. Frau von Staël war ebenfalls zugegen, ich sah oder kannte sie wenigstens damals nicht, und nebst ihr eine große Menge elegant geputzter Damen und Herren, die dem Schauspiel entgegen harrten. Um die angesetzte Stunde (wenn ich nicht irre 12 Uhr mittags) donnerte das erste Geschütz auf dem Walle der Stadt, ihm folgten bald die andern ringsherum auf den Basteien, denn – so wollte es des Monarchen liebevolle Dankbarkeit – seines väterlichen Oheims Bild sollte auf dieselbe feierliche Weise wie die persönliche Ankunft eines regierenden Herrn bei seinen Untertanen empfangen und begrüßt werden. Durch eine geschickte Vorrichtung fielen plötzlich die Decken, welche die Statue verhüllt hatten, das majestätische Bild ward sichtbar, und fast in demselben Augenblick zerriß auch, wahrscheinlich durch die Kanonenschüsse zerteilt, die Nebeldecke, welche den Himmel umhüllt hatte. Rein und blau lächelte er hernieder auf das Bild des großen Josefs, der mitten im Kreise der Seinen erschien, und die mildesten Sonnenstrahlen spielten auf dem glänzenden Metall und auf den edlen Zügen. Es war ein schöner, erhebender Augenblick, in welchem der Himmel selbst an dem Dankbarkeitsgefühle unsers Monarchen und an unser aller Freude segnend Anteil nahm.


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[310] Die Anwesenheit der Frau von Staël, was sie tat, sagte, wie sie aussah, sich kleidete usw. war von nun an das allgemeine Gespräch in den Salons. Man hatte sich eine Menge von ihr zu erzählen, wovon vieles, ja das meiste, ungünstig war. Wenn ihr einige nicht verzeihen konnten, daß sie eine Femme supérieure war (und das war sie denn doch gewiß!), so beleidigte andere ihr Umgang mit dem höchsten Adel, zu dem eigentlich ihre Geburt sie nicht berechtigte; andere fanden zu viel Anmaßung in ihrem Betragen, und wieder andere hielten sich an die übelgewählte Toilette, welche denn auch wirklich bei ihren vorgerückten Jahren (sie war damals schon jenseits der Vierzig) und einer unvorteilhaften Gestalt oft zu anspruchsvoll war, und eine Meinung von ihrer Schönheit voraussetzte, welche doch jeder Spiegel hätte Lügen strafen sollen. Ich hatte sie damals noch nicht gesehen, aber ich hatte kurz vorher einen kleinen Aufsatz ins Morgenblatt einrücken lassen, in welchem ich, ohne der großen Achtung Abbruch zu tun, die ihr außerordentliches Talent mir wie jedem ihrer Leser einflößte, meine Verwunderung darüber äußerte, daß sie sowohl in der Corinne als in der Delphine ihre Helden so schwach, inkonsequent und leicht beweglich geschildert habe, indes ihr doch selbst ein wahrhaft weibliches Gefühl an mehreren Stellen das Geständnis entlockt hat, daß ein Weib sich nur in einer gewissen Unterordnung unter den kräftigen Mann recht wohl und glücklich fühlen könne. Ich wußte nicht, ob sie diesen Aufsatz kannte, aber ich scheute mich nicht, das, was ich schriftlich geäußert, auch in ihrer Gegenwart zu behaupten. Ich hätte sie gern kennen gelernt, aber ich glaubte es nicht schicklich, daß ich, die Einheimische, [311] zuerst zu ihr ginge und mich gleichsam bei ihr einführen ließe. Unsere gelehrten Freunde hatten dies zwar getan – aber Collin, Steigentesch, Hormayr waren Männer, und daher konnten sie, ohne sich etwas zu vergeben, der fremden Dame ihre Aufwartung machen. A.W. von Schlegel, der die berühmte Frau auf ihrer Reise begleitete, hatte sich bei uns vorstellen lassen. Er kam öfter zu uns und schien ein sehr eleganter Gelehrter, der im Gegensatz zu den meisten seinesgleichen sich höchst fashionable kleidete, aber auch im Gegensatze zu jenen mit seiner Toilette selbst in Gesellschaft beschäftigt war, und wenn ihm, wie es bei uns ein paarmal der Fall gewesen, andere etwas von ihren Werken vorlasen (ich nicht, wie ich denn überhaupt dies nur höchst selten und unter sehr guten Freunden tat), während der ganzen Lesung am Busenstreif, am coup de vent und den Schleifen seiner Unterkleider zu zupfen und zu richten hatte. Man hat mir, zwanzig Jahre nach jener Zeit, erzählt, daß er diese Zierlichkeit und Sorgfalt für sein Äußeres auch jetzt noch als Greis beibehalten habe. Damals war er ein Mann von mittleren Jahren und wirklich angenehmer Gestalt, dennoch hätte ich um seiner selbst und seines verdienten literarischen Ruhmes willen gewünscht, daß er diese Schwäche nicht an sich gehabt hätte. Im Umgange war er sehr artig, sehr geistreich, aber nicht ohne eine merkliche Beimischung von Selbstgefühl, die sich oft geltend machte, und mit allen diesen Eigenschaften und einem angenehmen Äußern, das durch einen vorteilhaften Anzug gehoben war, der Liebling vieler geistvollen, gebildeten Frauen, sowohl einheimischer als fremder, mit denen ich damals umging. Man erzählte, und ich selbst hatte später [312] Gelegenheit, es zu bemerken, daß er von Frau von Staël nicht mit der Achtung und Auszeichnung behandelt wurde, die sie wohl einem Manne seines Talentes schuldig gewesen wäre. Es erschien öfters ein befehlender Ton wie gegen einen Untergeordneten in ihrem Betragen ihm gegenüber, und das erregte nun bei jenen Damen seiner Verehrung das tiefste Mitleid. Man war aufgebracht über Frau von Staël, man wollte in Schlegels ganzem Wesen einen Schatten von Gedrücktheit, von Melancholie bemerken, den man auf die Rechnung jener Behandlung schrieb, und der den interessanten Unglücklichen nur noch teurer machte. Mir erschien die Sache anders, und ich erklärte mich dahin, daß Herrn v. Schlegel die Existenz im glänzenden Hause der reichen und berühmten Frau doch angenehm sein müsse, weil es einem Manne von seinem Rufe, von seinen ausgezeichneten Gaben nicht fehlen könne, auf jeder deutschen Universität durch eine Professorstelle, durch Privatvorlesungen, literarische Arbeiten usw. sich eine zwar nicht so bequeme, aber unabhängige Existenz zu verschaffen, und daß also, weil er dies nicht tue, jenes Verhältnis ihm nicht so gar drückend erscheinen könne. Damit fand ich nun freilich vielen Widerspruch, es war aber schon einmal meine Weise, die Poesie von der Wirklichkeit stets scharf zu scheiden, jene in Büchern und Kunstwerken hoch zu verehren, im gewöhnlichen Leben aber die Dinge so klar als möglich zu betrachten und so einfach als möglich zu behandeln.

Ich hatte gegen A.W. von Schlegel mehrmals den Wunsch geäußert, Frau von Staël persönlich kennen zu lernen. Er forderte mich auf, zu ihr zu gehen. Das wollte ich nicht, und so ging einige Zeit hin. – Endlich [313] übernahm es eine gemeinschaftliche Bekannte, die Sache vermittelnd einzuleiten. Frau von Nuys, eine geistreiche, artige Frau aus Bremen, welche unter uns nur die schöne Großmama hieß, weil sie bereits einen Enkel von ihrer Tochter hatte, und noch immer nicht bloß beaux restes, sondern wirkliche Schönheit besaß, übernahm es, Frau von Staël mit mir, mich mit der hochberühmten Frau bekannt zu machen. Wir wurden beide zu einem Tee bei ihr gebeten, und ich konnte, da es gerade der Wochentag war, an welchem meine Mutter selbst Gesellschaft zu empfangen pflegte, erst spät abkommen. Als ich eintrat, war der Kreis schon eine Weile versammelt, und ich sah neben einer meiner Freundinnen, die eine große Künstlerin auf dem Klavier war, am Fortepiano eine Frau sitzen, welche ich nach allem, was ich bereits gehört – für die berühmte Dichterin erkennen mußte. Ich werde den Eindruck nicht vergessen, den mir ihre Gestalt machte. Sie war eine ziemlich große, starke Frau, über alle Jugend hinaus, mit bedeutenden, aber nicht angenehmen Zügen, deren Ausdruck – in dem vortretenden Mund und Kinne, in der ganzen etwas mohrischen Bildung mir eine überwiegende Sinnlichkeit zu verkünden schien, und deren auffallender, ich möchte sagen gewagter Anzug Ansprüche anzeigte, welchen sowohl die Jahre als die ganze unanmutige Erscheinung nicht entsprachen.

Ich grüßte allseitig, aber flüchtig, wurde der Frau von Staël ebenso flüchtig genannt, und ging ins Nebenzimmer, weil kein Vorzimmer vorhanden war, wo man die Überkleider ablegen konnte, um Schal und Überrock auszuziehen. Gleich darauf kam Frau von Staël mir nach, trat vor einen Spiegel, der sich hier befand, fing an, ihren Kopfputz zu ordnen und richtete aus [314] dem Spiegel die Rede über jenen Aufsatz im Morgenblatt an mich. Ich antwortete freimütig, aber bescheiden; das Gespräch dauerte nicht lange, andere traten dazwischen, die Unterhaltung wurde allgemein, und Frau von Staël verließ die Gesellschaft bald in Begleitung ihres Cavaliere servente, des Herrn von Schlegel. Die Art, wie sie ihn fragte, ob ihre Leute da wären? und ihm mit einer bloßen Kopfneigung andeutete, sich darnach umzusehen, mißfiel mir um sein-und ihretwillen gleich sehr. Sie erregte bei den Verehrerinnen des anziehenden Unglücklichen aufs neue inniges Bedauern, worein ich nun freilich nicht einstimmen konnte; aber sie diente nicht dazu, den Eindruck zu mildern, den die ganze Persönlichkeit seiner Prinzipalin auf mich gemacht hatte.

Bald darauf wurde ich von ihr zu Tische gebeten. Der Kreis war klein und bestand nur aus unserm würdigen Freund Heinrich von Collin, dem Baron Steigentesch, der Frau vom Hause, ihrem jüngeren Sohn, einem bildschönen Knaben von etwa 12 Jahren, ihrer noch etwas jüngeren und ebenfalls sehr hübschen Tochter Albertine (der verstorbenen Duchesse de Broglie), aus Schlegel und mir. Hier aber, gleichsam im häuslichen Kreise, wo keine Prätension, keine Absicht zu glänzen, keine Koketterie sie zu einem Betragen verleitete, das sie nicht wohl kleidete, kam sie mir ganz anders und viel liebenswürdiger vor. Vor allem bestach mich der ungemein schöne, weiche Ton ihrer Stimme, und diese Stimme trug so geistreiche Dinge mit so gewähltem Ausdruck vor, daß ich wenigstens ihr mit dem größten Vergnügen zuhörte, und nur einen Stenographen ins Nebenzimmer wünschte, um schnell zu Papier zu bringen und so der Vergessenheit [315] zu entreißen, was sie so bedeutend als schön sagte. Nach Tische mußte Collin ihr etwas von seiner Arbeit deklamieren – sie überlas es vorher, denn sie las und verstand das Deutsche wohl, nur sprach sie es nicht geläufig. Sie hörte dem Dichter mit sichtbarem Anteil zu, und faßte lebendig jede Schönheit auf. Dann holte sie ein französisches Gedicht, das eine schweizerische Dame gedichtet und das wirklich voll tiefer Empfindung war, und las es uns mit innigem und lebendigem Ausdruck vor, indem sie mit liebenswürdiger Wärme uns jede schöne Stelle bemerklich machte. So wußte sie fremdes Verdienst freundlich geltend zu machen, und erschien mir in diesem Verfahren und in ihrer einfacheren Natürlichkeit weit angenehmer als in der anmaßenden Rolle einer hochberühmten Frau, der alles huldigen soll, in welcher ich sie bei Frau von Nuys gesehen hatte.

Nun kam der Fasching und mit ihm eine glänzende Reihe von Festen und Unterhaltungen, denn unser Kaiser feierte seine Vermählung mit der anmutigen Marie Luise von Este. Diese Prinzessin war von ihrer Mutter früher, wie man sagte, zum Kloster bestimmt (welche Bestimmung ihre bald nachher sich äußernde Kränklichkeit wohl zu rechtfertigen schien); aber sie hatte eine so sorgfältige Erziehung genossen, und fand in ihrem Geiste so viel Gewandtheit und Kraft, daß sie sogleich bei ihrem ersten Auftreten am Hofe sich mit ebensoviel Majestät als Anmut in die neue Herrlichkeit und die Rolle einer hochgestellten Monarchin zu finden wußte. Der Kaiser hatte sie aus wirklicher Liebe gewählt, er hatte gesagt: Seine erste Frau, Elisabeth von Württemberg, habe ihm sein Oheim gegeben; die zweite, Therese von Neapel, [316] sein Vater; diese dritte nehme er sich selbst, und er schien auch, wenigstens im Anfange, sehr vergnügt. Späterhin soll sie ihm zuviel Eleganz und zu sehr den Ton der großen Welt angenommen und ihn daher nicht so glücklich gemacht haben, als er es wünschte und hoffte. Denn er liebte ein hausväterlich bürgerliches Leben und wußte, wie es sich im Kongreßwinter zeigte, sehr wohl den Patriarchen seiner zahlreichen Familie mit der Majestät und Würde eines der ersten europäischen Monarchen zu vereinigen.

In jenem Fasching 1808 dauerten indessen noch die Flitterwochen dieser Ehe, und alles bestrebte sich, der jungen, reizenden und liebenswürdigen Monarchin zu huldigen. Auf einer glänzenden Freiredoute, in welcher alles in möglichster Pracht erschien, zeigte sich auch ein überaus herrlicher Maskenzug, die Huldigung oder ich weiß nicht, welche Feierlichkeit eines indostanischen Sultans vorstellend. Personen des höchsten Adels bildeten den Zug, und alles strahlte von Gold und Edelsteinen. Die verstorbene Fürstin Colloredo-Mansfeld, eine sehr edle Gestalt, welche die Rolle der Sultaninmutter hatte, war ganz mit Diamanten bedeckt, ja, es schien, als wäre ihr das Stützen auf eine ihrer Begleiterinnen nicht bloß des Anstandes, sondern der Last von Diamanten wegen notwendig, unter welcher sie kaum das Haupt gerade tragen konnte. Der Sultan selbst war, ich weiß nicht warum, noch ein Kind und wurde von dem, damals bildschönen und kaum zehn- oder zwölfjährigen Grafen Arthur Woyna vorgestellt, der auf einem Palankin getragen, vor welchem die Mutter herging, in seiner kindlichen Schönheit und asiatischen Herrscherpracht den interessantesten Teil des Zuges bildete.

[317] Dieser Maskenzug (aber ohne Larven) schritt langsam, zum großen Vergnügen der versammelten Menge, durch die Säle bis an den Platz, wo der Hof sich befand, und hier überreichte der Sultan oder seine Mutter der neuvermählten Kaiserin einen Strauß aus Blumen, nach den Anfangsbuchstaben ihres Namens gewunden und ein Gedicht unsers Heinrich Collin dazu, das die Blumen auf eine ebenso sinnreiche als schmeichelhafte Weise erklärte.

Diesem öffentlichen Feste folgten noch mehrere; es war, wie gesagt, eine glänzende Zeit, und als sie zu Ende war, dachte Frau von Staël, der man sich alle Ehre zu erweisen und sie an allem Sehenswürdigen Anteil nehmen zu lassen bemühte, auch daran, mir einen Gegenbesuch – den ersten und letzten – am Aschermittwoch zu machen, und die Weise, wie sie mich im Zirkel meiner gewöhnlichen Abendbesuche fand, sowie die Zeit und ganze Art ihrer Erscheinung war darnach, um ihr und mir deutlich zu zeigen, wie wenig Zusammenstimmendes sich zwischen uns fand. Als die zahlreichen Damen, welche die gewöhnliche Abendgesellschaft meiner Mutter ausmachten, vernahmen, daß Frau von Staël an jenem Mittwoch abends kommen würde, wollte jede sie sehen, wie man etwa ein fremdes Tier ansieht; denn nur wenige unter ihnen waren gebildet genug, um sich in eine Konversation mit dieser Frau einzulassen, und unter diesen, welchen es wohl nicht an Geisteskultur und Artigkeit mangelte, war doch keine der französischen Sprache so mächtig, um ein Gespräch mit Frau von Staël hinlänglich gewandt zu führen.

Auch ich fühlte mich in diesem Punkte geniert, obgleich ich mich ziemlich geläufig auszudrücken geübt [318] war; aber es ist ganz etwas anderes, eine Sprache zu reden, in der man zu denken gewohnt ist, und sich eines Idioms bedienen zu müssen, dessen Ausdrücke sich nicht freiwillig und sogleich unserm Geiste darbieten. Am schwersten ist es dann, sich über Gedanken, Meinungen, literarische Gegenstände usw. auszusprechen, besonders einem so brillanten Geiste wie Frau von Staël gegenüber, welche, wie sie sich in ihren später erschienenen Lettres sur l'Allemagne äußert, unsere Konversation stets unbeholfen und zu langsam fand, und die Ursache sogar in dem Genius unserer Sprache sieht, weil wir stets das Zeitwort zuletzt setzen, und es daher unmöglich sei, jemand nach den ersten Worten zu unterbrechen. In dieser Hinsicht hat ihr Frau von Fouqué sehr richtig in einer kleinen Schrift, die bald nach jenem Buche sur l'Allemagne erschien, geantwortet: daß Frau von Staël nie vergessen sollte, wenn sie über den Mangel an lebhafter Konversation in Deutschland klagt, daß die Deutschen so artig waren, als sie sich unter uns befand, ihre Sprache mit ihr zu sprechen, in welcher wir freilich ihr an Leichtigkeit und Reichtum des Ausdrucks nicht gleichkommen konnten; daß sie aber bei einem nochmaligen Besuche die Gefälligkeit haben möchte, sich im Gespräch mit uns unserer Sprache zu bedienen; dann würde man erkennen, auf wessen Seite der Vorteil sei.

Doch wieder auf jenen Aschermittwoch zu kommen, an den ich nach fast 30 Jahren nicht ohne Verlegenheit denken kann, so saßen denn unsere Damen, – unter welchen sich leider viele befanden, von denen ich noch nicht begreife, wie meine so geistvolle, hochgebildete Mutter sie fast täglich um sich dulden konnte – in dichtgedrängter Reihe um den Teetisch, jede mit [319] einem Strickstrumpf bewaffnet, jede fest entschlossen, und viele wohl auch, wie ich oben sagte, bemüssigt, eine stumme Rolle zu spielen. Es wurde sieben (die damals gewöhnliche Versammlungsstunde), es wurde halb 8 Uhr, die Erwartete erschien nicht. – Von Männern, welche man Frau von Staël mit Ehren vorstellen konnte, hatte ich nur Herrn von Hammer und unsern Collin für diesen Abend bekommen, und dies waren, nebst meiner Mutter, die vortrefflich französisch sprach, die einzigen Personen, auf die ich zählen konnte, um Frau von Staël zu unterhalten, wenn sie käme. Dies geschah denn endlich um 8 oder nach 8 Uhr, wo sie von der Gräfin Wrbna, ganz nahe bei uns, auf eine kurze Zeit zu mir herüber kam. Sie trat ein, und aller Blicke wendeten sich nach ihr. Ein Kleid von silbergrauem Atlas und ein Schal oder Tuch von schwarzen Spitzen darüber, war ein recht passender Anzug für eine Frau von ihren Jahren, aber ein, auf orientalische Art gewundener Wulst von schwarzem Samt, mit hochroten Grains d'Inde vielfach umschlungen, gab ihr etwas Höchstauffallendes, Kühnes, und kleidete sie, meiner Meinung nach, bei ihren starken, männlichen Zügen und braunem Teint durchaus nicht.

Sie saß neben meiner Mutter auf dem Kanapee, ich nahm meinen Platz an ihrer Seite, Schlegel, Hammer und Collin näherten sich ebenfalls, die Frauen rings um den Tisch hatten ehrerbietig gegrüßt und sich jetzt wieder niedergesetzt, um – zu stricken, wie das altenglische Lied sagt:


Phillis, ohne Sprach und Wort,

Saß und strickte ruhig fort.


Mich überfiel eine Art von Bangigkeit, so oft ich auf diese schweigsame Gesellschaft sah, die die hochberühmte [320] Frau lautlos umgab, sie nur dann und wann mit neugierigen Blicken musternd, und mir dachte, welche Vorstellung sich Frau von Staël wohl nach diesem Abend von dem Kreis machen möchte, in dem ich lebte. Daß es nicht eigentlich meine, sondern meiner Mutter Bekannte waren, konnte ich nicht sagen und sie nicht erfahren, da ich, solange meine Mutter lebte, in diesen wie in so manchen andern Stücken mich gänzlich nach ihr richten mußte.

Indes unterhielten eben meine Mutter und die Herren, welche zugegen waren, das Gespräch mit Frau von Staël sehr lebhaft und angenehm; sie schien wenigstens sich nicht zu ennuyieren, sie sprach äußerst geistreich und sagte unter andern von Chateaubriand: il est croyant par imagination – eine, wie mich dünkt, sehr passende Bezeichnung. Dann forderte sie mich auf, sie mein organisiertes Fortepiano hören zu lassen. Ich spielte ihr etwas vor, das Instrument gefiel ihr wohl, wie es denn auch wirklich, manche kleine Gebrechen abgerechnet, vielen Genuß gewährte. Sie Berührte es hierauf selbst, aber ich kann nicht sagen, daß sie eigentlich gespielt hätte, und bald darauf ging sie weg. Ich fühlte mich völlig erleichtert, als sie fort und diese so heterogene Erscheinung aus dem Gesellschaftskreise, für den sie und der nicht für sie paßte, verschwunden war. Nun war das Siegel von dem Mund der Damen gelöst, und sie ahnten wohl nicht, wie sie so nach ihrer Art diese Frau beurteilten, daß sie, zwei Häuser weit von un, bei der Gräfin von Wrbna, zu der sie wieder von uns ging, sie die Tricoteuses de la tribune genannt hatte.

Die Visite war denn also abgetan und ich froh, daß sie nicht wiederholt wurde. Indes blieb Frau von [321] Staël sehr artig gegen mich, und lud mich durch ein freundschaftliches Billett bald darauf zu einer theatralischen Vorstellung ein, welche bei der Gräfin Zamoyska statthaben, und wo Frau von Staël in einem, von ihr selbst gedichteten kleinen Schauspiel Hagar, und dann in einer kleinen Komödie: Le legs auftreten sollte. Die Versammlung war sehr glänzend, es war die Crême de la Société, obwohl sie damals noch nicht so genannt wurde; das Appartement, nach dem damaligen Geschmack auf griechische Art drapiert, von den ebenfalls unlängst modegewordenen argantischen Lampen erhellt, und eine Menge kleinerer oder größerer Etablissements mitten im Salon, so daß die Gesellschaft ohne allen eigentlichen Mittelpunkt nach allen Richtungen, wie es gerade jedem beliebte, saß, stand, ging, lehnte usw. Mir war dies damals etwas Neues, denn in den Gesellschaften des Mittelstandes herrschte noch die ältere Sitte; aber ich fand das Neue wo nicht hübsch, doch bequem, und jetzt ist es wohl schon überall verbreitet, wo man auf Eleganz Anspruch macht.

Endlich begann die Vorstellung. Wir wurden in einen andern Salon geführt, wo ein kleines Theater aufgeschlagen war. Das erste Stück, Hagar, war von Frau von Staël selbst. Die Szene stellte die Wüste vor. Frau von Staël, in sehr einfachem orientalisierenden Anzug, trat, ihre Tochter (die Herzogin von Broglie, damals ein zehnjähriges Kind) als Ismael an der Hand, auf, und gab wirklich mit vieler Wahrheit und Lebhaftigkeit die Rolle dieser leidenschaftlichen, unglücklichen Mutter, wobei ihr ihre ausdrucksvolle Physiognomie und ihre schöne Stimme sehr zu statten kam. Mich und vermutlich alle meine gegenwärtigen[322] Landsleute befremdete wohl das sehr heftige, tragierende Spiel der französischen Schule, aber nie werde ich des Tones vergessen, der ihren bebenden Lippen entfloh, als sie in ihrer ungestümen Heftigkeit den Wasserkrug, in dem sich ihr letzter Vorrat und das letzte Mittel, des verschmachtenden Kindes Leben zu fristen, befand – umgestoßen hatte, und sie nun den Inhalt desselben gleichsam mit dem Leben des Kindes verrinnen sah. Es war kein Schrei, kein Ruf, aber es war ein unartikulierter Naturlaut, der, tief aus der Seele kommend, wieder in die Seele drang, und den ich gern mit jenem, ebenfalls halblauten Schmerzenston Crescentinis vergleichen möchte, wenn der Sargdeckel abgehoben wurde, und er nun Juliens Gestalt als Leiche vor sich erblickte.

Doch nun erschien der Engel – der jüngere Sohn der Frau von Staël – ein Knabe von zwölf bis vierzehn Jahren, weiß gekleidet und mit himmelblauem Krepp drapiert, wirklich einem Engel an Schönheit gleich, obwohl sein Spiel, wie das bei Knaben in solchen Jahren gewöhnlich ist, ziemlich steif und unbedeutend war, und das Stück endete froh und trostvoll unter lebhaften Beifallsbezeugungen der Menge.

Hierauf folgte das französische Lustspiel Le legs. Ein Testament verbindet einen jungen Kavalier, seine Hand der Erbin eines großen Vermögens zu geben, wenn er dessen teilhaftig werden will. Aber er liebt einde andere und zieht diese der reichen Erbin vor. Ein fataler Zufall wollte, daß das Frauenzimmer, eine nicht ganz junge Person, wie man sagte, welche die verschmähte Erbin hätte machen sollen, denselben Tag krank wurde, und nun die Frau vom Hause, Gräfin [323] Zamoyska selbst, eine junge und sehr hübsche Dame, aus Gefälligkeit und um die Darstellung möglich zu machen, die Rolle der Verschmähten übernahm. Freilich las sie selbe nur aus der Schrift herab, aber sie stand doch leibhaft in ihrer Jugend und Schönheit vor uns, während Fürst Clary, der den jungen Mann mit ebensoviel Anstand als Lebhaftigkeit gab, ihr die Frau von Staël, die jetzt in modernem Kostüm, weiß angezogen und das Überkleid mit einem ungeheuern Bukett am Knie trussiert, nichts weniger als schön aussah, vorziehen sollte. Es lag etwas gar zu Widersprechendes und daher Störendes in dieser Rollenbesetzung, die denn auch zu manchem Witzworte über die, ohnedies nicht beliebte Schriftstellerin Anlaß gab, sowie man ihre Hagar, la justification d'Abraham nannte.

Nicht lange darnach wurde bei Fürst Liechtenstein auf seinem Haustheater im Palast in der Herrengasse ein zweites Stück von Frau von Staël: Geneviève de Brabant gegeben. Sie war Genovefa; Fürst Clary Sigefroi, ihr Gemahl; Schlegel ein Eremit des Ardennerwaldes; Albertine (ihre Tochter) hatte die Rolle des Schmerzenreich (l'enfant de la douleur), und ihr Sohn gab einen, von ihr hinzugedichteten älteren Sohn Genovefens und Siegfrieds, der seinen Vater auf die Jagd begleitet. Von Golo und allen Begebenheiten, die ihrer Verstoßung vorausgehen, wurde nur gesprochen, und das Stück begann in ihrer Höhle, in der sie schon sieben Jahre mit ihrem Knaben lebt. Auch in diesem Stücke zeigte sie sich als eine sehr geschickte Schauspielerin; aber ihre Gestalt nahm sich durchaus unvorteilhaft in der Kleidung von Tierfellen, mit herabhängenden Haaren, ohne allen Putz, aus, [324] ihr Spiel war zu heftig, und die Dichtung selbst nicht sehr bedeutend.

In der nächstfolgenden Fastenzeit hielt uns A.W. Schlegel im Janischen Saale Vorlesungen über Dramaturgie. Diese Kollegien, in den Vormittagsstunden gehalten und von allen besucht, welche mit Recht oder Unrecht Anspruch auf Geistesbildung oder Eleganz machten, boten eine recht angenehme Versammlung interessanter Personen dar. Frau von Staël erschien fleißig, man war sicher, viele Bekannte und ausgezeichnete Menschen zu treffen oder kennen zu lernen; was Schlegel sagte oder las, hatte natürlicherweise viel Gehalt, wenn es gleich zuweilen Paradoxen enthielt und sein Vortrag nicht gerade hinreißend war. So bildeten diese Vorlesungen eine sehr angenehme Unterhaltung und einen Vereinigungspunkt für die schöne Welt auch nach dem Karneval.

Eine Freundin meiner Eltern, Frau von Flies, Schwester des Barons von Eskeles, war nach einer langen Abwesenheit im Jahre 1802 oder 1803 wieder nach Wien zurückgekommen. Sie war Witwe und bejahrt, aber ein reger Geist, eine Liebe zu höheren geistigen Genüssen und eine unendliche Gutmütigkeit und Freundlichkeit machten ihr Haus, so klein es war, zu einem angenehmen Sammelplatz für einen beschränkten, aber gewählten Kreis gebildeter Menschen. Man versammelte sich an einem bestimmten Wochentage und manche, die schon zu den Auserwählten gehörten, blieben nach der Soirée bei einem mäßigen, aber niedlichen Souper. Mich hatte Frau von Flies liebgewonnen, ich war die Tochter langbewährter Freunde, sie hatte mich als halbgewachsenes Mädchen verlassen und fand mich als Frau von [325] mittleren Jahren, als Schriftstellerin, die schon einigen Namen erworben hatte, wieder; so war ich ihr wert, und ich achtete sie als eine mütterliche Freundin. Viele angenehme Stunden habe ich in ihrem Hause verlebt, viele anziehende Bekanntschaften dortge macht; durch sie ward unsere Familie dem Arnsteinschen Hause, mit dem schon meine Eltern wohlbekannt waren, dem mich aber wie vielen andern die Entfernung meiner Wohnung entfremdet hatte, wieder genähert, und ich kam nun sehr oft in diese glänzenden Häuser von Arnstein, Pereira und Eskeles. Doch am meisten fühlte ich mich verpflichtet, Frau von Flies für ihr Wohlwollen und ihren herzlichen Anteil an mir zu danken.

Bei ihr sah ich denn auch A.W. von Schlegel, die schöne Großmutter und viele bedeutende Fremde. Schlegel las uns Übersetzungen aus Calderon und andere Gedichte, teils von ihm selbst, teils von seinem Bruder Friedrich vor, dessen Ankunft in Wien man fürs nächste Jahr erwartete, und auf welchen, sowie auf den schon anwesenden Bruder, ihre Fehden mit Kotzebue und Merkel, sowie ihre Vergötterung Goethes und die neuen Theorien von Poesie höchst aufmerksam gemacht hatten. Jene Abende bei Frau von Flies waren mir sehr angenehm, und in solchen lebhaften geselligen Verbindungen ging der Winter von 1807 auf 1808 genußreich hin.

Im Frühjahr dieses Jahres erschien mein Agathokles, an dem ich fast drei Jahre gearbeitet hatte, und erregte im Anfange wenig Teilnahme. Auf mich stürmte in derselben Periode manches häusliche Leiden ein und wurde mir zum Prüfstein meiner innerlichen Kraft. Ich ertrug und ich kann sagen, ich überwand [326] es. Waren doch meine Lieben, mein Mann, mein Kind, meine Mutter mir geblieben. Ich war an manchem Schönen, mancher jugendlichen Täuschung ärmer, aber an Mut, Erfahrung und Geduld reicher geworden.

Im nächsten Herbste traf also Friedrich von Schlegel mit seiner Frau, einer gebornen Mendelssohn, in Wien ein. Alles war sehr gespannt auf dieses Paar; denn nächst dem wohlverdienten literarischen Ruhm, der Friedrich von Schlegel voranging und ihm schon längst die Achtung der Gelehrtenwelt erworben hatte, gesellte sich noch ein pikanterer Reiz dazu. Man freute sich, den streitfertigen Gegner Merkels und Kotzebues, den Mann, der als Gründer einer neuen poetischen Schule so viele langverehrte Autoritäten von ihren Altären stürzen wollte und in Vieler leicht beweglicher Meinung auch gestürzt hatte – endlich auch den Verfasser der vielberüchtigten Lucinde von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen. Dieses Buch, sowie das meiste, was ungefähr 5–6 Jahre früher aus der Feder dieser beiden Brüder geflossen war, hatte Deutschland in Erstaunen gesetzt; war aber doch von den meisten zwar mit Anerkennung der großen Gelehrsamkeit, im ganzen aber mit Mißbilligung aufgenommen worden. Überdies erwartete man in Frau von Schlegel das Urbild der Lucinde zu erblicken, und so sah man ihrer beiderseitigen Erscheinung begierig entgegen.

Hatte aber schon A.W. Schlegel durch sein zierliches, fashionables und fast übertrieben sorgfältiges Äußeres die allgemeine Erwartung getäuscht, welche auf einen tüchtigen Renommisten und rauhen, scharfen Kritiker, dessen Sitten der Umgang mit den schönen [327] Künsten nicht gemildert hatte, vorbereitet war, so fand sich bei seinem Bruder noch weniger von diesem, durch die Phantasie entworfenen Bilde. Friedrich Schlegel war ein Mann gegen Vierzig – mit einer ziemlich angenehmen Bildung, der aber in Wuchs, Gesicht und Benehmen viel eher einem einfachen, redlichen Bürgersmann als einem schlag- und streitsüchtigen Gelehrten glich. Noch auffallender war der Kontrast zwischen dem Bilde, das wir uns hier von seiner Frau entworfen, in der jedermann das Urbild der schönen, lüsternen, freien Lucinde zu finden dachte, und dem Eindrucke, den die wirkliche Erscheinung dieser Frau machte. Es war eine, längst über alle Jugend und alle Schönheit – wenn je eine dagewesen war – hinausgerückte Gestalt, von mittlerem, etwas starkem Wuchse mit geistreichen, aber beinahe männlichen Zügen, wie denn manche, die ihren berühmten Vater gekannt, behaupteten, sie sähe ihm ganz ähnlich. Dennoch war in diesen nicht reizenden Formen ein solcher Ausdruck von Geist und höherer Natur, in diesen wirklich schönen schwarzen Augen so viel Leben, Feuer und Güte, in dieser ganzen Persönlichkeit so viel echt weibliche Würde, sittsamer und feiner Anstand, daß es unmöglich war, auch nur einen Augenblick länger an jenes schlüpfrige, unsaubere Bild zu denken, und daß man sich mit mächtigen Banden der Achtung und des Wohlwollens zu dieser merkwürdigen, geistvollen und doch so anspruchslosen, zu dieser vielbesprochenen, vielgeprüften und doch so einfachen Frau hingezogen fühlte. Wenigstens ging es mir so, und die allgemeine Achtung, deren sie während eines vieljährigen Aufenthaltes in Wien sowie später in Frankfurt genoß, die warme Freundschaft, mit welcher alle, [328] die sie näher kennen gelernt, an ihr hingen, beweist, daß diese meine Empfindung, welche mich nun auch schon seit beinahe dreißig Jahren für diese Frau belebt, keine individuelle Ansicht oder wohl gar Täuschung gewesen sei.

Genug, die Schlegel waren nun in Wien. Bald erhielt Friedrich eine diplomatische Anstellung, die ihn an Österreich band, und ihr Haus ward ein Vereinigungspunkt für höhergebildete Menschen, interessante Fremde und Künstler. Sehr angenehm verflossen dann die Abende in diesem Kreise, und gerade die Beschränkung der Glücksumstände, welche der Familie keinen Aufwand, keine oft lästige Eleganz und prätenziöse Fashionablität erlaubte, gab diesen Zusammenkünften einen eigentümlichen Reiz von hausväterlichem Ton und herzlichem Wohlwollen. Man fühlte, daß man wirklich willkommen war, und daß das einfache, aber schmackhafte Gouter uns mit aufrichtiger Wohlmeinung geboten wurde. Ich war ungemein gern da, und zähle jene Stunden, bei Frau von Schlegel zugebracht, zu den angenehmsten meines Lebens.

So verging das Jahr 1808 unter wechselnden, aber bedeutenden Ereignissen, und das ungleich wichtigere 1809 brach an.

Schlegel hatte eine Zeitung begonnen. Es war der Österreichische Beobachter, der damals zuerst erschien, und so wie jetzt unter der Ägide und mithin unter der Aufsicht der Staatskanzlei oder eigentlich des Fürsten (damals Grafen) Metternich stand. Große Bewegungen schienen sich vorzubereiten und auf noch größere Ereignisse hinzudeuten. Napoleon dehnte in Krieg und Frieden seine Macht immer weiter aus. Er eroberte durch seine Armeen und seine überraschende [329] Taktik, die damals noch immer das Erstaunen und eben deswegen auch den Ruin der feindlichen Armeen verursachte, große Länderstrecken. Was er erobert, behielt er beim Friedensschlusse und wußte nach dem Frieden oder eigentlich während des Friedens unter allerlei der nichtigsten Vorwände, womit er der Welt gleichsam spottete, mehr Länder zu besetzen, zu behalten und als direkte und indirekte Staaten seinem, bereits nach der Universalmonarchie strebenden Reiche einzuverleiben, als ihm das Glück der Waffen verschafft hatte. Die Freiheit der Presse war durch ihn vernichtet, ein ungeheures Lügensystem in den Zeitungen eingeführt und in der Absicht, den englischen Handel zu zerstören, ganz Europa mit der Kontinentalsperre unter dem unerträglichsten Drucke gehalten. Alles seufzte unter diesem Joche, die alten Throne wankten, und mit Bangigkeit sahen Völker und einzelne dem Los ihrer künftigen Tage entgegen, dessen Bestimmung einzig und allein von dem Willen eines Mannes, dieses Napoleon, abhängig war, den jetzt so viele mit unbegreiflicher Vergessenheit alles einst Geschehenen als einen Verfechter der Völkerfreiheit und liberaler Ideen betrachten.

In ganz Deutschland, besonders nach dem Unglücke Preußens, gärte und kochte Haß gegen diesen – jetzt so gerühmten Freiheitshelden, und geheime Verbindungen knüpften sich an, um wo möglich eine Reaktion hervorzubringen. Es mag nun wohl sein, daß englisches Gold unter der Hand zu diesem Zwecke tätig gewesen war, so viel aber ist gewiß, und jeder Zeitgenosse, der jene Epoche mit erlebt, wird es zugeben müssen, daß ganz Deutschland sowie Österreich die Last jener Verhältnisse mit Schmerzen fühlte und[330] einer Möglichkeit, sie abzuschütteln, mit banger Sehnsucht entgegensah.

Ein schönerer Geist fing an, sich zu regen. Durch Bücher, durch Dichtungen, durch die Richtung, welche Kunst und Literatur auf vaterländische Gegenstände nahmen, bekamen diese höheren Wert für jeden, als sie vormals gehabt hatten. Die Idee des Vaterlandes, die Nationalehre erwachte in den, durch lange Gewohnheit und bequemes Hinleben im behaglichen Friedensstande der letzten Dezennien erschlafften Geistern, und es ist nicht zu leugnen, daß auch die romantische Poesie, indem sie eine bis dahin unbeachtete Vergangenheit aus ihren Gräbern aufrief, und die alten Schätze deutscher Dichtkunst uns vor Augen führte, diesen Geist erhöhte und verstärkte. Man fing an, das alte Deutschland zu lieben, man studierte seine Sitten, man erwärmte sich an dem ritterlichen, frommen Sinne des Mittelalters und gewann das Land und die Landsleute lieber, denen man früher gern alles Ausländische vorgezogen hatte.

So war die allgemeine Stimmung, als Österreich den Krieg an Frankreich erklärte. Unser Freund Collin dichtete für diesen Zweck seine Landwehrlieder, welche mit Musik von Weigl am Ostersonntag vor einer gedrängten Versammlung von mehreren tausend Menschen im Redoutensaale gesungen wurden und in welche das Publikum, wo es anging, mit voller Seele und unter allgemeinem Jubel einstimmte. Welch ein Tag war das! Welche Stimmung unter meinen Mitbürgern, und wie – – doch ich will mir nicht selbst vorgreifen.

Die Regimenter fingen an, sich zu rühren. Die sechs Landwehrbataillone von Wien wurden organisiert. Viele angesehenere junge Leute nahmen [331] Dienste, darunter B. Steigentesch, und andere ausgezeichnete Offiziere schätzten es sich zur Ehre, sich an die Spitze eines der Bataillone zu stellen; Graf Hoyos (der Oberstjägermeister) bewaffnete seine Bergbewohner, die Untertanen seiner Güter, und zog selbst als ihr Oberst mit ihnen aus, jedes Ungemach, jede Entbehrung, jede Gefahr mit ihnen teilend. Sie begleitete als Feldkaplan ein ausgezeichneter Geistlicher, Baron Somerau-Beeckh, ein Jugendbekannter von mir, mit dem ich mehr als zwanzig Jahre früher manchen Walzer getanzt hatte. Damals dachte wohl niemand an eine solche Umstaltung seiner Laufbahn; denn aus jenem fröhlichen Studentenleben trat Somerau ins Militär, und es vergingen mehrere Jahre, während welcher niemand – kaum seine Mutter und Schwester – etwas von ihm wußten. Plötzlich, kurz vor meiner Verheiratung, verbreitete sich das Gerücht, Baron Somerau habe sich dem geistlichen Stande gewidmet, und bald darauf kam er nach Wien, besuchte uns freundlich, zeichnete sich sofort in seiner neugewählten Laufbahn als Seelsorger und Prediger aus, war Kaplan in mehreren Pfarren nacheinander, zog dann mit der Landwehr aus, der er als ehemaliger Militär von großem Nutzen war; erwarb sich auch in dieser Laufbahn Ehre und Achtung, wurde dann Domherr in Olmütz, und ist jetzt (ich schreibe dies im Dezember 1836) erwählter Fürst-Erzbischof von Olmütz! Per tot discrimina rerum! Nicht ohne stilles Vergnügen weilt mein Geist bei den Erinnerungen an diesen Mann, dessen Laufbahn so sonderbar, dessen Geist und Gemüt stets ausgezeichnet waren, dessen endliche Erhebung auf den Fürstenstuhl für seinen gediegenen Wert beweist, und ich denke gern an die[332] längstvergangene Zeit, zwischen die und jetzt sich ein halbes Jahrhundert drängt, wo ich mit ihm jugendliche Freuden teilte oder zehn Jahre später, als er schon Priester war, mich an seinem geistreichen Umgang ergötzte oder an seinen Predigten erbaute, die wirklich sehr gut waren und ein zahlreiches Publikum hatten.

Das berühmte Kürassierregiment Hohenzollern (vor 200 Jahren Dampierre, später Großfürst Konstantin, oder wie es jetzt heißen mag) marschierte durch Wien, und wie es sich dies Vorrecht durch die Befreiung Kaiser Ferdinands II. im Jahre 1619 verdient, zog es durch die Stadt, durch die kaiserliche Burg, und schlug sein Werbgezelt auf dem Burgplatze auf, wo sich sogleich zwei Fürsten Liechtenstein anwerben ließen. Mich regte das alles ungemein auf, und ich dichtete eine Romanze, deren Inhalt diese Rettung des Kaisers und das von diesem Regimente erworbene Vorrecht waren. Die Romanze erschien, wenn ich nicht irre, an dem Tage selbst, wo der Einmarsch statthatte, und ich sah die ganze Zeremonie mit wahrhaft klopfendem Herzen und unter frommen, aber zitternden Wünschen für den glücklichen Ausgang aller dieser Bestrebungen aus den Fenstern des k.k. Archivs an Hormayrs Seite an, der voll stolzer Hoffnungen war und sich anschickte, als Generalintendant nach Tirol zu gehen und dort den Landsturm gegen die Bayern und Franzosen zu organisieren. Es war wohl nur Zufall, aber doch ein böses Omen, daß er gerade am Karfreitag zu dieser Mission von hier abging.

Die Würfel waren geworfen, die Regimenter marschierten gegen den Feind. In unserm Kreise befanden sich mehrere Familien von Offizieren; die Frauen, die[333] Verwandten sahen mit noch bangerem Gefühl als wir übrigen dem Schicksale der kommenden Tage entgegen; denn manche traurige Erfahrung von 1797, 1800, 1805, Preußens Schicksal in den Jahren 1806 bis 1807 hatten uns die frohe Zuversicht in das Glück der österreichischen Waffen im Konflikt mit jenen bis dahin unüberwindlichen Armeen sehr geschwächt. Jedoch lebte noch manche freundliche Hoffnung in uns, gestützt auf die Größe und Wirksamkeit der Anstalten, auf den Ruhm des Erzherzogs Karl, der zum Generalissimus ernannt war, und den neuen patriotischen Geist, der die ganze Nation beseelte.

So vergingen einige Tage. Es waren, um den Schutz des Himmels für unsere wirklich gerechte Sache anzuflehen, Bittgänge angeordnet, an denen der Hof und die ganze Stadt teilnahmen. Ehe der Tag zu diesen Prozessionen erschien, ereilten uns schon trübe, unglückverkündende Botschaften. Der Unfall bei Regensburg war eingetreten. Von einem Vorrücken oder Angreifen keine Rede mehr. Die Armee des Erzherzogs zog sich nach Böhmen. Mit welchen Gefühlen der Angst und inbrünstiger Andacht um Abwendung der abermals drohenden Gefahr wurde diese Prozession begangen! Mit welchen schmerzlichen Gefühlen betrachtete ich den Dom von St. Stephan, während die Prozessionen der Vorstädte laut betend und den Herrn der Könige, der »ihre Herzen wie Wasserbäche lenkt«, um Schutz und Segen für den Monarchen, für das Vaterland, für jeden einzelnen anrufend, in denselben einzogen! Ach, dieser Dom! welche Schicksale hatte er nicht schon gesehen, was hatte er nicht mit Österreich mitgemacht! Ruhm und Glanz, Not und Gefahr, Elementarstürme und Belagerungen![334] Es kam mir in dem Augenblick das ehrwürdige Gebäude mit seinen kolossalen Dimensionen, mit seiner altertümlichen Pracht, mit seinen, durch fünf Jahrhunderte dauernden Mauern wie ein Symbol, wie ein Repräsentant von Österreich und von seinem Kaiserhause vor. Waren es denn nicht einige der ersten Herzoge aus diesem Hause, welche den, von den Babenbergern gegründeten kleinen Bau nach einem größern Plan erweitert und in der Pracht hergestellt hatten, in der wir ihn noch sehen? Gerade wie auch das Haus Habsburg die anfangs kleine Macht der Ostmark endlich zu der Größe von Bedeutenheit und Gewalt gebracht hat, deren sich Österreich jetzt erfreuen durfte.

Durch unsern werten Freund, Baron, jetzt Graf Rothkirch, der als Major vom Generalstabe mit der Armee fortgezogen war, bekam ich die erste ausführlichere Nachricht von jenen Unglücksfällen. Sein Brief, in sehr düsterm Ton geschrieben, war aus einem kleinen Flecken an der böhmischen Grenze datiert. Er schickte mir durch einen vertrauten Menschen einen Teil seiner Barschaft, seine Karten und eine Kassette mit Papieren, um es zu verwahren. Während aber jene Truppe sich nach Böhmen gezogen hatte, war die feindliche Armee uns schon ganz nahe gekommen. Der Hof, die Kanzleien gingen fort, die kaiserlichen Schätze, Galerien usw. wurden eingepackt und entweder fortgesandt oder an verläßlichen Orten verborgen. Zum vierten Male hatten wir eine Invasion des Feindes mit allen ihren Schrecken zu befürchten, zum zweiten Male sollte sie wirklich über uns kommen, und um so furchtbarer, da man nicht bloß wie anno 1797 daran dachte, die Stadt zu verteidigen, sondern wirklich alles Ernstes [335] die Anstalten dazu getroffen, die Basteien mit Kanonen besetzt, die Zugbrücken an den Stadttoren in Gang gesetzt wurden, und die Vorstädte folglich dem Feinde oder dem Pöbel preisgegeben werden sollten.

Das war keine freundliche Aussicht, zumal für uns, die die Lerchenfelder Bevölkerung von der ersten Hand zu erwarten hatten. Meine Mutter, damals schon hochbetagt, überlegte, was zu tun sei. Viele rieten uns, von hier wegzugehen und taten es selbst; andere zogen, der persönlichen Sicherheit wegen vor, sich lieber in die zu belagernde Stadt einschließen zu lassen. Unter diesen war eine Familie, welche aus einer hochbetagten Mutter, zwei verheirateten, aber von ihren Männern getrennten Töchtern und deren Kindern bestand. Diese trieb die Angst vor Volksaufständen in die Stadt hinein, und es war auch wirklich zu verwundern, wie man, da eine Belagerung bevorstand, so viel unnützes Volk in den Umkreis der Stadt aufnehmen mochte. Doch die eine der Töchter, eben jene schöne und geistreiche Frau von Kempelen, welche mit unserm Freunde Streckfuß und dann noch mit mehr andern zärtliche Verhältnisse gehabt hatte, und die nun in unserm Hause einen neuen Magnet an einem sehr braven und interessanten Manne gefunden hatte, Frau von K. entschied sich, in der Vorstadt zu bleiben, und wenn wir sie aufnehmen wollten, die Tage der Gefahr mit uns und unsern Hausgenossen zu teilen. Meine Mutter hatte schon früher, teils aus eigener Ansicht, teils auf den Rat eines sehr würdigen Freundes, des Waisenhausdirektors Vierthaler, sich entschlossen, in ihrem Hause zu bleiben. Vierthaler hatte ihr nämlich gesagt: wo Gott sie hingestellt habe, wo ihr liegendes Eigentum sei, das sie [336] ohne großen Schaden nicht verlassen könne, dort sei ihr Platz bei Gefahren; und so blieb sie denn, und wir fingen an, für die ersten Tage der Unruhe und Verwirrung einige Vorräte an Mehl, Hülsenfrüchten, geräuchertem Fleisch, Schmalz usw. einzuschaffen und einstweilen auf dem Hausboden zu verwahren. Komisch war es, bei aller Angst und Besorgnis, die uns drückten, das Benehmen mancher von den alten Frauen, den Gesellschafterinnen meiner Mutter, zu beobachten, und ich habe einige Züge aus jener Zeit in dem Charakter der Frau v. Volkersdorf in meinem Roman: Die Belagerung Wiens, aufbewahrt, wie sie von jeder Höckerin, jeder Magd sich Nachrichten holten, an die sie fest wie an offizielle Berichte glaubten; wie jedes ungewöhnliche Getöse sie in Angst versetzte, weil sie es für Schüsse hielten, und als die Feinde noch bei Linz standen, das Holzabladen in einer nahen Straße für fernen Kanonendonner gehalten wurde.

Zum Glück für mich waren aber auch klügere Frauen in unserem Kreise, welche doch selbst, als Offiziersfrauen, eher ein Recht gehabt hätten, ängstlich zu sein. Die Baronin Richler mit ihren beiden Schwestern, deren Mann an der Spitze eines Landwehrbataillons ausgezogen war, und die Baronin von Engelhardt samt einer Schwester, die für den Mann, den Sohn und den Bruder zu zittern hatten, welche beim Regiment Deutschmeister standen. Und gerade diese waren die Ruhigsten, die Vernünftigsten, an deren Haltung und Fassung ich mich oft aufrichtete. Es war eine schöne Frühlingszeit im Anfange des Mais, und unser stiller Garten in der Alservorstadt jeden Abend und oft auch während des Tages der Sammelplatz [337] des kleinen Kreises der Freundinnen und einiger hiergebliebener Freunde, welche die Nachrichten, die jedes vernommen, ihre Mutmaßungen, düstern Besorgnisse oder geringen Hoffnungen einander mitteilten.

Indessen rückten die Feinde immer näher heran, und drangen endlich bis in die Vorstädte. Jetzt hörte man wirklich ihre Schüsse ziemlich nahe; die Tore der Stadt wurden gesperrt, unsere Bürgerregimenter marschierten auf die Wälle und bedienten das Geschütz. Wie in der letzten türkischen Belagerung geschah der Angriff von Seite der ungarischen Garde und der k.k. Stallungen gegen die Burgbastei und den kaiserlichen Palast. Hier stand einer unserer Freunde, der Hauptmann beim zweiten Bürgerregiment, Barchetti, ein schöner, junger Mann mit seiner Kompagnie. Eine französische Kugel riß ihm den Schenkel weg, er wurde in die Stadt hinabtransportiert, sein Bruder (der jetzige Gubernialrat) geholt; er starb aber noch diese Nacht – vielleicht nebst wenigen Unbekannten das einzige Opfer von Bedeutung, welches diese Beschießung gekostet hatte; denn er war ein hoffnungsvoller Mann in der Blüte seiner Jahre und Vater von mehreren Kindern.

Am Abend wurde das Schießen von beiden Seiten stärker. Lange bewahrten die Mauern der k.k. Stallungen die Spuren mancher Kugeln, welche von der befreundeten Stadt hinaus auf die Vorstädte flogen. Mit dem Einbruch der Nacht schien die Beschießung der Stadt ernstlich zu werden, und in dem Maße, wie die Schüsse näher, dichter fielen, wuchsen natürlicherweise unsere Besorgnisse. Man berichtete uns, daß wir vom Garten aus die Richtung und den Weg der Kugeln [338] sehen könnten. – Wir eilten in das Zimmer, welches in den Garten sieht, und das uns, freilich hinter Bäumen und von andern nähern Gebäuden versteckt, dennoch ziemlich richtig die Lage der Vorstädte, in denen die Franzosen mit ihrem Geschütze standen, und die Gegend der Stadt beurteilen ließ, wohin sie ihre Schüsse richteten, und woher die der unserigen kamen. Mit bangem Mute standen wir, Frau von K**, der jüngere Kurländer, ich und mein Mann, am Gartenfenster da, und sahen von der rechten Seite herein (von der Gegend des Spittelberges) die Haubitzen der Franzosen als weißglänzende zitternde Schlangen in fast horizontaler Bewegung gegen die Stadt hinfliegen – furchtbare Vögel, die Graus und Flammen dahintrugen, wo sie hintrafen, während aus der Stadt linksherüber in majestätischem Bogen rotlodernde Bomben sich erhoben und sich auf die, vom Feinde besetzte Gegend herabsenkten. Das Krachen, der Donner des eifrig spielenden Geschützes, das in solcher Nähe auch bald uns selbst zu erreichen drohte, hatte schon an und für sich etwas sehr Beängstigendes; noch beängstigender aber war es für uns, als wir rechts hinüber, also in der befreundeten Stadt, eine Lohe um die andere auflodern sahen und unsere Phantasie freien Spielraum hatte, sich jeden oder jede unserer liebsten Freunde jetzt in Feuers- oder Lebensgefahr zu denken! Es war eine furchtbare Nacht – durch die Menschen dazu gemacht! während der Garten mit seinen Blumen und Bäumen, vom hellen Monde beglänzt, im tiefsten Frieden der Natur vor uns lag!

Pichler ging mit einer Seelenruhe, die ich mir wohl wünschen, aber nicht erlangen konnte, gegen zwölf Uhr von uns weg, legte sich zu Bette und schlief richtig [339] während des Kanonendonners, der bis gegen drei Uhr morgens währte, ruhig ein. Wir übrigen brachten diese Stunden wach und in großer Unruhe zu, und ich stieg mehr als einmal zu meiner verehrten Nachbarin, der Baronin von Engelhardt hinauf, um bei ihr, die als sehr gescheite Frau, als Gemahlin eines Militärs, und welche die Belagerung von Mainz mitgemacht hatte, mir gänzlich Unerfahrenen zu Rat und Trost sein konnte. Aber Trost gaben mir ihre Reden nicht, vielmehr gingen aus denselben größere Besorgnisse hervor; denn es wurde mir klar, daß die heutige Nacht nur erst der Anfang bedrängterer Tage sein könne. Endlich hörte der Kanonendonner auf, ich legte mich zu Bette und schlief ein paar Stunden. Als ich nach sechs Uhr in den Garten hinabging, und unserm alten Gärtner, der in seiner Jugend Kanonier gewesen war, von den Schrecken dieser Nacht sprechen wollte, sagte der alte Soldat ganz ruhig: Gnädige Frau! Das wird und muß noch ganz anders kommen. Jetzt werden die Franzosen die Dächer der nächsten Häuser am Glacis abdecken und die Kanonen dort hinaufpflanzen, dann wird das Schießen erst recht angehen. Des Mannes Meinung traf zu genau mit dem zusammen, was meine Freundin mir in der Nacht gesagt hatte, um mir nicht die lebhafteste Angst einzuflößen.

Indessen – kein Schuß ließ sich mehr weder aus der Stadt noch aus der Vorstadt vernehmen, und wie wir uns auf der Gasse umsahen, bemerkten wir zu unserer Beruhigung, daß auf den Dächern des Universalspitales, Findelhauses usw. schwarze Sicherheitsfahnen aufgesteckt waren, um diese frommen Anstalten vor den feindlichen sowohl als freundlichen Kugeln zu schirmen; denn das durften wir unsern Siegern wohl[340] zutrauen, daß sie solche Häuser, welche der leidenden oder der hilflosen Menschheit gewidmet waren, respektieren würden. Und sie taten es auch bei jeder Gelegenheit, sowie sie sich, als sie später die Stadt schon besetzt hatten, bei Unordnungen willig und gehorsam von unserer Bürgergarde arretieren ließen, und so manchen »Staberl« als das Organ der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ehrten. Das sind eben die zwar seltenen, aber erfreulichen Züge, an denen der unparteiische Beobachter das langsame, aber sichere Vorrücken der echten Sittigung wahrnehmen kann.

Gegen 8 Uhr überraschte uns, und wahrlich nicht ganz angenehm, die unerwartete Nachricht, daß die Stadt übergeben sei und die Franzosen sogleich Besitz davon nehmen würden. So waren denn alle die Anstrengungen, so manches Leben, welches für die Idee der Stadtverteidigung gefallen war, so viele Vorbereitungen und Entschlüsse vergeblich – und das ganze eigentlich eine leere Ostentation gewesen! Da hätte man nicht bedurft, die Einwohner zu schrecken, sie so manchen Plackereien zu unterwerfen, so manches Haus den Flammen zu überliefern, so vieler Menschen Gesundheit und Leben, die in der Nacht des Bombardements gelitten, aufs Spiel zu setzen, wenn der Widerstand nicht länger als 24 Stunden dauern sollte. Wohl hatte die Vorstellung einer längern Belagerung und dessen, was die Vorstädte hätte betreffen können, viel Furchtbares für uns; aber vieles, was nur im ersten Augenblick schreckte, war schon überwunden, vieles hätte die Notwendigkeit ertragen gelehrt, zu vielem war ja jeder Österreicher freudig entschlossen, wenn es das Wohl des Vaterlandes galt, um den Feind aufzuhalten und dem geliebten Erzherzog Karl die Möglichkeit [341] zu verschaffen, sich mit seiner Armee von der Nordseite her der Donau zu nähern und vielleicht der bedrängten Stadt glorreichen Entsatz zu bringen. Was hätte man nicht gern dafür ausgestanden?

Das war nun alles vorbei! Von dem Bombardement, von dem Abdecken unserer Häuser und dem Aufführen des Geschützes – waren wir befreit. Kein Bürgerblut brauchte mehr vergossen zu werden; aber das Ganze, so wohltätig und schonend es aussah, mißfiel doch den meisten.

Die Verbindung mit der innern Stadt war nun eröffnet, die feindlichen Truppen zeigten sich hier und dort und wurden nicht aufs beste empfangen, wie denn einer ihrer Offiziere, und was die Sache schlimmer machte, ein Parlamentär oder sonst Beauftragter auf der Laimgrube vom Pöbel mißhandelt und schwer verwundet wurde; denn der Haß gegen die Franzosen war ungemein groß unter dem Volke und früher geflissentlich genährt worden.

Nun rückten die feindlichen Scharen förmlich ein, und die Einquartierungen nahmen ihren Anfang. Der erste Besuch derselben im Jahre 1805 hatte uns mit der Idee, dergleichen Gäste aufnehmen zu müssen, vertrauter, und ihr anständiges Betragen sie erträglicher gemacht. Aber nun trat eine andere Bedrängnis ein. Der Hof hatte sich samt allen Kanzleien, Schätzen, Kassen usw. nach Ungarn begeben, und mit Österreich, als einem vom Feinde besetzten Lande, sollte aller Verkehr aufhören. Wir wurden also von Ungarn, woher die Hauptstadt den größten Teil ihres Lebensunterhaltes bezogen hatte und noch bezieht, abgesperrt. – Nun brach der Mangel an Brot, Fleisch usw. sogleich aus. An den Bäckerladen standen die[342] Kunden oft halbe Nächte lang, um am Morgen, so wie geöffnet wurde, wenn auch selten ihren ganzen Bedarf, doch wenigstens einen Teil davon zu erhalten, und bei diesen drückenden Umständen hatte jede Haushaltung beinahe noch einige fremde und oft sehr fordernde Gäste an ihren Einquartierten zu bewirten. Noch schmerzlicher indes als diese leiblichen Entbehrungen drückte uns alle der Mangel an zuverlässigen Nachrichten von dem öffentlichen Stande der Dinge, von dem, was unsere Armeen machten, wo sie standen, wie es den beiden Erzherzogen Karl und Johann erging, was wir für unser Geschick in diesen so wichtigen Verhältnissen zu hoffen oder zu fürchten hatten? Mit eifersüchtiger Strenge wußten die Feinde, die uns unter ihren eisernen Krallen hielten, jede Nachricht abzuhalten, und was unter der Hand einer dem andern mitteilte, hatte keine Autorität und erwies sich auch früher oder später als unwahr. Das wußte man, daß der Erzherzog Karl am jenseitigen Donauufer lagerte, und Erzherzog Johann in Eilmärschen nach der Schlacht von Caldiero über die steierschen Gebirge heranzog, um dem Feinde von hier entweder in den Rücken zu fallen, oder den Umweg durch Ungarn nehmend, sich mit seinem Bruder auf dem jenseitigen Lande zu vereinigen.

So dauerte unsere bängliche Lage einige Tage fort, während welchen unser einquartierter Offizier, ein artiger, selbst ein schöner, übrigens aber unbedeutender Mann, uns benachrichtigte, daß wir ihren Kaiser in Schönbrunn bei einer Revue, die auf der Schmelz (den weiten Feldern zwischen Schönbrunn und der Lerchenfelder Linie) gehalten würde, sehr gut sehen könnten.

[343] Ich fuhr also mit meinem Schwager Kurländer und Frau von K** nach Schönbrunn. Hier, sowie wir uns durch die Allee dem Schlosse näherten, war alles voll Menschen, Wagen und Pferden, herbeigezogen wie wir durch die Neugier, den ausgezeichnetsten Mann von ganz Europa zu sehen. Mir war schmerzlich zumute, ich kann es nicht leugnen, denn mein Gemüt ertrug nur mit Widerstreben das Gefühl des Fremdlingsjoches, und meine Erinnerungen führten mich in die Zeiten meiner schönen Kindheit und Jugend zurück, wo ich oft mit meinen Eltern hieher gekommen war und die edlen Gestalten der Glieder unsers Herrscherhauses in diesem Schlosse, in diesen Gärten gesehen hatte. Jetzt wimmelte es im Schloßhof und vor demselben von den kaiserlich französischen Garden in den geschmackvollsten, reichsten Kostümen – obwohl etwas von den gewöhnlichen Formen unsers Militärs abweichend – Husaren z.B. in Pantalons; nie aber hatte ich auf einem verhältnismäßig kleinen Raum so viele schöne Männergestalten gesehen, als sich hier bei jedem Blicke zeigten, und es hatte das Ansehen, als wäre die Wahl bei der Aufnahme in diese Korps nach den Vorschriften eines Winckelmann oder solcher Meister bestimmt worden.

Eine gute Weile mußten wir mit unserm Wagen in der Allee halten und warten. – Endlich kam Bewegung in die überall verstreute Menge der Zuseher sowohl als des französischen Militärs, und nun erschien eine große Schar prächtig gekleideter Offiziere zu Pferde, die aus dem Schloßhofe über die Brücke sich der Allee näherten. Sie kamen uns nahe – Gold- und Silberstickereien bedeckten die dunkeln Uniformen, Federbüsche von allen Farben schwankten auf den[344] reichgallonierten Hüten, Mützen, Tschakkos usw. Es war die französische Generalität, und in der Mitte der glänzenden Schar – der kleine Mann in schlichter grüner Uniform, mit dem dreieckigen kleinen Hütchen auf dem Kopfe!! Er war es – ich sah ihn ziemlich nahe, und kann mir seine Gestalt, seine Züge noch jetzt vergegenwärtigen. Da ritt er, der fremde Eroberer – der Usurpator, der Feind unserer Nation – aus demselben Schlosse, über dieselbe Brücke, wo so oft die verklärte Theresia, der Kaiser Josef, unser Kaiser Franz herausgefahren oder geritten waren! Mein Herz wandte sich mir in der Brust um bei diesem Anblicke, mit diesen Erinnerungen vergesellschaftet, und ich konnte mich in jener tief empörten Stimmung des Wunsches nicht erwehren, daß doch auf irgendeinem Baume dieser Allee ein Tiroler Scharfschütze verborgen sitzen und einen Tellsschuß auf diesen mehr als Geßler tun möchte.

Wieder vergingen einige schwergefühlte Tage auf die vorige Weise, und ein trübes Ereignis in unserm Hause diente nur dazu, den Eindruck, den unsere ganze Lage auf die Gemüter übte, zu verstärken. Ich habe schon öfters meiner verehrten Freundin und Hausgenossin, der Baronin Engelhardt, erwähnt. Ihr Gemahl war Oberst vom Regiment Deutschmeister. Bei Ebelsberg an der Traun, wo ein heftiges Gefecht vorgefallen war, wurde er, wie es schien, nicht gefährlich unter dem Knie verwundet. Er ließ sich nach Wien zu seiner Frau bringen, obwohl er hierdurch, da die Feinde sogleich einrückten, ihr Kriegsgefangener wurde. Niemand glaubte hier an Gefahr für den Verwundeten, er war vielmehr sehr heiter, und seine Frau nährte schöne Hoffnungen einer frohen Zukunft. Da trat [345] plötzlich der Starrkrampf ein, und keine Rettung war möglich! Seine Frau hatte ihn unendlich geliebt, ihr Schmerz war grenzenlos, dennoch wußte sie ihn mit einer Kraft zu beherrschen, die uns alle in Erstaunen setzte und meine hohe Achtung für die Unglückliche sehr vermehrte. Die Anwesenheit der Feinde, die bänglichen äußern Verhältnisse machten es uns unmöglich, dem Verstorbenen die Ehre eines, seinem Range angemessenen Leichenzuges zu verschaffen, und er mußte in der Stille begraben werden, was uns alle, besonders in jenen betrübten Tagen, noch eine Vermehrung unserer Leiden schien.

Indessen war Pfingsten herangekommen (die Franzosen waren am Christi Himmelfahrtstage eingerückt). Es war ein wunderschöner Frühlingssonntag (21. Mai), als plötzlich ferner und doch lauter Kanonendonner an unsre Ohren schlug – das Kanonieren dauerte fort, wurde immer stärker, häufiger – es war eine Schlacht – es war die unvergeßliche Schlacht von Aspern, in der unser Erzherzog Karl zuerst den bisher Unbesiegten zum Weichen zwang. Zwar wußten wir von nichts mit Zuverlässigkeit und alles, was man sich von Nachrichten zu verschaffen vermochte, bestand in der Bespähung jener Donaugegend, woher die Schüsse ertönten, nämlich bei der Insel Lobau, deren Namen man bei dieser Gelegenheit erst kennen lernte, von den Türmen der Stadt. Was uns aber noch mehr als der ununterbrochene Donner der Kanonen von der Wichtigkeit des Gefechtes, welches in unserer Nähe vorging, und dessen Entscheidung so viel Einfluß auf unser Schicksal haben konnte, überzeugte, waren die ungeheure Anzahl blessierter Franzosen, welche in den beiden Schlachttagen 21. und 22. Mai und noch mehrere [346] Tage nachher zu Fuß oder auf Wagen durch die St.-Marxer-Linie und bei der Leopoldstadt herein kamen.

Sie alle aber verrieten wenig oder gar nichts von dem, was jenseits der Brücken vorgegangen. Sei es, daß strenge Gebote ihrer Vorgesetzten, sei es, daß eigene Nationaleitelkeit sie an Bekanntmachung ihrer mißlichen Lage hinderte.

Den zweiten Tag dauerte die Schlacht fort bis gegen Abend, wo endlich das Geschütz verstummte; aber erst spät oder vielleicht (ich erinnere mich dessen nicht mehr) am andern Tage verbreitete sich heimlich und flüsternd das Gerücht von der Niederlage der Feinde, von der gesprengten Brücke, von dem zahlreichen Korps der Franzosen, das auf der Lobau abgeschnitten stand, von der heimlichen und einsamen Rückfahrt des mächtigen Heerführers in demselben Kahne mit einem unserer kriegsgefangenen Generale (Weber) und nun erst wagte man, sich zu Hause und unbelauscht von seiner Einquartierung, angenehmen Hoffnungen und tröstlichen Erwartungen hinzugeben. Es ward uns mehr als wahrscheinlich, daß der Erzherzog einen mehr als glänzenden Sieg über unsere Unterdrücker erfochten hatte, und was im seinsollenden Spotte vom General Danube in den französischen Blättern stand, bestätigte eben, statt sie zu entkräften, unsere Vermutungen. Nun fingen wir an, auf nahe gänzliche Befreiung zu hoffen, und das Betragen der Feinde selbst half diese Hoffnungen vermehren. Ja man hat später erzählt, daß General Andréossy, der Kommandant der Stadt (vorher hier Gesandter), schon Befehl hatte, mit aller Mannschaft, die hier lag, die Stadt zu räumen und den Rückweg nach Oberösterreich anzutreten.

[347] Aber es verging ein Tag nach dem andern, und es geschah nichts. Noch immer liegt ein undurchdringliches Dunkel über den wahren, aber geheimen Beweggründen, welche damals den Erzherzog abhielten, seinen Sieg zu verfolgen, über die Donau zu setzen und unsere Peiniger aus Wien zu verjagen. Ebenso unaufgehellt sind auch die eigentlichen Ursachen des spätern Unglückes bei Wagram, und was die Veranlassung der nicht erfolgten Ankunft des Erzherzogs Johann mit seiner Armee aus Steiermark war. Doch hiervon an seinem Orte.

Wir hatten indes unaufhörlich französische Einquartierung, die denn, wie das erstemal im Jahre 1805, mit uns wenigstens zu Mittag an einem Tische aß. Im ganzen durften wir uns nicht beschweren. Es ware meist artige, bescheidene Leute und manche darunter, wie z.B. ein sogenannter aide-major und Chirurg, Mercier geheißen, sehr gebildete Leute, mit denen man ganz angenehm hätte umgehen können, wenn der Gedanke, in welchen Verhältnissen sie zu uns standen, mich wenigstens nicht immer gewaltig von dem Franzosen, dem Feinde abgestoßen hätte. Zu unserer großen Erleichterung wurde endlich die Sperre zwischen Ungarn und Österreich aufgehoben. Es kamen wieder ungehindert Lebensmittel nach Wien, die Not und das Gedränge an den Bäckerladen hörte auf, und unsere Lage war dadurch merklich gebessert. Übrigens glich unsere Alservorstadt einem großen Spital. Sowohl in der Kaserne als im eigentlichen Zivil- und Militärspitale lag alles voll Blessierter, und wenn sie so weit genesen waren, daß sie auf sein konnten, schlichen oder humpelten sie auf den Straßen umher und wurden bis zu ihrer völligen Heilung in die Privathäuser verlegt. [348] So bekamen wir einen Halbkranken nach dem andern, konnten uns aber mit Grund über keinen beschweren, und die stark vermehrten Ausgaben, die Beschränkung in wenige Zimmer ausgenommen, da wir z.B. einmal 17 Personen im Hause hatten, hatten wir im einzelnen wenig Verdruß; nur litt wohl jeder, der Gefühl für das allgemeine Wohl hatte, durch die Vorstellung von dem, was uns alle als Österreicher noch bedrohte.

So kam der Monat Juli und mit ihm die Schlacht von Wagram heran. Kanonendonner, obwohl ferner als bei der ersten Schlacht, verkündete uns abermals einen wichtigen Tag der Entscheidung. Aber diesmal war es unsern Mitbürgern nicht mehr gegönnt, von Kirchtürmen oder andern hohen Plätzen ferne Zeugen des Kampfes zu sein. Die Franzosen hielten alle diese Orte mit Wachen besetzt, die niemand hinaufzusteigen erlaubten und nur, wenn sich hier und da in einem Privathause zufälligerweise ein solcher hochgelegener Raum, ein Turm, ein Belvedere usw. befand, war es einigen Personen möglich, etwas zu beobachten. Aber schon das Gehör belehrte uns, wie oben gesagt, daß diesmal der Schauplatz des Gefechtes viel weiter entlegen sei. – Dennoch horchten wir mit banger Erwartung, ob der Schall des Geschützes sich nähere oder entferne. Das erste wäre uns ein günstiges Zeichen vom Zurückweichen der Feinde und dem Vordringen des Erzherzogs gewesen. Wirklich hörten wir mit unaussprechlicher Freude den Kanonendonner sich nähern. Man fing an zu hoffen – da sandte Napoleon den bayerischen Truppen, die denn wie alle abtrünnigen Rheinbündler ihre Schwerter gegen ihre Landsleute gezogen hatten und in der Gegend herumlagen, Befehl, über die Donau hinüber, der französischen Armee, [349] die der Erzherzog zum Weichen gebracht hatte, zu Hilfe zu eilen. Gegen 11 Uhr marschierten die Bayern unter demselben Fürst Wrede, der nun eine so schöne Besitzung in unserm guten Österreich inne hat, über die Brücken hinaus, und nicht lange darnach entfernte sich der Schall des Geschützes wieder. Mit trüber Ahnung sahen wir, was geschehen würde – die gehoffte Vereinigung des Erzherzogs Johann mit dem Heere seines Bruders erfolgte nicht. – Auch über diesem Faktum ruht jetzt noch, nach beinahe 30 Jahren, ein undurchdringliches Dunkel, aus welchem verschiedene, je nachdem sie zur einen oder andern Partei gehören, eine Schuld auf der Seite eines der beiden hohen Brüder herausdeuteln wollen, das aber vielleicht erst die Folgezeit, wenn ira et studium aufgehört haben, richtig enträtseln wird. Genug, die Schlacht ging, trotz ungeheuren Anstrengungen von Seite unserer Armeen, verloren. Unzählige Blessierte wurden wieder nach Wien und in die umliegenden Ortschaften verlegt, von wannen sie, wenn sie ein bißchen hergestellt waren, wieder in die Privathäuser einquartiert wurden. Auch wir verloren in dieser Schlacht einen Verwandten. Der Hauptmann Kurländer, Schwager meines verstorbenen Bruders, blieb in dieser Schlacht, und es war uns bei diesem Verlust eine Art von Trost, daß eine Kanonenkugel seinem Leben und seinen Leiden ein schnelles Ende gemacht hatte.

Nun gab es wieder halbgenesene Offiziere bei uns, und überhaupt war die Stadt angefüllter als je. Alles wimmelte von kranken und gesunden Franzosen, und jetzt kam auch der unangenehme Nachtrab einer Armee – eine zahllose Menge sogenannter Employés, welche weit schlimmere Gäste waren als die [350] eigentlichen Combattants. Unter diesen aber erwiesen sich im ganzen – Ausnahmen gibt es überall – meiner Erfahrung nach die Unteroffiziere, Sergents majors u. dgl. großenteils als bescheidene, ordentliche Leute, bei denen man noch den Vorteil hatte, daß man ihnen das Essen auf ihre Zimmer schicken, und sie nicht gerade an dem Familientisch haben durfte. Sie waren meistens Bürgerskinder, Söhne stiller, achtbarer Familien, und nicht selten diejenigen, welche ihre wilderen Offiziere zu beschwichtigen und Ruhe und Ordnung im Hause zu erhalten verstanden. Mit freundlicher Empfindung erinnere ich mich eines Reiterunteroffiziers – Brigadier du logis war sein Titel – eines hochgewachsenen Mannes von gesetzten Jahren und würdigem Aussehen, der, als meine Mutter ihn nebst sei nen drei Gefährten nicht aufnehmen wollte, weil das Haus schon überlegt war, sagte: Gardez nous toujours Madame, nous sommes des bons enfants. Und wirklich erwiesen sie sich als solche. Sie führten z.B. morgens ihre Pferde, wenn sie zur Revue sollten, am Zügel über den Hof und saßen erst vor dem Tore auf, um uns durch das Getrappel auf dem Hofpflaster nicht im Schlaf zu stören, und verhielten sich überhaupt sehr anständig. Wer weiß, auf welchen Schlachtfeldern sie nun begraben liegen? Ob sie von denen sind:


Und die im kalten Norden

Wohl unter Schnee und Eis,

Und die in Welschland liegen,

Wo ihnen die Erde so heiß.


(Nächtliche Heerschau.)


Noch eines Einquartierten muß ich gedenken, der uns merkwürdig war. Ein sehr junger Leutnant, Raymond mit Namen, ein Zögling der polytechnischen Schule, ein wahres Kind der Revolution. Mit einem[351] erstaunenswürdigen Wissen in den meisten Fächern und einer umfassenden Belesenheit in den alten Klassikern und in denen der neueren Zeit, verband er eine Gleichgültigkeit gegen alle äußern Formen und eine stoische Kälte gegen alles, was ihn umgab. So bin ich überzeugt, daß er beinahe nie wußte, was er aß, weil er stets und über lauter interessante Dinge mit uns stritt und den Disput, wenn wir ihm nur ausgehalten hätten, bis zum Nachtessen fortgeführt haben würde. Als meine damals zwölfjährige Tochter, mit der er sonst jeden Mittag gegessen hatte, freilich ohne an sie einmal ein Wort zu adressieren, an der Ruhr erkrankte, welche damals der vielen Soldaten wegen epidemisch war, fragte er nie nach dem Kinde, ja, ich glaube, er hatte gar nicht bemerkt, daß sie durch viele Tage nicht am Tisch erschienen war. Auch dieser Mensch lebt wahrscheinlich nicht mehr; denn ihm standen noch die Tage an der Beresina, bei Leipzig und Hanau bevor. Friede seiner Asche! Vielleicht hätte er ihn mit seiner Gemütsart auf Erden ohnedies nicht gefunden.

Eines Tages muß ich an dieser Stelle erwähnen, der in seiner Art merkwürdig ominös und höchst unangenehm war: Napoleons Geburtsfestes am 15. August, an welchem allen Bewohnern Wiens geboten wurde, in der Stadt und in den Vorstädten abends ihre Fenster zu illuminieren. Eine befohlene Freudenbezeugung, die sonst gewiß unterblieben wäre, und uns ahnen ließ, daß gar manchmal die Zeitungen uns ein ähnliches Fest als Ausdruck der allgemeinen Volksfreude berichtet haben mochten, das ähnlichen gebotenen Ursprunges war. Schon am Tage zuvor ereignete sich ein schreckender Zufall, herbeigeführt durch die Präparativen [352] zu dem sehr brillanten Feuerwerk, das den folgenden Abend in den Donauinseln statthaben sollte, und zwar durch den Leichtsinn der Franzosen. Auf der Schottenbastei, nicht weit von dem kaiserlichen Zeughause, hatten sie eine Hütte errichtet, in welcher sie die Zubehör zu dem Feuerwerk bereiteten, und, sowie uns unsere einquartierten Offiziere selbst erzählten, mit dem Pulver höchst unvorsichtig umgingen. Da geschah nun am Vormittag des Vorabends eine heftige Explosion, die Hütte sprang in die Luft, mehrere Arbeiter wurden getötet, und nicht ohne Grund fürchtete man Gefahr für das Zeughaus, in dem viele gefüllte Bomben lagen, und somit für die ganze Stadt.

Ominös schien uns Wienern diese Vorbereitung zur Feier des Geburtstages unsers Drängers, aber es war uns befohlen, uns zu freuen, und so stellte denn jedermann einige Kerzen vor die Fenster. In der Stadt waren selbst einige Transparente mit – ich erinnere mich nicht mehr – welchen Vorstellungen oder Sinnbildern zu schauen. Nur eines schien mir sehr merkwürdig, das sich, wenn ich nicht irre, in einer von den, in die Kärntner- oder Bischofsstraße ausmündenden Gassen bei einem kleinen Krämer fand. Es war ein mäßig großes Transparent mit folgenden Zeilen:


Zur

Weihe

An

Napoleons

GeburtS

FEST.


und hieß eigentlich, wenn man die großen, mit anderer Farbe gezeichneten Buchstaben zusammen las: ZWANGSFEST. – Ein köstlicher Einfall! Er enthielt keine Schmähung über den Dränger, und drückte [353] doch die Stimmung dieses Mannes, welche wohl die allermeisten Bewohner Wiens mit ihm teilten, auf sehr sinnreiche Weise aus.

Eine Marter eigener Art begann nun für uns Österreicher, die mit warmen Herzen an unserm Kaiserhaus und Vaterland hingen, und das waren die sukzessiven Nachrichten und Erzählungen von den Friedensartikeln, welche jetzt, da nach der unglücklichen Schlacht bei Wagram, Waffenstillstand geschlossen worden, zwischen Champagny und dem damaligen Grafen Metternich abgehandelt wurden. Da uns alle verläßlichen Nachrichten unmittelbar von unsern Leuten fehlten, so mußten oder sollten wir alles glauben, was die Franzosen aus eigener Ansicht oder Rodomontade uns aufheften wollten. Dazu kam noch, daß gar viele hier lebten, die es im Herzen mit den Feinden hielten, und alles, was uns nachteilig klang, als das Wahrscheinlichste begierig auffaßten und eifrig verbreiteten. Daß Tirol, das edle, treue Land, nachdem es durch unsägliche eigene Anstrengungen sich selbst vom Joche der Feinde befreit hatte, doch wieder an Bayern, das sich so undeutsch in jeder Rücksicht gegen Österreich bewiesen hatte, verloren werden sollte, war schon ausgemacht und erregte den tiefsten, unwilligsten Schmerz bei allen echt österreichischen Herzen; aber die Grenzlinie der abzutretenden Länder wurde im Anfange, wenigstens durch das Gerücht, so nahe gezogen, daß man hätte darüber verzweifeln können. Allmählich erweiterte sich aber diese Schranke, ging über die Steiermark hinaus und über Ungarn, und schloß sich zuletzt an dem illyrischen Königreiche. Ich will auch glauben, daß dies nicht bloß Gerücht, sondern wirklich der Gang der Unterhandlungen war,[354] und daß der Sieger im Beginne seine Forderungen nicht hoch genug spannen zu können glaubte. Haben es seine Leute doch mit allen ihren Forderungen also gemacht, und wenn sie schrieben: Je vous invite (das war der Ausdruck) de nous fournir 10,000 rations de pain oder de foin usw., so waren sie zuletzt mit 4000 oder 3000 auch zufrieden.

So kam endlich der Herbst heran, und mit ihm ein Anfang des geselligen Lebens. Bei meiner treuen mütterlichen Freundin Flies lernte ich zwei sehr ausgezeichnete Männer kennen, welche dem französischen Kaiser nach Wien gefolgt waren, den berühmten Reisenden Denon und den Grafen Alexandre De la Borde. Der erste war wahrscheinlich jetzt während der Unterhandlungen berufen worden, um sich hier in Bibliotheken und Kunstsammlungen umzusehen und zu nehmen, was ihm und seinem Kaiser gefiel; der zweite, De la Borde, war mit der Direktion der kaiserlichen Domänen beauftragt, und der Tiergarten wurde damals ziemlich von Bäumen entblößt, welche die Franzosen fällen und verkaufen ließen.

Denon, ein ansehnlicher Mann von sechzig Jahren ungefähr, dessen bedeutende Züge und halbkahler Scheitel an die Darstellungen des Apostels Petrus erinnerten, war im Umgange höchst angenehm und ganz so, wie ein echter Gelehrter, der zugleich Welt hat, sein sollte. Sein vieles Wissen, seine zahlreichen Kenntnisse traten in der Gesellschaft nie ungerufen hervor. Nur ihr Resultat, eine geistreiche Unterhaltung, und ein gebildetes, gründliches Urteil über jeden vorkommenden Gegenstand gab sich im Gespräche kund. Brachte man ihn aber geflissentlich auf irgendeine Sache, eine Begebenheit, die in sein Fach einschlug, [355] fragte man ihn geradezu um irgend etwas der Art, dann gab er auch mit Redseligkeit Bescheid, und wußte die Gesellschaft mit Anekdoten und einzelnen Zügen seiner Erlebnisse geistreich und belehrend zu unterhalten. Er ließ sich auch bei uns vorstellen, zeichnete meine Mutter sehr aus und lieferte mir durch seine Erzählungen Stoff zu ein paar Novellen, um deren Bearbeitung er sich höchlich interessierte. Meine Tochter, damals noch fast ein Kind, spielte schon ziemlich artig Fortepiano, in welcher Kunst ich sie selbst unterrichtet hatte. Es kam die Rede darauf; Denon hätte gern das organisierte Piano, das ich damals noch besaß, gehört; Lottchen wurde aufgefordert, zu spielen und machte es recht artig, wofür ihr denn der galante Denon die Hand küßte. – Das war dem Mädchen noch nie widerfahren, und es war komisch anzusehen, wie Freude und Verwirrung, Respekt vor dem übergelehrten Herrn, den sie als etwas Außergewöhnliches betrachten gelernt hatte, und Gefühl der eigenen Wichtigkeit, die ihr dieser Handkuß zu geben schien, sich in dem lieblichen Gesichtchen malten.

Wenn nun Denon durch Geist und Kenntnisse sowie durch sein von aller Pedanterie entferntes Betragen einen vorteilhaften Eindruck auf die Gesellschaft machte, so flößte De la Borde ein Interesse ganz verschiedener Art ein. Ohne Anspruch auf Schönheit zu machen, waren Figur und Züge dieses Mannes, der kaum sein vierzigstes Jahr erreicht haben mochte, sehr angenehm. Vor allem hatte der ernste, beinahe düstere Ausdruck seiner blauen Augen etwas Anziehendes, sowie überhaupt sein ganzes Wesen durch diesen Ernst und eine gewisse ruhige Würde mehr etwas Deutsches als [356] Französisches verkündigte. Auch hatte er früher, wie ich erfuhr, während der Revolution, in der sein Vater und seine Brüder unter der Guillotine starben, eine Weile in österreichischen Kriegsdiensten als Rittmeister unter Kinsky Chevauxlegers gestanden, und während seines damaligen Aufenthaltes in Wien sich viel auf der kaiserlichen Bibliothek aufgehalten, wo er sich wissenschaftlich beschäftigte und Deutsch erlernte, was er denn auch ziemlich geläufig sprach. Ich habe De la Borde viel seltener gesehen als Denon, und eben deswegen, sowie auch seines ernsten, weniger mitteilenden Sinnes wegen nicht soviel mit ihm als mit jenem gesprochen, aber die Erinnerung an ihn wird mir stets werter bleiben, weil in dem, was und wie er sprach, z.B. in seinen Äußerungen über Chateaubriand, den er seinen Freund nannte und mit schöner Wärme von ihm redete, sich mir ein viel tieferes Gemüt und ein ernsterer Geist zeigte, als bei dem zwar liebenswürdigen, aber durchaus französischen Denon. Später las ich den Roman der Frau von Fouqué: »Das Mädchen aus der Vendée«, und in diesem ist ein Franzose Sombreuil (wenn ich nicht irre) geschildert, von dem ich immer dachte, er müsse ausgesehen und sich gezeigt haben wie Graf De la Borde.

Allmählich kam es nun zum Friedensschluß, und wie ungünstig dieser für Österreich ausfiel, wie das teure Tirol, die Lombardie, Venedig, Dalmatien, Kärnten mit Krain, Salzburg usw. verloren gingen, weiß die Welt ohnedies. – Es war eine schmerzliche Zeit für jeden, dem sein Vaterland teuer war.

Der französische Kaiser hielt sich nun meistens in Schönbrunn auf, wohin er abwechselnd das deutsche Schauspiel und die Oper kommen ließ, um dort auf[357] dem kleinen Theater des Palastes zu spielen. Denon hatte versprochen, uns einmal Billetten zu verschaffen, und er hielt Wort. Mit Frau von Flies fuhr ich in einem Postzug, mit vier Maultieren bespannt, nach Schönbrunn. Die Equipage gehörte einem ihrer Bekannten, einem französischen General, und ich fand zu meinem Erstaunen, daß diese vier sehr wohlgebildeten braunen Tiere mit uns so schnell davon liefen, als wären es englische Hengste gewesen, und also durch nichts als die längeren Ohren an ihre Zwitterabkunft erinnerten.

Im Theater, das sehr niedlich und wohlgebaut ist, angekommen, fanden wir die Galerien mit lauter französischer Generalität in strahlenden Uniformen besetzt, und Frau von Flies nannte mir einige ihrer Bekannten. Der Vorhang war noch zugezogen, man wartete auf den Kaiser. Nachdem dies eine feine Weile gedauert und mir Zeit gelassen hatte, einen vergleichenden Rückblick auf unsern väterlichen Monarchen zu werfen, der stets die Ordnung selbst war, pünktlich die Stunden einhielt und nie das Publikum oder die Behörden warten ließ, erschallte plötzlich gegen 8 Uhr ein gäher und lauter Trommelwirbel, der die Ankunft des Kaisers verkündete, und ich konnte abermals nicht umhin, dies unfreundliche Getöse mit dem unheimlichen Gerolle zu vergleichen, womit bei uns eine Feuersbrunst, folglich ein Unglück, angekündigt zu werden pflegt. Ach, ein Unglück, und ein großes für uns war ja die Anwesenheit dieses Mannes im Lustschloß unserer Monarchen!

Er kam und setzte sich, ein Komödienbuch in der Hand, in der Loge nieder; hinter ihm standen seine Adjutanten oder wer die Herren waren, einen darunter, [358] General Duroc, nannte mir meine Freundin. Da war er nun, der Erderschütterer, der Mensch, der an allen Thronen Europas gerüttelt, manchen schon umgestürzt, manchen seiner besten Grundfesten beraubt hatte! Was konnte er noch tun wollen, er, dem, wie es schien, nichts unmöglich war, und in dessen absoluten Willen unser aller Geschick gegeben schien?

Das waren meine Gedanken, während ein Akt des Sargines, und dann ein kleines Divertissement vor uns aufgeführt wurde, auf welches meine Seele viel weniger achtete, als auf den Furchtbaren da oben in der Loge – den ein Schuß von geschickter Hand, so wie er sorglos da saß, herabstürzen und somit allen seinen welterobernden Plänen und dem Elend, das er über die Menschheit gebracht hatte und noch bringen konnte, ein Ende hätte machen können. Jener Erfurter, der bald darauf bei einer Revue in Schönbrunn ergriffen wurde, mochte Ähnliches gedacht haben. – Viele – viele Menschen in Deutschland dachten damals ebenso, und jetzt – wo dies unheilbringende Meteor schon lange vor seinem wirklichen Tode einsam erloschen ist, jetzt sehen so viele einen Verfechter der Freiheit, einen Helden der Humanität in ihm, und scheinen alles vergessen zu haben, was sie selbst oder ihre Eltern durch ihn gelitten. Wohl mag sein tragisches Geschick viel zu dieser versöhnenden, mildern Ansicht beigetragen haben. Auch bin ich weit entfernt, das Mitgefühl zu tadeln, das jeden wohlgesinnten Menschen ergreifen muß, wenn er sich diesen Mann, dem einst ganz Europa gehorchte, der


nutu tremefecit olympum,


dessen Willen durch 12–15 Jahre das Gesetz der Welt war, als Gefangenen und als hartgehaltenen, [359] despotisch behandelten Gefangenen seiner erbittertsten Feinde dort auf dem einsamen Eiland, von Weib und Kind getrennt, denkt. – Niemand hat wohl dies sein Geschick und sein Ende mit echterm christlich philosophischem Blick erschaut und geschildert, als Manzoni in seinem Cinque maggio. – Ebensowenig konnte oder kann ich in das Urteil derjenigen einstimmen, welche in Napoleon einen grausamen Tyrannen, einen fühllosen Krieger sahen. Jene Befehle de balayer le pont (nämlich von den Donaubrücken die Verwundeten mit den Toten ins Wasser zu werfen), jene Vergiftung der Pestkranken in St. Jean d'Acre usw. müssen – wenn sie je wahr waren – ihm gewiß nur durch eine zwingende Notwendigkeit, die sein militärisches Genie als solche erkannte, aufgedrungen worden sein. Aber große, unbeschränkte Macht ist eine der gefährlichsten Gaben für den Menschen, und die Klippe, an der meist sein sittliches Gefühl scheitert. Wer tun kann, was er will, tut selten, was er soll – pflegte meine sehr verständige Mutter zu sagen. Das war Napoleons Sünde, und er machte sich ihrer im vollen Maße schuldig; obwohl manche mit dem geistreichen Franzosen Villers glauben, daß er noch mehr wegen des Guten, was er hätte tun können und sollen, und aus selbstsüchtigen Rücksichten zu tun unterließ, anzuklagen sei.

Wie immer diese Beschuldigungen gestellt werden mögen – so viel ist sicher, daß sein Übermut ihn leitete und endlich verleitete, Rußland in seinem furchtbaren Klima aufzusuchen und bezwingen zu wollen. Damals, wie ich ihn so im Theater in der Loge unserer Kaiser sitzen sah, faßte wohl weder ich noch sonst jemand die Möglichkeit, daß es dahin kommen sollte,[360] und ich betrachtete ihn, solange ich dort war, immer mit dem Gefühl innerlichen Hasses. Im ganzen war auch seine Erscheinung nicht ansprechend. Zu klein und zu stämmig, um für gutgewachsen zu gelten, hatte seine Gestalt auch nichts Edles oder Imposantes. Seine Züge – das was eigentlich die Physiognomie bildet, Augen, Stirn, Nase und Mund – waren regelmäßig, das Kinn besonders schön, ganz antik aufgebogen wie an einem Antinouskopfe. Aber diese edlen Lineamente verloren durch die breite Fleischmasse des allzuvollen Gesichts, die sie umgab, und nicht einmal durch einen Backen- oder andern Bart begrenzt wurde, den größten Teil ihres Adels und ihrer Bedeutung. So bekam das Ganze – Gesicht und Figur zusammen – nach meinem Gefühle etwas Gemeines, und ich bedauerte, daß ich die Idee der tiefen und düstern Züge auf dem Kupferstiche, wie er in der Schlacht von Arcole die Fahne ergreift, gegen dieses wohlgenährte Prälatenantlitz vertauschen mußte.

Der Friede war abgeschlossen, die Feinde sollten nun bald abziehen, und schon begann ein, obgleich noch seltener Verkehr zwischen der Stadt und der noch fernen Armee.

Eines Abends trat ich bei Frau von Flies ein. – Welche Freude! Eine österreichische Offiziersschärpe hing über die Lehne des Sofa, und ein kaiserlicher Degen mit dem goldenen und schwarzen Portepee lehnte daneben. Mir ging das Herz in wehmütiger Freude auf. Wie lange hatte mein Auge diese, eben durch die Entfernung so wertgewordenen Abzeichen nicht gesehen! Ohne zu wissen, wem sie gehörte, drückte ich, da ich mich allein im Zimmer befand, die vaterländische Schärpe an meine Lippen, und begrüßte so [361] im Geist das befreundete tapfere Heer in dem unbekannten Einzelwesen.

Ins Kabinett der Frau vom Hause getreten, erblickte ich dieses bald in voller Uniform und erfuhr, daß es ein als Schriftsteller sowie überhaupt als geistreicher Mann ausgezeichneter Preuße, Herr Varnhagen war, der, wie so manche seiner Landsleute, österreichische Dienste genommen und den gegenwärtigen Feldzug mitgemacht hatte, wie denn auch ein Aufsatz von ihm über die Vorfälle desselben erst neuerlich in einem historischen Taschenbuche erschienen ist. Damals war er ein junger Mann, und noch nicht durch seine eigenen und seiner nicht minder berühmten Frau geistsprühende Schriften merkwürdig geworden; aber schon damals war seine Unterhaltung sehr lebhaft und geistvoll, und schon damals sprach sich sein eminentes Talent, Charaktere zu schildern, freilich nur erst in höchst charakteristisch aus Papier ausgeschnittenen Figürchen aus. Denselben Abend waren auch De la Borde und Denon zugegen, und die Stunden verflossen angenehm im Kreise so hochgebildeter Personen.

Endlich verließen die fremden Truppen die Stadt und das Land, und nur wenige blieben in Wien, welche durch irgendein noch zu berichtigendes Geschäft hier aufgehalten wurden. Nun durften wir endlich der Ankunft unsers Kaisers, des Hofes und der langabwesenden Freunde entgegensehen. Welches Wiedersehen nach so vielen Leiden, nach so viel Unglück und Verlust im Vaterlande! Und wie geschah es so ganz anders, als wohl jedermann geglaubt hatte!

Es war am 27. November 1809 an einem trüben Herbstabend, wie sie in dieser Jahreszeit zu sein pflegen, als unser geliebter Kaiser, vermutlich um auf keine [362] Weise Aufsehen zu erregen, in der Husarenuniform seines Regimentes, wie man ihn hier nicht gewöhnlich zu sehen pflegte, nur vom einzigen Grafen Wrbna begleitet, in einer unscheinbaren und, wie man erzählte, sogar bepackten Chaise zum Stubentor, etwa um vier Uhr nachmittags, in die Stadt hereinfuhr. Aber sein Volk erkannte auf der Stelle den geliebten Vater. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht durch die Straßen. – Alles lief zusammen, bald ward der Wagen umringt, und unter lautem Vivatrufen und dem Freudenjubel des Volkes in die Burg begleitet. Ein Franzose von den wenigen Zurückgebliebenen, der am Stephansplatze auf einem Eckstein stehend, dieses Schauspiel mit ansah, soll sich nicht haben enthalten können auszurufen, indem er einem Bürger auf die Achsel klopfte: Braves Volk!

In der Burg angelangt, wo sich schon eine zahllose Menschenmenge zusammengefunden hatte, war das Gedränge an und auf der Treppe so groß, daß sie ihren geliebten Monarchen, wenn er es nur gestattet hätte, auf den Schultern bis in seine Gemächer getragen hätten. Binnen einer Stunde wußte man im ganzen Umkreis der weiten Vorstädte die frohe Kunde, und so wie es ganz dunkel ward, entbrannte – wie in allen Herzen – so auch in allen Fenstern der Stadt und Vorstädte eine – nicht gebotene, nicht vorbereitete, eine wahrhaft aus Liebe und Treue improvisierte Illumination. – Die Leute waren ganz freudetrunken – der Kaiser war wieder da! die Feinde abgezogen – das alte Österreich konnte wieder ins Leben treten! Schwärmer und Raketen, Pöller und Freudenschüsse knallten den ganzen Abend und die Nacht durch die dunkle Luft! Es war ein großer, ein herrlicher Tag – um so größer, [363] um so herrlicher, weil er nicht auf Sieg und Triumph folgte, sondern im Unglück, nach Verlust und Schmerzen die alte Liebe und Treue nur desto glänzender sich erwies.


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Das unglückliche und doch für Österreich in so vielem Sinne ehrenvolle Jahr 1809 war nun vorüber. Unsers geliebten Kaisers heldenmütiger Bruder hatte den bisher Unbesiegten in einer großen Schlacht überwunden, und unser Österreich hatte, wie Körner in der Schlacht von Aspern bald darauf sang:


Einen Tag und einen Mann!


Es hatte sich starkmütig und kräftig gegen den Feind, in rührender Treue gegen sein Herrscherhaus, und mitten in Bedrängnissen mildtätig und menschenfreundlich auch gegen leidende Feinde gezeigt; es hatte endlich den unerschöpflichen Reichtum seines von Gott gesegneten Bodens durch die Menge von Lebensmitteln bewiesen, welche trotz allem, den Sommer über notwendig gewordenem Verbrauche, bei so zahlreichen Heeren, die in Österreich lagen, und bei der nicht zu vermeidenden Verschwendung, welche dabei statt hatte, jetzt, da die Feinde abgezogen waren, auf unsern Märkten erschienen, gleich als wären gar keine ungebetenen Gäste dagewesen. Aber aller dieser tröstlichen Betrachtungen ungeachtet, blutete es aus zu vielen Wunden, als daß seine Bewohner sich nicht gebeugt, entmutigt und von gerechter Furcht und Sorge für die nächste Zukunft in Rücksicht des Allgemeinen, und somit auch des einzelnen hätten erfüllt sein sollen. Was war nicht schon geschehen! Tirol – das nie zu verschmerzende Tirol – die Lombardie und Venedig, Triest, das Littorale [364] und sogar auch Innerösterreich waren vom Staatskörper abgerissen, und der übriggebliebene Teil mußte bei jedem eroberungslustigen Einfall, der den Übermächtigen und Übermütigen anwandelte, um seine direkten und indirekten Staaten zu vermehren, gewärtig sein, früher oder später in diesen Abgrund einer Universalmonarchie verschlungen und Gott weiß welchem rheinbündischen Fürsten oder welchem Napoleoniden als leichte Beute zugeworfen zu werden! Das waren unsere Aussichten, das waren wenigstens die Möglichkeiten, die – was wohl niemand mit Grund bestreiten konnte – nächstens zu Wahrscheinlichkeiten und dann auch zu Gewißheiten werden konnten. Das war das Schicksal, welches der alten, durch 500 Jahre langsam aus kleinem Anfange aufgekeimten und durch lauter rechtlichen Erwerb, nicht durch blutige Eroberungen zu solcher Größe und Macht emporgewachsenen Monarchie, wie sie unter Maria Theresia und Kaiser Josef und bis ans Ende des achtzehnten Jahrhunderts gewesen, bevorstand.

Wie das alles in mein Herz eingriff, wie es mir alle menschliche Größe und Hoheit, alles menschliche Glück überhaupt als unstet, nichtig und durchaus ungenügend darstellte, kann ich nicht mit Worten ganz erklären. Es war ein tiefes, elegisches Gefühl, das sich nach und nach meiner bemeisterte, mich die Welt mit allen ihren Hoffnungen, Freuden und Bestrebungen wie ein Schattenspiel betrachten machte und an gar kein bleibendes Glück mehr glauben ließ.

Dazu kam noch eine andere Bemerkung, welche jenen Betrachtungen einen Tropfen Bitterkeit mehr beimischte. Obgleich selbst nicht von altadeliger Geburt, hatte doch diese Institution – die Idee des Adels, [365] für mich immer etwas sehr Poetisches und Würdiges gehabt. Gerade weil eine altadelige Geburt etwas war, was keine Industrie, kein merkantilisches Bestreben, keine noch so hochsteigende Eitelkeit den Ringenden geben konnte; weil sie – wie man gewöhnlich zu sagen pflegt – vom Zufall, eigentlich aber von der Hand der Vorsicht jenen geschenkt und diesen auf ewig verweigert wurde, erschien sie mir wie die Gunst der Musen, von der Tasso sagt:


– das, was die Natur allein verleiht,

Was jeglicher Bemühung, jedem Streben

Stets unerreichbar bleibt, was weder Gold,

Noch Schwert, noch Klugheit, noch Beharrlichkeit

Erringen kann.


Auch fand ich für die Nachkommen etwas Erhebendes, Anregendes in der Betrachtung der Verdienste ihrer Ahnen. Es schien mir begeisternd zum Guten, so in einem Saale, in dem die Familiengemälde dem Enkel von den Wänden herab entgegenblickten, und er gleichsam vor den Augen seiner Väter wandelte, sich die Beispiele würdiger Menschen, deren Blut auch in des Enkels Adern wallt, zur Nacheiferung vorzustellen.


Und wenn von unsrer Marmorsäle Wänden

Die Ahnenbilder auf uns niederschaun,

Wie könnten wir ihr Angedenken schänden? – – –


Daß es dennoch oft geschieht, daß so viele Nachkommen großer oder wenigstens würdiger Väter unwürdig und klein handeln, weiß ich wohl, auch daß nicht alle die Herren in Harnischen und Allongeperücken, welche hier und dort in solchen Galerien abgemalt sind, ehrenwerte Männer und nachahmungswürdige Beispiele gewesen; aber das ändert nichts an der allgemeinen Idee des Adels, und benimmt ihm nach meinem Gefühl nichts von dem Poetischen, was er von jeher [366] für mich hatte. Es ging mir in der römischen Geschichte ebenso, und sei es nun die Darstellungsart des Livius, oder eine angeborne Weise zu empfinden – bei mir hatten die Patrizier immer recht gegen die Plebejer. Ich konnte jener Schwester einer Konsulsfrau ihren bürgerlichen Hochmut nicht verzeihen, der im Grunde kein besserer war als der Adelstolz ihrer Schwester, und welcher die Veranlassung gab, daß künftig der eine Konsul stets aus den Plebejern gewählt werden mußte. Auch sah und sehe ich noch nicht ein, daß das stets mehr aufkommende demokratische Prinzip, welches allmählich in Rom immer mächtiger wurde, dem Staate oder der Stadt par excellence (Urbi) zu großem Nutzen gewesen wäre. Es war eben der Gang der Vorsicht mit dem Menschengeschlechte, es mußte so kommen, weil der Zeitgeist sich allmählich mehr entfaltete; aber besser, schöner wenigstens ist es, glaube ich, nicht dadurch geworden.

Es war eben auch dieser Zeitgeist, der bei uns in Österreich durch die langen Kriege, durch die ungeheure Menge des Papiergeldes, durch die Verluste, welche viele höhergestellte Familien an Gütern und Einkünften erlitten, diese bewog, ja zwang, das Übrigbleibende zu veräußern, das dann in die Hände der Industrie, des Handelsstandes, des Gewerbefleißes kam. Besonders fiel mir dies in Oberösterreich, das ich vor nicht langer Zeit besucht hatte, unangenehm auf. Jenes stattliche Haus, das zur Zeit meiner ersten Reise dahin mit meinen Eltern, irgendeiner hochangesehenen Familie gehört hatte, war jetzt das Eigentum eines Gewerbsmannes geworden. Der Herr Fleischer oder Tischlermeister bewohnte nun die prächtigen Gemächer, in welchen früher Freiherrn oder Grafen gehaust hatten, [367] und etablierte einen gewiß nicht geringern Stolz als diese. Jenes gräfliche Schloß gehörte nun einem reichen Kaufmanne, ein anderes war zu einer Fabrik eingerichtet. Aus den Treibhäusern waren die freilich nutzlosen, aber lieblichen Orangenbäume und seltenen Pflanzen verschwunden, und ihre Räume hatten Zuckersiedereien oder Spinnmaschinen aufgenommen. In den Gärten, wo keine mannigfaltigen Blumen mehr das Auge müßig ergötzten, lagen allenfalls die bedruckten Kattunstücke zum Ausbleichen der Krappfarbe am Boden hingebreitet usw. Alles hatte seinen Zweck, seinen Nutzen, alles trug etwas ein. Aber – das Schöne war hinweg aus diesem Leben!

Zu diesen trüben Betrachtungen, welche die am Schönen und Edeln verarmte Gegenwart mir aufdrang, gesellte sich auch noch manches andere Trübe. Werte Freunde, welche sehr oft unser Haus besuchten, wie Herr v. Kirchstättern, Vater vieler Kinder, die er in dieser bedrängten Zeit nur kummervoll ernährte, übrigens ein gebildeter, rechtlicher Mann, den eine lange gegenseitige Achtung mit uns verband, starb um diese Zeit, wohl mitunter aus Sorge und Gram. Bald darauf erfuhren wir aus Ungarn, wohin er mit dem Kriegsarchiv dem Hofe gefolgt war, den Tod des General Gomez, eines sehr würdigen und gelehrten Mannes, der in Wien unser naher Nachbar gewesen war, dessen Haus wir oft besuchten. Noch tiefer aber kränkte uns alle der Verlust eines gar werten, vielseitig gebildeten und unserm ganzen Kreise mit Liebe und Achtung zugewendeten Mannes, eines gewissen Herrn Köderl, der in dem Bücherrevisionsamte angestellt, durch seine rechtliche Gesinnung, durch seinen vielfach gebildeten Geist, durch seine heitere Unbefangenheit, und selbst [368] durch seine offizielle Stellung, die ihn au courant der neuesten Literatur erhielt, uns ungemein wert geworden war, und dessen frühzeitiger Tod, er hatte kaum das dreißigste Jahr überschritten, in unserm ganzen Kreise schmerzlich gefühlt wurde. Endlich noch erhielt Baron Merian, dessen ich schon öfters erwähnt, eine diplomatische Anstellung am Dresdner Hofe und kam daher nicht mehr nach Wien zurück. Ich vermißte seinen so angenehmen als lehrreichen Umgang schwer, und kurz – dies alles trug bei, meine trübe Stimmung zu vermehren.

Dieser Abstand zwischen dem Einst und Jetzt, dies Umsichgreifen und der Übermut der niedrigern Stände, die wachsende Macht ihres eigentlichen Hebels, des Geldes, fing in jener Zeit zuerst an, recht bemerklich zu werden, und hat sich seit diesen fünfundzwanzig Jahren noch unendlich vermehrt. Für meine Art zu denken und zu empfinden, hatte dies alles etwas sehr Niederschlagendes, und diese Stimmung gab sich in meinen damals entstehenden Schriften kund. In dieser Stimmung entwarf ich den Plan zu den »Grafen von Hohenberg«, wozu ich die Szenerie auf vielfältigen Reisen in Ober- und Unterösterreich gesammelt hatte. Pichler hatte nämlich in dieser Epoche fast jährlich eine größere oder kleinere Geschäftsreise in die Gebirge und Wälder unseres Vaterlandes zu machen, er nahm uns alle, meine Mutter, mich und unser Töchterchen mit, und wir genossen so sehr oft das heitere Landleben in den schönsten Gegenden. So sah ich St. Florian, Kremsmünster, den Albensee, Scharnstein, Spital am Pyhrn, Mariazell, Lilienfeld, Hohenberg, Guttenstein usw., und die Bilder dieser Gegenden hatten sich meiner Seele tief eingedrückt. Sie wurden nun der Schauplatz, [369] auf welchem sich die, von mir teils selbstgeschaffenen, teils der vaterländischen Geschichte entnommenen Gestalten sowohl in den Grafen von Hohenberg als in andern meiner Novellen bewegten, und wozu eben diese Geschichte den Hintergrund bildete. Eine unglücksvolle Epoche hatte ich mit Fleiß gewählt, die Zeit, wo die Kinder K. Albrecht des Ersten, vor allen die ungarische Königin Agnes Blutrache wegen der Ermordung ihres Vaters an vielen edlen Familien nahmen, und diese düstere Färbung, sowie sie über jener Epoche und jetzt auch in meiner Seele waltete, verbreitete sich über das ganze Gedicht. Keine Neigung blieb verschont, kein noch so zufriedenes Verhältnis ungestört. Es hatte sich mir aus den Erfahrungen jener traurigen Zeit der Glauben aufgedrungen, daß es hiernieden kein wahres Glück gebe; daß unsere edelsten Freuden nur Täuschungen seien und alles uns auf Jenseits hinweise. Dieses Glaubensbekenntnis sprach sich am vollständigsten in dem Liede aus, welches Agnes singt:


Was weinst du Pilger dieser Erden,

Drückt dich des heißen Tages Last?

– – O blick' auf dich, auf deine Brüder,

Wer ist denn glücklich? frag ich dich. – –

– – Und dennoch schwebt im Sonnenscheine

Ein reizend Bild vor unserm Blick. – –


In der Gestalt der schönsten Triebe

Schwebt es der heitern Jugend vor,

Es zeigt als Freundschaft sich, als Liebe,

Es lockt uns noch durch heiße Triebe,

Und zieht uns von der Erd' empor.


Wie mutig folgen wir den Winken,

Wie reich an innrer Seligkeit!

Wir sehn im Tau die Blume blinken,

Wir pflücken sie – die Blätter sinken

Zerstört vom Hauch der Wirklichkeit.


[370]

Verblichen ist die Glut der Farben,

Entflohn des Duftes zarter Geist –


O murre nicht – nicht zum Genießen

Sind wir in diese Welt gesandt. –


Dorthin, dorthin geht das Verlangen,

Dort wird uns unser Wünschen klar,

Dort sehn wir unsre Blumen prangen,

Dort wird kein Hoffen hintergangen,

Wo alles ewig ist und wahr.


In diesem Liede sprach sich mein damaliges innerstes Gefühl aus, und es ist der rechte Schlüssel zu dem ganzen Roman.

Ähnliche Ansichten, nur in einer etwas veränderten Richtung, gaben mir die Idee zur Erzählung: Alt und neuer Sinn. Es war der grelle Kontrast zwischen der treuherzigen, frommen, einfachen Vorzeit und der rastlos strebenden, ungläubigen, nie gesättigten Gegenwart. Die wirklichen Ereignisse, daß so manche unserer Güterbesitzer bei dem Aufrufe der Landwehr ihre Untertanen bewaffnet und sich an ihre Spitze gestellt hatten, boten mir willkommene Verflechtungen. So entstand jene Erzählung, in welcher Cäcilie die neue Sinnesart gegenüber der alten Blankenwerths darstellte und beide in dem Konflikt zugrunde gehen, wo denn zuletzt Gewerbefleiß und Fabrikswesen sich das Besitztum ritterlicher Vorgänger aneignen. Ohne es zu ahnen, hatte ich mit dieser Novelle das Wohlwollen und höhere Interesse einer verdienstvollen Dame, der Gräfin C**y, gewonnen. Ihr Gemahl, ein schöner, jugendlicher und zufälligerweise wie Blankenwerth blonder Mann, dessen Besitzungen tief im Gebirge lagen, war ebenfalls in jenem verhängnisvollen Jahre 1809 zur Landwehr gegangen, hatte sich sehr wacker gehalten, und war bei Raab geblieben. Als ich ein paar Jahre [371] darauf nach Lilienfeld und Mariazell reiste, lernte ich diese Frau kennen, welche in jener Erzählung eine Art Verklärung ihres tapfern Gemahls gefunden hatte und mir darum recht gut geworden war.

Auf diese und ähnliche Weise hatten mir meine Schriften manches wohlgeneigte Herz in der Nähe und Ferne gewonnen, und was mich stets am meisten freute, es war sehr oft nicht sowohl die Schriftstellerin als das weibliche Gemüt, die Frau selbst, was man in meinen Schriften achtete und mit Wohlwollen auffaßte. Das war und ist ein schöner Gewinn, der mir durch Gottes Gnade, nebst dem unsäglichen Vergnügen, welches mir die Ausübung meines Talentes gewährte, noch darüber zuteil ward.

Während ich noch, zwischen Wehmut über die Vergangenheit und Sorge für die Zukunft befangen, an den Grafen von Hohenberg arbeitete, und eine schwermütige Freude darin fand, mich in die Leiden und Schmerzen, Entsagungen und Enttäuschungen dieser Geschöpfe meiner Einbildungskraft zu versenken, zugleich die Bilder jener himmlisch schönen Gegenden von Guttenstein, Scharnstein, Lilienfeld, dem Albensee usw. wieder lebhaft zurückzurufen und den Eindruck zu schildern, mit dem ihre halbwilden, halbdüstern Reize mich selbst berührt hatten, als ich sie das erstemal sah, erschütterte plötzlich eine ebenso folgenreiche als unerwartete Neuigkeit ganz Wien, ganz Österreich, ja wohl ganz Europa. Napoleon ließ um die Tochter unsers Kaisers werben. Maréchal Berthier war auf dem Wege nach Wien, und mit Erstaunen, mit ängstlicher Freude und furchtsamer Hoffnung sah jedermann diesem Ereignisse und seinen möglichen Folgen entgegen.

[372] General Berthier kam an – die Werbung geschah in aller Form. Feste folgten bei Hofe auf Feste. Die damalige Kaiserin Maria Ludovica wußte durch ihren Geist, ihre Anmut und durch die sorgfältigsten Toiletten den Maréchal so zu bezaubern und zu stimmen, daß er bei seiner Abreise soll gesagt haben: Es sei Zeit, daß er von Wien wegkomme. In der Augustinerkirche geschah die feierliche Trauung, wobei unser hochverehrter Erzherzog Karl statt des entfernten Bräutigams, die Hand der Braut, seiner Nichte, empfing. – Er, der Sieger von Aspern, der zuerst den Nieüberwundenen zum Weichen gezwungen hatte, sollte nun das Band besiegeln helfen, was jenen Gewaltigen an das Erzhaus binden, und diesem entweder Frieden und Glück oder noch ärgere Sklaverei bereiten konnte!!

Vergeblich würde ich es versuchen, die gemischten, streitenden, ja peinlichen Empfindungen zu schildern, welche mich ergriffen, als ich bei dem freien Ballfeste, das bei dieser Gelegenheit in den k.k. Redoutensälen mit großer Pracht gegeben wurde, zuerst wieder in diesen Saal trat, wo vor zehn, elf Monaten, vor dem Ausbruch des unseligen Krieges, die Landwehrlieder unsers Freundes Collin bei gedrängt vollem Hause waren gesungen und in jeder österreichischen, jeder deutschen Brust Haß und mutiger Widerstand gegen Frankreichs Übermacht und Übermut war entflammt worden. Jetzt war eben dieser Saal auf einer Seite mit Fahnen und Drapperien in Österreichs Farben, auf der andern Seite mit Trikolor verziert. Dieses Zeichen, das Erfahrung, Nachdenken und jeder Blick um uns her uns Jahren als das unglückbringendste für uns und die ganze Welt hatte ansehen gelehrt! Nun schwebten diese Farben über unsern Häuptern, dicht neben den verehrten [373] vaterländischen, und wie lange? – wie lange? – wird uns, so konnte man wohl, ohne eben allzu große Furchtsamkeit, mit Recht denken, wie lange wird uns der Allgewaltige wohl noch gestatten, diese Farben zu verehren und als das Palladium des Volksglücks unter dem Szepter unserer angestammten Fürsten zu behalten? Daß solche Betrachtungen nicht sehr geeignet waren, um jene fröhliche Stimmung zu erzeugen, die sich für einen Ball schickte, ist wohl natürlich. Indessen, sowie ich bereits über die Jahre hinaus war, in denen man zu tanzen pflegt, so war auch überhaupt das Tanzen auf der Redoute nicht mehr Sitte, und man betrachtete ein solches Fest nur als eine große Reunion, wo man in zierlich geschmückten und erleuchteten Sälen während einer Tanzmusik, auf die übrigens niemand oder nur wenige achteten, herumspazierte, seine Bekannten sah, Anzüge betrachtete und musterte, Glossen machte, und sich gut oder nicht gut unterhielt, je nachdem es sich traf. Eine der besten Unterhaltungen bot bei solchen Gelegenheiten die Erscheinung des kaiserlichen Hofes mit seinem Gefolge von Kavalieren und Damen. Diesmal führte unser geliebter Kaiser den Zug an, an seinem Arme die jugendliche Braut des Helden der Zeit; ihnen folgte an Erzherzog Karls Arme die Kaiserin Maria Ludovica; hinter diesen die übrigen Prinzen des Hauses, den Patriarchen desselben, Herzog Albrecht von Sachsen-Teschen, mitten unter ihnen. Auch diesmal war, wie ich es schon bei der ersten Vermählung unsers Kaisers mit der Prinzessin Elisabeth von Württemberg bemerkt hatte, die Braut, welche doch an diesem Tage die größte Aufmerksamkeit erregen mußte, durchaus nicht die anziehendste Gestalt. Damals verdunkelte die zwar nicht mehr jugendliche, [374] aber durch ihre edlen Formen und den geistvollen Ausdruck derselben, sowie durch einen sehr wohlgewählten Anzug, noch immer sehr schöne Erzherzogin Christina die blasse und viel unscheinbarere Braut. Bei dem gegenwärtigen Fest übertraf die Kaiserin, obwohl nicht regelmäßig schön und älter, kränklicher als die blühende Braut, diese doch durch Anmut der Bewegungen, vorteilhaften Anzug und eine Majestät der Haltung, welche bei dieser nicht großen Gestalt doppelt überraschend war. Daß der mindere Glanz der Braut großenteils von einer unvorteilhaften Art sich zu kleiden und ihrer Schüchternheit herrührte, erwies sich später. Man erzählte allgemein, daß, wie sie in Braunau, wo das ihr entgegengesandte französische Gefolge sie erwartet hatte und sie von den französischen Zofen in einem Nebengemach umgekleidet worden war, in dem von Paris mitgebrachten Anzug und Schmuck wieder heraustrat, sie als eine ganz andere Person erschien. Wohl mochte die innere Sicherheit, der Gedanke: nun die erste und höchste Monarchin in Europa zu sein, viel beitragen, die jugendliche Gestalt zu erheben und den blühenden Kopf aufzurichten; daß aber an der Wahl und Umsicht beim Anzug gar viel gelegen ist, wird keine Frau bestreiten. Später – nach dem Zusammensturz ihres so blendenden Glückes – sah ich diese Prinzessin in Lilienfeld wieder und mußte gestehen, daß sie in Haltung und Anstand ungemein gewonnen hatte.

Doch ich kehre zu dem Faden der Erzählung zurück. Unser Vaterland war also mit Frankreich verbündet – die Tochter unsers Kaisers saß an des mächtigsten Monarchen, an Napoleons Seite, auf dem Thron dieses Reiches, und nach den gewöhnlichen Berechnungen [375] hätten wir uns nun Ruhe und ungestörten Genuß im Besitz dessen, was dem österreichischen Kaisertume nach so vielen Losreißungen geblieben, und allerdings eine bedeutende Macht zu nennen war, versprechen können. Aber war sich bei Napoleons rastlosstrebendem Eroberungsgeist, bei dem militärischen Genie, das er besaß und welches ihm das Kriegführen und Überwinden zu einer Lieblingsbeschäftigung machen mußte, und bei den ungeheuern Mitteln, die ihm zu Gebote standen, wohl Ruhe und bleibende Sicherheit zu versprechen!

Unglückverkündend und im Rückblick auf das traurige Geschick der Königin Antoinette höchst ominös war der Brand des Tanzsaales bei dem Fest, das unser Gesandter Fürst Karl von Schwarzenberg dem kaiserlichen Paare mit großer Pracht und ausgesuchtem Geschmack gab. Schon bei Gelegenheit jener Hochzeitsfeierlichkeiten unter Ludwig XVI. war ein ähnliches Unglück entstanden, und diese Wiederholung desselben Zufalls bei gleicher Veranlassung warf ahnungsvolle Besorgnisse in manche Herzen. Sehr lebendig und schön geschildert hat eben jener Herr Varnhagen, dessen weiter oben Meldung geschehen, dieses Fest mit allen seinen Schrecken und einzelnen erhebenden Momenten im Raumerschen Taschenbuch. Varnhagen war damals Adjutant des Fürsten, daher ein glaubwürdiger Augenzeuge all dieser Auftritte. Nicht ohne erhebendes Gefühl liest man in die ser Schilderung neben allen den entsetzlichen Ereignissen die einzelnen Beweise von Mut, Aufopferung, Pflichtgefühl – das Schicksal der Fürstin von Schwarzenberg, die ein Opfer ihrer Mutterliebe ward, und das Betragen des Kaisers Napoleon selbst, das sich ebenso besonnen und würdig, als voll [376] Rücksicht auf seine eben angetraute Gemahlin aussprach.

Der folgende Sommer verging wie mancher frühere für mich in stillem Genuß häuslicher Zufriedenheit, im Umgang mit werten Freunden und kleinen Reisen in die schönen Gebirgsgegenden. So waren wir noch im Anfange des Oktobers zum zweitenmal in Guttenstein, und ich sah mit Vergnügen die Plätze wieder, die ich schon ein paar Jahre früher besucht und wo ich einen großen Schrecken bei dem Muckendorfer Wasserfall erlebt hatte. Dieser Auftritt, bei welchem nur Gottes sichtbar einwirkende Gnade mich vor dem furchtbaren Jammer, Gemahl und Kind in einem Augenblicke zu verlieren, bewahrt hatte, ist mir von jeher zu entsetzlich, zu ergreifend gewesen, als daß ich auch jetzt noch, nach mehr als dreißig Jahren imstande wäre, ihn in diesen Blättern zu schildern. Erzählen konnte ich ihn nur mit der größten Erschütterung des Gemütes, tat es daher fast nie, und nur meine innige Freundin, die mir nun auch schon lange ins bessere Leben vorangegangen ist, Fräulein Therese von Artner, hat in einer schönen Romanze, welche ihr die Liebe für mich eingegeben, diesen entsetzlichen Vorfall geschildert.

Man hat – wenn es erlaubt ist, so Kleines, wie meine Erlebnisse, mit den Ereignissen in dem Leben eines der glänzendsten Monarchen in Vergleich zu stellen – man hat öfters schon die Rettungsgeschichte unsers Kaisers Max I. auf der Martinswand für ein Märchen, eine poetische Sage usw. erklären wollen, weil sie sich unter den Abenteuern des Kaisers, welche er selbst im Teuerdank erzählt, und in welchem seine bösen Gesellen, der Neidthart Fürwittig und Unfalo [377] ihn in allerlei Gefahren bringen, nicht vorfindet. Dies ist wahr; aber ist es wohl erlaubt, aus der Nichtberührung dieses Abenteuers auf das Nichtvorhandensein desselben notwendig zu schließen? Kann nicht ein Schauer, der den höchst gemütsreichen letzten Ritter bei der Erinnerung an jene Gefahr ergriff, die Ursache dieses Verschweigens sein? Kann nicht – ich glaube, Baron Hormayr hat Ähnliches irgendwo geäußert – eine Art heiliger Scheu ihn abgehalten haben, dies geheimnisvolle Begegnis profanen, vielleicht ungläubigen Ohren mitzuteilen; es möge nun jenes rettende Wesen ein wirklicher, von Gott gesendeter Engel – denn die Erhaltung dieses Fürsten war allerdings dignus vindice nodus – oder ein auf wunderbare Weise auftretender Bergknappe gewesen sein. Wie gesagt, ich glaube in meiner Scheu vor dem Er zählen jenes Vorfalls am Muckendorfer Wasserfall eine natürliche Erklärung von Kaiser Maxens Schweigen über den so ungleich wichtigern und verhängnisvollern Vorfall an der Martinswand zu erkennen.

Aber unsere Zeit ist so über alle Maßen skeptisch und nüchtern, hat so ausschließend nur für das Reelle, Handgreifliche, Nutzbare Sinn, daß alles, was sich nicht in diese Kategorien bringen läßt, für sie nicht allein keinen Wert hat, ja, daß es von ihr gar nicht mehr erfaßt werden kann. In dieser Tendenz zum Realen übt sich nun auch die historische Kritik mit schonungsloser Schärfe, verdächtigt Überlieferungen, an deren erhebendem, menschlich schönem Inhalt seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden die Welt mit Liebe und Glauben hing, z.B. in den ersten Büchern der römischen Geschichte, oder zieht den trojanischen Krieg – wie ich aus einer Rezension in den »Blättern[378] für Literar. Unterhaltung, Dezember 1836« gesehen – von seiner glanzvollen Höhe, auf der er der Welt geleuchtet, herunter, und sucht ihn zu einer unbedeutenden, halb wahren, halb erlogenen Expedition einer oder einiger kleinen griechischen Völkerschaften zu machen. Ebenso, nur weit verderblicher und darum verabscheuungswürdiger mag auch das, jetzt in vielen kritischen Blättern besprochene Leben Jesu von Strauß sein. Ich habe es so wenig als Uscholds trojanischen Krieg oder Herrn von Niebuhrs römische Geschichte gelesen. Aber ich habe in meiner Jugend das Buch des berühmten oder berüchtigten Dr. Bahrdt: Die Bibel im Volkston, wohl gekannt, welches sich mit vielem Scharfsinn und großer Anstrengung Mühe gibt, alles Wunderbare, Göttliche aus der Person und den Taten Jesu Christi hinweg zu deuteln und alles ganz natürlich zu erklären. Zu welchen abenteuerlichen, teils lächerlichen, teils ganz unstatthaften Voraussetzungen und Erfindungen Bahrdt deshalb seine Zuflucht nehmen mußte, leuchtet wohl jedem unbefangenen und christlich gesinnten Menschen ein; aber das Buch machte gewaltig viel Aufsehen. Mir schien es aber schon damals, daß jene sogenannten Erklärungen und Vernatürlichungen der Wunder etwas noch viel Wunderbareres als die wirklichen Mirakel, nämlich ein ganz unwahrscheinliches Zusammentreffen der seltsamsten Umstände, eine unbegreifliche Betörung und Befangenheit der Zuseher, und endlich einen Grad von Geistesgewandtheit, Schlauheit und Bildung voraussetzen, der sich bei einfachen Fischern und Leuten aus den niedrigsten Ständen gar nicht denken läßt. Es ist – so dünkt es mich – mit diesem Wegerklären des Wunderbaren wie mit der Beobachtung der drei dramatischen Einheiten [379] auf der Bühne, wo denn auch, um ja dem Zuseher keine Versetzung seiner Gedanken an einen andern Ort, oder keinen Glauben an eine längere vergangene Zeit zuzumuten, man ihm aufbürdet, zu glauben, daß z.B. eine Verschwörung auf öffentlicher Straße entsponnen werde, der Vater sich über die innersten Angelegenheiten seiner Familie in einem Vorsaale aussprechen oder die totale Sinnesänderung eines verkehrten Menschen binnen 24 Stunden stattfinden könne.


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So ging denn das Jahr 1810 zu Ende, und das, in so vieler Hinsicht merkwürdige von 1811 brach an.

Schon im März ward es durch zwei folgenschwere, obgleich unter sich sehr verschiedne Ereignisse bezeichnet, die Geburt des damaligen Königs von Rom, bei uns später der Herzog von Reichstadt genannt, und die unselige Skala, die zwar mit einem Gewaltstreich vielen Verlegenheiten der Staaten abhalf, auch das Los der Beamten und aller vom Staate Salerierten bedeutend verbesserte, aber auch manche rechtliche Familie zum Teil oder gänzlich um ihr Vermögen brachte. Auch das unsrige litt bedeutenden Verlust, sowohl damals als späterhin, da selbst Kapitalien, die lange vor jeder Entwertung der Bankozettel in den Jahren 1797 oder 1798 angelegt worden waren, uns zwanzig Jahre später in Einlösscheinen zurückgezahlt wurden, wogegen dann keine Protestation geholfen hätte, weil das Patent ausgesprochen hatte: Einlösscheine sind Konventionsmünze.

Doch über das alles ist damals genug geklagt, räsonniert, gebeten, versucht worden, die Ansprüche blieben [380] stehen – das Geld war verloren und nun haben einige zwanzig Jahre jene Wunden vernarbt oder die verletzten Herzen ruhen längst im kühlen Grab.

Bei Hofe und überall war bedeutende Freude über die Geburt jenes Prinzen, und Baron Tettenborn, der im forcierten Kurierritt diese frohe Nachrichten in 8 oder 9 Tagen von Paris nach Wien brachte, war mit seiner Neuigkeit und dem Erstaunen über seine kühne Reise durch mehrere Tage der Gegenstand aller Gespräche.

Der heiße Sommer kam nun und brachte mir allerlei Angenehmes und Unangenehmes, ja Schmerzliches. Die innig von mir verehrte Frau von Schlegel hatte sich für den Sommer eine Gartenwohnung in unserer Nachbarschaft genommen; wir sahen uns oft, und unsere Kinder, Philipp Veit, damals ein hübscher Junge von etwa 16–17 Jahren, und meine Tochter, ungefähr 13 oder 14 Jahre alt, trieben sich im Garten spielend und scherzend umher. Welche Veränderung bis jetzt! Veit ist ein berühmter Maler geworden und ist Vater von sechs Kindern – meine Tochter ist Witwe und Mutter von fünf Kindern, von denen ihr Gott drei ließ, welche unser Alter verschönern. –

Unsere Freundinnen, Baronin Richler und ihre Schwestern, brachten den Sommer in Döbling zu. Die jüngste, Nanette, hatte schon lange gekränkelt – als Folge einer schwächlichen Konstitution und mancher geheimen Kränkung, welche ihr die Untreue eines Mannes verursacht, der um mehrere Jahre jünger als sie, sie im Anfang mit jugendlicher Leidenschaft umfaßt, und endlich um einer jüngeren und sehr schönen, genauen Freundin Nanettens willen verlassen hatte. – Es war eben auch eine Sapphogeschichte, wie sie nur zu gewöhnlich vorfallen; wo die Verirrung einer [381] jugendlichen Phantasie mit der Zeit der natürlichen Wirkung der Jugend und Wohlgestalt weichen muß. Noch während Nanette mit ziemlich schnellen Schritten dem Grabe zueilte, entriß ganz unvermutet eine heftige plötzliche Krankheit uns einen andern bewährten und unvergeßlichen Freund, Heinrich von Collin, der seit seinem ersten Auftreten in der literarischen Welt in dieser sowohl als in seinen amtlichen Beziehungen eine glänzende Karriere gemacht hatte, Hofrat und Leopoldordensritter geworden war. Der amtliche Fleiß, die Geistesanstrengung, welche durch doppelte Richtung – als Dichter und Geschäftsmann – seine Kräfte in zu großen Anspruch nahm, hatten seine Natur erschüttert, und einer gefährlichen Krankheit, einem Nervenfieber, das ihn im Juli dieses Jahres befiel, nur zu leichtes Spiel gemacht. Es war ein heißer Sommernachmittag, als er von Schlegel – die damals unweit von uns in einem Garten wohnten – zu uns herüber kam und sich Wasser in einem gewissen gläsernen Kruge, den er wohl kannte und öfters bei uns daraus zu trinken pflegte, ausbat. Ich goß es ihm mit Himbeersaft ab, er ruhte eine Weile bei uns, erfrischte sich mit dem Tranke, klagte aber sehr über Unbehaglichkeit und Mattigkeit. Es war das letzte Mal, daß wir ihn sahen. In einigen Tagen ergriff ihn die Krankheit mit voller Macht, und am 29., wenn ich nicht irre, trat die gute Schlegel mit sehr ernster Miene Nachmittag in mein Zimmer, und bereitete mich schonend und vorsichtig auf die schmerzliche Nachricht seines Todes vor. So hatte ich, wie alle, das Vaterland den trefflichen Mann, den ausgezeichneten Dichter, den tüchtigen Staatsbeamten, den teilnehmenden, treuen, rechtlichen Freund verloren! Er wurde allgemein bedauert; [382] die Lücke, welche er in unserm Kreise gelassen, ist nicht mehr ausgefüllt worden, wie denn überhaupt nie ein Mensch durch einen andern, der an seine Stelle tritt, im rechten Sinne ersetzt werden kann.

Bald nach Collins Tode endete denn auch Nanette Porta, und hinterließ ihre beiden ältern Schwestern in tiefer Trauer und uns alle in Wehmut um sie. Es war ein ausgezeichnetes Mädchen, voll Geist und Lebhaftigkeit, und ihr Verlust in unserm geselligen Kreise sehr empfunden.

Indessen ging die Welt draußen um uns her ihren vielbewegten, stürmischen Gang fort; denn an ihrer Spitze stand der gewaltigste und unruhigste Geist dieses Jahrhunderts, Napoleon, der alles mit der Macht seines Genies und Ehrgeizes aufregte und durcheinander trieb. Mit Recht sah man täglich neuen Gewittern und Stürmen entgegen, die zwar noch nicht an unserm Horizonte aufgestiegen waren, auf die aber jeder, der die Zeit kannte und nur etwas Voraussicht hatte, sich mit der größten Wahrscheinlichkeit vorbereiten durfte, und vor welchen – so glaubten auch die Vernünftigsten – uns selbst weder die Vermählung mit der Tochter der Cäsaren noch die Geburt des Enkels unsers Monarchen schützen würde, wenn es dem gewaltigen Geiste gefiele, Österreich zu einem seiner direkten oder indirekten Staaten zu machen. In einem Sinne hatten diese Propheten richtig geraten; daß es gerade der entgegengesetzte war, ließ damals in Österreich, ja in Europa sich kein Mensch träumen, vielleicht selbst Talleyrand nicht, der den Marsch nach Rußland im folgenden Jahre: Le commencement de la fin genannt haben soll.


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[383] In diesem Sommer, der uns so manchen Verlust gebracht und in Rücksicht der unausstehlichen Hitze so manche Freude verdorben hatte, fehlte es doch an kleinen Unterhaltungen nicht. Ich hatte Gelegenheit, interessante Fremde kennen zu lernen – Wilhelm v. Humboldt mit seiner Frau, einer höchst geistreichen Dame, die ich bei Schlegel kennen lernte, die sich aber, weiß Gott warum? gegen mich äußerst schroff benahm, und, so wie auch ihr Mann, in dem übrigens sehr kleinen Kreise desselben Abends, unter höchstens 8–10 Personen, mich auf eine auffallende Art ignorieren zu wollen das Ansehen hatte. Nie habe ich erfahren, woher diese übersehende, ja ganz unfreundliche Behandlung kam, da ich sonst (ich darf das sagen, ohne daß man es mir als Ruhmredigkeit auslege) gewohnt war, wenigstens, wenn man mich nicht kannte, mit der gegen Unbekannte gewöhnlichen Höflichkeit, und wenn ich genannt wurde, mit Auszeichnung behandelt zu werden. Diesmal war es anders, und vergebens habe ich nachgesonnen, was wohl die Ursache davon habe sein können, da ich Herrn und Frau von Humboldt jenen Abend zum erstenmal in meinem Leben gesehen hatte.

Zur selben Zeit wohnte auch eine Freundin der Frau von Schlegel, eine Madame Herz aus Berlin, auf einige Zeit bei ihr, eine sehr majestätische, und hätte man sie durch ein Verkleinerungsglas betrachten können, wirklich schöne, dabei geistvolle, freundliche, gebildete Frau, mit der ich manche vergnügte Stunde zugebracht. Durch sie erfuhren wir eine sehr komische Anekdote von dem berühmten Romandichter Lafontaine, der auch dazumal im Sommer 1811 nach Wien gekommen war, den wir aber, Schlegel und ich, nicht[384] kennen lernten, weil er sich bei keinem von uns aufführen ließ. Seine Lieblingsbeschäftigung war es, sich im sogenannten Wurstelprater bei den Schenken, Schaukeln, Pulcinellen usw. herumzutreiben, das Volk in seiner Fröhlichkeit dort zu betrachten, und vielleicht manche psychologische Bemerkung zu machen. In die feinen Gesellschaften ging er nicht, in keinem von allen mir bekannten Häusern hatte er Zutritt gesucht. Aber ein paar Damen, welche seine Romane mit großer Erhebung und Rührung (wie mehr oder minder wohl wir alle vor 30–40 Jahren) gelesen hatten, und nach ihrem Ton und ihrer Tendenz in dem Autor einen zarten, feinen, vielleicht zierlichen, gewiß aber sehr anziehenden Gesellschafter zu finden glaubten, ließen ihn zum Tee bitten, und freuten sich schon sehr auf den genußreichen Abend mit dem Verfasser so rührender, zärtlicher Dichtungen. Es war ein heißer Tag in Mitte des heißen Sommers – es wurde 7, halb 8, 8 Uhr – eine für jene Zeit viel zu späte Stunde, um zum Tee zu erscheinen. – Lafontaine ließ sich noch immer erwarten. Endlich um halb 9 Uhr trat ein mittelgroßer, sehr korpulenter, sehr abgeschwitzter Herr ein, es war der erwartete Dichter, der sich in einemfort den Schweiß abtrocknete, über die Hitze klagte, sich statt des Tees und der Konfitüren – ein Glas Bier ausbat, und mit großer Lust statt von zarten und erhabenen Dingen, wie wohl erwartet worden war, von dem Vergnügen sprach, das ihm der obengenannte Wurstelprater geboten. Wie waren die Damen von ihrer ätherischen Höhe herabgestürzt!

Bald darauf erschien, nicht hier auf Erden, aber am nordwestlichen Himmel, ein schimmernder und merkwürdiger Fremdling, der große Komet von 1811 –[385] und eine übermäßige Hitze ging seiner Erscheinung bevor, begleitete sie und dauerte mit verhältnismäßiger Abstufung bis gegen den November. Viele Brunnen versiegten, die Ernte war mittelmäßig, der Wein aber trefflich. Mir war die Hitze peinlich, übrigens aber der Anblick des fremdartigen und schönen Gestirns, das seinen lichthellen Schweif über einen bedeutenden Teil des Abendhimmels erstreckte, und das ich aus meinem Fenster oft mit Vergnügen betrachtete, anziehend und angenehm zugleich. Nicht alle Menschen teilten dies Vergnügen mit mir. Es gab ihrer, und sehr geistreiche, welchen der Anblick des Sternes Unglück weissagend erschien, und die sich daher vor ihm fürchteten. Zu streiten ist über solche Ansichten nicht, denn Gründe finden hier keinen Eingang. – Hätte aber jener Himmelskörper wirklich ein allgemeines Unglück bedeuten sollen, so waren wenigstens wir Deutsche es nicht; denn die Schrecken des bald darauf unternommenen Feldzugs von 1812 trafen uns nur in wenigen einzelnen, welche sich eben unter der französischen Armee befanden, und vielmehr wurde das Unglück jener Campagne der Grund und die Wurzel, aus welchen sich die Befreiung unseres Vaterlandes im Jahre 1813 entwickelte.


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Im Anfang dieses Winters erhielt ich von unserm Freunde Merian in Dresden, mit dem ich fleißig korrespondierte, einen Brief, welcher mir die baldige Ankunft eines jungen und sehr bedeutenden, sehr hoffnungsvollen Dichters, Herrn Theodor Körners, verhieß, und mich mit vielem Lobe auf diese neue Erscheinung aufmerksam machte. Körner sollte sich[386] mittelst eines andern Briefes von ihm bei mir einführen; aber er kam nicht. – Ich hörte von andern Leuten, daß er hier und sehr viel mit Schauspielern sei, wie denn auch einige kleine Stücke von ihm: Die Braut, der grüne Domino usw. aufgeführt wurden. Ich hatte ihn noch nicht gesehen, so sehr ich es wünschte, und nur in einer der Vorlesungen über die neuere Geschichte, welche Friedrich Schlegel damals im Saale beim »römischen Kaiser« hielt, zeigte mir ihn Frau von Weissenthurn von weitem. Es war eine hohe, schlanke, kräftige Jünglingsgestalt, nicht eben mit schönen, aber sehr bedeutenden Zügen, lebhaften blauen Augen bei ganz dunklem Haar und in einem etwas vernachlässigten Anzug. Nicht lange darauf erzählte man sich, daß er ein zärtliches Verhältnis mit einer unserer damaligen ersten Schauspielerinnen, Mlle. Adamberger habe, welche mit einer schönen Gestalt, einem liebenswürdigen heitern Umgang und einem großen theatralischen Talent, eine so strenge Sittlichkeit, eine so höchst vorsichtige Aufführung verband, daß man sie allgemein eben so sehr bewunderte als hochachtete, ja, die jungen Herren, welche sich ihr, als einer Schauspielerin, ohne große Umsicht nähern zu dürfen glaubten, wurden auf eine Art von ihrer Tante, bei der sie mit ihren Geschwistern lebte, empfangen, daß man ihr den Titel: le dragon de vertu gab.

Dieses Mädchen nun, das in so vieler Rücksicht glänzend vor den Bewohnern Wiens dastand, liebte der junge Mann, der ebenfalls eine leuchtende Erscheinung in seiner Art, nun zum erstenmal so bedeutend im Publikum auftrat. Hedwig wurde gegeben – Toni (Fräulein Adamberger) gab diese Hauptrolle, und man konnte wohl erkennen, daß die Liebe des Dichters diesen [387] Charakter mit einer Verklärung von Kraft, weiblicher Würde, Geist und Edelmut umgeben hatte, die eigentlich das Werk seiner Leidenschaft und Phantasie war; dennoch aber mit dem Charakter Antoniens – wie er damals vor der Welt erschien – viele ähnliche Grundzüge hatte.

Das Stück, etwas grell und ans Schauderhafte streifend – welcher Geschmack schon zu jener Zeit sich hier und dort in Dichterwerken wie die Schuld, der vierundzwanzigste Februar usw. zu zeigen anfing – fand sehr viel Beifall, und Antonie erntete für ihr Spiel wohl eben so viel Lob, als ihr Dichter für sein Werk.

Alles dies hatte mich denn ebenso gespannt auf die persönliche Bekanntschaft des jungen Mannes, als wirklich ungehalten auf seine Vernachlässigung meiner gemacht. So ließ ich ihm denn einmal durch Kurländer, der als Theaterdichter in mannigfachen Berührungen mit Körner stand, sagen: Wenn er mich nicht besuchen wolle – so müßte ich es mir gefallen lassen; aber ich bäte ihn nur, mir durch Kurländer den Brief meines Freundes Merian zu schicken, den ich nicht missen wollte. Das wirkte endlich – und an einem regnerischen Frühlingsnachmittag, wo ich mit meiner Tochter und noch einem jungen Mädchen, das ich damals als ein Mittelding zwischen Gesellschafterin und Kammerjungfer ins Haus genommen hatte, beisammen saß, meldete man mir Herrn Körner. Die Mädchen, welche einem Gelehrten nicht gern begegneten, flohen ins andere Zimmer, und ließen mich allein den Besuch eines Mannes annehmen, von dessen Dichtergeist ich wohl eine günstige Vorstellung, dafür aber eine geringere von seiner Lebensart überhaupt oder wenigstens von seiner Achtung für mich hatte. Dennoch kam es ganz anders, [388] und nur selten in meinem langen Leben hatte die erste Stunde des Beisammenseins mit einem vorher ganz Unbekannten so schnell alles Fremde von beiden Seiten abgestreift, eine sehr gemütliche Annäherung bewirkt wie zwischen Körner und mir, ungeachtet des großen Unterschiedes im Alter. Er blieb lange, er erzählte mir eine Menge aus seinem Leben, seinen häuslichen Verhältnissen; er brachte komische Anekdoten vor, ich mußte herzlich lachen, Körner lachte mit, und die Mädchen im Nebenzimmer verwunderten sich über den seltsamen Besuch, bei dem es so viel zu lachen gab.

Von nun an war er heimisch bei uns geworden. Er kam oft, er blieb lange bei den kleinen Mädchen in der Alservorstadt, wie er Lotte und Theresen nannte, und sagte später einmal zu einer gemeinschaftlichen Bekannten, daß auch er bei seinem ersten Besuche gleich so viel Wohlwollen und Vertrauen zu mir empfunden habe, daß er mir alle seine Geheimnisse gesagt haben würde, wenn ich darnach gefragt hätte. Ja, es war eine verwandte Seele, die diesen jungen Mann belebte, und die auch später mich seiner Familie, die im nächsten Sommer nach Wien kam, und sie mir schnell und bleibend befreundete.

Körner las nun jedesmal seine neuen Schöpfungen vor, und mit großem Erstaunen konnte ich die Leichtigkeit und Sicherheit seiner Arbeiten an dem, von Korrekturen reinen Konzepte bemerken, wo oft auf einer ganzen Folioseite kaum ein Gedanke zurückgenommen oder ein paar Verse gestrichen waren. So floß es ihm aus der reichen Seele, und so strömte es aufs Papier, obwohl ich nicht zweifle, daß, hätte er länger gelebt, er manches damals Geschriebene geändert, verbessert – vielleicht manches vertilgt haben würde.

[389] Lebhaft erinnere ich mich der Lesung der Rosamunde. Er hatte zu Mittag bei uns gegessen, und las uns nach Tische das Trauerspiel vor, das voll höchst effektreicher Szenen war, und den nicht ganz züchtigen Gegenstand mit einer Zartheit und Rücksicht für seine Geliebte, welcher die Titelrolle bestimmt war, behandelte, wie sie nur in einem reinen Jünglingsherzen wohnen konnte. Auch bei diesem Stücke waren oft auf einer Seite kaum drei oder vier Korrekturen – und sowohl meine Mutter als ich ganz erhoben und entzückt von dem Werke. Am andern Tage schrieb ich ihm mütterlich dankend für die Freude, welche mir gestern nicht bloß sein Dichtertalent, sondern der Blick in sein schönes Gemüt gegeben. Ein allerliebstes Sonett, in dem er mich, wohl etwas zu hoch, als eine Priesterin im Tempel des Ruhmes gestellt hatte, erhielt ich dafür; bewahrte es – es war das einzige Blatt von seiner Hand – als kostbares Andenken, und habe es dennoch nicht mehr! Verloren im eigentlichen Sinn kann ich es nicht haben; denn es hatte seinen angewiesenen Platz bei ähnlichen Gedichten und Briefen an mich; aber wahrscheinlich wurde es mir abgeborgt unter irgend einem Vorwande, und nicht mehr zurückgegeben oder aus der Sammlung entwendet.

Zriny las er bei Frau v. Weissenthurn, mit der ich damals häufiger als jetzt umging, da unsere Töchter sich herzlich gut waren und dutzten. Meine Mutter war ebenfalls gegenwärtig, und wir alle, auch die Mädchen hörten mit dem größten Interesse zu; als er an die Szene kam, wo Juranitsch seine Helene ohne weiteres ersticht, schrie meine Mutter auf, und sie sowohl als Frau v. Weissenthurn wollten ihn bereden, die Szene zu ändern, weil dieser kaltblütige Mord gar zu gräßlich, [390] zu unnatürlich sei, sagte meine Mutter. Unnatürlich? erwiderte Körner mit seiner Naivität. – Es hat mir eben so in der Hand gelegen. Wir mußten alle über diese Antwort lachen; er aber ließ die Szene stehen, und bei der ersten Aufführung, bei der ich zugegen war, bestätigte sich die Richtigkeit der Empfindung meiner Mutter, denn die Zuschauer waren ebenso empört wie sie durch diesen Auftritt; ein allgemeines Zischen beurkundete das allgemeine Mißfallen, und hätte, ohne den höchst effektvollen fünften Akt, besonders bei der ungebührlichen Länge des Stückes, diesem beinahe den Untergang gebracht.

Mit seiner Liebe zu Toni nahm auch Körners Tätigkeit für das Theater zu. Fürst Lobkowitz, der damalige Direktor des Theaters, der Körnern schätzte und Toni sehr wohl wollte, bestimmte ihm mit der Zeit die Stelle eines Theatersekretärs, und eröffnete ihm somit die Aussicht, sich dann vermählen und in Wien etablieren zu können. Man sprach davon, daß seine Eltern den nächsten Sommer ebenfalls nach Wien kommen sollten, um diese Stadt und die Geliebte ihres Sohnes kennen zu lernen, und so dauerte ein lebhaft bewegtes Leben in literarischen, geselligen und politischen Verhältnissen – so angenehm und so ungestört als es die damaligen Zeitereignisse gestatteten, noch eine Weile fort.

Körners Eltern, Fräulein Stock, die Schwester seiner Mutter, und Emma, seine Schwester, kamen diesen Sommer von 1812 nach Wien. Er führte sie sogleich zu uns, und nun sahen wir diese würdige Familie sehr oft. Mancher Abend an den Tagen, wo wir ohnedies Besuch erwarteten, der oft sehr zahlreich ausfiel, ging aufs angenehmste hin, wenn die jungen Leute entweder tanzten oder Körners verehrter Vater am Klavier den [391] Gesang seiner beiden vortrefflich unterrichteten Kinder und meine Tochter begleitete. Das waren sehr schöne Stunden! – Wo sind die Menschen hin, welche sie mir so genußreich verfließen machten? Wie viele leben noch? Solche wehmütige Betrachtungen mischen sich nur zu oft in die Erinnerungen an jene Zeit.

Bald sollte ich auch damals einen empfindlichen Verlust dieser Art haben. Frau v. Flies, die mir mit einer Art von mütterlichem Wohlwollen zugetan war, erkrankte mit sehr bedenklichen Zufällen, welche auf eine Brustentzündung oder so etwas schließen ließen. Ich besuchte sie den dritten oder vierten Tag, und fand sie zwar sehr angegriffen und leidend (sie klagte hauptsächlich über Mangel an Atem), doch hegte sie selbst keine Vorstellung von Gefahr. Sie hatte sich vielmehr für denselben Abend eine Spielpartie bestellt, und redete mit mir über eine projektierte Fahrt nach Hietzing zu ihrer Schwägerin Baronin Eskeles, welche nächsten Sonntag hätte statthaben sollen, und wo wir mit Körner zusammen gebeten waren. Voll guter Hoffnung für ihre Besserung, verließ ich sie um ein Uhr mittags – um drei Uhr machte ein Schlagfluß ihrem Leben ein Ende, und in ihr verlor ich – was jedermann gewiß als einen bedeutenden Verlust anerkennen wird – eine teilnehmende, verständige und warme Freundin. Friede sei mit ihrer Asche!

Wenige Wochen nach ihrem Tode kam ein Brief Goethes an die Verstorbene an, der eigentlich mich betraf, und den ihre Schwägerin, die nun auch verstorbene Baronin Eskeles, mir mit vieler Güte zusandte. Früher schon hatte ich durch die Vermittlung eben dieser Freundin, der Frau v. Flies, einen Brief von dem Hochbewunderten erhalten, der direkt an mich lautete. [392] Er sammelte nämlich Handschriften, gab Frau v. Flies, mit der er fast jährlich in Karlsbad zusammentraf, den Auftrag, ihm deren in Wien zu verschaffen, und sie, die gern jedermann verpflichtete, und in ihrer isolierten Stellung als kinderlose Witwe hierin einen Lebenszweck fand, nahm denn Goethes Auftrag willig an, gab auch mir die weitere Weisung, mich um Autographen bedeutender Menschen in Wien umzusehen, und als ich einige, namentlich von Mozart und Haydn, erhalten hatte, riet sie mir, sie Herrn v. Goethe mit einem Briefe selbst zu übersenden. Dies geschah denn alles wie meine mütterliche Freundin in ihrer liebevollen Geschäftigkeit angeordnet hatte, und ich erhielt durch sie Goethes sehr höfliche, aber diplomatisch steife, umsichtige Antwort, in der er sich, wie es schien, vorgesetzt hatte, ja nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig zu sagen, und die mich darum sehr wendig freute.

Ganz anders war der zweite – jener Brief an meine bereits verstorbene Freundin. Hier hatte er sich gehen lassen, und war eben dadurch recht liebenswürdig erschienen. Der ganze Brief betraf meinen Agathokles. – Er hatte ihn gelesen, das Buch hatte ihm gefallen, aber – sehr begreiflicherweise hatte ihn Calpurnia viel mehr als Larissa angesprochen, so daß er sich versucht fühlte, den Roman so umzuarbeiten, daß jene, nicht Agathokles die Hauptperson sein sollte – und, schrieb er, die Pichler kann es mir als Verdienst anrechnen, daß mir ihr Buch so wohl gefiel, obwohl die Grundsätze, welche darin triumphierend auftreten, nicht die meinigen sind, und meiner heidnischen Sippschaft im Kaiser Hadrian übel mitgespielt wird. Kurz, der Brief freute mich sehr, denn er sprach ein unaufgefordertes, unparteiisches Lob über ein Buch aus, das denn auch nun allmählich [393] bekannt zu werden, und sich in Deutschland und Frankreich, in dem es Frau v. Montolieu durch ihre Übersetzung einführte, Bahn zu machen anfing.

Viel Ehre und Auszeichnung hat mir dies Werk erworben, mehr noch, als jedes folgende einzelne, es war gleichsam die Ehrenpforte, durch welche die übrigen in die Welt einzogen. Aber mehr als alle diese Auszeichnung und Aufmerksamkeit hat mich jederzeit die gute Meinung, das Zutrauen, das Wohlwollen so vieler, mir ganz unbekannter, in entfernten Ländern lebender Menschen erfreut, die durch den Agathokles und meine andern Schriften, hauptsächlich aber durch jenen bewogen – sich entweder brieflich oder auf Reisen persönlich an mich gewendet, und öfters mich um Rat, Empfehlungen, Trost oder Beruhigung angesprochen haben. Wie manches edle Herz wurde mir auf diese Weise zugewendet, wie manches Gute gewirkt oder Nützliche verbreitet! Das alles erkenne ich nun freilich mit dankbarer Demut als ein Geschenk und gnädige Fügung Gottes, welche nicht allein jene Gabe der Dichtkunst in meine Seele gelegt, sondern auch mein Geschick durch edle Eltern und würdige Freunde so geleitet hat, daß dies Talent sich aufs Rechte und Gute gelenkt, und mir so jene Freuden erworben hat, aber ich muß mit Tassos Sanvitale sagen:


Am Ende bist du's doch, und hast es doch –
es kam mir doch vielfältig zu Guten und ebnete und verschönte meinen Lebensweg.

In der Mitte des Sommers hatte Pichler abermals eine Reise in die Gebirge hinter Lilienfeld bis Maria-Zell usw. zu machen. Er ging allein, denn meiner Mutter Jahre erlaubten ihr nicht mehr, so wie früher geschehen, [394] wo sie mit uns in Steiermark und Oberösterreich gewesen war, uns durch mehrere Wochen zu begleiten, und ich durfte auch nicht daran denken, sie auf so lange Zeit zu verlassen; aber fünf, sechs oder acht Tage konnte ich mich doch entfernen, da ich damals jenes junge Mädchen, ein Fräulein Kirchstettern, nach dem Tode ihres Vaters ins Haus genommen hatte, welche meiner Mutter Gesellschaft leisten, ihr vorlesen, und im Hause an die Hand gehen konnte. So wurde denn verabredet, daß ich Pichler in St. Pölten abholen, und mit ihm einen, mir noch ganz neuen Weg über Waidhofen, Gaming und Lunz nach Maria-Zell machen und von dort über Lilienfeld nach Hause kehren sollte. Ein sehr werter, nun auch schon vorausgegangener Freund, der Regierungsrat Ridler, ein Mann, der als Gelehrter und Mensch mir gleich schätzbar, und ein Liebhaber von Berggegenden war, entschloß sich, uns zu begleiten, und die kleine Tour mit uns zu machen, da er die Lunzerseen noch nicht gesehen hatte. Schon ehe wir abreisten, schrieb mir mein Mann aus Lilienfeld sehr viel von einem Geistlichen daselbst, dem damaligen Prior P. Ladislaus, den wir mehrere Jahre früher als Bibliothekar dort getroffen, und schon damals eine Geistesbildung, wie sie in den Klöstern nicht sehr gewöhnlich ist, in ihm erkannt hatten. Dieser Mann, der jetzt, wie gesagt, Prior, und bei der bevorstehenden Prälatenwahl nahe daran war, diese Würde zu erlangen, hatte sich meinem Manne als ein sehr wertvoller Dichter gezeigt, und Pichler mir einige seiner Gedichte in Briefen mitgeteilt. Ihn näher kennen zu lernen, war mir daher eine angenehme Aussicht, und so trafen wir denn, Ridler, meine Tochter und ich mit Pichler, der von ein paar Kreisbeamten begleitet war, an einem [395] schönen Sommerabend in St. Pölten zusammen, und freuten uns herzlich des Wiedersehens nach einer Trennung von mehreren Wochen.

Sogleich den andern Tag traten wir unsern fernern Weg an, aber das Wetter begünstigte uns nicht. Regenströme stürzten nieder, und nur immer durch wenige heitere Stunden konnten wir uns des Anblicks der wunderschönen Gebirgsketten erfreuen. So kamen wir nach Gaming, eine jetzt zerstörte Kartause in einem eng umschlossenen stillen, melancholischen Tale, eine Stiftung Albrecht des Lahmen oder Weisen von Österreich, aus dem vierzehnten Jahrhundert; gegründet, wie man sagt, infolge eines Gelübdes, welches Albrecht für die Befreiung seines unglücklichen Bruders Friedrich aus der Haft zu Trausnitz gemacht hatte. Das Porträt Albrechts war hier zu sehen – eine edle Gestalt mit sehr angenehmen Zügen, da aber das Gemälde offenbar einer spätern Zeit angehört, so läßt sich über die Treue nichts sagen, als daß Albrecht der Weise, der als Fürst und Mensch die Achtung seiner Zeitgenossen besaß, wohl so ausgesehen haben konnte, und die Habsburgische Familienähnlichkeit auch zu bemerken war. In dieser Hinsicht war es mir auffallend, als 1809, während der Anwesenheit der Franzosen, Professor Fischer (der damals noch lebende berühmte Bildhauer) auf Befehl des Kronprinzen von Bayern (jetzt König Ludwig) die Büste eben jenes unglücklichen Friedrich des Schönen nach noch vorhandenen Denkmälern arbeiten mußte, daß diese Züge besonders um den Mund herum, einige Ähnlichkeit mit denen unsers hochverehrten Erzherzogs Karl trugen.

Unter Regenströmen fuhren wir von Gaming nach Lunz. Auf dem Wege, noch voll von den Bildern und[396] Empfindungen, welche Gaming und die Geschichte der beiden edlen Brüder in mir erregt hatte, dichtete ich die Romanze: Gaming, welche jene Geschichte besingt und so beginnt:


Der Regen strömt, die Wälder brausen,

Die Nebel hängen tief ins Tal –


Ein einsamer Wanderer kommt in diesem Unwetter in das stille Gaming – er ist unglücklich – er findet hier Frieden, und vernimmt von einem der Klosterbrüder, der das Gelübde des Schweigens zuweilen brechen darf, die Geschichte Albrechts und Friedrichs.

Über Lunz, den Zellerrain und noch manche andere sehr hohe Berge setzten wir, teils im Wagen, teils zu Fuße, wie es die Witterung erlaubte, unsern Weg fort, und gelangten endlich nach Neuhaus, das ganz auf der Spitze eines Berges liegt, zu Fuße dritthalb Stunden abwärts steigend nach Maria-Zell, das mir auch dies wie alle übrigen Male, so oft ich es betreten, wie ein Hafen der Ruhe und stillen Freude in Gott erschien.

Am zweiten Tage kamen wir nach Lilienfeld, das ich nun schon mehrere Jahre nicht gesehen hatte, und wo eine gewaltige Überschwemmung das schöne Tal indessen verheert, die blühenden Wiesen mit Schutt bedeckt, und eine ebenso zerstörende Feuersbrunst das Gebäude großenteils in Asche gelegt hatte; das Dormitorium, dieses schöne Überbleibsel des Mittelalters, war vernichtet, und somit die meisten Urbilder aus dieser Gegend, welche mir bei der Dichtung der Hohenberge vorgeschwebt, verändert oder ganz zerstört worden.

Der Herr Prior, eben jener Dichter, und ein paar andere Geistliche, deren ich mich aus früheren Besuchen erinnerte, empfingen uns gastfreundlich. Die [397] Unglücksfälle, welche das Stift indessen getroffen, und die nahe bevorstehende Prälatenwahl waren die Gegenstände unserer lebhaften Gespräche, und mir schien immer, wenn ich P. Ladislaus betrachtete, als sähe ich schon die goldene Kette mit einem Kreuze an seiner Gestalt, welche durch einen feinen Anstand und ein sehr gebildetes Benehmen sich gar wohl dazu qualifizierte.

Was wir damals dachten, geschah auch bald – und noch denselben Herbst besuchte uns der neue Herr Prälat, der seitdem noch ganz andere Stufen geistlicher Würden erstiegen hat, in Wien, und von dieser Zeit an besuchten auch wir ihn öfters in seinem Stifte, dessen romantische Lage sehr einladend ist, und wo wir von ihm immer mit der größten Gastfreundlichkeit aufgenommen wurden.

Pichler hatte stets warmen Anteil an allen meinen literarischen Arbeiten genommen, sie immer zuerst gelesen, wie ich sie am Morgen niedergeschrieben und oft selbst noch nicht überschaut hatte. Nun hatte er schon seit längerer Zeit den Wunsch geäußert, daß ich mich einmal im Dramatischen versuchen und etwas für das Theater schreiben sollte. Ich tat es nicht gern. Meine ganze Geistesrichtung war nicht für das Lebhafte, Anschauliche, welches eine wichtige Handlung mit allen ihren Motiven und Folgen in schneller Entwicklung vor Augen stellt. Ich liebte es vielmehr, langsam und wohlberechnet die Fortschritte der Empfindungen, die unmerklichen Übergänge in den menschlichen Gemütern mit beobachtendem Auge zu verfolgen und darzustellen, wozu sich denn der Roman, vorzüglich der in Briefen, ganz besonders eignet. Doch wollte ich Pichlers Wunsch nicht abweisen, und so fing ich denn an, [398] mich nach einem Stoff zu einer Tragödie (denn daß ich kein Lustspiel schreiben konnte, war ich überzeugt) in der Geschichte umzusehen. Unsers verewigten Freundes Collin Beispiel leuchtete mir hell vor, die ganze Richtung meiner Bildung, die eigentlich das war, was man jetzt im Gegensatze mit dem Romantischen klassisch nennt, stimmte dazu. – Tacitus war stets ein mir sehr zusagender Autor gewesen, und Germanicus' Charakter und Schicksal vor vielen Helden des Altertums würdig, edel und hochtragisch erschienen. Überdies lag in diesem Geschick und Charakter noch eine nahe und geheime Beziehung, welche mich diesen Helden vor vielen andern zu wählen bestimmte. Ich fand nämlich in der militärischen Größe desselben, in seiner menschlichen Würde, und in manchen amtlichen und vom bösen Willen anderer herrührenden Verfolgungen viel Ähnlichkeit mit unserm, von mir stets so innig geachteten Erzherzog Karl. Dies machte mir den Neffen des Tiberius noch teurer – und mein Stoff war gewählt.

Nun sah ich mich noch in der römischen Geschichte etwas genauer nach der Epoche um, in welche ich meine Handlung verlegen wollte, und so trat denn allmählich aus dem Dunkel meiner Seele der fertige Plan zu dem Stücke hervor, und die Liebesgeschichte, welche ich hineinverweben zu müssen glaubte, schien mir damals anziehend, passend, und ein glücklicher Gedanke. Viele Ausdrücke im Tacitus weisen darauf hin, daß Agrippinens Charakter ernst, würdig, aber nicht angenehm gewesen sein mußte. Leidenschaftliche Heftigkeit und unweibliche Schärfe mögen sie oft über die zarten Schranken gerissen haben, die Sitte und Pflicht der Frau vorschreiben. Ihr Gemahl selbst warnt sie noch [399] auf dem Todbette davor, und empfiehlt ihr, ihr Rachegefühl zu bemeistern. Dieser achtungs-, aber nicht liebenswürdigen Frau mußte nun – so entwarf ich, wie ich jetzt wohl einsehe mit zu modernem Sinn, den Plan – Germanicus nur aus Familienrücksichten die Hand gereicht, doch auf jeden Fall eine zufriedene und von der Welt geachtete Ehe mit ihr geführt haben. Seine schönern Jugendempfindungen waren seiner ersten Liebe, eben jener Plancina zugewendet, die er in Asien nach langer, ganz hoffnungsloser Trennung als die unglückliche Gattin seines bittersten Feindes, des Prokonsul Calpurnius Piso wiederfindet. Plancina hat ebenfalls den Jugendgeliebten nicht vergessen, und da ihr die Rachepläne ihres Gemahls bekannt werden, wagt sie es, als Sklave verkleidet, den Feldherrn zu warnen. Er erkennt sie – ihre Herzen öffnen sich gegeneinander; aber die Pflicht gebeut, sie sind getrennt und bleiben es, bis der Tod durch Gift, den Calpurnius dem Germanicus bereitet, und ihm Plancina aus Eifersucht oder Rache voraussendet, sie vereinigt. Das zu Moderne, und daher der Würde der Tragödie nicht Entsprechende leuchtete mir später wohl ein, aber es stand nicht mehr zu ändern; denn das hätte ein gänzliches Umarbeiten des Planes erfordert, und da ich wohl berechnen konnte, daß das Stück auch dann kein großes Glück machen würde, so ließ ich es, wie es war.

Das Stück wurde ohne meinen Namen aufgeführt. Es mißfiel eben nicht, aber es erlebte – was vorauszusehen war – nur wenige Vorstellungen. Ich verstand das Theater, und das, was man theatralischen Effekt nennt, zu wenig, und ich glaube, daß überhaupt die heroische Tragödie etwas ist, dessen glückliche Bearbeitung über den Horizont weiblicher Kräfte geht.

[400] Indessen mein hauptsächlichster Zweck, Pichlers Wunsch zu erfüllen, und ihm Freude zu machen, war erreicht. Er war zufrieden auch mit dem wenigen Sukzeß, den dieser erste Versuch seines Weibes erlangt, und feuerte mich an, ferner auf dieser Bahn fortzuschreiten.

Es war dies im Winter von 12 auf 13 geschehen. In dieser Zeit, die überhaupt sehr angenehm war, kam ich auch oft in das Haus des Fürsten von Lobkowitz, der sich, so wie seine vortreffliche Gattin (sie beide sind auch längst dahingegangen) lebhaft für meine Arbeiten interessierte, und bei dessen Abendgesellschaften, theatralischen Vorstellungen oder Konzerten ich mich sehr oft mitten unter dem höchsten Adel, ja in Gegenwart eines oder des andern unserer kaiserlichen Prinzen fand. Nie aber, ich müßte unwahr sein, wenn ich es anders behaupten wollte, wurde ich durch irgend eine Unart oder Zurückweisung von Seite der Damen an den Unterschied unsers Standes in der Gesellschaft erinnert. Sei es nun, daß meine Stellung als Schriftstellerin, die mich gleichsam mit Künstlern in eine Reihe zu ordnen schien, oder ein bescheidenes, zurückhaltendes Betragen von meiner Seite, welches stets danach eingerichtet war, diesen Damen zu zeigen, daß ich mich ebensowenig als ihresgleichen betrachtete, als ich fern davon war, mir ihre Artigkeiten als Gnaden anzurechnen – mir diese recht angenehme Stellung zu der haute volée verschaffte, genug, ich hatte sie, und die Erinnerung an die genußreichen Abende, die ich in diesem Hause zubrachte, und wo ich auch den seligen Erzherzog Rudolf mit seltener Fertigkeit Beethovensche Tonstücke auf dem Fortepiano vortragen hörte, wird mir stets wert bleiben.

[401] Es war eine lebhaft bewegte Zeit damals – eine Zeit, in der die Geister großer Begebenheiten ihnen schon ahnungsvoll in Deutschland vorangingen, und dadurch eine Stimmung erzeugten, welche auch auf die Literatur großen Einfluß hatte. Im Jahre 1811 war unser Hof in Dresden mit Napoleon zusammengekommen und der Feldzug gegen Rußland verabredet worden, wozu unser Kaiser ein Hilfskorps unter dem Kommando des Fürsten von Schwarzenberg zu geben versprochen hatte. Im Jahre 1812 fand dieser Feldzug statt, und seine Geschichte, der Brand von Moskau, der Untergang des französischen Heeres, und das Non plus ultra, welches die göttliche Vorsicht auf Rußlands Eisfeldern dem kühnen Eroberer setzte, sind noch lebhaft in jedermanns Gedächtnisse. Wohl erinnere ich mich der sehr verschiedenen Sensation noch, welche die Nachricht jenes Brandes in Wien erregte. Mir brachte sie eines Morgens meine, in diesem wie in vielen andern Dingen gleichgesinnte Freundin, Frau von Schlegel, und ich fühlte mich so wie sie begeistert, erhoben von diesem zwar grausamen, aber heldenmütigen und notwendigen Entschlusse Rostoptschins. – Wir gaben uns die Hände, wir dachten an Sagunt, Numantia, Saragossa – und freuten uns, in unsern Tagen noch solche wahre, antike Größe zu erleben. Andere, z.B. meine Mutter, unser Freund Hofrat Büel, ein sonst durchaus deutschgesinnter Mann, schauderten darob, und nannten diesen Brand eine gräßliche, barbarische Tat. Ebenso verschieden fielen auch die Urteile der Menge aus; aber wir, die gleich vom Anfange dafür gestimmt hatten, erlebten die Genugtuung, daß der Erfolg die Zweckmäßigkeit dieses Mittels vollkommen gerechtfertigt hat.

[402] In der Literatur, auf welche der Zeitgeist jedesmal einen unausweichlichen Einfluß übt, hatten der Fremdendruck, die Unsicherheit aller Lebensstellungen, die stets erneuerten Stürme, denen auch der ruhigste, unbefangenste Bürger nicht zu entgehen imstande war, eine Ansicht des Lebens hervorgerufen, welche dem Fatalismus sehr ähnelte, und mir nach meinem Dafür halten, obwohl der erste Impuls dazu von dem christlichen, ja katholischen Z. Werner in seinem vierundzwanzigsten Februar ausgegangen war, sehr unchristlich schien. Dies waren die sogenannten Schicksalsdichtungen: Die Schuld, jener vierundzwanzigste, und der neunundzwanzigste Februar u.a., und diese Richtung verbreitete, wie jede Mode, sich schnell und weit. Es erschienen Novellen, Theaterstücke, Gedichte, alle in diese trüben Schleier gehüllt, wo der – oft willenlos, oft im Sturm der Leidenschaft ausgesprochene Fluch des Schwergereizten – oft eine Familiensage, ein unschuldiges Werkzeug, an welches sich Unglück knüpfte, hinreichte, um das Lebensglück guter harmloser Menschen zu zerstören, und wo also die Vorsehung, dieser Ansicht nach, zur Vollstreckerin des Willens und Ausspruchs der Rache, des Hasses, oft der Dummheit gemacht wurde. Wie gänzlich dies der christlichen Moral zuwiderläuft, leuchtet wohl jedem ein, der es unparteiisch betrachtet; damals aber fanden, durch die Modetendenz hingerissen, auch die Besten und Frömmsten keinen Anstoß daran. Was mich betrifft, so verfehlte wohl die Aufführung der Schuld ihres gewaltigen dramatischen oder eigentlich theatralischen Eindrucks auf mich nicht. Ich war sehr ergriffen, besonders von der Szene, wo Hugo und Elvire sich über Carlos Tod, ihre früher schon genährte Leidenschaft mit geheimen [403] Schauern besprechen, das Theater sich allmählich verdunkelt, und nun plötzlich, von dem Lichte, das der Knabe vorträgt, hell beleuchtet, ihnen das Bild des Verratenen, Ermordeten in der Gestalt und den Zügen seines Vaters entgegentritt. Im Traume der folgenden Nacht quälten mich Erinnerungen an die Schreckensszenen, die ich angesehen, dennoch erkannte ich das höchst Unmoralische, ja Antichristliche dieses Stückes, und mußte dem Urteil eines sehr verständigen alten Herrn, des Grafen von Chotek beipflichten, der mir beim Herausgehen sagte, es sei ein gottloses Stück.

Körners reine, gesunde Seele wurde von dem Hauche der Modetheorie nur leicht gestreift. In seinen Stücken ist wenig Spur davon, wenn nicht vielleicht ein kleines, nicht eben sehr glückliches Trauerspiel in einem Akte: Die Sühne, zu dieser Gattung zu rechnen ist. Ihn bewahrte Schillers – des Freundes seiner Eltern – Genius, und es ist klar zu erkennen, wie großen Einfluß dieser überhaupt auf des jungen Mannes Geist hatte.


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Unter solchen Beschäftigungen, Ansichten, Lektüren und mitunter sehr trüben Aussichten in die nächste Zukunft für das Allgemeine ging das Jahr 1812 zu Ende, und mit dem folgenden traten wir und ganz Europa in eine Periode des Umschwungs, der Veränderung, der Umstaltung darf man wohl sagen, von der noch ein Jahr vorher wohl niemand etwas geahnt, und selbst als die ersten Zeichen der kommenden Dinge sich sehen ließen, noch niemand das Ende vorhersehen oder sich versprechen konnte, das wirklich erfolgte.

Die französische Armee war durch den Winter auf russischen Eisfeldern, durch die Affären an der Beresina, [404] durch den Brand von Moskau so gut wie vernichtet, und so wie die letzten Reste dieser Unglücklichen durch die preußischen und deutschen Lande ihrer Heimat zuzogen, schien es, als richtete, dicht hinter ihnen, der deutsche Geist, der deutsche Mut, die Hoffnung besserer Tage sich empor. Man sprach von den Rüstungen der Preußen. Hier und da ließen sich Stimmen hören, die einen frischen kriegerischen Klang hatten, und bei dem Worte empor denkt man gleichsam unwillkürlich an Rückerts geharnischte Sonette, worunter eines die Etymologie des Wortes Empörung eben von Empor, vom Aufrichten unterm Druck, vom Erheben des Geistes aus der Schmach ebenso wahr als sinnig herleitet. Auch Körner ließ seine Saiten erklingen, und eines Abends wurde, trotz der Anwesenheit des, übrigens sehr liebenswürdigen und uns allen werten Freiherrn von der Malsburg – damals bei der westfälischen Gesandtschaft angestellt – Körners Jägerlied nach Schubarts Melodie: Auf, auf, ihr Brüder und seid stark! beinah im Chorus bei uns gesungen. Solchen Anklang, solchen tiefempfindenden Widerhall fanden die Worte des Liedes.

Bald darauf war es entschieden, daß Preußen die Waffen gegen Frankreich ergreifen, sich, wie es Napoleon nannte, empören würde, und Mut und Todesverachtung, Vaterlandsgefühl und bange Sorge, Hoffnung, und Furcht regte sich in allen Teilen Deutschlands, und so auch bei uns. Was unser Hof beschließen würde, war unbekannt. War doch die Kaisertochter mit dem allgemein Gefürchteten, Gehaßten, aber Allmächtigen vermählt, und ein Kind – ein Sohn hatte dies Band fester gezogen und heiliger geknüpft. Dies Band, das Napoleon, der Wahrheit zur Steuer muß es gesagt werden, [405] selbst sehr zart und treu hielt, seiner Gemahlin mit Liebe und Achtung begegnete, und als bei ihrer schweren Entbindung die Ärzte einige Augenblicke zweifelhaft waren, ob sie Mutter oder Kind retten sollten – schnell entschied, daß man die Mutter erhalten solle, obwohl ihm unendlich viel an der Geburt eines Kindes, das eigentlich seine neue Dynastie gründen und besiegeln sollte, gelegen sein mußte.

Immer lebhafter ward die Bewegung um uns her. In jungen Leuten regte sich kriegerischer Sinn, und Körner war einer der ersten, welcher sich erklärte, preußische Dienste nehmen zu wollen. Dieser rasche Entschluß befremdete in vieler Hinsicht das Publikum, dem der junge Mann durch sein schönes Talent und besonders durch dessen Anwendung auf die Bühne schon gleichsam angehörte. Noch war, trotz des drückenden Gefühles der Unterjochung und des glühenden Franzosenhasses, der fast in jedem Herzen lebte, und trotz des lebhaften Wunsches vieler Bessern, das schmähliche Joch auch mit großen Aufopferungen abzuschütteln, die Zuversicht auf einen glücklichen Erfolg dieses Versuches nur gering. Es war mehr ein begeisterndes Ehr- und Nationalgefühl, als eine klare Vorstellung von dem möglichen Gang der Dinge, was die meisten aufregte. Überdies waren Körners Eltern in Dresden angesiedelt, und der Vater stand im Dienste des Königs von Sachsen, der sich fest an die französische Partei angeschlossen hatte. Des Sohnes Schritt konnte und mußte also den Vater kompromittieren. Dazu kam noch das allbekannte Verhältnis Körners zu Fräulein Adamberger, welches seinen Entschluß, die Waffen in einer Zeit zu ergreifen, wo ihm das Glück der Liebe und Häuslichkeit an der Seite eines ausgezeichneten Mädchens [406] winkte, sehr überraschend machte, da Körner hier sehr geachtet war, und bei den trüben Aussichten, der in jeder Hinsicht so achtungswerte Jüngling doch allen viel zu gut für Kanonenfutter dünkte. Dies war nämlich der Gesichtspunkt, aus dem damals die meisten seinen Entschluß und den wahrscheinlichen Erfolg des Unternehmens der Preußen betrachteten.

Allmählich änderte sich diese Stimmung. Die Furcht, die Verzagtheit, erzeugt durch ein Unglück vieler Jahre und durch die niederschlagenden Erfahrungen, wie übel uns Österreichern in den Jahren 1805 und 1809, so wie Preußen 1806 der Versuch bekommen war, sich der Riesenmacht Napoleons entgegenzusetzen – fing nach und nach an, sich aus den allzu gedrückten Gemütern zu verlieren. Sicher war nach den Ereignissen des Winters 1812 die französische Armee nicht mehr das, was sie vor dieser Epoche gewesen. Und hatten wir Österreicher nicht die erhebende Erfahrung gemacht, daß jene Armee in ihrer ganzen frühern Stärke und Macht im Angesicht unserer Vaterstadt 1809 durch den Erzherzog Karl war geschlagen und in eine Lage versetzt worden, welche, wenn die Umstände – oder andere uns verborgene Triebfedern nicht entgegengewirkt, und die Verfolgung dieses glänzenden Sieges gehindert hätten, den furchtbaren Feind vielleicht von seiner, bis dahin glänzenden Siegesbahn schon damals zurückgedrängt haben würde? Diese Erfahrung hatten wir für unsere beginnenden Hoffnungen, und so manches historische Beispiel, wo ernster Entschluß und verzweifelter Mut Unglaubliches bewirkt, und kleine Haufen zu Siegern über große Heere gemacht hatten, konnte jeder sich selbst ins Gedächtnis rufen. Sie wurden uns aber auch in Gedichten und andern Schriften in Erinnerung [407] gebracht, und trugen das Ihrige bei, um die Hoffnung auf glücklichen Ausgang zu erheben, oder im schlimmern Fall den mutigen Entschluß zum letzten entscheidenden Kampf zu stählen.

Von verschiedenen Seiten kamen nun insgeheim oder mehr öffentlich Nachrichten von Bewegungen, die sich an mehreren Punkten zu gestalten anfingen, ähnlich den ersten Tropfen des schmelzenden Eises nach der starren, stummen Winternacht, wenn der erste noch schwache Strahl der Sonne es berührt, und das leise Geräusch, das die fallenden machen, auch der erste Lebenslaut der bis dahin toten, erstarrten Natur scheint. Man flüsterte sich von Tirol, von einigen deutschen Fürsten zu, und die Hoffnung regte die jungen Flügel stärker.

In den geselligen Kreisen waren diese Hoffnungen sehr oft der Gegenstand der Gespräche und die Dichtungen unserer vorzüglichen Geister – Schillers, Collins, Raupachs – dessen Name dazumal genannt zu werden begann – deren ganzer Geist ernst, würdig und dahin gerichtet war, den Kampf der Freiheit mit der Naturnotwendigkeit zu begünstigen, machten sehr oft, von einem oder mehreren, nach den Rollen verteilt, vorgelesen, ein Hauptvergnügen unserer Abendunterhaltungen aus. Längst schon hatten wir in unserm Hause Goethes, Schillers und anderer Stücke auf diese Weise mit großem Genusse vorgetragen. Jetzt – im März 1813 – war es beschlossen worden, bei der Baronin von Matt, einer sehr gebildeten, sogar gelehrten Dame, welche sich mit Astronomie beschäftigte und eine Sternwarte in ihrem Hause hatte errichten lassen, die Braut von Messina vorzulesen. Bei dieser Frau hatte sich wöchentlich einmal derselbe Kreis von gemeinschaftlichen [408] Freunden, worunter sich sehr gebildete Frauen und mehrere ausgezeichnete Gelehrte, wie Hammer, Schlegel, Adam Müller usw. befanden, versammelt, der früher im Hause meiner verstorbenen Freundin Flies zusammenkam. Baron Hormayr und ein Herr Rupprecht, der selbst ein artiger Dichter war, hatten die Rollen der beiden Söhne übernommen; eine sehr hübsche Frau, der man ein sehr lebhaftes Interesse für den einen dieser Herren zuschrieb, sollte die Beatrice, und ich die Rolle der Mutter lesen. Ich war in jener Zeitepoche sehr oft unwohl und litt häufig an aufgereizten Nerven, an Migräne, Krämpfen usw., eine sehr begreifliche Folge der Zeitenstürme, die seit ungefähr zehn, zwölf Jahren über uns alle ergangen waren, und vielleicht auch meiner Beschäftigung mit Poesie. Eben an dem Montag, wo jene Vorlesung statthaben sollte, es war der 7. März, und wenn ich nicht irre, der Geburtstag von Hormayrs älterer Tochter, der sehr verdienstvollen jetzigen Baronin v. Kreß, überfiel mich eine so heftige Migräne, daß ich unmöglich außer dem Bette bleiben, Toilette machen und vorlesen hätte können. Sehr unzufrieden, die verabredete Unterhaltung stören zu müssen, blieb mir dennoch nichts übrig als zur Baronin Matt zu senden und mich entschuldigen zu lassen. Weder ich noch sonst jemand von uns allen hatte auch nur von fern eine Ahnung von der Katastrophe, welche, auch wenn ich gesund geblieben und bei Matt gewesen wäre, unsere projektierte Lesung auf eine schreckhafte Art zu nichte gemacht haben würde.

Es war noch früh am andern Morgen, als man mir, die an nichts so Schreckendes, und überhaupt für den gegenwärtigen Augenblick an nichts Arges dachte, einen – Sekretär, oder was der Mann eigentlich war,[409] des Grafen von Széchény meldete, dieses ausgezeichneten Mannes, in dessen Hause ich eben mit Hormayr, der (wenn ich nicht irre) den Grafen bei mir eingeführt hatte, oft zusammen getroffen und genußreiche Stunden im Kreise höchst würdiger und gebildeter Menschen, wie es die ganze Széchénysche Familie war, genossen hatte.

Dieser Beamte des Grafen trat ein, und erkundigte sich mit verlegener, bestürzter Miene, ob ich den vorigen Abend bei der Baronin von Matt gewesen, und welche Auskunft ich dem Grafen über die beunruhigende Nachricht geben könne, daß gestern Abend Baron Hormayr in seiner Wohnung arretiert und von Wien weggeführt worden sei?

Ich war aufs höchste erstaunt und sogleich bestürzt. Hormayr gehörte zu den nähern Freunden unsers Hauses; ihm verdankte ich manche genußreiche Unterhaltung, manche belehrende Nachweisung in der Geschichte meines Vaterlandes, in welche ich durch ihn eigentlich eingeführt worden war, so wie in die Geschichte überhaupt, und manche bedeutende Gefälligkeit, die er mir und den meinigen, denen er allen wert war, erwiesen hatte. Noch gestern Abend sollte ich mit dem verehrten Freund eine gemeinschaftliche Lesung unternehmen; wie wenig dachte ich, wie wenig mag wohl er selbst an die Möglichkeit gedacht haben, daß unser Projekt auf diese Art gestört werden sollte! Bevor er sich zur Lesung einfinden wollte, beging er mit einigen Freunden zu Hause den Geburtstag seines Kindes, und hier ereilte ihn sein Schicksal! Ich war unaussprechlich von diesem Ereignis ergriffen, dessen mögliche Folgen mir schauderhaft in jenem ersten Augenblicke des Schreckens vorschwebten.

[410] Da ich gänzlich unwissend über alles war, konnte ich auch dem Grafen Széchény nichts antworten lassen, was das verworrene Dunkel dieser Gefangennehmung erklärt hätte; bald darauf vernahm ich, daß ein dumpfes Gerücht von dem, was in jenem Augenblicke mit Baron von Hormayr geschehen war, sich schon gestern bei der Baronin von Matt verbreitet hatte, daß alle bestürzt waren, vorzüglich aber der damals als Diplomat und Gelehrter, als eifriger Freund des deutschen Vaterlandes bekannte und gerühmte Freiherr von Gagern. Dieser ausgezeichnete Mann war ein Freund Hormayrs und mit ihm von einerlei Gesinnung, einerlei Streben, den niedergedrückten Geist seiner Landsleute aufzurütteln und sie zu mutigen Entschlüssen zu begeistern. Zu diesem Behufe hatte er damals die Nationalgeschichte der Deutschen zu schreiben begonnen, wovon der erste Band, mit typographischer Eleganz ausgestattet, in Quarto zu Wien noch im Jahre 1813 herauskam. Sie war in ernstem, edlem Geist, aber in einem Stile geschrieben, der fast zu sehr an Tacitus und Johannes Müller erinnerte. Baron Gagern besuchte auch unser Haus, wie denn damals die in der Literatur ausgezeichneten Männer häufig und gern die Gesellschaften besuchten, wo gebildete Personen verschiedener Stände, Geschlechter und Lebensbedingungen sich zu heiterm Gespräch oder Lektüre oder andern geselligen Vergnügungen zusammenfanden. So war es von meiner Kindheit an in meiner Eltern und später in meinem Hause gewesen, so waren die Abende bei Frau von Flies und Baronin Matt, bei Baronin Pereira, bei den trefflichen Piquot und bei andern; für mich eine Quelle stiller, aber tiefempfundener geistiger Genüsse. Das ist nun jetzt anders geworden; [411] aber ich glaube nicht, daß das gesellige Leben dadurch gewonnen hat.

An jenem verhängnisvollen Abend wollten nun die bei Baronin Matt Gegenwärtigen eine unverkennbare Betroffenheit an Baron Gagern bemerkt haben, und durchaus nicht unwahrscheinlich ist es wohl, daß er entweder im Ganzen für die Erfüllung seiner patriotischen Wünsche viel von Hormayrs Tätigkeit erwartet hatte, die nun, wie durch einen Blitzstrahl, plötzlich gelähmt war, oder daß er vielleicht nicht ganz fremd in den Plänen und Unternehmungen war, welche seinem Freunde diese erschütternde Katastrophe zuzogen.

Vergebens bemühte man sich, zu erraten, von welcher Art diese Unternehmung gewesen oder welche Verräterhand sie mitten im Entstehen schon vereitelt. Vage Gerüchte und Mutmaßungen wiesen auf Unterhandlungen mit den Tirolern hin, die im Jahre 1809, nachdem ihre Tapferkeit allein sie von der Knechtschaft der Franzosen befreit hatte, dennoch im Friedensschluß abermals abgetreten werden mußten. Man erzählte sich, daß mehrere dieser seiner unglücklichen Landsleute Umgang und Verkehr mit Hormayr gepflogen, daß neuerdings Entwürfe zur Abschüttelung des fremden Joches gemacht worden, und daß Hormayr hier im stillen tätig gewesen sein sollte. Andere erzählten Unglaublicheres, das an Rittermärchen grenzte, und das mir und vielen allzu romantisch, gewagt und – daß ich es frei sage – zu unrecht und töricht schien, um vernünftige und sogar sehr hochgestellte Männer, die die Lage der Dinge und die Menschen kennen mußten, solcher chimärischen Pläne fähig zu halten.

Wie dem immer gewesen sein mag, Hormayr ward[412] gefangen von hier weggeführt, niemand wußte warum? und wohin? bis es nach einiger Zeit bekannt wurde, daß man ihn nach Munkács gebracht, und seine Freunde waren voll Trauer um ihn besorgt, ohne etwas für ihn tun zu können.

Indessen hatte der Gang der allgemeinen Ereignisse manche ausgezeichnete Menschen nach Wien geführt, mit welchen ich in nähere oder fernere Berührungen kam. Mein Zusammentreffen mit Alexander von Humboldt bei Schlegel, wo ich schon dessen Bruder und Schwägerin längere Zeit vorher getroffen, hätte mir wohl den bedeutendsten Genuß gewährt, wenn es etwas mehr als ein bloßes von Gesicht Kennenlernen gewesen wäre. Aber er teilte – und noch weiß ich durchaus nicht warum? – die Nichtachtung, ich möchte sagen Geringschätzung gegen mich, welche mir seine Verwandten bewiesen hatten, so daß, da der Kreis, in dem wir uns bei Schlegel befanden, sehr wenig zahlreich war, ich bald ohne alle Ansprache, wie verloren, da gesessen hätte, indes Herr und Frau vom Hause mit ihren ausgezeichneten Gästen beschäftigt waren, wenn nicht ein sehr schönes und interessantes Mädchen, Fräulein Nina, die Nichte des Hofrats von Hartl, nachmalige Frau von Overbeck, sich meiner angenommen, und ein Gespräch mit mir angeknüpft hätte. Eine zweite, gegen mich viel freundlicher gesinnte Erscheinung war der damalige österreichische Hauptmann, jetzt, wie ich glaube, General Baron von Pfuel in preußischen Diensten. Ihn hatte, so wie Varnhagen und andere, der Zeitensturm nach dem Unglück seines Vaterlandes in den Jahren 1806–1807 nach Österreich geführt, das ja auf dem Festlande, Spanien vielleicht ausgenommen, allein noch in Waffen gegen den allgemeinen [413] Unterdrücker stand. Baron Pfuel war der erste Errichter oder Einrichter der, nachher durch ihre Nützlichkeit so bewährten Schwimmschulen hier und in Prag. Bei nicht angenehmen, fast häßlichen Gesichtszügen machte ihn eine schöne Figur und ungemeiner Anstand, eine Klarheit des Geistes, die ganz aufs Praktische zu gehen schien, und dennoch das Übersinnliche, das Unbegreifliche mit großer Gewalt erfaßte, sowie ausgebreitete Kenntnisse und der feinste Ton im Umgang zu einer höchst bedeutenden Persönlichkeit. Bei Frau von Flies und auch in unserm Hause sah und sprach ich ihn oft, und eine homogene Art über die allgemeinen Ereignisse zu denken und zu empfinden, machte ihn uns allen wert.

Ein anderer ausgezeichneter Mann war Adam von Müller, später österreichischer Konsul in Leipzig und zuletzt Hofrat in der Staatskanzlei. Er war mit seiner sehr angenehmen Frau und zwei damals kleinen Mädchen nach Wien gekommen, um, wie es schien und sich auch bewährte, hier Dienste zu suchen. Er schrieb politische Aufsätze für ein Journal, welches Schlegel damals herausgab, und hielt in den Seitenzimmern der Redoute Vorlesungen über »die schönen Redekünste«.

Bei diesen Vorlesungen zeigte er sich wahrlich als einen Redekünstler. Sein Vortrag war gewählt, stets zierlich, zuweilen kräftig, ja ergreifend. So z.B. als er jene berühmte Parlamentssitzung schilderte, in der Fox und Burke, die sonst Freunde gewesen waren, um ihrer verschiedenen, ja entgegengesetzten politischen Ansichten willen, sich öffentlich und auf immerdar trennten. Mit Vergnügen und Erschütterung hörte man diese Schilderung, indes will ich nicht behaupten, daß jene nicht [414] recht hatten, welche Müllern einige Koketterie im Vortrage vorwarfen. Sichtlich war er viel mehr als Friedrich von Schlegel bei seinen Vorlesungen bemüht, sie angenehm zu machen. Er las mit gemäßigter, nicht ganz von Manier freier Stimme, zusammenhängend, in geregeltem Flusse aus seinem Manuskripte, das vollkommen vor der Lesung geordnet zu sein schien. Schlegel hingegen, obwohl sein Vortrag lebendig und natürlicher als der Müllers war, mußte oft in seinen Blättern den Zusammenhang nachsuchen, die Einschiebsel nachholen, manchen Satz wiederholen. Das war nun freilich etwas störend, und dies wußte Müller zu vermeiden.

Doch war manches, worin ich mit Müller durchaus nicht übereinstimmen konnte. Auch er nannte Schiller – nach der Weise der neuen Schule – einen rhetorischen Dichter oder vielmehr eigentlich gar keinen Dichter, sondern bloß einen Rhetor. Er erzählte uns in einer Gesellschaft die Geschichte des gräßlichen Kleistschen Wechselmordes auf eine Art, welche mir genugsam zu zeigen schien, daß ihm das Verbrecherische, Verkehrte, ja Widersinnige einer solchen Handlung vor dem sogenannten Grandiosen der Gesinnung, welche sich über alle bisher gewohnten und anerkannten Schranken hinauszusetzen wagt, verschwand. –

Überhaupt schien sich, seitdem diese neue oder romantische Schule ihre Lehren verbreitet, so manche früher verehrte Autorität in der literarischen Welt vom Altare gestoßen, so manches früher allgemein anerkannte Verdienst zu bezweifeln und zu benagen angefangen hatte, dieser Geist der Neuerung, dies Herabziehen alles früher Verehrten, dieser Kampf gegen so viele konventionelle Schranken – auch auf die gesellige Welt und die sittlichen Begriffe zu erstrecken. Man schalt [415] Kotzebue und Lafontaine als unsittlich, weil sie das Laster oder die Sinnlichkeit in täuschender Hülle und unter versöhnenden Formen in ihren Werken einführten, und man hatte hierin recht; obgleich man mit diesem allerdings gerechten Tadel das übrige Verdienst dieser beiden Literaturen nicht ganz niederschlagen konnte, wie man wohl gewollt; denn Kotzebues Stücke, erhalten sich nach 40–50 Jahren noch auf unsern Bühnen, ebenso viele von Iffland, über dessen spießbürgerliche Charaktere, über dessen beschränkte, allzu hausbackene Ansichten man sich ebenfalls zu lachen und zu spotten erlaubte. Was wollte denn die neue Schule nun eigentlich, da ihr der eine zu locker, der andere zu beschränkt war? Das glaube ich, wußte niemand, selbst die Koryphäen derselben nicht. Sie rissen nur ein, ohne aufzubauen, sie brachten nur eine Verwirrung der Begriffe hervor, und nannten Worte oder Darstellungen oder auch wohl Handlungen sittlich, schön, erhaben, welche gegen alle bisher bekannten Vorschriften der Sittlichkeit und Würde stritten. Eheliche Treue, Gehorsam gegen Eltern, Fügen in häusliche Verhältnisse, Achtung für eingeführte Sitte usw. wurden als beengende Schranken, die einen starken und unabhängigen Geist nicht abhalten dürfen, dargestellt, und das Hinwegsetzen darüber war eben jenes Grandiöse, wie das da mals in Mode gekommene Wort hieß, womit man jeden Verstoß gegen hergebrachte Formen, jedes Auflehnen gegen Pflicht, ja, jede Übertretung derselben beschönigen zu können glaubte. So verwirrten sich die Begriffe von Recht und Unrecht, von Erlaubt und Verboten, ja von Wahrheit und Lüge, und es lassen sich vielleicht in den Grundsätzen und Beispielen, welche diese Schule in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts [416] aufzustellen begann, die Keime und ersten Wurzeln der widrigen und verderblichen Geistesrichtungen nachweisen, die in der literarischen und geselligen Welt zu Extravaganzen, Zerrüttung der Familien, Untergang schöner Talente, ja oft zum Selbstmorde führten.

Damals fielen diese Ungewöhnlichkeiten wohl auch auf, aber wichtigere, aufs Allgemeine – von dem doch das Einzelne stets abhängt – gerichtete Sorgen ließen jene kleinen Ereignisse aus unsern Blicken verschwinden. Preußen erhob sich mächtig und laut, und es blieb kein Zweifel mehr, daß es das Joch zerbrechen wolle, unter dem Frankreich es gefangen hielt. Auf Rußlands tätige Mitwirkung war seit den Ereignissen von 1812 und dem Brand von Moskau zu zählen; was die deutschen Rheinbundfürsten tun würden oder eigentlich, was sie tun durften, war ungewiß. In vielen edlen Herzen, wie z.B. in dem des damaligen Kronprinzen, jetzigen Königs von Bayern, regte sich die deutsche Gesinnung, der Wunsch, das fremde Joch abzuschütteln, mit Macht; aber keiner wollte oder durfte einzeln hervortreten. So richteten sich vieler Augen sehnsüchtig und gespannt auf Österreich, welches durch enge Verwandtschaftsbande an Napoleon gebunden, und von den deutschen Fürsten mehr als einmal im Stich gelassen, allein zu bluten und zu weichen gezwungen worden war. Aber nichts verlautete von seinen Gesinnungen, und trüb und ängstlich standen wir, mitten in der frisch aufblühenden Natur des Frühlings von 1813, unruhig in die so nahe und so dichtverhangene Zukunft blickend.

Preußen hatte den Krieg offen erklärt. Die Feindseligkeiten begannen; die Schlachten von Lützen und Bautzen waren vorüber. Mit welcher Spannung hatte[417] man diese Nachricht erwartet, und wie wenig war sie geeignet, unsere Hoffnungen aufzurichten. O, ich erinnere mich noch wohl eines wunderschönen Abends, wo wir im Garten mit einer sehr werten Freundin Henriette Ephraim und der liebenswürdigen Marianne Saaling unter Blüten und Blumen beisammen saßen, die trüben Ereignisse der Gegenwart, die noch düsterere Zukunft mit schwerem Herzen erwägend, und wie gerade das unaufgehaltene Entwickeln der Natur in ihren festgezeichneten Kreisen, während in der moralischen Welt solche Stürme tobten, mir so schmerzlich erschien: diese frommen Blüten, diese stillen Lenzesfreuden, welche uns Segen und Fülle verhießen, gegenüber gezogenen Schwertern, angeschlagenen Feuergewehren und erbittertem Haß!

Um diese Zeit führte sich der berühmte Bruder einer später noch viel berühmtern Schwester, Herr Clemens von Brentano, mittelst eines Briefes von Tieck, wenn ich mich recht entsinne, bei mir ein. Tieck war im Jahre 1808 oder 1809 mit seiner Schwester öfter bei uns gewesen, und ich darf wohl nicht erst sagen, daß diese Bekanntschaft für mich sehr großen Wert hatte und noch hat, und daß ich stolz darauf bin, daß Tieck meiner noch öfter freundlich gedacht, und mir die Bekanntschaft bedeutender Personen, wie z.B. noch viel später des edlen, unvergeßlichen Carl Maria von Weber verschaffte. Damals, wie ich ihn sah, war Tieck ein hübscher, schlank, obwohl nicht hochgewachsener Mann von etwa 30 oder 32 Jahren, an dessen gefälliges Äußere mich ebenfalls im Äußerlichen der Dichter Nikolaus Lenau, den ich erst vor kurzem kennen gelernt, lebhaft erinnert hat. Seine Schwester war als Frau viel weniger hübsch, aber sie war eine Dichterin, eine geniale Frau, [418] die ihrem Gemahl Bernhardi, wie man sagte, davon gegangen war, und mit einem Herrn von Knorring, den sie später auch heiratete, herumreiste. Das war so damals die Art, wie geistreiche Frauen die Lehren der romantischen Schule aufs Leben anwandten.


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Doch ich kehre zum Faden der Geschichte im Jahre 1813 und Herrn von Brentano zurück. Auch er gehörte dieser neuen Geistesrichtung an, und obwohl seine sehr markierte Originalität, sein poetisches Talent und seine geistreiche Unterhaltung mir manche angenehme Stunden machte, so fand ich doch auch vieles so heterogen in unserer beiderseitigen Denkart, daß ich ihn oft mit Erstaunen sprechen hörte, und ebenso oft ganz und gar nicht begriff, was er meinte und sagte. Dies Nichtbegreifen der Reden und Schriften anderer, oft sehr gelehrter oder sinnreicher Männer, begegnete mir damals schon zuweilen, seitdem aber immer öfter. Ich habe mich schriftlich darüber ausgesprochen, und erlaube mir nun die Frage zu wiederholen, ob denn nur an mir – die auch früher ernste Bücher gelesen und verstanden hatte – oder nicht vielmehr an der Vortragsweise dieser Schriftsteller die Schuld davon liege? –

Brentano las uns in drei Abenden, sein großes dramatisches Gedicht: Die Gründung von Prag, das bei vielen einzelnen Schönheiten sehr barokke, sehr grelle Auftritte und Redensarten und manches mir eben auch Unverständliche hatte; wie ich denn über eine mystische Person, ein Mädchen, Trinitas, wenn ich mich recht erinnere, genannt, nicht recht ins Klare und zu dem eigentlichen Verständnis des Dichters gelangen konnte.

Indessen verbreitete sich die lange und ängstlich ersehnte [419] Nachricht: Österreich sei den andern gegen Frankreich oder vielmehr gegen Napoleon verbündeten Mächten beigetreten. Unser edler Kaiser hatte sein Vatergefühl das zweitemal bezwungen, wie es bei der Vermählung seiner Tochter zum erstenmal geschah, und ihrem Gemahl und dem Lande, dem sie nun angehörte, den Krieg erklärt. – Am 17. August wurde der Waffenstillstand aufgekündigt und die Furie des Krieges entfesselt.

Schon früher hatten Dichter und andere Schriftsteller, gedrängt von der traurigen Lage des gemeinsamen Vaterlands, sich erhoben und glühende Wünsche ausgesprochen, daß die Deutschen sich ermannen, den alten Zwiespalt vergessen, sich vereinigen und mit gesamten Kräften das fremde Joch abschütteln möchten. So hatte der kräftige Rückert sein »geharnischten Sonette« gedichtet. So rief der edle Schenkendorf den Deutschen zu, sich unter ihrem ehemaligen Haupte zu sammeln, in dem schönen Gedichte:


Deutscher Kaiser! deutscher Kaiser!

Komm zu rächen, komm zu retten,

Löse deines Volkes Ketten,

Nimm den Kranz, dir zugedacht! usw.


Beinahe noch schöner und in ganz prophetischem Geiste gesungen war sein anderes Gedicht: Die Preußen an der kaiserlichen Grenze.


Wir grüßen dich mit Waffentänzen,

Wir neigen uns an deinen Grenzen,

Du klangreich Böhmerland!

O Herr! im Schmuck der grünen Reiser,

Wir rufen: Heil und Sieg dem Kaiser!

Der deinen Sinn erkannt.

– – – – – – – –

Der Geister Zorn versank in Aschen,

Des Rächers Hand hat abgewaschen,

Was widers Recht geschehn.

[420]

Nicht mehr nun trennt uns Süd und Norden,

Ein Lied, ein Herz, ein Gott, ein Orden!

Ein Deutschland stark und schön.


Und dann in der fünften so wie in der letzten Strophe die genau erfüllte prophetische Vorempfindung:

Wo halten wir die Siegesfeier?

Wo wir die Lese halten heuer,

Dort, bei des Rheines Kraft.–


Im Herbst kamen die verbündeten Heere an den Rhein, und später nach Frankreich und der Schweiz, ans Ufer der Rhone.


Wir sprengen Kette kühn auf Kette,

Und hängen an des Rhodans Bette

Den deutschen Eichenkranz.


Pünktlich erfüllte sich diese Voraussicht und bestätigte in mir den Gedanken oder das Gefühl, das manche Sprachen auch durch das Wort bezeichnen, daß im echten Dichter etwas Prophetisches lebe; so nennt ihn der Römer: Vates.


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Ich hatte einen schätzbaren Freund, den schon erwähnten Baron von Merian, der in früherer Zeit auch Hormayrs Freund gewesen, und von diesem bei uns eingeführt worden war. Seit 1810 hatte er Wien verlassen, und war in Dresden bei der kaiserlichen Gesandtschaft angestellt. Wir wechselten fleißig Briefe, und Merian, der ebenfalls Deutschland und seine Freiheit mit warmem Herzen umfaßt hatte, und dem es sehr leid tat, daß Österreich im Jahre 1812 ein Hilfskorps zu der französischen Armee gestellt hatte, verließ die kaiserlichen Dienste und nahm eine russische Anstellung an, weil er, wie er mir schrieb, von Scythen und Gelonen das hoffte, was ihm die Deutschen nicht tun zu wollen [421] schienen. Jetzt war auch er zufrieden gestellt, und da der Kurierwechsel in jener Periode sehr lebhaft zwischen Wien und Dresden war, hatte ich sehr oft, ja in manchen Perioden täglich einen Brief von Merian; aber auch manchmal was für wunderliche! Eines Morgens z.B. weckte man uns zeitig, und überreichte uns ein ziemlich konsiderables Paket, das ein russischer Kurier gebracht hatte. Pichler, den natürlicherweise jede Nachricht aus Dresden in jenem Zeitpunkte interessierte, erbrach schnell den Brief. – Was enthielt er? Einen kurzen, ziemlich gleichgültigen Brief und einen sorgfältig zusammengelegten Bogen Löschpapier, auf dem von Merians Hand das Wort »Ballast« geschrieben stand. Merian hatte, wie er später schrieb, nicht Zeit gehabt, mir ausführlich zu schreiben; wollte doch ein Lebenszeichen, und dem Kurier nicht ein bloßes Billet mitgeben; so verfiel er auf jenen wunderlichen Gedanken des Ballasts, der aber im ganzen nicht wunderlicher war, als mancher andere, den er in seinen Briefen, und wohl auch in seinem Leben ausgeführt. Wie oft bekam ich, eben auf dem Kurierwege, dicke Pakete, die denn kaum in einigen Zeilen Nachricht von dem fernen Freunde, hingegen große Auszüge oder Notaten aus Büchern enthielten, wie sie Merian eben damals las. Bei allen diesen Sonderbarkeiten waren mir seine Briefe oder Blätter stets eine erwünschte Erscheinung, und mit warmem Andenken ruf ich dem Langedahingegangenen einen herzlichen Scheidegruß in jene Welt nach, in welcher wir uns bald begegnen werden.

Es war im August 1813, schon gegen das Ende des Monats, und ich hatte mit einer Pünktlichkeit, die ich mancher Offiziersfrau an meiner Stelle gewünscht hatte, beinahe täglich einen Brief von Merian aus Dresden erhalten. [422] Nicht als ob diese Nachrichten von dem fernen Freund mir nicht erwünscht gewesen wären, aber weil ich sie doch mit sehr großer Ruhe erwartete, und wenn sie einmal ausblieben, ohne lebhafte Unruhe vermissen konnte. Auch war bis gegen Ende des Monats noch nichts Entscheidendes vorgegangen, und nur von kleinern Gefechten Nachricht gekommen, bei deren einem schon etwas früher Körner verwundet worden war, und sein so frommergebenes, so heldenkräftiges Sonett:


Die Wunde brennt, die bleichen Lippen beben –


gedichtet hatte; worauf er sich zu seiner Heilung nach Karlsbad begab, wo damals sich seine Eltern aufhielten; dann aber wieder zu seinem Korps stieß, um mit dem Schwerte zu streiten, wie er es früher mit der Leier gegen den allgemeinen Feind getan. Eines Tages gingen wir eben zu Tische, und ich fand, wie es damals fast jeden Tag der Fall war, einen Brief von Merian auf meinem Teller. Es war ein kurzer Zettel – wie gewöhnlich. Ohne weitere Aufschrift oder Einleitung enthielt er ein Gedicht auf Körners Tod, von Apel – und unten bei Körners Namen die Note: Geblieben in einem Gefecht bei Gadebusch im Mecklenburgschen den 26. August 1813.

Das war die Weise, wie der sonderbare und nur zu originelle Mann einer Frau, die er gewiß achtete und der er wohl wollte, den Tod eines Jünglings verkündete, den er selbst vor anderthalb Jahren mit warmer Empfehlung an sie gewiesen, und die sich seitdem in ihren Briefen so oft und mit so herzlicher Teilnahme über den talentvollen, edlen Theodor ausgesprochen hatte. Ich war aufs Äußerste betroffen, doch hatte ich die Gewalt über mich, meiner Mutter und meinem Manne, denen der Verstorbene ebenfalls sehr wert gewesen, und [423] die mich nach dem Inhalt von Merians Briefe befragten, weil diese Nachrichten unter uns Gemeingut waren, die trostlose Botschaft zu verschweigen, um ihnen nicht das Mittagsmahl zu verderben, wie es mir verdorben war. Übrigens glaube ich, daß ich ziemlich die erste in Wien war, die diesen großen Verlust erfuhr – aber auch auf welch unpassende Weise!

Bald verbreitete sich die Kunde durch die ganze Stadt, und das bedeutende Opfer, das in Theodors Person, auf welchen ganz Deutschland mit Achtung blickte, der guten Sache ohne Nutz und Förderung bis dahin gefallen war, diente nicht dazu, unsere Hoffnungen zu beleben oder unsern Mut zu erhöhen.

Brentano führte in diesen Tagen oder etwas früher, bald nach der Kriegserklärung, ein paar fremde Damen aus Breslau, wenn ich nicht irre, bei mir ein. Es war von dem beginnenden Kriege, von unsern Aussichten, Anstrengungen usw. die Rede. Mit jener liebenswürdigen Naivität, mit welcher West- und Norddeutsche (diese ganz vorzüglich) sich berechtigt glaubten, Österreich nicht allein tief unter sich zu sehen, sondern es uns bei jeder Gelegenheit ins Gesicht zu sagen, rief Brentano, in seiner Lebhaftigkeit aus: Mein Gott! wie können sich die Wiener Hoffnung machen, Napoleon zu schlagen, da sie so viel Wohlgefallen an ... (ich weiß nicht mehr, welchen mittelmäßigen Schauspieler er hier nannte) finden! Dann begannen die Damen mit derselben Ungeniertheit mir ihre Ansichten zu demonstrieren; denn natürlich war aller in Deutschland vorhandene Verstand das Erbteil der Preußen und Norddeutschen, und für uns arme Österreicher und Katholiken nichts übrig geblieben. Derlei Verbindlichkeiten erlaubten sich die Fremden sehr oft, uns ins Gesicht zu [424] sagen; aber wir berechtigten sie auch dazu durch den gar zu großen Mangel an allem Nationalgefühl, den wir leider mit allen Deutschen teilen, aber sie in diesem Stücke noch übertreffen. Wäre ich so unzart gewesen wie diese Personen, so hätte ich mit Fug und Recht diese Preußinnen an den totalen Sturz ihrer Monarchie im Jahre 1806 erinnern können, und wie doch Österreich noch viel respektabler im Jahre 1809 aus dem Kampfe geschieden war. Aber das hätte mir unwürdig geschienen, und so ließ ich sie reden. Vielleicht aber hätte ich es rügen sollen, und vielleicht wäre mancher solche Übermut der Fremden gegen uns unterblieben, wenn wir ihnen die Zähne gezeigt hätten, so wie Bürger singt:


Viel Klagen hör ich stets erheben

Vom Hochmut, den der Große übt.

Der Großen Hochmut wird sich geben,

Wenn unsre Kriecherei sich gibt.


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*


Indessen hatten doch Preußen und Rußland dem Beitritt Österreichs zu ihrem Bunde mit Verlangen entgegengesehen, und nur davon sich Heil und das Gelingen ihrer Pläne versprochen. Mein Herz jauchzte auf über diesen Beitritt, und wie immer auch die Schicksale sich gestalten sollten, es schien mir ehrenvoller, mit dem ganzen deutschen Vaterland zu Grund zu gehen, als allein ruhig stehen zu bleiben, wenn die übrigen kämpften, bluteten – eine Rolle, die Preußen früher beim Basler Traktat, wenn ich nicht irre, und im Jahre 1805 nicht verschmäht hatte, zu spielen. Es war ihnen 1806 schrecklich, heimgekommen und darum nichts mehr davon! Schenkendorf sprach es ja aus: Nicht mehr nun trennt uns Süd und Norden. – Damals galten wir [425] auch für Deutsche, eine Benennung, die man uns früher, und auch jetzt wieder in so mancher Beziehung vom Norden und Westen aus nicht immer zugestehen will.

Österreich erhob also den Schild – und wahrlich, es schien mir in diesem Kampfe, in dem zwar jede der drei Mächte mit allen ihren Waffen im Felde erschien, als ob Preußen das Schwert, Rußland die ferntreffende Lanze und Österreich der Schild war, der sich vor die übrigen noch unversehrten Gaue Deutschlands stellte, um die Schrecken des Krieges von ihnen abzuhalten.

Alle diese Hoffnungen, Befürchtungen, Erwartungen und Zweifel hatten mein Innerstes lebhaft erregt, und allerlei Entwürfe, das, was mich bewegte, in poetischer Gestaltung auszusprechen, stiegen und sanken wechselweise in mir auf und nieder. Meines Mannes Wunsch entschied endlich für ein dramatisches Gedicht, und ich erinnere mich nicht mehr bestimmt, welche Veranlassung mich auf einen Punkt der deutschen Geschichte führte, wo ein (zwar deutscher Kaiser, aber von undeutscher Geburt) nämlich Friedrich II., der wohl oft das Glück Deutschlands seinen italienischen Bestrebungen unterordnete, eben (nach der Meinung einiger Geschichtsschreiber) mit seinem Sohne Heinrich in Kampf geriet, weil dieser sich seines Vaters Plänen, Italien zu unterjochen, und sich dazu der Kräfte Deutschlands zu bedienen, entgegensetzte. Es gibt viele Geschichtsschreiber, die diese Begebenheit anders berichten, und bei denen Heinrichs, des römischen Königs Unrecht gegen seinen Vater deutlicher hervortritt. Nur muß man nicht vergessen, daß, da seit der Reformation bis ganz nahe an unsere Zeit die Geschichtsschreibung meist in den Händen der Protestanten war, schon der unglückliche und mit so viel Kraft geführte Kampf gegen die[426] Macht des Papstes, Friedrich II. in den Augen dieser Historiker einen Glanz verlieh, der vor dem unparteiischen Richterstuhl der Wahrheit vielleicht nicht ganz anerkannt werden dürfte, indem dieses Monarchen Charakter italienische Schlauheit, Härte, Irreligiosität und Nichtachtung der öffentlichen Meinung (wie seine sarazenische Leibwache in jener Zeit des kindlichsten Glaubens bewies), eine Mischung von Elementen zeigt, die ihn, nach meiner Meinung, tief unter seinen edleren und echten deutschen Ahn Barbarossa stellen.

War diese meine Ansicht ein Irrtum, so war es doch ein unfreiwilliger, entstanden – wie jede Ansicht pflegt – aus den angebornen Neigungen, aus den Eindrücken meiner Erziehung und der Einwirkung der Zeitumstände. Genug, ich entwarf den Plan zu meinem »Heinrich von Hohenstauffen«, in dessen Verschlingungen ich passenden Raum für vieles, was damals mich und Tausende mit mir bewegte, zu finden dachte. Es war Deutschland, welches von einem kräftigen, aber nicht wohlgesinnten Fürsten und Kriegshelden seinen anderweitigen Plänen für Größe und Ehre aufgeopfert werden soll; es waren deutsche Fürsten, die, uneins unter sich, nur ihren eigenen Vorteil, nicht den des gesamten Vaterlandes im Auge hatten; es war endlich Österreich, welches in der Person seines letzten (Babenbergischen) Herzogs Friedrich und dessen Schwester Margaretha, Gemahlin des unglücklichen Kaisersohnes Heinrich, vermittelnd und schützend in der gewaltigen Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn auftritt.

Jetzt sehe ich die großen Fehler, die auch dieses Stück an sich hat, vollkommen ein, und bin durch eigene Erfahrung von dem oft gehörten Satze überzeugt worden, [427] daß Frauenzimmer sich nicht auf den Kothurn wagen sollen. Schon damals hatte ich eine warnende Ahnung davon gehabt, und ich kann nichts zu meiner Rechtfertigung sagen, als daß es meines Mannes deutlich ausgesprochener Wunsch und seine herzliche Freude an diesen meinen Arbeiten war, was mich bestimmte, mich zuweilen auf dieser gefährlichen Bahn zu versuchen.

Unter schweren Sorgen für das Gelingen des großen Kampfes um die allgemeine Freiheit des deutschen Vaterlandes, und wie oft unter Tränen arbeitete ich an diesem Heinrich von Hohenstaufen, und das lebendige Gefühl dieser Sorge sprach sich in den vielen Anspielungen auf die damaligen Zeitumstände aus, wozu der Stoff Veranlassung bot und welche dies Stück, als es späterhin aufgeführt wurde, für ein Gelegenheitsstück, das eigens zu der Feier des 18. Oktobers gedichtet worden sei, halten machten. Dem war aber nicht so. Ich arbeitete fast den ganzen Sommer daran, und Gott sah meine und Millionen anderer Sorgen und Tränen an. Er erhörte die brünstigen Bitten, und so konnte ich, als das Stück aufgeführt wurde, wohl mit innigem Dankgefühl sagen: Die mit Tränen säen, werden mit Frohlocken ernten.

Begeisterung für die Sache des Vaterlandes hatte alle Stände, alle Alter in allen Teilen Deutschlands ergriffen. Freiwillig eilten Jünglinge aus jenen Reihen der Staatsbürger, die nie zum Kriegsdienste verpflichtet gewesen wären, zu den Waffen. Beamte verließen ihre Bureaus, um Teil an dem Kampfe zu nehmen, und vor vielen dünkte mich der Entschluß junger Ärzte lobenswert, sich dem Dienste der Kranken und Verwundeten in den Feldspitälern zu weihen. Unser Haus besuchten damals [428] zwei solche junge Männer, wovon der eine Dr. Ed. Pohl, aus Sachsen gebürtig, seine Studien hier vollendete, und erst kürzlich als geschätzter Arzt und verehrter Familienvater hier gestorben ist. Der andere war ein junger Lief- oder Esthländer, Gust. Ad. Fichtner genannt, der sich durch seltene Bildung und durch feines Betragen vorteilhaft auszeichnete, dessen Herkunft und übrige Lebensverhältnisse aber in ein geheimnisvolles Dunkel gehüllt waren. Wir nannten ihn auch unter uns im Scherze: das Kind der Ostsee. Diese beiden Jünglinge nun entschlossen sich, zur Armee nach Böhmen abzugehen, und Dienst in den Feldspitälern zu nehmen. Fichtner hatte, ebenso wie Körner es in seinen Gedichten getan, in den Gesprächen mit uns seine Todesahnung ausgesprochen. Er hatte mich beim Abschiede gebeten, wenn er – wie er nicht zweifelte – sterben würde, seine kleine Büchersammlung als Andenken anzunehmen. Ich teilte, wie natürlich, diese seine düstere Ahnung nicht, und so nahm ich, als er, der lebensvolle, blühende Mann, nebst Dr. Pohl gerade an den denkwürdigen Tagen des 25. und 26. August (an welchen nämlich unter unaufhörlichen Regengüssen, die auch in Wien herrschten, die Linien bei Dresden gestürmt wurden, der unglückliche Moreau seinen unpatriotischen Entschluß mit dem Leben büßte, die Schlacht an der Katzbach geschlagen worden, und der teure Körner bei Gadebusch gefallen war sich von uns beurlaubte – mit herzlichen Segenswünschen für beider Wohl und mit der festen Hoffnung, sie beide wieder in Wien zu sehen, von ihnen Abschied.

Kurz darnach kamen alle jene Nachrichten an, und ich beeilte mich, Pohl und Fichtner von dem traurigen Verlust des ausgezeichneten Dichters und werten Freundes [429] von beiden auf eine schonende Art zu unterrichten, ehe sie denselben durch Zeitungen erfuhren. Ach! noch reut mich, daß ich es getan; denn diese Nachricht war es, die vielleicht den letzten Ausschlag bei dem frühen Tode des guten Fichtners gab, so wie eben ein letzter Tropfen das zu volle Glas überfließen macht. Mein, Brief war an Dr. Pohl gerichtet, mit dem ich in nähern freundschaftlichen Verhältnissen als mit Fichtner stand. Indessen teilten sich die jungen Leute gern die Nachrichten mit, die ihnen aus Wien und dem gewohnten Kreise, in dem sie heimisch gewesen waren, zukamen. Damals standen beide bei einem kaiserlichen Spital in Böhmen, und wenn wir den Mut der Kämpfer ehren, welche im Schlachtgewühl ihr Leben aufs Spiel setzen, wo der Lärm des Kampfes, der Donner des Geschützes, die Menge der Mitstreiter und Zeugen, die Töne der Kriegsmusik, endlich die Begeisterung der Sympathie das Gemüt erweitert, und dem Tode seine meisten Schrecken nimmt: so muß auf der andern Seite die Aufopferung eines Arztes, der im Spital vielleicht einem ebenso gewissen Tode, nur einsam, unbeachtet, unter entmutigenden Umständen, und bloß von dem Gedanken seines nützlichen Wirkens für andere gestärkt, entgegengeht, nicht minder gepriesen werden. Es hat ein junger Arzt und Dichter, Dr. Friedländer, den ich später kennen gelernt, über diese Aufopferung der Ärzte in den Feldspitälern, welchem Dienst auch er sich in dieser denkwürdigen Epoche weihte, ein schönes Gedicht verfaßt: Die Asklepiaden des Heeres, welches mit sehr poetischer Empfindung die Stellung dieser stillen, unbeachteten Helden schildert, und ich bedaure nur, dies Gedicht nicht bei der Hand zu haben, um einige seiner schönen Stellen hier mitteilen zu können.

[430] Fichtner war schon unwohl gewesen, er war aber noch außer dem Bette, als mein Brief mit der Nachricht von Körners Tode ankam. Pohl, an den er gerichtet war, las ihn ihm vor; diese Nachricht ergriff den ohnedies Kranken heftig; ein starkes Fieber trat ein, er mußte sich niederlegen, und – er stand nicht wieder auf. Seine Ahnung hatte ihn ebensowenig als Körnern getäuscht, und es ist mir stets seltsam und wehmütig aufgefallen, daß des einen Tod auf gewisse Weise den des andern nach sich gezogen hat.

Indessen waren der August und die ersten Tage des Septembers vergangen. Ängstlich wurde auf jede Nachricht von der Armee gewartet, die nicht, wie man glaubte, dem Befehl des Erzherzogs Karl, sondern dem des Fürsten Schwarzenberg untergeordnet war, und der nun, samt den vereinigten Scharen der Preußen, Russen und sogar der Schweden, der Armee Napoleons gegenüberstand, so daß man täglich einer entscheidenden Schlacht mit der höchsten Spannung entgegensah.

Mit welcher freudigen Überraschung erfüllte uns in Wien nun eines Tages die Siegesnachricht von der Schlacht bei Kulm, welche Fürst Paar brachte, und mit welchem Jubel umringte das Volk seinen Wagen, auf dem er die erbeuteten Fahnen führte. Nach so viel Angst, nach so viel vereitelten Hoffnungen, nach so viel düstern Vorzeichen nun endlich ein Sieg, und welcher! der ganz Böhmen vor dem Einbruch der Armee des Vandamme rettete, und wo Ostermann mit den vereinigten russischen und österreichischen Truppen, wie ein Cherub mit dem Flammenschwerte, sich vor das bedrängte Vaterland gestellt hatte!

Jetzt, nach mehr als 25 Jahren erinnere ich mich der Zeitfolge der Begebenheiten nicht ganz genau – nur [431] das weiß ich, daß die frohen Nachrichten von der Schlacht an der Katzbach, von der bei Kulm, bei Dennewitz usw. sich bald folgten und die gesunkenen Gemüter mächtig aufrichteten, indem jeder Teil der verbündeten Nationen sich mit eben der herzlichen Empfindung der Siege ihrer Alliierten, sowie der eigenen freute, und wirklich Schenkendorfs Worte:


Ein Lied, ein Herz, ein Gott, ein Orden,

Ein Deutschland hoch und frei!

und Körners:

Denn Brüder sind wir allzumal!


wenigstens bei uns in Wien, in den warmen, arglosen Herzen meiner Landsleute in schöne Erfüllung gingen.

So kam denn unter abwechselnden, aber meist freudigen, erhebenden Nachrichten von den verbündeten Armeen, die alle nur eine gute und gerechte Sache verteidigten, der Oktober heran. Napoleon stand noch immer bei Leipzig und sah, wie es schien, ruhig den Kreis, den die verbündeten Heere um ihn herzogen, immer enger werden, und ganz Deutschland blickte mit unruhiger Erwartung dem Ausgang oder wenigstens einer entscheidenden Krisis des großen Kampfes entgegen. –

Endlich brach der Morgen des 18. Oktobers an, dieser für alle Zeiten merkwürdige Tag, an dem Deutschland seine lange und schmählich getragenen Ketten zerbrach, die so viele von uns wund gedrückt, so viele erdrückt hatten: Gott hatte uns den Sieg gegeben!

Wenige Tage darauf erscholl die frohe Nachricht in Wien. Graf Neipperg brachte sie, und sein Einzug mit dieser alle beglückenden Botschaft war ein Freudenfest für Wien. Einen Zug der Größe und erhabenen Vergessens seiner selbst über dem Wohl des Vaterlandes [432] von unserem angebeteten Erzherzog Karl, den man sich damals erzählte, will ich hier wiederholen. Als der Kurier des Feldmarschalls Fürsten Schwarzenberg vor dem Palast des Erzherzogs vorbeiritt, eilte der Fürst in seiner edlen Freude über die Rettung des Vaterlandes, alle persönliche Rücksicht vergessend, die Treppe herab, um den Siegesboten zu begrüßen, und sich näheres von ihm berichten zu lassen.

Fußnoten

1 Viele werden sich noch der goldenen Kreuze mit der Inschrift: »Dem Retter Germaniens« erinnern, die man damals trug und die ihre Stiftung einer Fürstin von Fürstenberg verdankten.

Zweiter Band

Drittes Buch 1814-1822
[1] Drittes Buch
1814–1822
[1][3]

Neben diesen großen Ereignissen von weltgeschichtlicher Wichtigkeit gingen denn auch die kleinen Angelegenheiten der einzelnen ihren stillen Gang fort und wirkten, von den großen bedingt und geleitet, auch auf die einzelnen verschiedentlich ein. Und so verdenke man es mir nicht, wenn ich unmittelbar nach jenen merkwürdigen Auftritten meiner selbst und meines Stückes, Heinrich von Hohenstaufen, das auf eine gewisse Weise nahe damit zusammenhing, erwähne.

Ich hatte es während jener Zeit banger Erwartung vollendet. Es wurde der Theaterdirektion überreicht, und die Rollen, sowie ich gebeten, ausgeteilt. Nur bei Rudolf von Habsburg, der als Page Friedrichs II. in demselben erscheint, mußte ich mit einiger Festigkeit darauf bestehen, daß Herr Wothe, damals ein junger, hoffnungsvoller Schauspieler, diese Rolle spielen solle, und nicht ein Frauenzimmer, wie manche meinten. Ich hätte es höchst unschicklich gefunden, den glorreichen Ahnherrn des Hauses Habsburg durch ein Weib vorstellen zu lassen und Wothe, dessen Gestalt sich sehr wohl zu einem ritterlichen Edelknaben schickte, rechtfertigte durch sein Spiel meine Ansicht. Das Stück wurde einstudiert, wann es aber gegeben werden würde, war ungewiß.

Jetzt kam die Nachricht von dem Siege bei Leipzig, und nun sollte meinem Stücke und mir selbst eine große und wirklich unverdiente Ehre widerfahren. Wenige Tage nach Graf Neippergs Ankunft sollte dieser »Heinrich von Hohenstaufen« als Benefizevorstellung [3] für die in der Leipziger Schlacht Verwundeten mit großer Feierlichkeit und »Beleuchtung des äußern Schauplatzes« vorgestellt werden. Die Direktion ließ mich ersuchen, einen Prolog zu dichten, der die Absicht des Festes erkläre, und Herr Roose (Manfred in dem Trauerspiel) schlug mir vor, ihn durch Frau von Weissenthurn sprechen zu lassen. Es gab Leute, die nachher meinten, diesen Prolog hätte ein Mann mit mehr Schicklichkeit bei solcher Gelegenheit vorgetragen als eine Frau. Das ist möglich, aber ich hätte Frau von Weissenthurn durch eine solche Weigerung vielleicht beleidigen können, und das hätte ich durchaus nicht gewollt, da diese Frau in freundschaftlichen Verhältnissen zu uns allen stand und wegen vieler ausgezeichneten Eigenschaften Achtung verdient.

Die Direktion hatte mir eine Loge geschickt; da ich es aber, bei dem stets ungewissen Schicksal einer ersten Aufführung geratener fand, mich verborgen zu halten, so nahm ich dankbar den Antrag des Fürsten von Odescalchi an, der durch meinen Schwager Franz von Kurländer mir ein freundlicher Gönner geworden war, mich in der Loge desselben wenigstens während der ersten Akte aufzuhalten, wo man mich nicht vermuten, und weil ich im Fond saß, auch nicht sehen konnte. Die Versammlung war zahlreich und glänzend, der gesamte Hof erschien in den kaiserlichen Logen, und wurde mit allgemeinem Klatschen empfangen, als man ihn zum erstenmal nach jenem denkwürdigen Siege erblickte. Nun rollte der Vorhang auf – das Bild unsers geliebten väterlichen Monarchen stand vor den Augen der Menge, die Schauspieler reiheten sich zu beiden Seiten, die Volkshymne wurde angestimmt, und ein Sturm des Jubels brach los. O, ich werde dieses [4] und noch manches andern wichtigen Momentes, den jene unvergeßliche Zeit von 1805 bis 1815 unter Leiden und Hoffen, Verzagen und mächtigem Erheben uns brachte – nicht vergessen!

Als der Gesang unter der Teilnahme des ganzen Publikums geendet war, trat Frau von Weissenthurn hervor und sprach den ganz kurzen Prolog, der aber natürlicherweise durch die Hindeutung auf den edlen Zweck der heutigen Vorstellung, die Pflicht der Dankbarkeit gegen jene, die unsere Freiheit und unsern Ruhm mit ihrem Blut bezahlt hatten, große Sensation machte. Nun begann das Stück – und es hätte viel schlechter sein dürfen, als es war – denn ungeachtet seiner Mängel, die ich später sehr wohl erkannte, halte ich es nicht für schlecht – um an einem solchen Tage eines glänzenden Erfolges nicht zu verfehlen. Gespielt wurde es auch im ganzen trefflich, und bei dem erhöhten Gefühl des Publikums wurde jede Stelle, die sich – und auch oft ohne meine Absicht – auf die Lage Deutschlands und seine Stellung gegen den gewaltigen Eroberer deuten ließ, mit lautem Beifall aufgenommen; und diese Stimmung erhielt sich bis zu Ende. Von besonderem Effekt war die Erzählung des Traumes, die Herr Koberwein (Friedrich II.) vortrefflich gab, und Rudolfs (Wothes) Eintreten, das diese Erzählung hervorruft. Ebenso wurde die Szene zwischen Vater und Sohn (Koberwein und Korn) und die zwischen diesem (Heinrich von Hohenstaufen) und seiner Gattin, Margarete von Österreich (Dem. Adamberger, jetzt Frau Arneth), mit Beifall aufgenommen.

Am Schlusse des Stückes wurde heftig applaudiert und die Dichterin gerufen, die aber wohlweislich sich im Hintergrund der Loge verborgen hielt. Es gab Personen, [5] welche meinten, ich hätte mich in der Direktionsloge, bei Fürst Lobkowitz, der mir sehr wohl wollte, zeigen sollen, aber ich hätte das unerträglich anmaßend gefunden. Überhaupt war es mir – und ich glaube, ich habe dies schon in diesen Blättern erwähnt – nicht möglich, mich so wie andre Dichter mit ihren Werken zu identifizieren und von den Schicksalen derselben, guten oder widrigen, so lebhaft ergriffen zu werden. Mit großer Lust und Liebe entwarf ich meine Pläne, arbeitete fleißig und mit wahrer Seelenfreude daran; waren sie aber einmal vollendet, so waren sie auch gleichsam aus mir herausgeworfen und mir fremd geworden. Ihr Gelingen freute mich, besonders weil es mir sehr oft Teilnahme, Dank und warmes Wohlwollen von Unbekannten oder in weiter Ferne ein freundschaftliches Band erwarb; gefiel eins oder das andere nicht, so kränkte es mich durchaus nicht, und erregte mir höchstens jene unangenehme Empfindung, die man etwa hat, wenn man in einer großen Gesellschaft mit einer nicht ganz passenden Toilette erscheint.

Bei dieser Gesinnung freute mich daher der allgemeine Beifallssturm; aber ich war mir wohl bewußt – was mir hauptsächlich durch die Aufführung klar geworden war, denn ich hatte den Proben nie beigewohnt – daß das Stück in dramatischer Hinsicht viele Fehler hatte, und daß es hauptsächlich der Gelegenheit, bei welcher, und den Umständen, der Stimmung des ganzen Publikums, unter welchen es aufgeführt wurde, zuzuschreiben war, daß ein an sich mittelmäßiges Produkt so vielen Applaus erhielt.

Am andern Morgen kamen viele meiner Bekannten und Freunde, mir Glück zu wünschen, die Rezensionen ließen sich günstig vernehmen; doch sprachen einige [6] deutlich die Ansicht, welcher ich schon früher erwähnte, aus, daß es nämlich ein Gelegenheitsstück, eigens für diesen Tag verfertigt, sei. Nur, hätten diese Rezensenten recht gehabt, mußte es dann auf jeden Fall schon früher in Hoffnung des Erfolgs geschrieben sein, weil es doch kaum ins Reich der Möglichkeiten gehört, daß ein fünfaktiges Stück in vier Tagen gemacht und einstudiert werde.

Im Gange der Weltbegebenheiten folgte nun Fortschritt auf Fortschritt, Sieg auf Sieg. Bayern, Württemberg und andre Rheinbündner fielen von Napoleon ab, wie das Glück von ihm abgefallen war. Man sagte freilich, sie hätten es nicht wagen können, früher mit ihrer deutschen Gesinnung hervorzutreten. Meines Bedünkens nach war aber dieses Verfahren nicht edel, nicht loyal und der unglückliche König von Sachsen, der treu bei seinem französischen Alliierten oder eigentlich indirektem Souverain aushielt, schien mir achtungswerter gehandelt zu haben. Fürst Wrede, der lange an unsern Grenzen mit einer bayerischen Armee gestanden hatte, und dem eine österreichische hatte entgegengestellt werden müssen, um ihn in Schach zu halten, brach nun mit seinen Truppen auf, um das französische Heer, das von Leipzig zurück gegen den Rhein eilte, seinerseits zu verfolgen und die Schlacht bei Hanau wurde geschlagen, von welcher abermals die Siegesnachricht mit großer Freude in Wien empfangen wurde. – »Die Lese war, nach Schenkendorfs Gesang, am Rhein gehalten worden«. Die verbündeten Armeen rückten in Frankreich ein, und die Schmach, welche wir Deutsche dadurch erfahren, daß die Gallier unsere innersten Provinzen betraten, ward nun glorreich wett gemacht.

[7] Hier in Wien war alles freudig und in begeisterter Stimmung. Man dachte daran, die frohen Ergebnisse auf alle Weise zu feiern, und mir wurde der Antrag gemacht, eine Kantate: »das befreite Deutschland« zu dichten, welche Spohr in Musik setzen sollte, was er, nachdem ich meine Aufgabe nach besten Kräften zu lösen gesucht hatte, auch wirklich mit großem Beifall ausführte. Schon früher hatte ich meine Trauer über Th. Körners Verlust, der einer für ganz Deutschland war, und meine Anerkennung seines Verdienstes in einem kleinen Gedichte ausgesprochen, das ich durch Baron Merian den unglücklichen, mir so werten Eltern des Verstorbenen geschickt hatte. In diesem »befreiten Deutschland« fand ich es nun der billigen Anerkennung von Theodors Verdienst ums Vaterland, für dessen Freiheit er einer der ersten das Schwert gezogen, und der Befriedigung meines eignen Gefühls entsprechend, wenn ich seiner auch gedachte. Und so legte ich einer Person der Kantate, dem Mädchen, welches den Tod ihres in der Schlacht gefallenen Liebhabers beklagt, folgendes Akrostichon in den Mund:


K–eine Freude kenn' ich mehr,

Ö–d' ist alles um mich her,

R–eizlos, was ich sonst geliebet habe usw.


Es war mir eine wehmütige Freude, in den Worten, welche der Jüngling selbst im ersten Teil der Kantate spricht, und in der Klage des Mädchens um ihn den edlen Gefallenen mit inniger Achtung zu feiern.

Überhaupt war mein Gefühl und meine Phantasie damals sehr angeregt, und ich dichtete viel. Ich erinnere mich der Veranlassung nicht mehr, welche mich bestimmte, aus dem schönen und damals viel gelesenen Roman der Mad. Cottin »Mathilde ou les Croisades« [8] eine Oper zu dichten. Ich ließ sie zierlich abschreiben und dem Erzherzog Rudolf, der sich mir stets als teilnehmender Gönner gezeigt hatte, überreichen. Beethoven sah und las sie bei dem Prinzen. Eine stolze Hoffnung fing an, sich in mir zu regen: wenn dieser Genius sich entschlösse, meine Oper zu komponieren! Aber es blieb bei der Hoffnung; doch erfuhr ich viele Jahre später durch den unvergeßlichen C.M. Weber, daß sie zweimal in Deutschland in Musik war gesetzt worden. Leider bekam ich nichts davon zu sehen oder eigentlich zu hören.

Hofrat von Mosel wünschte ebenfalls einen Operntext von mir, und zwar über das Sujet: Rudolf von Habsburg. Nun ist es schon lange mit ästhetischen Gründen dargetan worden, daß dieser Gegenstand sich viel mehr zu epischer als dramatischer Behandlung eigne, daß Rudolfs Charakter und Handlungsweise zu ruhig, zu klug, zu weise gewesen war, um jene rasche Bewegung und leidenschaftliche Entwicklung zu gestatten, welche eigentlich das Leben im Drama charakterisiert. Es hat sich auch gezeigt in einem Stücke von einem gewissen Meinrath oder wie jener angenommene Name hieß, welches an der Wien um jene Zeit aufgeführt wurde, und worin der damals sehr beliebte Schauspieler Grüner den Rudolf spielte, und selbst in Grillparzers mit so vielen Schönheiten ausgestattetem Trauerspiel: Ottokars Glück und Ende, daß Rudolf in diesem Konflikte mit dem leidenschaftlichen, kühnen, durchgreifenden Böhmenkönig nur als zweiter Held des Dramas gelten könne. Auch hatte ihn unser edler Collin auf diese Art zu bearbeiten angefangen, und ein anderer vielgeschätzter vaterländischer Dichter L. Pyrker hat das Epos wirklich gedichtet. [9] Indessen Hofrat von Mosel wünschte es, und der Sukzeß einer Oper hängt ja immer vielmehr von der Musik als dem Texte ab. – Ich übernahm es also, tat mein Möglichstes, richtete mich (was jeder Dichter, der Ähnliches unternommen, für eine mißliche Aufgabe erkennen wird) nach den Fähigkeiten oder Wünschen der Sänger, welche damals zur Aufführung vorhanden waren, schaltete hier eine Arie, dort ein Duett nach Begehren ein, und – sei es nun, daß Mosein die Arbeit mißfiel, oder was für andere Hindernisse dazwischen traten – genug, nachdem ich mich ziemlich mit dieser Oper geplagt hatte, ward sie mir unter einem höflichen Vorwande, den ich vergessen habe – zurückgegeben.


* *

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Über diesen poetischen Arbeiten war der Winter größtenteils hingegangen. Die Art dieser Beschäftigung, vielleicht auch die vielen Anregungen des Gefühls und des Geistes, die jene Zeitepoche für jedermann mit sich brachte, die aber natürlicherweise noch stärker auf eine lebhafte Phantasie wirkten, mochten mein Nervensystem, das stets reizbar war, zu sehr aufgeregt haben. Es fanden sich Migräne und Krämpfe, an welchen ich sonst nur selten gelitten, nun sehr oft ein. Dessen ungeachtet fuhr ich fleißig in meinen Arbeiten fort und überzeugte mich aus eigener Erfahrung, wieviel Fertigkeit und Leichtigkeit eine anhaltende Übung nicht bloß in mechanischen, sondern auch in geistigen Arbeiten gibt. Das Schreiben in gebundener Rede, ja in Reimen ward mir so geläufig, daß ich bei prosaischen Aufsätzen, Briefen usw. mich völlig vor Jamben und Reimen in acht nehmen mußte, welche [10] sich mir unwillkürlich darboten. Die Ursache dieser Erscheinung und anderer ihr ähnlicher, worin eine Verrichtung unsers geistigen Vermögens wie nach einer mechanischen Regel geschehend sich darstellt, wird von jenen, welche dem Materialismus huldigen, und in jeder Prozedur unserer Seele nur mechanische oder dynamische Kräfte und Bewegungen zu sehen meinen, vielleicht in ebensolchen Bewegungen gesucht werden. Ich, wenn ich, wie oft geschah, darüber nachdachte, sah in dieser Erscheinung nichts als eine Bestätigung der alten Erfahrung, daß die Vorsicht uns Sterblichen gar hilfreiche Gefährten in der Gewohnheit und Übung auf dem Wege des oft mühsamen Erdenwallens beigegeben hat, die uns treulich begleiten, das anfangs Beschwerliche allmählich erträglich, dann leicht und endlich so homogen machen, daß wir dessen Abgang zuletzt empfindlich vermerken.

Die Schlachten von La Ferté, von Troyes usw. waren vorüber; die verbündeten Heere rückten auf die Hauptstadt Frankreichs los; und am 31. März langte Graf Friedrich von Fürstenberg, der Schwager des Feldmarschalls Schwarzenberg, mit der Nachricht von der Eroberung von Paris an. Auch diese Botschaft erregte großen Jubel; und jeder Wiener fühlte sich durch den Gedanken befriedigt, daß nun die Franzosen auch erfahren mußten, was sie uns zweimal, und den Berlinern einmal zu fühlen gegeben hatten, an welches Gefühl sich unmittelbar die Aussicht auf einen wahren Frieden und endliche Ruhe knüpfte. Doch ward meine unbefangene Freude an diesem Ereignisse einigermaßen durch die Betrachtung gestört, daß nicht Napoleon, nun in seine gehörigen Schranken, das ehemalige Frankreich, zurückgewiesen, dies Reich, das er [11] aus den Wirren der Anarchie mit Energie und Klugheit gerissen hatte, künftig regieren sollte, wie es viele gemeint, sondern daß man ihn zwingen würde zu abdizieren, daß die Bourbons zurückkehren und Monsieur mit dem Namen Louis dix-huit auf den Thron gesetzt werden würde. Diese Bourbons, von denen sich vor, während und nach der Revolution so manche ungünstige Meinungen in ganz Europa verbreitet hatten und von deren sehr vorgerückten Jahren sich wenigstens die Kraft und der Geist nicht erwarten ließen, welche nötig schienen, um ein so durch und durch aufgeregtes und bis in seine untersten Hefen aufgerütteltes Volk zu regieren!

Es zeigte sich bald nachher, daß es nicht ganz so ging, wie viele gleich mir gefürchtet hatten, wenn jene Menschen, die, wie das Sprichwort lautete, »nichts gelernt und nichts vergessen hatten«, über eine Nation herrschen sollten, in der vom Kleinsten bis zum Größten seit 30 Jahren alles ganz anders geworden war, als es je gewesen. Ludwig XVIII. regierte mit vieler Klugheit, Sanftmut und der nötigen Kraft. Leider war er ein Greis, als er den Thron seiner Väter bestieg, und sein Nachfolger verkannte seine Stellung, sein Volk und den Zeitgeist. Doch das gehört nicht ins Jahr 1814, es steht auch nur darum da, um die Befürchtungen derjenigen zu entschuldigen, und auch wohl zu rechtfertigen, welche sich von dieser wiedergekehrten Dynastie kein dauerndes Heil für Frankreich versprachen. Übrigens möchten sich wohl auch jene getäuscht haben, welche es für möglich hielten, daß Napoleon aus dem ungeheuern Wirkungskreis, den sein Heldengenie ihm geschaffen, zurückgedrängt in engere Schranken, obwohl noch stets in einer beneidenswerten Stellung, als [12] Herrscher von Frankreich, sich mit dem innerlichen Glücke seines Volkes beschäftigt und ferneren Eroberungsplänen entsagt haben würde. Dies, behaupteten viele, wäre nicht zu erwarten gestanden, und des Kaisers Feuergeist würde, sobald der Friede die geschlagenen Wunden geheilt hätte, wieder auf die alte, ihm von der Natur und seinem Genius gleichsam vorgezeichnete Bahn des Helden und Eroberers zurückgekehrt sein, die ihn einengenden Schranken durchbrochen und noch einmal die Welt mit Krieg, Jammer und Blut erfüllt haben.

Dies behaupteten viele; da es aber nicht möglich ist, daß ein Ding und folglich auch eine Weltlage zugleich sein und nicht sein könne, so bleibt das, was Napoleon getan oder nicht getan haben würde, wenn er Kaiser von Frankreich geblieben und die Bourbons nicht mehr auf den Thron gelangt wären, ein Problem, welches jeder nach seinen psychologischen, philosophischen und politischen Grundsätzen und Ansichten lösen kann, ohne daß man ihm sein Unrecht apodiktisch beweisen könnte. Das sind politische Träume, in die eine Frau sich am wenigsten einlassen soll. Ich breche daher hier ab und fahre in der Schilderung meiner individuellen häuslichen oder mich zunächst berührenden Ereignisse fort.

Baron Hormayr hatte mich ein paar Jahre früher mit einem unsrer vorzüglichsten Kavaliere, dem Grafen Franz von Szecheny bekannt gemacht, dessen schon erwähnt worden. Diesem vaterländisch gesinnten Manne verdankt Ungarn die Stiftung der Nationalbibliothek und des Museums. Er war mit der alten sowohl als der neuen Literatur vertraut, und sein Haus ein Sammelplatz für gebildete und wohlgesinnte Menschen. Er lebte mit seiner, ebenfalls sehr geistreichen[13] Frau, im Kreise seiner zahlreichen Familie, zweier verheirateten Töchter und dreier Söhne, von denen zwei ebenfalls Frauen und Kinder hatten. In diesem Hause, in welchem der Geist, der diese Familie belebte, patriarchalische Sitte und Einfachheit mit dem Glanz und der Würde, der ihrer äußern Stellung in der Welt ziemte, auf eine Weise zu vereinigen wußte, die jeden, der es betrat, mit Ruhe und Wohlbehagen erfüllte – in diesem würdigen und mir unvergeßlichem Hause hatte ich viele angenehme Stunden zugebracht. Jetzt als der Frühling herannahte, lud mich Graf Szecheny sehr gütig ein, ein paar Wochen auf seinem, nur eine Stunde von Ödenburg gelegenen Gute »Zinkendorf« bei ihm und seiner Familie zuzubringen. Ich und meine Tochter, die mich begleiten sollte, damals ein blühendes Mädchen von etwa 15–16 Jahren, freuten uns sehr auf diese kleine Reise. Pichler konnte seiner Geschäfte wegen Wien nicht verlassen, und so blieb er mit meiner Mutter, der ich für diese wenigen Tage ein Fräulein aus unserer Bekanntschaft zur Gesellschafterin gesucht und gefunden hatte, zurück, als wir endlich gegen Ende des Mais an einem schönen Morgen über Laxenburg, Windpassing und neben Eisenstadt hin das erstemal nach dem benachbarten Ungarn reisten. Der Graf hatte es so veranstaltet, daß wir mittelst eines Relais schon zu Mittag in Ödenburg in seinem schönen Hause eintrafen. Dort zeigte er uns seine Bibliothek, seine Sammlungen, das ganze höchst zweckmäßig und edel eingerichtete Haus. Nach Tische fuhren wir nach dem, nur eine kleine Stunde entfernten Zinkendorf. Die nächste Gegend um das kleine Städtchen Ödenburg ist freundlich, lachende Hügel mit Weinreben besetzt umgeben es, gegen Zinkendorf zu [14] wird die Gegend flacher. Mitten in schön gepflanzten Gärten liegt das Schloß, und wie wir durch die Avenue hinfuhren, ertönte aus allen Gebüschen der Gesang zahlloser Nachtigallen, die der Graf in dieser Zeit ihrer Liebe und ihres Gesanges mit besonderer Sorgfalt hegen und pflegen ließ; sowie er stets für den Ankauf neuer und die Erhaltung der schon vorhandenen Vögel bemüht war. Wenn die Brutzeit begann, wurden im Schloß und rings um dasselbe alle Katzen eingefangen und indessen nach Ödenburg in des Grafen Haus gebracht, wo sie wohlgefüttert und gehalten, und wenn die Brutzeit vorüber war, wieder nach Zinkendorf geführt wurden. Wirklich war auch den ganzen Tag ein unaufhörliches Konzert in den Gebüschen, welche das Schloß umgaben, und die ganze Sommernacht durch wirbelte, seufzte und schlug es in denselben seinen tiefaufflötenden Laut und bezauberte Ohr und Herz der Bewohner.

Die Familie des Grafen brachte den Sommer in diesem lieblichen Aufenthalte zu, und die verheirateten Kinder besuchten hier zuweilen die Eltern, wie denn die eine Tochter, Gräfin Batthiany, sich für längere Zeit hier befand. Es war ein patriarchalisches, schönes, stilles und doch so genußreiches Leben, erhöht und erheitert durch die jüngstvergangenen glücklichen politischen Ereignisse und die Aussicht auf die nahe Wiederkehr des geliebten Landesvaters, der nach den verhängnisvollen Begebenheiten des glorreich beendigten Krieges nun mit den Segnungen des Friedens und der Ruhe nach so langen, so verderblichen Stürmen in die Mitte seiner Kinder zurückkehrte.

Unsere Lebensweise war still, aber mir sehr zusagend. Am Morgen frühstückte jedes in seinem Zimmer, dann [15] versammelte die tägliche h. Messe alle Bewohner des Schlosses in der Kapelle, worauf wieder jedermann an seine Geschäfte oder spazieren ging, bis die Eßglocke um 1 Uhr in den Speisesaal zu ebener Erde rief, der mit Gartengewächsen geziert war und, soviel ich mich erinnere, wohl im Winter eine Art Glashaus sein mochte. Nach Tische stiegen wir wieder hinauf in den Salon der Gräfin, wo bei ungünstigem Wetter die Zeit aufs angenehmste mit Musik oder Lesen verging, indem Gräfin Batthiany, meine Tochter oder wer sonst musikalisch war, sich am Piano unterhielt und die übrigen, mit Handarbeit beschäftigt, zuhörten; wenn es aber schön war, wurde ausgegangen oder in die Umgegend ausgefahren. Um halb 9 oder 9 Uhr rief abermals die Eßglocke in den Gartensaal, und nun ging der Zug der Gäste von einer Tür zur andern, um jeden in sein Schlafzimmer zu begleiten, und meistens kehrten die zuerst Hingeführten wieder mit um, die letztern zu konvoyieren, und es wurde noch lange geplaudert, gelacht, bis man endlich die Ruhe suchte und nun in die stillgewordenen Gemächer der Gesang von tausend Nachtigallen aus den Büschen des Gartens drang und die Müden in Schlaf lullte.

So waren einige Tage vergnügt hingegangen, als eines Morgens Besuch aus dem nahen Ödenburg kam. Es war die Familie des Barons (jetzt Grafen) von Zay – und ich verweile mit wehmütiger Lust bei diesem Punkte meines Lebens, der mit so weitreichenden als sanften, erfreulichen Wirkungen in meine künftigen Tage eingriff. Der Baron war ein heiterer, anspruchsloser Mann zwischen 40 und 50 Jahren; seine Frau eine schlanke, nur etwas zu hagere Gestalt, an der man trotz ihrer Kränklichkeit Spuren ehemaliger Schönheit [16] sah. Sie begleiteten ihr einziger Sohn, damals ein Knabe von 14–15 Jahren, sein Mentor, Fräulein Therese von Artner, mir schon früher zwar nicht persönlich, aber unter ihrem dichterischen Namen Theone aufs vorteilhafteste bekannt, und ihre jüngere Schwester Wilhelmine von Artner. Alle diese Personen zeichneten sich durch eine echte Geistesbildung, welche diesen Namen nach meiner Ansicht nur dann verdient, wenn durch sie auch das Gemüt, der Charakter gebildet wird, und die einzelnen Kenntnisse, »in Saft und Blut verwandelt«, nur ein schönes, untrennbares Ganzes ausmachen, sowie durch feinen Ton und jene wohlwollende Höflichkeit aus, die nicht bloß von guter Erziehung, sondern aus gutem Herzen und natürlicher Bescheidenheit kommt.

Mir ward sogleich wohl unter diesen Menschen. Lebhafte und bedeutende Gespräche knüpften sich zwischen den Fremden und mir an, wir fühlten uns einander nahe, obwohl wir uns an diesem Tage zum erstenmal sahen, und ein herzliches Freundschaftsband, das den ganzen Kreis umschloß und wovon einige noch innigere Empfindungen hegten, vereinte uns durch ein nun verflossenes Vierteljahrhundert und bewahrt auch den leider! Vielen, die seit dem schon aus dieser Zahl hinübergegangen sind, über den Gräbern ein lebhaftes, dankbares Andenken.

Eines nachmittags wurde eine Spazierfahrt ins Juliental bestimmt. Auf der weiten Fläche, die das Schloß rings umgab, konnte ich mir nicht vorstellen, wo denn dies Tal, das doch Berge oder mindestens Hügel voraussetzte, liegen sollte, wenn wir nicht vielleicht bis nach Ödenburg fahren würden. Aber es zeigte sich bald ganz anders. – Nicht sehr lange fuhren wir über die [17] Ebene hin, als sich plötzlich eine überraschende Ansicht darbot. Am Ende des Plateaus, wenn ich mich dieses Wortes bedienen darf, auf dem Zinkendorf liegt, senkt sich plötzlich der Grund. Schön begrünte und bebüschte Hügel ziehen sich rechter Hand an der Höhe hinab, ebensolche werden an der linken Seite sichtbar, und unten breitet sich auf einmal eine ungeheure Wasserfläche aus. Das war der Neusiedler See, den hier von der Seite, wo wir uns befanden, jene lieblich grünen Hügel umsäumten, die sich auf der linken Seite noch eine Strecke hin am Ufer zogen, während die rechte Seite flach auslief, und gegenüber der weite Wasserspiegel ohne erkennbare Ufer das Bild eines Meeres darbot. Mich überraschte und ergriff diese scheinbare Unendlichkeit und überhaupt das ganze, so unerwartete Landschaftsbild, und mit sehr regem Gefühl für diese Schönheiten und für den Umtausch lebendiger Gedanken und Empfindungen stieg ich mit der Gesellschaft, die nun allesamt die Wagen verlassen hatte, auf angenehmem Pfade durch dies Juliental hinab, das der Graf zu einem kleinen englischen Garten hatte umschaffen und nach dem Namen seiner Frau nennen lassen. Auch ein hübscher Pavillon in Tempelform stand auf einer der Anhöhen und trug den Namen des Erzherzogs Palatin, der, wenn ich mich recht erinnere, dies Tal einst mit seiner Gegenwart beehrt hatte. Die übrigen zerstreuten sich hier und dort in den Schattengängen, ich fand mich bald mit Theresen (Theonen) allein, zu welcher mich von dem ersten Augenblicke unserer Bekanntschaft an ein innerer Hang gezogen und mich hier eine gleichgestimmte Seele hatte ahnen lassen. Therese war nicht mehr jung – nur um wenige Jahre jünger als ich – sie war nicht schön, eine kaum mittelgroße, [18] etwas gedrungene Gestalt, mit feinen, aber höchst einfachen Manieren, bei der die talentvolle Dichterin ganz hinter der anspruchslosen häuslichen Frau verborgen, und nur dann sichtbar ward, wenn im vertrauten Gespräche die angeregte Seele jene einfache Hülle durchbrach und sich in ihrer wirklich hohen und klaren Schönheit zeigte. So zeigte sie sich auch mir an jenem unvergeßlichen Tage im Juliental, da erkannten sich unsere Geister, da hatten beide, die irdische Hülle durchstrahlend, einander schwesterlich und liebend umfaßt, und den Bund treuer Anhänglichkeit und Freundschaft geschlossen, der über Theresens nun lange schon begrüntes Grab hinaus gewiß noch zwischen unsern Seelen in Gott besteht. Auch sie – und noch so viele andere Teure habe ich überlebt, und wohl kann ich, ohne den meinem Herzen nahestehenden Umgebungen, in deren Besitz ich jetzt mein Glück finde, zu nahe zu treten, in so mancher Beziehung sagen:


Aber meine Welt ist tot!


Die Welt, deren Bildung mit der meinigen einerlei Richtung hatte, einerlei Schritt mit mir hielt, die meine Geistesbedürfnisse kannte, nur solche hatte wie ich, die mich verstand, in der meine Gedanken Anklang und Widerhall fanden – diese Welt ist nicht mehr da, und ich fühle das recht oft und recht wehmütig.


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Doch ich kehre zu dem Faden meiner Erzählung zurück. Therese und ich hatten uns in einem Gespräche über Poesie und über das, was in unserer beider Seelen vorging, wenn die Stunde der Weihe über uns kam, warm, innig, offen ausgesprochen. Da fand jede Empfindung ihr Echo, jede Äußerung ihr Gegenbild im [19] Geiste der Freundin, unsere Seelen, möchte ich sagen, berührten sich unmittelbar, und in solchen Augenblicken, deren es freilich im Leben nur wenige gibt, dringt gleichsam durch eine Spalte in unserer dichten Erdenatmosphäre ein Strahl des Himmels herein, und wir lernen die Möglichkeit fassen und glauben, wie entkörperte Geister sich einander ohne Worte, durch bloße Anschauung erkennen.

Noch einige Tage verweilte dieser angenehme Besuch in Zinkendorf, und da gerade während dieser Anwesenheit die Nachrichten aus Wien einliefen, daß der Kaiser an einem bestimmten und ziemlich nahen Tage in seiner Hauptstadt eintreffen und feierlich einziehen werde, beschloß die gesamte Gesellschaft, wie sie hier beisammen war, uns mit eingeschlossen, nächstens aufzubrechen und nach Wien zu eilen, um jenen schönen Tag mit zu feiern. Die Baronin Zay, welche ebenso wie ihre Jugendfreundin Therese sich mir mit herzlicher Freundlichkeit genähert hatte, lud mich und meine Tochter ein, an dem zu unserer Abreise bestimmten Tage bei ihr in Ödenburg, durch welches uns unser Weg führte, das Frühstück einzunehmen. Hier lernten wir noch die beiden verheirateten Artnerschen Schwestern, Frau von Witte und von Torkas, kennen, fanden uns in einem Kreise trefflicher, guter, gebildeter Menschen aufs herzlichste aufgenommen und bald so heimisch, als ob wir uns seit langen Jahren gekannt hätten. Nur selten in meinem langen Leben war es mir auf diese Art mit neuen Bekanntschaften so wohl geworden. Ich begreife auch, daß das seiner Natur nach nicht anders sein kann und in spätem Jahren sich immer mehr verliert, wie sich die Empfänglichkeit für neue Eindrücke und die Möglichkeit, sich unbedingt hinzugeben, [20] mit der nähern Kenntnis der Menschen und manchen unangenehmen Erfahrungen ebenfalls aus unserm Gemüte entfernen.

Der Aufenthalt in Zinkendorf war zu Ende. Alles eilte nach Wien. Die nahe Ankunft des Kaisers, die Begebenheiten der jüngstvergangenen Tage, Napoleons Abdankung, seine Verbannung nach Elba, die Wiedereinsetzung der Bourbons, die Aussichten in die Zukunft, die Erwartung des Kongresses, der in wenigen Monaten in Wien eröffnet werden und eine Menge europäischer hoher Häupter hier versammeln sollte, hielten die ganze Welt in reger Spannung. Alles bereitete sich zum Empfange des Kaisers vor. – Eine Illumination sollte statthaben, Gedichte überreicht werden usw. Auch die Taubstummen, bei deren Institut der Zug des Monarchen von der Favoritenlinie hereingehen sollte, wollten ihre Gefühle in einem Gedichte aussprechen, und ich wurde ersucht, es zu machen. Ich tat es, und in Zinkendorf wurde es vollendet, während ich in den Schattengängen des Gartens unter dem Geflöte der Nachtigallen herumwandelte.

Endlich erschien der Tag der Ankunft, wenn ich nicht irre, so war es der 14. Juni. Unser lieber Hausgenosse Karl von Kurländer, der sich auch für die Abfassung jenes Gedichtes für die Taubstummen interessiert hatte, war so gefällig gewesen, uns in eben diesem Hause, von dem man den Zug sehr gut sehen konnte, bei Herrn Direktor Mey Plätze an einem Fenster zu verschaffen, und so wanderten wir vier, Pichler, Karl, meine Tochter und ich, recht früh am Morgen auf die Wieden hinüber; denn zu fahren, wenigstens bis dorthin, war an einem solchen Tage nicht möglich. Aber [21] damals war mir solch ein Gang auch nur eine Kleinigkeit. Die Straßen waren mit Menschen bedeckt. – Endlich verkündete fernes Vivatrufen die Annäherung des Hofes. Die gedrängten Massen bewegten sich unruhig; es erschienen in langem Zuge österreichische und ungarische Große zu Pferde in höchster Gala; wobei sich freilich die letztern in ihrer Nationaltracht, welche einen großen Aufwand von Gold und Silber gestattet, und im ganzen viel kleidender ist als unser Männeranzug, weit besser ausnahmen, obwohl damals noch jene malerische Verschönerungen der ungarischen Tracht, diese Attilas und wie sie sonst heißen, noch nicht üblich waren. Sonderbar, und wenn man die eigentliche Bedeutung dieser Erscheinung nicht wußte, höchst unpassend mußten die Herren von der sogenannten böhmischen Legion auffallen, die in ihren von Sonne, Wetter und Strapazen heruntergebrachten Anzügen, sowie sie im Felde ihren Monarchen begleitet hatten, jetzt mitten unter den von Gold und Silber schimmernden Ungarn und Deutschen erschienen. Wie man aber die Ursache dieses Kontrastes wußte, verschwand das Ungehörige und machte der Achtung für die Anstrengungen dieser Offiziere Platz; aber es wäre nicht unpassend gewesen, wenn man vorher darauf vorbereitet gewesen wäre.

Unendlich war der Jubel, als jetzt der Kaiser selbst an der Seite seines Bruders, des damaligen Großherzogs von Florenz, von der Generalität umgeben, erschien. Rührend, freudenvoll und erhebend war dieser Moment durch seine eigentümliche Wichtigkeit und durch die Betrachtung dessen, was zum Glück und ruhigen Wohlsein der Völker geschehen war und sich für die Zukunft hoffen ließ. Dennoch muß ich gestehen, für mein Gemüt [22] war jene unvermutete glanz- und geräuschlose Rückkehr des geliebten Landesvaters nach dem unglücklichen Kriege von 1809 am 27. November abends viel großartiger und erhebender gewesen. An dem Tage der feierlichen Ankunft i.J. 1814 war die Stadt samt den Vorstädten beleuchtet, man hatte sich darauf vorbereitet, Transparente, Inschriften, architektonische Feuerlinien machten den Anblick der Straßen glänzend und feierlich und verscheuchten die ohnedies kurze Sommernacht. An jenem nebligen, düstern Winterabende, wo noch alle Herzen gedrückt und beklommen waren, fiel auf einmal wie ein heller Hoffnungsstrahl die Nachricht: der Kaiser ist da! in das Dunkel unserer Seelen. – Hoffnung und Freude, Zuversicht und Ruhe erwachte in den bedrängten Gemütern, die Brust erweiterte sich jedem, das Vaterland, das Vaterhaus schien wieder gesichert, weil nur der Vater wieder unter uns war, und schnell entzündete an diesem innern frohen Gefühl sich auch der hellglänzende Ausdruck desselben im Äußerlichen. In der kurzen Zeit von ein paar Stunden war die improvisierte Beleuchtung in der Stadt und den Vorstädten bis an die äußersten Linien fertig. Freudenschüsse knallten, Pöller donnerten, Schwärmer zischten, Vivat und Jubelgeschrei erscholl in den Straßen, und jeder gab seine Freude auf irgendeine Weise kund.

Auch am 14. Juni 1814 war dieser Jubel groß, aber er war vorzusehen, er war sozusagen unvermeidlich gewesen. Es war auch eine herrliche Nacht. – Wir durchstrichen mit einigen unserer Bekannten die Straßen der Stadt, in denen es hell wie am Mittag war, und scheuten kein Gedränge, keine Verwirrung, um die bedeutendsten Punkte der Illumination zu sehen, an der [23] Universität, am Rathaus, bei Graf Erdödy (jetzt Graf Collowrat) und an vielen andern Plätzen, deren ich mich nicht mehr erinnere, und fühlten uns alle, trotz mancher Rippenstöße, die bei solcher Gelegenheit nicht zu vermeiden sind, und die uns eigentlich nur Lachen erregten, sehr vergnügt.


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Noch habe ich einige kleine Erinnerungen aus jenem denkwürdigen Jahre 1813 nachzutragen, die ich, um den Faden der Erzählung nicht zu unterbrechen, übergangen habe. Schon seit mehr als einem Jahre hatten ich und meine Tochter, welche eine angenehme Stimme besaß, und von einem italienischen Meister nicht für Produktion, sondern zu ihrem eigenen musikalischen Genuß, gründlich war unterrichtet worden, uns bei den Chören des hiesigen Musikvereins, welcher sich damals zu bilden anfing, sie zum Sopran und ich zum Alt einschreiben lassen, und bei den herrlichen Händel'schen Oratorien, Alexandersfest, Jesus Messias, Samson und, wenn ich nicht irre, auch Acis und Galathea mit großem Vergnügen mitgewirkt. Damals war das ganze Orchester 600 Personen stark; man fand das bewundernswert, ungeheuer; jetzt – 25 Jahre später, werden die Haydn'schen Kompositionen von 1000 Mitwirkenden aufgeführt. So hat sich die musikalische Welt oder die Liebhaberei vermehrt! Mir waren jene Musiken, die Proben sowohl als die Produktionen sehr angenehm, die Musik gewährte mir einen hohen geistigen Genuß, und die Versammlung der Mitglieder, worunter ich sehr viele Bekannte zählte, war mir eine erwünschte Gelegenheit, manche wohlbekannte öfter, und manche mir fernerstehende interessante Personen [24] doch zuweilen zu sehen. Gleich jenen Vorlesungen der beiden Schlegel und Hofrat Müllers gewährte auch dies geistigen Genuß mit geselliger Annehmlichkeit verbunden. Bei einer solchen Generalprobe nun im Herbst oder Winter 1813–1814, welche im Reitschulsaale gehalten wurde und wobei der Hof gegenwärtig war, erschien in einer Loge General Ostermann Tolstoi, er, der Held, der wie der Cherub mit dem Flammenschwerte vor dem bedrohten Böhmen bei Kulm gestanden und im Vereine mit unsern Truppen den General Vandamme von unserer Grenze zurückgeschlagen hatte. Daß er bei dieser Gelegenheit den einen Arm verloren, und so die ehrenvolle Beglaubigung seines Heldentums allen sichtbar wurde, erhöhte noch das Interesse an dieser Erscheinung, und ein Beifallssturm: Vivat Ostermann! brach von allen Seiten in dem sehr gefüllten Saale aus, und diese Akklamationen, so von selbst aus den dankbaren Herzen der Wiener aufsteigend, die Erwägung, was dieser Mann für unser Vaterland und für die gute Sache gekämpft, gelitten, regten jedes Herz auf und machten gewiß jedem diesen schönen Vormittag unvergeßlich. Aber auch ihn, den Helden, schien dieser Ausbruch ehrender Freude zu rühren, und die Art, wie er sich überrascht und gerührt dankend neigte, und sich gleich darauf hinter seine Begleiter zurückzog, stellte ihn noch höher in der allgemeinen Achtung.

Um diese Zeit hatte ein besonderes Zusammentreffen von Umständen auch zwischen Frau von Humboldt und mir, – ich kann nicht sagen, Frieden gestiftet; denn ich wenigstens war nie feindlich gegen sie gesinnt, und hatte, weiß Gott, von meiner Seite keine Ursache zu dem frostigen, ja beinahe schnöden Betragen gegeben, welches sie bei ihrem ersten Zusammentreffen mit mir [25] im Hause meiner Freundin von Schlegel und seitdem stets gegen mich beobachtet hatte; aber wir waren einander durch andere genähert worden, und endlich fanden wir uns gegenseitig nicht so übel, wie wir uns – oder sie sich eigentlich mich – zu erst gedacht haben mochten. Fr. von Humboldt war eine berühmte Frau, welche in der großen Welt als Gemahlin des preußischen Gesandten, der selbst ein ausgezeichneter Gelehrter war, als Schwägerin des großen Alexanders von Humboldt Aufsehen gemacht und als eine geistreiche Person, trotz ihrer ungünstigen Gestalt, welche der hübsche Kopf nach meiner Ansicht nicht ganz übersehen machen konnte, Leidenschaften, wie man erzählte, eingeflößt hatte. Es ist so ein eigenes Ding um dies Einflößen von Leidenschaften, um dies Wandeln auf gebrochenen Herzen, wie ich es von einer andern sehr schönen Frau nennen hörte – wenn es von einer verheirateten Frau gesagt wird, und scheint mir, nach meinen altfränkischen Begriffen, nicht wohl mit dem vereinbar, was eigentlich weibliche Würde und eheliche Treue genannt werden soll. Meine Erfahrungen haben mir in einem langen Leben gezeigt, daß so ein Einflößen, so ein Herzbrechen niemals ganz einseitig vorgehen kann. Sei die Frau noch so schön, noch so geistreich, wenn sie wahrhaft tugendhaft ist, wenn sie ihre frauliche Würde, wie sichs gehört, bei jeder Gelegenheit behauptet, so wird sie es freilich nicht hindern können, daß man sie schön oder geistreich oder liebenswürdig findet; weiter aber wird dies nicht gehen, wenn sie nicht selbst Anlaß zu ferneren Schritten gibt, wenn sie selbst gleichgültig bleibt und der Anbeter keine Ermunterung von ihrer Seite findet. Dann verglimmt die entstandene Flamme still und bald in sich selbst. Jene Geistesrichtung, [26] als ein Ritter seiner Dame zu Ehren, die ihn vielleicht kaum kannte oder der er sich nicht nähern durfte, Abenteuer bestanden, die Welt durchzogen und im Tod sich noch glücklich gepriesen hatte, wenn er ihn für sie erleiden konnte – diese schwärmerische Richtung ist mit der Ritterzeit verschwunden, wenn sie je in dieser Strenge und Ausdehnung existiert hat. In unserer Zeit muß dem Anbeter einige Möglichkeit des Gelingens, einige Hoffnung auf Gegenliebe lächeln, wenn eine Zuneigung, entstanden durch den Anblick der Schönheit oder durch den Zauber des Umgangs, bis zur Leidenschaft oder zum »broken heart« sich steigern soll. Darum erregt in mir eine Berühmtheit solcher Art immer einiges Mißtrauen gegen die eigentlichen Grundsätze einer Frau, der man sie beilegt, und im besten Falle könnte ich sie von einiger Koketterie oder, wenn auch unschuldiger, Gefallsucht nicht freisprechen.

Doch ich kehre zu Frau von Humboldt zurück. Es war eine andere, aber in anderer Richtung berühmte Frau, Frau von Wolzogen, Schillers Schwägerin und Verfasserin des lieblichen Romanes Agnes von Lilien nach Wien gekommen und wohnte bei Humboldt. Ein gemeinschaftlicher Freund von uns allen Dreien, Hofrat Büel, Mentor des jungen Grafen Browne, führte die beiden Damen Humboldt und Wolzogen zu mir. Eine gelehrte Frau und Schriftstellerin kennen zu lernen, war mir im voraus nicht angenehm, weil diese Wesen alle, besonders die aus Norddeutschland, damals einen ganz besondern Zuschnitt hatten, selten wahre Frauen, und größtenteils nur »weibliche Naturen« waren, wie damals der Modeausdruck sie bezeichnete, die in kein häusliches, in kein bürgerliches, in kein Familienverhältnis paßten, und meistenteils den Bann, den die Männer [27] auf weibliche Schriftstellerei legten, nur zu sehr rechtfertigten. Es wird manchem, der dies liest, seltsam auffallen, eine Frau, welche selbst schreibt, so über ihre Kunstgefährtinnen reden zu hören; aber es war nun einmal meine individuelle Ansicht, und daß sie sich nicht auf alle erstreckte, denen die Musen ihre Gaben mitgeteilt, läßt sich daraus erkennen, daß Frau von Schlegel, von Weißenthurn, Fräulein Artner und andere schriftstellernde Frauen, die ich später kennen lernte, mir vom ersten Augenblicke an teuer waren und blieben.

Frau von Wolzogen machte meiner Meinung nach ebenfalls eine schätzbare Ausnahme von jener Regel. Sie schien mir einfach, edel, sehr gebildet und ohne Anmaßung; und Körners Andenken, der ihr sowohl als Frau von Humboldt sehr wohlbekannt und teuer gewesen, schien vermittelnd unsere Geister zu vereinigen. Frau von Humboldt, in deren Hause er hier viel gewesen, sprach mit Tränen von ihm, die auch die meinigen hervorriefen, und von nun an war alles Störende zwischen uns verschwunden. Wir sahen uns öfters, und ich hatte mich durchaus in nichts mehr über Frau von Humboldt zu beklagen. Sie ist mir nun auch schon längst vorangegangen, und ich freue mich, ihr hiermit volle Gerechtigkeit widerfahren lassen zu können; denn sie war unstreitig eine Frau von vielem Verdienst, höchst gebildetem Geiste, eine gute Mutter und treue Freundin für die, die sie einmal liebgewonnen. So war sie auch gegen Bedrängte recht hilfreich. Baron Ramdohr, ebenfalls preußischer Gesandter in Neapel oder Rom, war auf seiner Durchreise mit uns bekannt geworden und hatte uns oft besucht. Ich verwahre wirklich noch einige Bücher und Landkarten, die er mir bei seiner [28] Abreise übergeben und nie wieder hat abholen lassen, da der Tod ihn übereilte. Er hatte unlängst geheiratet, eine ziemlich junge, hübsche Frau, und mir aus Rom und Neapel öfters freundlich geschrieben. Wie es aber gekommen, daß seine Frau ihre Wochen hier in Wien und zwar bei Frau von Humboldt gehalten, erinnere ich mich nicht mehr. Nur das weiß ich, daß sie sehr gefährlich krank gewesen, daß seltsame Symptome magnetischer Art ihre Krankheit begleiteten, daß Doktor Koreff sie behandelte, und Frau von Humboldt ihrer mit treuer Freundschaft und großer Aufopferung gepflegt hat.


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Der Krieg war geendigt, Napoleon hatte dem Thron entsagt und lebte auf der Insel Elba. Ludwig der Achtzehnte war in den Tuilerien eingezogen, und in unserer Kaiserstadt sollte der Kongreß gehalten werden, der nun, nachdem Napoleons Eroberungen von dem eigentlichen Frankreich abgerissen waren, die Ansprüche der Fürsten, die Schicksale der Völker ausgleichen und bestimmen sollte. Vom September des J. 1814 an kamen beinahe täglich einer oder mehrere größere oder kleinere Monarchen, Großfürsten, Herzöge usw. an – jene durch Glockengeläut und Kanonendonner dem Volke verkündigt, die übrigen bloß durch das Gerücht bekannt gegeben. Endlich kam der Tag, an welchem die zwei Mächtigsten unter allen, Alexander von Rußland, und Friedrich Wilhelm von Preußen, die eigentlichen Alliierten unsers Kaisers, ihren Einzug zu Pferde unter lautem Jubel des Volkes, zu beiden Seiten unsers Monarchen hielten. Zwei edle Gestalten, schlank, hoch, kräftig – doch jede in Ausdruck [29] und Farbe ganz von der andern verschieden, und beide wieder ebenso weit von der Persönlichkeit unsers Kaisers entfernt, der wie ein ehrfurchtgebietender und doch wohlwollender Vater zwischen kräftigen Heldensöhnen ritt.

Nun wimmelte die Stadt von hohen und bedeutenden Fremden, nun wohnten in der Kaiserburg selbst mehrere der höhern Monarchen, und die andern, sowie die Gesandten derjenigen, welche nicht selbst erschienen, ringsherum in der Stadt und den Vorstädten, wo eben anständige Quartiere nach dem Bedürfnis eines jeden aufzutreiben waren; denn diese Zusammenkunft so hoher Personen und die Wichtigkeit des Zeitpunktes überhaupt, hatte eine Menge Neugieriger sowohl als bei den bevorstehenden Verhandlungen Beteiligter in Wien versammelt. Die Feste begannen – und eines der schönsten, das Schönste meiner Meinung nach, nicht bloß in diesem merkwürdigen Jahre, sondern für lange Zeit, das Praterfest, die Jahresfeier der Leipziger Schlacht am 18. Oktober eröffnete die Reihe, und ward von keinem folgenden übertroffen.

Das angenehmste Herbstwetter begünstigte die im Freien veranstaltete Festlichkeit. Am frühen Morgen war alles in Wien in Bewegung, und wer nur irgend konnte, schloß sich an Offiziere und deren Familien an, um Platz und Gelegenheit zu erhalten, alles zu sehen. So hatten mich meine vieljährigen Freundinnen, die Gemahlin und Schwägerin des Landwehrobersten Baron von Richler samt meiner Tochter unter ihren Schutz genommen, und wir fuhren zeitig in den Prater hinab, wo rechts von der Allee das Kapellenzelt auf einer eigens dazu errichteten Erderhöhung aufgeschlagen war. Ein dichter Nebel lag, wie das im Herbste gewöhnlich [30] ist, auf der Gegend. – Die Monarchen – gleichviel von welcher Konfession, denn sie waren ja hier versammelt, um dem allgemeinen Vater, Schöpfer und Erhalter zu danken und ihn, der für alle derselbe ist, im Geist und der Wahrheit anzubeten – also alle diese hier versammelten Großen der Erde befanden sich auf jener Erhöhung, wo die feierliche Messe gehalten wurde. Kanonenschüsse donnerten bei den wichtigsten Teilen derselben, und ihre Erschütterungen zerteilten die Nebel und zeigten uns die helle Sonne am klaren Himmel; ein schönes Bild des erheiterten Himmels über Europas Schicksalen, der, auch von Kampf und Kanonendonner gereinigt, uns wieder lichte Hoffnungen und ruhige Klarheit zeigte.

Mich hatte schon diese Feierlichkeit sehr erhoben, meine Begleiterinnen teilten mein Gefühl, wir waren alle so vergnügt! Daß wir mehrere Bekannte fanden, mit ihnen sprachen, ihre Ansichten vernahmen, erhöhte das Vergnügen des Tages. Endlich war es Zeit, uns nach dem Lusthaus und der Simmeringer Haide zu begeben. Hier war der Ort der Mahlzeit für die ganze, damals in Wien anwesende Garnison – eine unabsehbare Menge von Tafeln war im Freien aufgeschlagen, an denen mehrere tausend Krieger, meist solche, die den Freiheitskampf mitgestritten, bewirtet wurden. Im Lusthaus selbst waren die Tafeln für die Souveräne und was zu den respektiven Höfen gehörte. Alles war Leben, alles Fröhlichkeit, heiterer Mut und selige Hoffnung einer bessern Zukunft. Die Offiziere speisten meistenteils an demselben Tische mit ihren Gemeinen, und so sah man zunächst dem Lusthaus die Tafeln für Offiziere und Gemeine des berühmten Regiments, einst Dampierre, dann 1809 Hohenzollern, 1813 Großfürst [31] Konstantin – und den Prinzen mitten unter seinen Kürassieren ihr Mahl teilend.

Aber dieses Mahl war gar nicht schlecht. Wir hielten uns zu dem Oberst von Richler, der an diesem Tag unser aller Haupt und Schirmer war, und so wurde uns an der Tafel, an der er mit seinen Leuten aß, ein freilich etwas schmaler Platz gemacht, denn wir waren ja Eindringlinge, und uns von den für alle recht gut, recht schmackhaft und genügend bereiteten Speisen mitgeteilt, so daß wir hinlänglich gesättigt waren. Hier nun, mitten unter gemeinen Kriegern, an einem Tage allgemeiner Freude, bei ungewöhnlich guter Speisung, wo Wein und mitgeteilte Lust und das erhebende Gefühl in jedes Soldaten Brust, auch das Seinige an Mühe, Gefahr und Blut zu dem nun errungenen glänzenden Sieg und beglückenden Frieden beigetragen zu haben, den Mut eines jeden steigerte, wo durch selbst ein lärmenderer Ausbruch dieser Gefühle entschuldigt gewesen wäre – hier wurde kein unziemliches Wort laut, kein roher Ausdruck innerer Lust bemerkbar. Einer fühlte sich in allen geehrt, erhoben – alle bewachten den einzelnen, und so schienen diese Tausende von Geladenen und Zusehern eine einträchtige, geordnete Familie, die sich um ihren Vater versammelte und ein gemeinschaftliches Fest beging.

Es war ein herrlicher, ein unvergeßlicher Tag – durch seine Bedeutung, durch seine erhebende Feier – am meisten durch den schlagenden Beweis, den dieses anständige Benehmen einer zahllosen Menge bei so mancher Anreizung zum Gegenteil von dem Adel gab, der in der menschlichen Natur liegt, dem man nur zu vertrauen, ihn nur vorauszusetzen braucht, um ihn mit Sicherheit hervorzurufen und auf ihn zählen zu können. [32] Wenn der Spruch unbezweifelt wahr ist: Nemo perditae dignitati parcit, so ist es auch wahr, daß edles Vertrauen oft, wo nicht immer, ein entsprechendes Betragen in dem andern bewirkt. O, der Mensch ist nicht so schlimm, als man gewöhnlich glaubt! Aber es ist leichter zu verdammen, als mit Mühe zu bessern, zu versuchen.

Auch schien sich der Himmel unserer Freude zu freuen. Die heiterste Sonne strahlte über den Glücklichen, und einzelne Ausbrüche lauter Anerkennung, gleichsam Episoden in dem schönen Ganzen, wie z.B. der Jubel, mit welchem Fürst Alois von Liechtenstein von seinem Regimente empfangen wurde, trugen bei, Vergnügen und Begeisterung unter dem zahlreich anwesenden Volke zu unterhalten. Erst mit dem sinkenden Tage trennte man sich, und eine schöne Erinnerung an dies Fest blieb gewiß in aller Herzen.


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Auch mein Gemüt war durch diese Ereignisse in große, aber freudige Aufregung gebracht und darin erhalten worden, indem alles, was mich umgab, was ich hörte und sah, zu dieser Stimmung beitrug. Ich dichtete fleißig; ich habe schon erwähnt, daß die beständige Übung in gebundener Rede, ja in Reimen zu schreiben, mir eine solche Leichtigkeit in dieser Schreibart erworben hatte, daß mir fast willenlos, auch in Briefen oder andern Aufsätzen, skandierte Prosa oder Reime in die Feder kamen. Der schmeichelhafte Erfolg, welchen das Trauerspiel »Heinrich von Hohenstaufen« erhalten hatte, und den ich, als größtenteils bloß in den Umständen gegründet, und daher diesen zuzuschreiben, damals noch nicht klar erkannte; mehr noch meines [33] guten Pichlers Freude an meinen dramatischen Arbeiten, hatten mich schon früher bei der Ankunft des Kaisers bestimmt, ein kleines, nur zweiaktiges Stück, unter dem Titel: Wiedersehen, zu schreiben, dessen Inhalt aus der Zeitgeschichte genommen war und daher bloß warme Vaterlandsliebe für Deutschland und Österreich und Widerwillen gegen Frankreich atmete. Am Schlusse hatte jede der handelnden Personen ein Couplet zu sagen, das nach dem Charakter derselben ihre Empfindungen bei der jetzigen Epoche, bei dieser Erneuerung der Zeit – wie man damals glaubte – aussprach. Unter andern hatte Fräulein Adamberger folgende Strophe zu sagen:


Mit fremdem Modeband und fremden Sitten

Beschlich uns auch die fremde Sklaverei,

Ausländisches war nur zu wohl gelitten

Und längst der deutsche Geist schon nicht mehr frei.


Das Couplet wurde sehr schön gesprochen und mit großem Beifall und allgemeinem Klatschen aufgenommen; wie erfolgreich aber diese Anerkennung sei, zeigte sogleich ein Beispiel; denn eine junge Dame aus unserm nähern Freundeskreise, Fräulein Natalie Rothkirch, jetzt Gräfin Beckers, die mit uns in der Loge war, hörte nebenan ein Frauenzimmer ausrufen: Ah! elle a bien raison!

Das Stück, das denn wirklich nur ein Gelegenheitsstück war, wurde auch nur ein paarmal gegeben; dagegen erhielt sich »Heinrich von Hohenstaufen« einige Zeit auf dem Theater und wurde, nachdem er ganz vergessen schien, nach zehn Jahren ungefähr noch einmal an der Wien gegeben.

Noch ein kleines Stück in drei Akten, dessen Stoff aus einem Roman der Madame Cottin: Amélie Mansfield, [34] genommen war, deren Mathilde ich ebenfalls den Stoff zur gleichnamigen Oper entnommen hatte, arbeitete ich in jener fruchtbaren Zeit aus, und endlich wagte ich mich noch einmal an ein größeres Stück, ein Schauspiel: Ferdinand der Zweite, aus unserer vaterländischen Geschichte. Ich war wohl mit dem »Anathema«, möchte ich sagen, bekannt, das seit der Reformationszeit auf diesem historischen Charakter ruht; seit dem nämlich, als die uns in mancher Hinsicht vorausgeeilten Protestanten sich der Geschichtsschreibung bemächtigt, und den ihrigen so gut wie uns Katholiken die Begebenheiten und Charaktere jener Epoche in dem Lichte und der Färbung, in denen sie (die Protestanten) dieselben betrachteten, überliefert haben. Seitdem haben auch wir Katholiken uns gewöhnt, Luther, den Papst, Gustav Adolf und Ferdinand II. ganz so zu beurteilen, wie ihn jene beurteilen mußten und noch müssen, wie sie aber gewiß nicht in dem Maße von Höhe und Tiefe wirklich waren. Es ist keinem Menschen übel zu nehmen, wenn er in seinen Ansichten die Farbe seines Vaterlandes, seines Glaubens, seines politischen Bekenntnisses trägt, ja eine völlige Unparteilichkeit, wenn sie möglich wäre, würde nur einen gänzlichen Mangel an Gemüt voraussetzen. Nur das glaube ich, dürfte die Billigkeit fordern, daß das Gemälde auch durch jemand von der Gegenpartei, von der entgegengesetzten Seite beleuchtet und so ein Gleichgewicht hergestellt werden möchte. Seit 200 Jahren wird Ferdinand II., seine Intoleranz, seine Härte gegen die böhmischen Aufrührer und gegen seine protestantischen Untertanen, denen er nur zwischen Abfall von ihrem Glaubensbekenntnisse oder Auswanderung die Wahl ließ, mit den abschreckendsten Farben [35] geschildert. – Wohl großenteils mit Recht; aber über dieselbe Härte und Intoleranz, welche von akatholischen Fürsten, sowohl gegen Katholiken als gegen die Anhänger derjenigen unter den beiden neuen Lehren, zu der sich jene Fürsten nicht selbst bekannten, geübt wurde, wird großenteils geschwiegen. So wissen vielleicht nur wenige, daß, während unser Ferdinand II. die Protestanten aus allen seinen Staaten vertrieb und ihnen, nur um ihre Vermögensumstände zu ordnen, in dieselben zurückzukehren erlaubte, in Schweden alle Katholiken verbannt, und ihnen bei Todesstrafe jede, auch nur zeitweise Rückkehr in ihr Vaterland verboten war. Erst vor ein paar Jahren hat die »österreichische Zeitschrift« (herausgegeben von Kaltenbaeck) einige Bruchstücke, teils Briefe, teils Berichte aus jener Zeit geliefert, welche zwar Ferdinands II. Benehmen weder rechtfertigen noch entschuldigen, aber zeigen, daß die akatholischen Fürsten sich teilweise dasselbe und noch Ärgeres gegen ihre anders glaubenden Untertanen erlaubt haben. Das hören nun freilich die Protestanten nicht gern, sie sind wohl der Meinung, man sollte so verjährten Streit lieber ruhen oder alles mit dem Mantel der Liebe bedeckt lassen. Mir aber erscheint dies wie Parteigeist, solange noch Ferdinand II. und überhaupt die strengkatholischen Fürsten jener Zeit und ihre Maßregeln allein von den Geschichtsschreibern in das grellste Licht gestellt, und somit alle Gehässigkeit auf sie wie in einem Brennpunkte versammelt wird.

Ehe ich indes manche dieser Daten gesammelt, hatte ich mir selbst aus dem, was ich über jene Zeit gelesen und gedacht, ein Bild von Ferdinands II. Charakter und Handlungsweise zusammengesetzt, das ihn, freilich nicht liebenswürdig, aber doch in vieler Rücksicht [36] achtungswert darstellte. Ich hatte seine Erziehung in dem streng katholischen Bayern, unter der Leitung der Jesuiten, seine Jugendfreundschaft für Maximilian von Bayern, seine Stellung in der damals heftig bewegten Welt, zwischen Reichsfürsten, die mit heißem Eifer entweder für oder gegen den Glauben kämpften, den er bekannte, zwischen mißvergnügten Ständen, die gern unter dem Vorwande der Religion größere Macht an sich gerissen hätten, und zwischen aufrührerischen Untertanen beherzigt und gefunden, daß man jene Zeit überhaupt, nicht bloß durch ein protestantisches Glas betrachten, daß man besonders einen Fürsten des 17. Jahrhunderts in Rücksicht seiner Aufklärung nicht nach dem Maßstabe des 19. beurteilen und dem, der nun einmal mit ganzer Seele glaubt, seine Religion sei die allein selig machende, die Begierde andere, ja alle Menschen dazu zu bekehren, und wenn es nötig wäre, dazu zu zwingen, nicht als eigentliche Grausamkeit auslegen könne. Schiller selbst, dessen sehr eifriger Protestantismus deutlich aus jedem Blatt seiner Geschichten des 30 jährigen Krieges und des Abfalles der Niederlande spricht, läßt dem im Grunde menschlichen und rechtlichen Charakter dieses Fürsten Gerechtigkeit widerfahren. Arndt spricht in einer seiner Schriften mit Achtung von ihm, und so entwarf ich denn nach jenen Beobachtungen und diesen Autoritäten den Plan zu einem Stücke, dessen Inhalt mir ebenso patriotisch, als für Bühneneffekt geeignet schien.

Schon in meiner Kindheit hatte ich von meiner Tante, die sehr gern und sehr angenehm erzählte, die Geschichte von jener, ans Wunderbare streifenden Befreiung Ferdinands II. aus der Hand seiner aufrührerischen Untertanen im letzten Augenblick der dringendsten [37] Not gehört, wie schon ein großer Teil der Bewohner Österreichs und selbst der Residenzstadt bereits der neuen Lehre gehuldigt, wie Graf Matthias Thurn mit dem Heere der böhmischen Aufrührer vor der Stadt lagerte, und nun, ermutigt durch diese Hilfe, die Häupter der mißvergnügten Stände von Österreich, Steiermark und Kärnten in das Zimmer des Kaisers drangen, um ihn zur Unterschrift der Artikel zu bewegen oder – zu zwingen, die der neuen Lehre Duldung, aber auch ihnen größere Rechte und Freiheiten sichern sollten, wie der kühne Thonradl von Ebergassing den Kaiser beim Knopfe seines Wamses faßte und ihm zuherrschte: Nun, Ferdinandl, wirst du unterschreiben? – und wie in diesem Augenblick auf dem Burghof die Trompeten des Dampierreschen Regiments erschollen, das von niemand bemerkt, unter Anführung seines Obersten, Grafen von St. Hilaire, den viele und auch meine Tante Santalier nannten, auf der Donau von Krems herabgekommen, durchs Arsenal in die Stadt marschiert war, und gerade im entscheidenden Augenblick zur Rettung des hartbedrängten Monarchen erschien. Dieses merkwürdige Ereignis, verbunden mit der ebenfalls zu jener Zeit noch in vieler Andenken lebenden Legende von dem wundertätigen Kreuzbild, welches dem, in seiner höchsten Bedrängnis vor ihm betenden Kaiser soll gesagt haben: Ferdinande non te deseram – hatte ich nun oft und stets mit frommer Freude über eine offenbare Gebetserhörung erzählen gehört, möge nun das Kruzifix wirklich gesprochen, oder nur der im Gebet mit Gott vereinigte Kaiser diese tröstende Stimme in seinem Innern gehört haben, wie denn der ebenso gelehrte als fromme Fénélon, sehr oft von dieser Stimme Gottes in uns spricht, die man aber [38] nur hört, wenn die Kreaturen um uns schweigen und wir uns ganz in Gottes Nähe fühlen. Mancher einzelne Zug in den Umständen der Begebenheit sowohl als in des Kaisers Charakter erlaubte mir Anspielungen auf unsere damalige Zeit, wo auch Österreich aus großer Bedrängnis durch Gottes Fügung war gerettet worden und auf unsern Kaiser Franz, und so entstand denn dies Schauspiel, und ich hoffte, es aufführen zu sehen.

Indessen waren der Kongreß hier in Wien, die Feste, die ihn begleiteten und das raschbewegte Leben, das er mit sich brachte, ihren Gang fortgegangen. Es kamen viele und mitunter sehr schätzbare oder merkwürdige Fremde in unser Haus, und unsere Gesellschaftsabende an Dienstagen und Donnerstagen waren sehr besucht. Unter den Bedeutenderen nenne ich vor allen den Grafen Heinrich von Stolberg-Wernigerode, der nicht allein durch seinen Rang, sondern vielmehr noch durch die gediegene Bildung seines Geistes, wie durch ein edles, ebenso anstandsvolles als herzliches Benehmen uns allen ungemein wert geworden war. Daß auch er sich durch Achtung und Wohlwollen an unser Haus gezogen fühlte, bewies die Treue, mit der er nicht allein keinen der Abende versäumte, an denen meine Mutter und ich Gesellschaft empfingen, sondern sehr oft noch an den Sonntagsabenden, wann sich nur wenige und nur die nähern Freunde versammelten, zu uns kam. Unser alter geschätzter Freund, Hofrat Büel, hatte uns diesen vorzüglichen Mann zugeführt, mit dem er schon früher in Norddeutschland bekannt geworden war und Freundschaft geschlossen hatte. Noch bewahre ich als Andenken vom Grafen ein einfaches, aber geschmackvolles Teeservice von Wedgewood, das ich in einem kleinen Gedicht gefeiert habe, welches unser aller wehmütige [39] Erinnerung an die, mit ihm zugebrachten Abende schilderte und sein Porträt, das er mir viele Jahre darnach aus Marienbad zusandte, und das seine gehörige Stelle unter den Porträten werter Freunde in meinem Besuchzimmer einnimmt.

Graf Stolberg gehörte mit Fürstenberg, Ysenburg und vielen andern zu jenen Reichsfürsten, die durch den Kongreß ihre Reichsunmittelbarkeit verlieren, und künftig unter der Landeshoheit größerer deutscher Monarchen stehen sollten. Natürlicherweise ertrugen sie das ungern und waren hauptsächlich dieser drohenden Unterordnung wegen beim Kongreß anwesend. Alle versammelten sie sich in dem Hause der ebenso achtungswerten als geistreichen Fürstin von Fürstenberg-Donaueschingen, die sich an ihre Spitze stellte und, wie man sagt, sehr mutig und besonnen das Wort für sie führte. Auch diese Frau lernte ich näher kennen, wurde von ihr besucht und besuchte sie wieder. Ich zähle noch mehrere dieser Großen, die damals unser Haus besuchten, nur mit ihren Namen auf, weil sie mir, mancher persönlichen Liebenswürdigkeit ungeachtet, sonst eben durch nichts bedeutender wurden: wie den Fürsten von Lippe-Schaumburg und seine Schwester, den Grafen und die Gräfin Münster, die Baronin Münchhausen, die Fürstin Ysenburg und einige andere. Bedeutend in anderer Hinsicht waren mir General La Harpe, der vor nicht langem in der Schweiz starb, Herr Bertuch aus Weimar, Baron Cotta (der Vater), Oberst Hövel, vom Hofe des Fürsten von Hohenlohe, Herr von Rengger aus Aarau, Major von Kronenthal, Schwiegersohn des Schriftstellers Herrn Ewald, von dem er mir Briefe brachte, Dr. Weissenbach aus Salzburg usw.

[40] Es versteht sich, daß es nicht an Festen aller Art fehlte, um den höchsten und hohen Gästen angenehme Zeitkürzung zu bieten, und zugleich ihnen eine glänzende Vorstellung von dem Reichtum und Geschmack des hiesigen Hofes, wie von der Lebensweise der Residenz überhaupt zu geben. Im Theater gab es allerlei eigens für diese Zeit gedichtete Stücke, prächtige Ballette, unter denen eines: »Nina pazza per amore«, durch das unübertreffliche Spiel der Mad. Bigottini wirklich einen hohen Genuß gewährte. Die psychologisch richtige Art, mit der diese Künstlerin den Beginn des Wahnsinns bei Anhörung der Nachricht vom Tode ihres Geliebten, sowie das Erwachen aus diesem Zustande beim Wiedersehen des Totgeglaubten darstellte, wird jedem, der es sah, unvergeßlich bleiben. Der Musikverein, bei welchem meine Tochter und ich im Chor mitsangen, studierte das Oratorium »Samson« von Händel ein, und die Proben gingen sehr gut, so daß bei der Generalprobe uns lauter Beifall der ziemlich zahlreich anwesenden Zuhörer lohnte. Leider fiel dieser und mit ihm alle Freude und Begeisterung des mehr als 600 Personen starken Orchesters bei der Aufführung aus dem einzigen Umstande weg, weil eben diese Aufführung ein glänzendes Fest sein sollte, gegeben dem Hofe und allen seinen erlauchten Gästen. Man hatte die Teilnehmer des Orchesters ersucht, in Putz zu erscheinen, und zwar die Damen in weißen Kleidern, womöglich von Seide, und wer Schmuck besaß, sollte ihn anlegen, die Herren im schwarzen Frack und Claquehüten. So erschienen wir auch im herrlich, weiß mit Silber dekorierten und aufs blendendste erleuchteten Saal der k.k. Reitschule, der überhaupt in diesem Winter gewöhnlich zu den Festen verwendet wurde, wozu [41] er sich seiner Größe und Architektur wegen wohl schickte, und wenn es nötig war, sich mit den Redoutensälen in leichte Verbindung bringen ließ.

Der Saal war schon ziemlich gefüllt, und das Instrumentalorchester bereits an seinem Platz, als das Corps der Sänger und Sängerinnen die Stufen von der Galerie herab in gemessenen Reihen schritt, alle Frauen in weißen, alle Männer in schwarzen, zierlichen Anzügen. Sopran und Alto machten den Anfang. Sie schritten nebeneinander – zwei Damen hoch könnte man sagen – und bei den Bänken angelangt, die ihnen angewiesen waren, wandte sich der Sopran rechts, der Alt links und nahm seine Plätze ein. Ihnen folgten die schwarzgekleideten Herren und teilten sich ebenso in Tenor und Baß. Es soll, wie man uns später erzählte, sehr gut ausgesehen haben. Als alles placiert war, ließ der Hof nicht lange warten. Die ganze glänzende Versammlung so vieler regierender Häupter erschien in den, für sie prächtig dekorierten Logen, das Orchester erhob sich von seinen Sitzen, ein dreimaliger Beifallssturm brach los durch den ganzen, von Menschen gefüllten Saal, es war wieder ein recht erhebender Moment, aber er machte das Unglück unsers armen Oratoriums. Da der Hof mit Klatschen war empfangen worden, durfte dieses Beifallszeichen für niemand und für nichts anders mehr gebraucht werden, und so gingen denn die schönsten Tonstücke unbeklatscht, und wie es schien, ungewürdigt vorüber. Es verbreitete diese scheinbare Nichtbeachtung eine erkältende Atmosphäre über die Künstler. – Lust und Eifer ließen nach, und ich, die als ein Mitglied des Chores freilich auf keinen persönlichen Beifall hatte rechnen können, fühlte dennoch mit den übrigen das Entmutigende, das in dieser gänzlichen [42] Stille und scheinbaren Teilnahmslosigkeit des Publikums lag. Diese Bemerkung machte es mir begreiflich, welchen unendlichen Wert der Beifall des Publikums für den Schauspieler haben und wie selbst dessen Leistungen dadurch gesteigert werden müssen. Wahr ist es zwar auch, daß der Text und Gegenstand unsers Oratoriums, trotz aller Gediegenheit der Komposition und des tiefen Ausdruckes der einzelnen Tonstücke sich nicht recht für eine festliche Gelegenheit paßte. Es war der Tod Samsons – dieser aufopfernde Tod, der von Vaterlandsliebe und Rachegefühl herbeigeführt, seine Feinde mit sich selbst zugleich zugrunde richten wollte, und der letzte, wunderschöne Trauerchor: »Pflücket Lorbeern, Blumen pflückt, streut sie auf des Helden Grab«, konnte nicht anders als einen höchst ernsten, feierlichen Eindruck zurücklassen, und so war es mitunter auch wohl die Wahl dieses Oratoriums selbst, was seinem Zwecke, Freude und Heiterkeit zu verbreiten, hinderlich war. Auch sagte mir Pichler, als wir nach geendigter Musik nach Hause gingen: »Wenn ihr einmal an einem Karfreitag etwas aufführen wolltet, so könntet ihr diesen Samson wählen«, und ich mußte gestehn, daß er nicht unrecht habe.


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Die glänzendsten Feste schienen mir stets jene, bei welchen das gar so schöne Lokal des Reitschulsaales in Anspruch genommen wurde, z.B. jene Bals parés, bei welchen die Räume dieses und der beiden Redoutensäle sowie der dazugehörigen Zimmer kaum für die geladene Menge hinreichte, und der Hof nebst allen seinen hohen und niedern fürstlichen Gästen, im größten Staat, durch die ehrerbietig weichende und ebenfalls glänzend [43] geputzte Versammlung in einer Polonaise daherschritt, der Kaiser von Rußland unsre Kaiserin, unser Kaiser die russische Kaiserin führend, dann die Könige von Preußen, Dänemark, Württemberg, Bayern usw. nebst zahllosen Großfürsten, Herzögen, Prinzen usw. Unstreitig waren Figur, Anstand, Haltung und sogar auch die Jahre viel vorteilhafter bei den beiden mächtigsten Monarchen, die unserm Kaiser damals am nächsten zur Seite standen, und auch mit ihm die Hauptpersonen des großen geschichtlichen Dramas waren, das sich damals vor den Augen der bewundernden Mitwelt entrollte. Dennoch fühlten nicht bloß wir Österreicher, sondern auch die Fremden gestanden es zu, daß in der schmächtigem Person, in der einfachem Haltung unsers Kaisers eine Art von fürstlicher, ja wahrhaft kaiserlicher Würde, mit väterlichem Wohlwollen vereint, sich zeigte, welche ihn in einem geziemendern Licht als seine beiden jüngern, wohlgebildeten Gefährten erscheinen ließ, wovon der eine, Kaiser Alexander, zu viel vom modernen Elegant, der andere, Friedrich Wilhelm von Preußen, zu viel von steifer Soldatenhaltung hatte.


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Da, nachdem die deutsche Freiheit wieder erkämpft, das Fremdenjoch gebrochen war, in vielen die Hoffnung lebte, alles oder doch das meiste im Vaterland wieder in die alte Ordnung zurückkehren zu sehen, und da um jene Zeit die, schon früher durch die Bemühungen der Gebrüder Schlegel und Tiecks, der Brüder Grimm, Hagens, La Motte Fouqués usw. erregte Liebe fürs romantische Mittelalter und seine Sitten sehr weit und tief in Deutschland um sich gegriffen hatte: so war es ganz natürlich, daß auch die deutsche Tracht, und [44] eigentlich eine Nationaltracht, die uns von dem gefährlichen Einfluß der französischen Moden losgemacht hätte, zur Sprache kam und für viele ein Lieblingsgedanke wurde. Im Karneval wurde ein Karussell im Reitschulsaale gehalten, wobei Kavaliere und Damen in prächtigen Kostümen des Mittelalters erschienen und jene Gedanken noch mehr belebten. Die damalige Männertracht wurde im Vergleich mit den Anzügen der frühern Jahrhunderte übel kleidend und vor allem höchst unmalerisch befunden, und der Wunsch, sie nach jenen schönern Mustern, sowie auch die Frauentracht umzubilden, lebte in vielen Gemütern auf und bildete sich auch in dem meinen mit Liebe aus. Ich schrieb einen Aufsatz über deutsche Frauentracht, dem Herr Bertuch einen Platz in seinem, damals sehr beliebten Modejournal einräumte, und überdies hatte ich mir vorgenommen, auf einer Redoute, wo alle hohen Herrschaften gegenwärtig sein würden, mit meiner Tochter, in solcher mittelalterlichen Tracht maskiert, zu erscheinen und ein Gedicht auszuteilen, das ich zu diesem Behuf gedichtet und das die Ermahnung unsrer Ahnfrauen sein sollte, welche mit Verwunderung jenes Karussell geschaut, und ihre Enkelinnen aufforderten, sich deutsch zu kleiden. Das Gedicht begann so:


Lautlos und ruhig haben wir geschlafen,

Dreihundert Jahr in unsrer Ahnen Gruft,

Als plötzlich Fackelschein und Glanz der Waffen,

Und Zymbelnklang uns aus dem Schlummer ruft.

Die Neugier treibt uns an uns aufzuraffen,

Uns umzuschauen in der freien Luft.

Da sehn wir wundernd, fürstliche Gestalten

Ein Ritterspiel nach unsrer Weise halten.

– – – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – –

[45]

O holde Tracht! Bild guter, frommer Zeiten!

Wir grüßen dich mit freudigem Gefühl!

Ein schönres Dasein kann sich jetzt bereiten,

Wir hoffen schon von deinem Anblick viel.

Doch siegreich mußt du erst ins Leben schreiten,

Nicht dienend bloß zu Mummerei und Spiel.

Die Deutsche muß im deutschen Kleide prangen,

Nicht mehr vom Ausland das Gesetz empfangen.

Das sollen unsre Fürstinnen uns geben,

Mit hohem Sinn für deutschen Frauenstand.

Sie, die als Vorbild längst schon vor uns schweben,

Geliebt, verehrt in dem beglückten Land.

Nicht Modetorheit nur ist unser Streben,

Mit mancher stillen Tugend ist's verwandt.

Es kehrt ein beß'rer Geist und frömmre Sitte

Vielleicht mit dieser Tracht in unsre Mitte.


Das war unser Vorsatz, aber wie es mir denn in jener Zeit öfters erging, den Tag vor der Redoute bekam ich wieder Migräne und Kopfweh, und an den Ball war nicht zu denken. Die Verse aber erschienen in einer Zeitschrift.


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So waren wir denn alle recht fröhlich und guter Dinge, und ich hatte beabsichtigt, einen kleinen Ball zu veranstalten und bereits viele meiner Bekannten dazu geladen, als ein durchaus nicht vorzusehender Fall sich ereignete, von dem ich mit Schiller sagen konnte:


Wie wenn auf einmal in die Kreise

Der Freude mit Gigantenschritt

Geheimnisvoll nach Geisterweise

Ein ungeheures Schicksal tritt.


Meine Mutter war bisher, trotz ihrer hohen Jahre – sie zählte 75 – sehr gesund und an Körper und Geist außerordentlich kräftig gewesen. Nur ihre Augen waren seit langer Zeit schon so schwach, daß sie allem Lesen und Schreiben entsagen und ich für sie das Amt [46] eines Sekretärs und Vorlesers hatte übernehmen müssen. Dies kostete mich viele Zeit, und wenn ich in früheren Jahren oft mit Betrübnis daran gedacht hatte, warum mir denn Gott nur ein einziges Kind geschenkt? so konnte ich mich später damit trösten, daß ich unmöglich die Sorge und Pflege für mehrere Kinder mit dem, was ich meiner Mutter zu leisten hatte, vereinbaren hätte können.

Um jene Zeit nun, im Jänner 1815, befand sie sich noch sehr wohl und erfreute sich des bewegten Lebens um sie herum, nur ein ganz unbedenklicher Husten, der sie seit einigen Tagen befallen hatte, störte sie bisweilen im Reden und in der Nachtruhe. Wir hatten ein Buch bekommen, das von magnetischen Kuren und Erscheinungen des Somnambulismus handelte. Wunderbare Krankheitsgeschichten waren darin nicht bloß erzählt, sondern mit Zeugnissen von berühmten und glaubwürdigen Männern, Ärzten u.a. belegt und bestätigt. Meine Mutter, die überhaupt sich sehr auf die realistische Seite neigte, verwies das alles, sowie das meiste, was sich nicht den Sinnen klar beweisen läßt, ins Reich der Träume. Mich hatten manche Erfahrungen ebenfalls sehr argwöhnisch gegen solche magnetische Wunderkuren und Erscheinungen gemacht, jedoch dünkte es mich, man könnte solche Autoritäten, wie das Buch sie anführte, ohne zu große Anmaßung nicht als ganz unstatthaft verwerfen; daher las ich meiner Mutter das Buch vor, und wir teilten uns unsre Gedanken und Bemerkungen darüber mit. Je weiter wir lasen, je mehr reizten die wunderbaren und wirklich oft aller ruhigen Beurteilung und Erfahrung spottenden Erscheinungen in diesen Krankheitsgeschichten meiner Mutter überhaupt nur zu leicht beweglichen Zorn. Sie ereiferte sich [47] sie sprach heftig, und obwohl ich ihr recht gab und durch keinerlei Widerspruch ihren Eifer erhöhte, womit sie sich gegen diese Träumereien, wie sie ihr schienen, aussprach, geriet sie doch, eben durch jenes heftige Sprechen, in ein wirklich erschreckendes Husten, so daß ich sie bat, für jetzt lieber mit ihren, gewiß richtigen Bemerkungen inne zu halten und mich nur ruhig weiter lesen zu lassen. Das geschah denn auch – der Husten stillte sich wieder, und der Tag verging wie jeder andere still und ruhig. Abends – es war ein Dienstag, und daher kamen ziemlich viele Besuche – erwähnte meine Mutter gegen einen jungen Arzt, Dr. Pohl, der in unsrer Nachbarschaft wohnte und unser Haus fast täglich besuchte, des Buchs vom tierischen Magnetismus, das ihr den Morgen so viel Ärger verursacht hatte. Auch Dr. Pohl war großenteils, obgleich nicht so unumschränkt, als sie es vielleicht gewünscht hatte, ihrer Meinung. Der Gegenstand wurde nochmals mit großem Eifer und mit aller der Heftigkeit erörtert, welche, wie ich oft bemerkt habe, gerade diejenigen Menschen in ihre Debatten legen, welche die Sache des kühlen Verstandes gegen Schwärmerei, Begeisterung, Aberglauben usw. zu führen meinen, was ich Intoleranz der Vernunft nennen möchte, die oft unnachsichtiger als der Enthusiasmus selbst ist. Abermals reizte die Heftigkeit des Sprechens den Husten auf, und abermals war meine Mutter gezwungen, das Gespräch abzubrechen. Glücklicherweise trat ein junger Offizier, Baron E., ein, der Sohn meiner verehrten Freundin, den der Frieden und der Kongreß ebenfalls nach Wien zurückgeführt hatte, und bot der Gesellschaft einen Gegenstand angenehmer Unterhaltung, indem er sehr hübsche, in zierliche Verse gekleidete [48] Rätsel vorlas, die jeder sich zu erraten bestrebte, aber nur wenige trafen, indes meine Mutter mit ihrem gewohnten Scharfsinn alle leicht löste. Es ist dies an sich ein unwichtiger Umstand, aber ich führe ihn nur an, um zu zeigen, wie geistig kräftig meine gute Mutter sich damals befand, und wie fern wir alle davon waren, zu ahnen, was zwei Stunden darnach sich zutragen sollte.

Die Gesellschaft verließ uns um die gebräuchliche Zeit. Meine Mutter war noch aufmerksam auf kleine Vorbereitungen zum Nachtmahl, welches Dr. Pohl und mein Schwager Karl Kurländer, der bei uns lebte, gewöhnlich mit uns einnahmen. Fröhlich setzten wir uns alle um den Tisch; – da ließ meine Mutter den Löffel fallen, Pichler befahl seiner Tochter ihn aufzuheben; mit Erstaunen sahen wir, daß meine Mutter, die sonst freundlich für jede kleine Leistung zu danken pflegte, dies geschehen ließ, ohne sich zu regen – allmählich sank ihr Kopf tiefer – wir blickten sie erschrocken an – es hatte sie der Schlag gerührt!

Wie mir in diesem Augenblicke war, kann ich nicht beschreiben. Es war der erste solche Fall; ich sollte noch einen zweiten erleben, der in vieler Hinsicht noch schmerzlicher, aber weil nicht so unvorbereitet, doch minder erschütternd war. Wir trugen die Mutter auf das nächste Bett. Sie gab kein Lebenszeichen, die rechte Seite war gelähmt, Dr. Pohl äußerte sich sogleich sehr bedenklich. Zwei nahe Ärzte, die gerufen wurden – der eine von ihnen Dr. Rust (später Präsident in Berlin), an den mich unser gewöhnlicher Arzt und alter Freund, Baron Türkheim, wenden hieß, da er selbst unwohl war – erklärten dasselbe, was Dr. Pohl angedeutet hatte, daß hier nichts zu hoffen sei. Doch [49] versuchten wir Einreibungen, Ziehpflaster, Arzneien. Das einzige Zeichen wiederkehrenden, obwohl nur dumpfen Bewußtseins, war der Widerwille, mit dem meine Mutter alles von sich stieß, was man ihr geben oder anbringen wollte. Sprechen konnte sie gar nicht, und ihre Sehorgane, welche sonst durch jedes hellere Licht beleidigt worden waren, vertrugen jetzt ohne zu zucken den Schein der Kerzen, die man ihr bei der Hilfeleistung ganz nahe bringen mußte. Späterhin – als der erste Tumult vorüber war – legte ich mich in meiner Trauer um sie zu ihr aufs Bett, und sie umschloß mich mit ihrem linken Arm und drückte mich innig an sich. Das war das einzige Zeichen von hellerm Bewußtsein – der Abschied zwischen Mutter und Kind – für dieses Leben! Dort find ich sie wieder.

Die Nacht verging, wie man es denken kann. Am andern Morgen kam Baron Türkheim sogleich, aber sein Ausspruch lautete ebenso trostlos: Hier ist nichts mehr zu tun! Nun wünschten wir, daß ihr die Sterbesakramente möchten gereicht werden können. An ein Beichten und Kommunizieren war nicht zu denken, aber die Letzte Ölung konnte ihr gegeben werden, und so ging mein guter Pichler eilig zu seinem Bruder, dem Pfarrer auf der Laimgrube, meldete es in unserer Pfarre, daß ein Fremder die geistliche Zeremonie verrichten werde, und wir konnten nur zu sehr aus der gänzlichen Apathie, mit der meine Mutter alles geschehen ließ, und gar nicht über die Anwesenheit meines Schwagers befremdet schien, schließen, wie vollkommen gelähmt auch ihre Geisteskräfte sein mußten.

So vergingen noch zwei ängstliche, traurige Tage. Nicht genug danken konnte ich es meinen Freundinnen, die in dieser trüben Zeit mir redlich beistanden und [50] einigen jungen Ärzten, die damals unser Haus besuchten, und meine sterbende Mutter bei Tag und Nacht nicht verließen. Am 21. Jänner endlich abends um elf Uhr verließ ihr Geist seine unbrauchbar gewordene Hülle oder schien sie wenigstens verlassen zu haben. In derselben Nacht aber war es mir plötzlich, als lege sich etwas Weiches, Warmes dicht an mich, und drücke sich fest mir an Hals und Brust. Mir war dabei sehr wohl und doch schauerlich zu Mute. Ich erwachte – es war gegen drei Uhr, und mein erster Gedanke rief mir jenen Augenblick zurück, wo meine Mutter mich vor drei Tagen zum letzten Male an sich gedrückt hatte. Fern davon, etwas behaupten zu wollen, was nur auf Ungewissen Mutmaßungen und Möglichkeiten beruht, gibt es mir doch einigen Trost, daß niemand mir beweisen kann, es sei nicht möglich, daß der Geist meiner Mutter, der vielleicht damals, als die Ärzte sie für tot erklärten, ihren Körper noch nicht wirklich verlassen hatte, erst dann entschwebt sei, und der Tochter ein nochmaliges Zeichen ihrer Liebe habe geben wollen.

So hatte ich denn beide Eltern sterben gesehen und Gott, der überhaupt, solange ich denken kann, gütig für mich gesorgt und mir die Last der auferlegten, dem Menschen unausweichbaren Leiden nie hatte zu schwer werden lassen, hatte es so gefügt, daß ich bei meines Vaters Tode bereits vermählt, in der Liebe meines Mannes und in meinem Kinde großen Trost gefunden hatte, und jetzt stand mir diese schon erwachsene Tochter zur Seite, die, rein, liebenswürdig und vielversprechend herangeblüht, mir zu großer Hilfe und Unterstützung in jener trüben Epoche war.

Das Leichenbegängnis – das an die Stelle des projektierten Balles getreten war – war endlich auch vorüber. [51] Ein paar Wochen vergingen, und obwohl ich nicht in Gesellschaften ging, empfing ich doch wieder die Besuche meiner Freunde, aber durch lange Zeit ward in dem geselligen Kreise die Lücke gefühlt, die die Abwesenheit einer so geistreichen und in jeder Hinsicht verehrungswürdigen Frau in demselben gelassen hatte, und nur langsam fand sich alles wieder in sein altes Geleise, bloß daß meine Gesundheit, die schon lange etwas gelitten hatte, durch die letzten Schrecken noch mehr erschüttert wurde, und es mehrere Monate dauerte, ehe ich mich ganz erholen konnte.

Die erste Teilnahme an den Vorgängen außer dem Hause ward mir hinsichtlich meines Stückes: »Ferdinand II.« zugemutet, das schon vor längerer Zeit bei der Direktion des Hofburgtheaters (welche damals Graf Ferdinand Palffy führte) eingereicht war.

Die Polizeihofstelle hatte es, nach den damaligen Vorschriften, der Staatskanzlei zur Einsicht übergeben. Hier fand es an dem böhmischen Patriotismus des Barons von Bretfeld, der die Ahnen seiner Landsleute nicht gerne als Rebellen und Unruhstifter auf dem Theater sehen mochte, ein unübersteigliches Hindernis; obwohl eigentlich gar kein böhmischer Rebell auftrat, Zierotin und Schlick von dieser Nation dem Könige getreu blieben und die Widerspenstigen, welche in dem Stück erschienen, österreichische Stände waren, wie denn auch wirklich Ebergassing und Tschernembl den König am härtesten bedrängt und ihn zum Unterschreiben zwingen hatten wollen. Man ersuchte mich, selbst zum Staatskanzler Fürst Metternich zu gehen und ihn um die Bewilligung zur Aufführung des Stückes zu bitten, das bereits einstudiert und probiert war worden. Ich tat es ungern. Sollizitieren war mir von jeher [52] ein sehr widerndes Geschäft, und wenn es mir selbst galt, am widrigsten. Zudem war ich in tiefster Trauer, und dieselbe Ursache, wel che mir den schwarzen Anzug aufgedrungen, machte mich noch abgeneigter, mich mit außerhalb liegenden Dingen zu befassen. Indessen, Graf Palffy wünschte es, die Schauspieler, wenigstens jene, die dankbare Rollen hatten, wünschten es auch, und so ging ich denn, schon im voraus mir wenig Erfolg versprechend, denn der Sinn der Böhmen ist unbeugsam und viel früher hatte einer unserer nähern Freunde, der eben auch dieser Nation angehörige Regierungsrat Ridler, sich gegen mich selbst stark und unverhohlen über den Inhalt meines Stückes ausgesprochen, und ich glaube nicht zu irren, wenn ich die erste Motion dagegen ihm zuschreibe.

Fürst Metternich empfing mich sehr gnädig, aber aus seinen Äußerungen, daß er zwar nachsehen und das Stück selbst lesen werde, im übrigen sich aber auf seinen Zensor verlassen müsse – eben diesen Baron Bretfeld, einen Gelehrten, aber nach dem allgemeinen Urteil äußerst engen und beschränkten Geistes – verstand ich nur zu deutlich, daß hier nichts zu hoffen sei, und so war es auch. Das Stück wurde auf dem Hoftheater nie aufgeführt, die böhmische Partei war stets dagegen, und nur lange darnach ging es in einer argen Verstümmelung als Christian von Dänemark, ein- oder höchstens zweimal an der Wien über die Bretter. In dieser Gestalt, abgestreift von jeder Individualität, jedem Lokal-, jedem vaterländischen Interesse war es ein wahres Unding. Ich ging gar nicht hin, es zu sehen, denn ich hätte mich nur geärgert.

Der Februar 1815 war vergangen. Mein Haus wurde nach wie vor von meinen hiesigen Bekannten und vielen [53] Fremden besucht, alles schien geordnet, der Friede geschlossen; wir sahen einer ruhigen Zukunft entgegen, als eben wieder so plötzlich wie damals in meinen Familienverhältnissen nun ein für das Allgemeine viel überraschenderer und entmutigender Schlag fiel und alle kaum beschwichtigten Stürme erneuerte.

Es war ein Abend, an dem ich Gesellschaft erwartete. Schon waren mehrere Damen und Herrn versammelt, als Graf Stolberg mit einer Miene, die Verstimmung und Mißmut aussprach, eintrat, sich an seinen gewohnten Platz neben dem Sofa setzte, und wenig oder keinen Anteil an der Unterhaltung nahm. Während ein lebhafteres Gespräch die übrige Gesellschaft in Anspruch nahm, flüsterte er mir leise zu: »Wissen Sie schon die Nachricht, die eben gekommen? Napoleon ist von Elba entflohen, und der Krieg beginnt von neuem«. Noch sprachen wir – ich halb ungläubig und zweifelnd darüber, weil solche Gerüchte manchmal doch nur Börsespekulationen oder dergleichen absichtlich Verbreitetes sind. Bald aber trat Major Kronenthal vom badischen Hofe ein, er näherte sich uns, und bestätigte die gefürchtete Kunde, die nun durch noch andere Eintretende erzählt und der ganzen Gesellschaft zu ihrem nicht geringen Schrecken mitgeteilt wurde. In diesem Augenblicke war ich beinahe froh durch den Gedanken, daß meine arme Mutter, die durch die Wechselfälle der langen Kriege so oft und so tief erschüttert worden war, die Katastrophe, von der sich damals nur Unglück fürchten ließ, nicht erlebt hatte.


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Indessen, das Schlimme, was wir gefürchtet hatten, und mit uns halb Europa, ging nicht in Erfüllung. Die [54] verbündeten Armeen sammelten sich aufs neue und rückten gegen Frankreich vor – die hundert Tage begannen, verliefen – die Schlacht von Waterloo wurde geschlagen, alles kehrte in seine vorige Lage zurück, und das furchtbare Meteor, das über Europas Horizont emporgestiegen war, versank in eine einsame Insel des weiten Ozeans, um dort nach einigen Jahren, ohne fernere Einwirkung auf die erschütterte Welt, zu verlöschen. Wunderbares Geschick! Fingerzeig der Vorsicht, die sich dieses gewaltigen Werkzeuges bedient hatte, um ihre Pläne mit dem Menschengeschlecht auszuführen! Nun bedurfte sie seiner nicht mehr und ließ sein Dasein spurlos enden, das durch mehrere Jahre der Leitstern, der Lebenspuls, das unumschränkte Gesetz Europas gewesen war!


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Um den Faden der Erzählung nicht zu unterbrechen, habe ich einige Ereignisse übergangen, die in dieselbe Zeit fielen, und eigentlich nicht in den Gang der Begebenheiten gehörten, die aber dennoch, besonders das letzte, welches Einfluß auf mein inneres Leben hatte, einen Platz in diesen Erinnerungen verdienen.

Eine ganz unerwartete und höchst erfreuliche Erscheinung war mir an einem Vormittag im Beginne des verflossenen Winters von 1814–1815 das plötzliche Eintreten eines lange entbehrten und sehr werten Freundes, des damals im königlich sächsischen Finanzministerium angestellten Herrn Streckfuß, der, wie sich die Leser dieser Blätter erinnern werden, in den Jahren 1805 und 1806 zu den nächsten Freunden unsers Hauses und des kleinen Kreises, in dem wir lebten, gehört hatte. Die Auseinandersetzungen, welche der [55] Frieden in den Finanzen der beteiligten Länder nötig gemacht hatte, waren die Veranlassung, welche unsern Freund im Gefolge eines sächsischen Beamten, von Miltitz, wenn ich nicht irre, damals nach Wien führte. Unsere und des ganzen Freundeskreises Freude war sehr groß, nur leider war die Anwesenheit, die seine Geschäfte ihm hier gestatteten, viel zu kurz für unsere und wohl auch für seine Wünsche. Bald darauf trat er aus den sächsischen in preußische Dienste, erhielt eine Anstellung in Berlin, ebenfalls im Finanzdepartement, stieg mit mehreren Orden geschmückt dort von Stufe zu Stufe, und lebt nun als Vater von vier wohlgeratenen Kindern und seit kurzem als Großvater in einer sehr bedeutenden Stellung, die er ganz allein seiner Geschicklichkeit, Redlichkeit und Anstrengung verdankt, und zu der er sich vom unbedeutenden Hofmeister in einem Privathause durch eigene Kraft aufgeschwungen hat. Auch hat er, trotz eines ganz ernsten und nüchternen Berufsfaches, nie seine frühere Beschäftigung mit den Musen auf die Seite gesetzt, und seine Übersetzungen der italienischen Klassiker, sowie manche eigenen Arbeiten zeugen von der strengen Benützung seiner Zeit, sowie von seiner ausgezeichneten Geisteskraft.

Sonderbar ist es, daß, vielleicht zufälligerweise, mir so viele Dichter bekannt sind, die im finanziellen oder Kameralfache ihre Berufsarbeit suchten und fanden. So sind nebst unserem verehrten Streckfuß in Berlin hier die beiden unvergeßlichen Brüder Collin bei der hiesigen Hofkammer angestellt gewesen; so gehören jetzt zu dieser Stelle: Grillparzer, Bauernfeld, Baron Schlechta, Baron Nell und der zwar nicht als Dichter, aber als Maler ausgezeichnete Herr von Habermann. [56] Daß viele unserer bedeutenden Dichter Ärzte sind oder waren, wie Haller, Lenau, Frankl, Hornbostel, Feuchtersleben u.a. kann weniger befremden, da die Arzneikunde mit den Wissenschaften und der gesamten Literatur näher verwandt, und nach der Meinung der Alten dem Schutze desselben Gottes, des Apollo untergeordnet ist.

Sehr passend reiht sich an diese Erwähnung aus der Dichterwelt die Erinnerung an den Sänger der Söhne des Tals und der Weihe der Kraft, den schwärmerischen, aber gewiß achtbaren Werner an, der, als ich ihn 1807 kennen lernte, Kammersekretär in Warschau war. An einem frühern Orte habe ich auf den passenden Zeitpunkt verwiesen, um von seiner Erscheinung und Wirkung als Priester und Prediger zu sprechen. Dieser Zeitpunkt war nun im Jahr 1814 und 1815 gekommen. Als Katholik und Geistlicher war er nach einer Abwesenheit von mehreren Jahren wieder nach Wien gekommen, hatte sich auf der Kanzel hören lassen, viel Aufsehen erregt und noch mehr Widerspruch gefunden. Endlich erfuhr ich, daß er (ich glaube es war im Herbste 1814) in einer benachbarten Vorstadtkirche predigen würde. Ich ging hin, ihn zu hören und fand im Bewunderns- und Tadelnswürdigen alles ganz so, wie verständige Freunde es mir schon geschildert hatten. Ergreifende Gedanken, erhabene Schilderungen, höchst poetische Anschauungen wechselten auf das Grellste mit ganz nüchternen, für den Ort gar nicht passenden Bemerkungen, mit fast lächerlichen Details ab. So erwähnte er in eben jener Predigt (in der Kirche im Liechtenthal) der Zerstörung Jerusalems durch den Kaiser Titus – den nämlichen Kaiser Titus, fügte er erklärend hinzu, den ihr hier auf dem Theater in der [57] Oper vorstellen seht. Späterhin, wo von der Unzulänglichkeit einzelner guter Regungen oder verdienstlicher Handlungen als einem Anspruch auf ewige Belohnungen die Rede war, sagte er: »Das wäre ebenso, als wenn der Bettler, der im Evangelio ohne hochzeitliches Kleid erschienen war, seine Lumpen mit kostbaren Spitzenmanschetten, die er angehabt, hätte rechtfertigen wollen.«

Viele, viele solcher grellen und durchaus unpassenden Bilder, Gedanken, Bemerkungen enthielten seine Predigten, und besonders liebte er es, die Tagesgeschichte und seine eigene Person mit einzuflechten. Er hatte aber ungeheuren Zulauf, und ich war ebenfalls unter seinen fleißigen Zuhörerinnen, obwohl meine Entfernung von der Stadt mir dies erschwerte. Denn damals war ich zwar nicht jung, aber rüstig, kraftvoll und munter, und ein Gang von der Alservorstadt zu den Ursulinerinnen oder den Augustinern, bei denen er öfters predigte, das Warten und Stehen in der Kirche bis die Predigt anfing und während derselben, und dann die Rückkehr zu Fuße waren mir wenig beschwerlich.

Bei den Ursulinerinnen hörte ich ihn einst des heil. Augustinus mit vieler begeisterten Wärme erwähnen, und des Herzeleids, das dieser nachmals so große Mann in seiner Jugend durch ein wüstes Leben seiner Mutter gemacht hat. Werner schilderte dies mit lebhaften Farben, und schien tief ergriffen. Da klopfte ein mir unbekannter, aber sehr anständig gekleideter Mann mich sachte auf die Schulter, und sagte: Das ist seine eigene Geschichte; und ich hörte später, daß dieser Unbekannte mir die Wahrheit gesagt habe.

Einer andern Predigt bei den Ursulinerinnen erinnere ich mich auch noch, wo er von den sieben heiligen[58] Sakramenten sprach und sie, nach dem Text des Tagesevangeliums von den fünf Broten und zwei Fischen, mit diesen auf höchst sinnreiche Weise verglich. Fünf von diesen heiligen Gnadenmitteln nämlich, sagte er, sind gleich dem Brote eine Nahrung für jedermann: die Taufe, Firmung, das Sakrament des Altars, die Buße und die letzte Ölung; zwei davon sind, wie die Fische, eine nicht jedem gedeihliche Speise: die Ehe und Priesterweihe. »Im Orient,« fing er dann mit gehobener Stimme an, indem er, sich auf die Kanzel mit beiden Armen lehnend, sich den Zuhörern gleichsam zu nähern und ihnen seine Rede recht ans Herz legen zu wollen schien – »Im Orient gibt es eine Frucht, die der heiße Sonnenstrahl zu solcher Reife und Köstlichkeit auskocht, daß sie den Geschmack und die Vorzüge aller übrigen Früchte in sich vereinigt, dies ist die Ananas – und so ist auch eins der Sakramente, welches alle Gnaden der übrigen in sich schließt, und dies ist das Sakrament des Altars.«

Gar schön verglich er ein anderes Mal am Feste Allerheiligen den Himmel mit einem herrlichen Blumengarten, in welchem die Rosen der Märtyrer, von ihrem heiligen Blut gefärbt, prangen; die Lilien der Jungfrauen blühen; die heiligen Einsiedler wie bescheidene Veilchen sich verbergen, und endlich die Sonnenblumen der Patriarchen sich sehnsüchtig der kommenden Heilssonne zuneigen, noch ehe sie erschienen war.

Besonders merkwürdig war mir eine solche Predigt bei den Jesuiten »am Hofe«. Ich war mit der Baronin Richler wie schon öfters hingegangen, um Werner zu hören. Es war im Advent über den Text jenes Evangeliums von den Predigten Johannis, welche Pharisäer und Sadduzäer zu hören gingen, freilich nicht um sich [59] zu erbauen, oder die Ermahnungen zu benützen. Mit nicht ganz bescheidener Hindeutung, wie mich dünkt, verglich er sich selbst dem heil. Johannes, indem er, unter den Sadduzäern die Weltmenschen verstehend, sagte: sie seien in Johannis Predigten gegangen, um sich zu desennuyieren und die Pharisäer (die Geistlichen nämlich) um zu sehen, wie er das Handwerk treibe. Bei dieser Stelle, so wie später bei einer andern, wo er von dem heil. Franz Xaver sagte, er sei in seiner Zeit der beste Tänzer in Paris gewesen, sah ich mehrere Personen und besonders einige junge Männer, die nicht weit von uns standen, lachen. Ich selbst fühlte mich nichts weniger als erbaut durch solche Stellen, und bei der von den Sadduzäern stieß ich meine Gefährtin leise an, indem ich sagte: das gilt uns!

Und in derselben Predigt, deren Beginn mir so wenig passend und des Gegenstandes würdig vorgekommen war, erhob sich derselbe Mann zuletzt in wahrer, begeisterter Andacht, indem er von der göttlichen Langmut sprach, welche den Sünder lange erträgt, und oft an sein Herz klopft, um ihn zur Sinnesänderung, zur Buße einzuladen. »Wird sie ihn aber immerfort ermahnen? wird sie gar nie aufhören, an sein Herz zu pochen? – Nein! Nein! rief er endlich mit donnernder Stimme: es kommt ein Tag, wann sie den Sünder verläßt und ihn dem ewigen Verderben preisgibt.« Hierauf schilderte er dies mit furchtbaren Farben; dann erhob er beide Hände gefaltet wie im brünstigen Gebet, und rief: Ich will hoffen, ja ich will zu Gott hoffen, daß dies noch bei keinem der hier Anwesenden der Fall ist usw. – Der plötzliche Schwung, den seine Rede bei dieser Wendung des Ganzen nahm, die Energie, mit der er von jenem: Nein! Nein! angefangen sprach, riß alle [60] Zuhörer unwillkürlich mit sich fort, und ich sah Tränen in den Augen derselben jungen Leute, die im Anfange der Predigt gelacht hatten.


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Von diesem Geistlichen und ausgezeichneten Manne, und von Erinnerungen religiöser Art ist der Übergang zu einem verwandten Gegenstande, nämlich zu der Einwirkung, welche, ungefähr um eben diese Zeit, von einem andern, ebenfalls diesem Stande angehörigen Manne auf mein Inneres und auf die Richtung meines Gemütes geschah, natürlich und passend.

Der Leser wird sich erinnern, daß mein Gemüt von Kindheit an nicht unfromm gewesen, daß religiöse Gedanken und Gefühle mich gern und oft beschäftigten und daß ich besonders, seit ich mehr von mir selbst abhing, auch die äußern Gebräuche der Kirche, in welcher ich geboren und erzogen worden, gern mitmachte. Es war eine Zeit, da dies so sorgfältig auch von mir nicht geschah; es war jene Zeit des öffentlich zur Schau getragenen Unglaubens, als das Beispiel und die Grundsätze von Personen, die sonst die allgemeine Achtung im höchsten Grade verdienten, so wie eine falsche Scham für beschränkt oder gar für bigott zu gelten, mich dann und wann abhielt, die Zeremonien des katholischen Gottesdienstes, insofern sie in meine Willkür gestellt waren (denn die Messe am Sonntag versäumte ich schon des Beispiels für meine Hausleute wegen niemals), mitzumachen. In meiner Eltern Haus kamen viele Leute, die entweder geradezu gar nichts glaubten, oder die, wenn ein wahrhaft religiöses Gefühl in ihnen wohnte, durchaus alle geoffenbarten Wahrheiten verwarfen und eigentlich reine Deisten waren. Es gab unter diesen [61] aber so manche höchst verehrungswürdige und strengrechtliche Menschen, daß ich sehr natürlich zu der Ansicht gelangen mußte, man könne auch ohne positive Religion recht pflichtmäßig und würdig handeln. Hierzu gesellten sich denn so viele Eindrücke, die ich durch Umgang und Lektüre erhalten, und die mir das Priestertum, die Hierarchie, den furchtbaren Kampf dieser letztern mit der weltlichen Macht als etwas ansehen machten, das nachteilig auf die Menschheit eingewirkt. Vieles trug dazu der Umstand bei, daß in der Periode des Kaisers Josef selbst die Bücher, aus denen die Jugend ihren Unterricht empfing, großenteils von Protestanten verfaßt waren, welche überhaupt seit 300 Jahren, nämlich seit der Reformation, das große Wort in Deutschland führten. So lernten wir Geschichte aus Schröckh, Naturgeschichte und Geographie aus Raffs Büchern, und sehr wohl erinnere ich mich noch, daß schon damals meine patriotische Gesinnung sich beleidigt fühlte, wenn bei Ortschaften in Böhmen oder Sachsen, die durch irgend eine Schlacht zwischen Österreich und Preußen berühmt waren, die Siege der Preußen immer mit vollem Munde gepriesen, und die unsrigen nur kurzweg angezeigt wurden. Dies war im Grunde doch auch der Antagonismus der Reformation gegen die katholische Religion; denn Preußentum und Luthertum ist so ziemlich eins, und der König von Preußen wird eigentlich von den Protestanten als der Defensor ihres Glaubens, ja als ihr Papst betrachtet!

So tief und innig auch mein religiöses Gefühl schon seit meiner Kindheit gewesen: so hatte es doch oft Zeiten gegeben, in denen dies Gefühl durch wenige äußere Übungen, wie oben gesagt, unterstützt und angefacht, durch schädliche Lektüre erschüttert, durch Zweifel beunruhigt [62] worden war. Mehr als einmal hatte sich dasselbe durch gnadenvolle Einwirkungen göttlicher Langmut wieder zurecht gefunden, und nachdem die politischen und äußern Stürme sich rings um uns zu legen anfingen und ein still geregelter Lebenslauf beginnen konnte, fing auch mein Geist an, sich nach innerer Ruhe und Beschwichtigung in gegründeter Sicherheit zu sehnen. Sichtbar hatte die Vorsicht die Begebenheiten, die Geister der Menschen, den Sinn der Gewalthaber zu einem großen, guten Zwecke hingeleitet. Diese Einwirkung war nicht zu verkennen, und der anerkennende Dank dafür öffnete das freudige Herz den milden Einflüssen der Religion, so wie schon früher Druck und Unglück uns gedrängt hatten, uns vom Allzumateriellen zur Idee zu erheben, wie eben unser Dichter Z. Werner gesungen hatte.

Es bildete sich in mir ein bestimmtes Sehnen nach den Tröstungen und Gnadenmitteln der Religion aus, und schon einige Zeit vor der Periode des allgemeinen Friedens setzte sich der Entschluß in mir fest, mich um einen würdigen Beichtvater für meine Tochter und mich umzusehen, weil ich dies für einen wesentlichen Teil der Seelenführung ansah, und damals, so wie jetzt, überzeugt bin, daß ein vernünftiger Geistlicher hierin sehr viel tun kann, und daß daher die Wahl des geistlichen Arztes mit eben der Aufmerksamkeit und Gewissenhaftigkeit geschehen sollte als die des leiblichen.

Hier aber zeigten sich mir sogleich nicht unbedeutende Schwierigkeiten. Durch die Erziehung, welche ich im Hause meiner Eltern empfangen, durch den steten Umgang mit Menschen von hoher geistiger Ausbildung, durch die Ansichten und Grundsätze, welche ich diese so oft hatte äußern hören, war ich selbst auf[63] einen Punkt der geistigen Ausbildung geführt worden, der es mir höchst wünschenswert machte, in dem Priester, welchen ich zu meinem Beichtvater erwählen sollte, einen überlegenen Geist zu finden, der in wissenschaftlicher Tiefe mir voranginge, in moralischer würdig und rein vor mir stände, und in religiöser weder durch krasse Mönchsbegriffe meinen Verstand noch durch modernen Rationalismus mein warmes Gefühl verletze. Wohl fühlte ich, daß bei dem Kulturstande, der im allgemeinen unter unserer Geistlichkeit herrschte und vermöge dessen sie sich unter die beiden letztgenannten Nuancen teilte, jene Forderungen schwer zu erfüllen sein werden. Und dennoch empfand ich bestimmt, daß ich einen solchen Beichtiger finden müßte, wenn mein Zweck, die Wirren und Zweifel, welche meinen Verstand beunruhigten, geschlichtet zu sehen und auf einen festen Pfad des Heils zu gelangen, erreicht werden sollte. Oft wandte ich mich deswegen im Gebete an Gott, und er verließ mich nicht, der gütige Menschenvater und Hüter, er sandte mir, wessen ich bedurfte, und das kam so von ungefähr, so wie von selbst, daß ich es für nichts anderes als eine wahre Manifestation der göttlichen Gnade ansehen kann, wodurch mir kund ward, wessen ich damals so sehr bedurfte.

Herr von Hammer – damals noch nicht mit allen den Würden, Orden und irdischen Gütern überhäuft, die ihm seitdem wohl verdient zuteil geworden sind – war doch schon damals (im Jahre 1813 oder 1814) einer unserer ausgezeichnetsten Gelehrten, und das darf ich mir wohl mit frohem Selbstbewußtsein sagen, ein treuer Freund unseres Hauses. Da seine Schriften, wie sein Umgang mich stets einen Mann voll religiösen Gefühls, wenngleich vielleicht nicht in ganz christlichem Sinne [64] in ihm ahnen ließen, so brachte ich, als ich einmal allein mit ihm sprach, die Rede auf meinen Wunsch, einen verständigen und wahrhaft frommen Geistlichen zu finden, dem ich meine und meiner Tochter Seelenführung anvertrauen könnte. Hammer nannte mir sogleich einen Pater Marcellian aus dem Franziskanerorden, und bei Nennung dieses Namens standen plötzlich alte Erinnerungen aus der Josefinischen Periode in mir auf; da dieser Geistliche durch seine geläuterten Religionsbegriffe wie durch seine Gelehrsamkeit sich manche Verfolgungen von seinen Ordensbrüdern zugezogen hatte, ohne darum wie ein Eulogius Schneider, Ignaz Feßler, oder Reinhold den drückenden Fesseln durch einen verbrecherischen Schritt zu entfliehen, und in noch verletzenderer Gewalttat auch den angestammten Glauben zu verläugnen. Dies alles erwog ich jetzt bei mir – Hammers Empfehlung, eines so würdigen und freundlich gesinnten Mannes, die Erinnerung an den Ruf, den sich Pater Marcellian vor mehr als 25 Jahren schon in Wien erworben, selbst die Beständigkeit und Kraft, womit er unter einem harten Drucke ausgeharrt, indes jene sich ihm widerrechtlich entzogen – alles dies bestimmte meinen Entschluß. Durch des schätzbaren Freundes Vermittlung näherte ich mich dem würdigen Seelsorger und fand alles in ihm, wessen mein Geist und mein Gefühl bedurften.

Schon lange ist mir der fromme Mann in eine bessere Welt vorangegangen, und ich war und bin außerstande, ihm alles das zu lohnen, was ich ihm für mich und mein einziges geliebtes Kind verdanke; denn sein strenger Orden und seine eigene unabhängige Gesinnung machten es mir unmöglich, ihm meinen Dank durch irgend eine kleine Aufmerksamkeit oder Gefälligkeit zu beweisen. [65] Aber nachrufen darf ich ihm denselben in das Reich des Lichts, dessen verkannter Bürger er damals schon war, und dessen volle Seligkeit er jetzt, in dasselbe aufgenommen, genießt, aus warmer, tiefer Seele; und seine milden Züge, die mich von der Wand, meinem Schreibtische gegenüber, mit schmerzlichem Leidenszuge anlächeln, rufen mir alle die trost- und erhebungsvollen Augenblicke, die sanften Ermahnungen, die weisen Lehren, welche ich von ihm hörte, ins Gedächtnis zurück.

Wie ein erfahrner und einsichtsvoller leiblicher Arzt schnell die Krankheit und ihre Ursache erkennt, so erkannte auch dieser vielerfahrne und psychologisch-scharfsichtige Mann den Gemütszustand seiner Pflegebefohlenen sogleich, sprach mit Bestimmtheit aus, was in ihren Seelen vorging, und gab ihnen die besten Vorschriften an die Hand, wie sie den offnern oder geheimem Feind in der eigenen Brust bekämpfen sollten. Oft habe ich mit Staunen und stiller Beschämung ihn die geheimsten Falten meines Gemüts entwickeln und mir über das, was in mir vorging, Belehrung geben hören. Auch hatte er in diesem Fache außerordentliche Praxis, denn nicht allein im Beichtstuhl, sondern auch an Kranken- und Sterbebetten, beim Unterrichte der Jugend und in trüben Familienangelegenheiten war P. Marcellian als vielfach gesuchter, geprüfter Rat, Tröster, Lehrer und milder Freund in ganz Wien bekannt und geehrt.

Durch ihn wurde ich mit den Schriften der christlichen Weisen St. François de Sales und Fénélon bekannt, die mir nun seit mehr als 25 Jahren eine unerschöpfliche Quelle des Trostes, der Belehrung, Erbauung und des Segens geworden sind. Ihnen verdanke ich [66] so viel Gutes, so viele Befestigung auf dem zuerst wankend betretenen Pfade, so viel Kraft und Ergebung, daß ich auch ihnen in die Auen des Friedens meinen Dank nachrufen möchte, wenn ich nicht bedächte, daß sie sowohl als mein guter, väterlicher Freund P. Marcellian dort besser als wir hier im Dunkeln Tappenden wissen, wie es mit uns steht und was wir von ihnen gelernt oder nicht gelernt haben.

Vor und noch mehr nach P. Marcellians Tode, der im Jahre 1821 oder 1822 erfolgt sein mag, da ich ihn in der letzten Zeit seiner Hinfälligkeit nicht mehr sehen und sprechen konnte, habe ich wieder längere Zeit nach einem Nachfolger desselben gesucht und endlich einen zwar nicht vollkommenen Ersatz für den Hingegangenen, aber doch nacheinander ein paar würdige Priester in unserer Nachbarschaft gefunden, die bei vielen guten Eigenschaften dem Verewigten aber an ausgebreiteter Gelehrsamkeit und ehrwürdigem Alter nachstanden. Es ist dies letzte, wenn man es genau betrachtet, wohl eine Nebensache, indessen, da ein höheres Alter auch längere Erfahrungen und ruhigere Übersicht des Lebens mit sich bringt, und das Verhältnis des Beichtigers zum Beichtkinde doch auf eine gewisse Art ein väterliches sein soll, so gab das weit vorgerückte, das meinige überragende Alter des P. Marcellian ihm auch noch diesen Vorzug. Aber freilich muß man, wenn man sich nahe an den siebzig Jahren befindet, darauf verzichten, leicht einen auf diese Weise väterlichen und noch in seinen Seelsorgerpflichten tätigen Mann zu finden.


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Es war ungefähr um diese Zeit, als ich durch die Briefe meines Freundes, Baron Merian, die erste Kunde [67] von zwei der merkwürdigsten Erscheinungen in unserer literarischen Welt, nämlich von den beiden englischen Dichtern Walter Scott und Byron erhielt. Er schickte mir einige Gedichte des Letztern in Abschrift, und schilderte mir die Arbeiten des erstem auf eine so richtige und anerkennende Weise, daß ich noch viel mehr Verlangen fühlte, Walter Scotts Dichtungen kennen zu lernen als die des Lords, obgleich die tiefe und dunkle Glut, welche aus diesen sprühte, und der Reichtum von Gefühlen, Gedanken und Bildern in denselben jeden Leser mächtig ergreifen mußte. Sobald ich konnte, suchte ich mir die versifizierten Erzählungen Scotts: den »Gesang des letzten Minstrels«, den »Fürst der Inseln«, die »Dame vom See«, zu verschaffen, und kaufte sie mir sogleich. Später erhielt ich dann, teils durch Herrn von Hammer, dem ich zuerst von diesen beiden Schriftstellern sprach, teils durch andere, den Ivanhoe, Waverley und so nach und nach, wie sie erschienen, wenigstens die meisten seiner Romane, und jeder war ein hoher, tief ergreifender Genuß für mich. Es war nicht bloß die Treue und Echtheit in der Schilderung vergangener Zeiten und Zustände, welche uns gleichsam mitten in jene längst verschwundene Welt versetzten; es war auch die Natur und tiefe psychologische Wahrheit dieser Charaktere und Seelenstimmungen; es war endlich der Reiz einer spannenden Verwicklung und überraschenden Auflösung der Begebenheiten, der oft echt dramatische, ja ich möchte sagen, theatralische Effekt mancher Situationen, vor allem aber war es das edle Gemüt, das rein menschliche Gefühl des Autors, welches mich beruhigend, zuversichtsvoll, ermunternd und erhebend aus seinen Dichtungen ansprach. Man fühlte unwillkürlich, daß nur ein durchaus guter,[68] rechtlicher und wahrhaft einsichtsvoller Mensch so denken, so gerecht, so klar und so mild zugleich die Menschen beurteilen und schildern könne, wie Walter Scott sie in seinen Werken auffaßt und darstellt. Da ist kein so verruchter Verbrecher, so lächerlicher, verkehrter Charakter, der nicht durch einen Faden rein menschlichen Gefühls, durch einen Zug weicher Empfindlichkeit mit der bessern Menschheit zusammenhinge; da ist hinwieder kein noch so edler, erhabener Mensch, der nicht durch irgend eine Schwäche oder eine zu wenig gebändigte Leidenschaft der menschlichen Gebrechlichkeit ihren Zoll entrichtete. Im allgemeinen aber muß jedes richtig gebildete Gefühl sich von Walter Scotts Schilderungen zu seiner Persönlichkeit hingezogen fühlen, und wahrlich alles, was uns Zeitungen, Journale und gediegnere Werke in Schilderungen von Walter Scotts häuslichem und Familienleben erzählen, was und wie wir es durch seines, selbst hochachtbaren Schwiegersohnes, Herrn Lockharts, Buch erfahren, dient nur dazu, den Eindruck, den Scotts Schriften und seine daraus hervorgehende Persönlichkeit auf ein unbefangenes Gemüt machen müssen, zu bestärken, zu beleuchten und zu rechtfertigen.

Von ganz anderer – und in mancher Hinsicht von ganz entgegengesetzter Art war der Eindruck, den, wenigstens auf mich, Lord Byrons Schriften gemacht haben. Blendend, überwältigend, erschütternd wirkten im ersten Augenblick seine Schilderungen, seine leidenschaftlichen Bilder und Ausdrücke auf mich. Sie drangen tief in mein Innerstes, sie regten es auf, sie beschäftigten meine Phantasie. Aber dennoch fühlte ich ebenso bestimmt ein Grauen vor diesen heimlichen Untaten, [69] verbotenen Gelüsten, rastlos wilden Leidenschaften, Meuchelmorden und offenbaren Verbrechen, welche diese Dichtungen schilderten und in denen zu wühlen, sie den Tätern nachzuempfinden, sie recht deutlich auszumalen, der Verfasser eine Art von dämonischer Lust zu finden schien. Diese Bewunderung und dieses Grauen zugleich löste sich, wenn ich länger darüber nachsann, in eine Art von mitleidigem Gefühl auf, daß so ein hochbegabter Geist, durch widrige Schicksale, vielleicht durch unbändige Leidenschaften, durch einen über alles sich aufbäumenden Stolz zu dieser innern Zerrissenheit und Menschenverachtung gekommen war, in welchen Stimmungen er gleichsam der Stifter jener unseligen Sekte der Zerrissenen unserer Zeit, das Vorbild der vom Unglück verfolgten Dichter geworden ist. Traurig ist es nur für die Hörer oder Leser dieser nachgeahmten Klagen, daß wohl die Unzufriedenheit, die ungemessenen Ansprüche, der aufbäumende Stolz überall – aber leider nur selten oder nur in einzelnen Anklängen etwas von dem hohen Genius und dem göttlichen Feuer seiner Dichtkunst bei seinen Jüngern und Nachbetern zu finden ist. –

Was uns des Lords Freund, Herr Thomas Moore, in seinen »Notices« über den Verewigten sagt, erklärt manches im Charakter und rechtfertigt oder entschuldigt manches in den Handlungen des jungen, leidenschaftlichen, hochbegabten und hochgestellten Mannes, der ganz allein in der Welt stand, nicht einmal die Liebe seiner Mutter besaß und kein befreundetes Haus hatte, in dem er sich heimisch fühlen konnte. Aber ich muß gestehen, daß die Liebe und Sorgfalt, mit welcher Moore jeden Lichtpunkt im Charakter seines Freundes hervorzuheben, jeden Schatten zu verbergen oder zu [70] entschuldigen strebt, mir unwillkürlich den Darsteller werter als den Gegenstand seiner Darstellung gemacht hat.

Von den Werken Byrons, die ich zuerst las, zog mich der »Corsair« sehr an, und es machte mir Vergnügen, mich an die Übersetzung desselben zu wagen. Da ich mich natürlich sehr mit diesem und den übrigen Gedichten Byrons beschäftigte, wurde es mir sehr wahrscheinlich, daß Lara eine Fortsetzung des Corsair sei, daß der Fremde, der bei dem Feste, wie er Lara erblickt, 'tis he! ausruft, in ihm den Konrad erkannt habe, und der treue Kaled niemand als die unglückliche Gulnare sei, welche ihm in Männerkleidung gefolgt war. Da ich eben zu jener Zeit auch Scotts Werke las und ein paar Kleinigkeiten daraus übersetzte, drängte sich mir die Bemerkung auf, daß es eigentlich zweierlei Englisch gäbe, oder vielmehr, daß nach der Sinnesart und Richtung der Autoren, der eine sich mehr der französischen oder lateinischen Bezeichnungen der Dinge, der andere mehr der deutschen bedient, ich möchte sagen: der eine schreibe ein normännisches, der andere ein angelsächsisches Englisch; denn aus diesen zwei Grundstoffen ist diese Sprache zusammengesetzt, wie denn auch sehr viele Worte, besonders die, welche konkrete Gegenstände bezeichnen, zweierlei Ausdrücke haben, z.B. Waterfall und Cataract, Well und Fountain, Earl und Count, House und Mansion usw. usw.

Scott bedient sich mehr der angelsächsischen, Byron der normännischen Bezeichnungen. Des Ersten Ausdruck, Ansicht, Sinnesart ist überhaupt dem Deutschen näher, und so habe ich es viel leichter gefunden, etwas von ihm ins Deutsche zu übertragen, und manchmal [71] Wort für Wort und in einzelnen Fällen sogar den Klang der Reime mit herüberschreiben zu können.


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Ich ergreife den Faden der Erzählung wieder im Frühling von 1815, als ich mich anschickte, die Baronin Zay, ihrer freundlichen Einladung gemäß, in Buchen auf ihrem Schlosse, einige Stunden hinter Preßburg, zu besuchen, wohin sie mich diesen Winter, den sie des Kongresses und seiner Freuden wegen in Wien zugebracht, eingeladen. In ihrem Hause traf ich denn auch mit großem Vergnügen die beiden Schwestern Therese und Wilhelmine Artner wieder, die ich in Zinkendorf das Jahr vorher kennen gelernt, und Frau von Neumann, die Gemahlin eines Offiziers der kaiserlichen Garde, eine Frau, ebenfalls in mittleren Jahren wie Therese, und eine Jugendfreundin derselben, die mit ihr vereint, die Feldblumen auf Ungarns Fluren, gesammelt von Nina und Theone, herausgegeben hatte. Marianne, so hieß Frau von Neumann, war eine sehr verständige, gebildete und in jeder Rücksicht achtungswerte Frau, aber jene anspruchslose Güte, jenes offene und doch so bescheiden milde Wesen, welches in Theresens Erscheinung lebhaft und innig ansprach, besaß Marianne nicht. Es war eben eine andere Eigentümlichkeit, so wie Marie (die Baronin Zay) und Wilhelmine Artner ebenfalls ganz verschieden von jenen beiden, und doch alle vier in den Grundzügen, nämlich in Trefflichkeit der Denkart, hoher Geistesbildung und praktischer Herzensgüte ganz überein kamen. Mir war dieser Kreis den Winter über sehr wert und nahe befreundet geworden. Ich folgte also willig der freundlichen Aufforderung, besonders da der Verlust meiner [72] teuren Mutter mir in diesem Stück eine traurige Freiheit gegeben hatte.

Die Schlacht von Waterloo war vorüber, und die Nachricht davon hatte großen Jubel hervorgebracht. Mir persönlich hatte indes dieser Jubel lächerlicher Weise Schaden getan. Ich war um einen echten Schal mit einer Schalhändlerin im Verkehr. Die Ware war in Einlösungsscheinen zu bezahlen, und an einem bestimmten Tage sollte ich den Schal erhalten und das Geld hergeben. Nun aber kam gerade an diesem Vormittag die Siegesnachricht, der Kurs stieg, die Einlösungsscheine hoben sich bedeutend im Wert und mein Schal kostete nachmittags um 50–60 fl. mehr als er noch morgens gekostet haben würde. Aber wie gern ertrug man solchen Verlust, und fand ihn eigentlich komisch! Auch erwähne ich seiner nur, um einen Begriff von dem damaligen Schwanken unserer finanziellen und daher auch ökonomischen Verhältnisse zu geben, die in so manchen Familien bedeutenden Verlust oder Entbehrungen verursachten.

Ein langjähriger und mir sehr geschätzter Bekannter, der Feldkriegskommissär von Romano, den ich seit meiner frühesten Jugend kannte, da er der Sohn werter Freunde meiner Eltern und sogar meines Vaters Taufpate war, nach dem er auch Franz von Sales hieß, Wilhelminens von Artner Freund und längst designierter Bräutigam, bot sich uns zum Begleiter nach Buchen an, wo er seine Geliebte und künftige Braut besuchen wollte. Sehr gern ergriffen meine Tochter und ich dieses Anerbieten. Pichler konnte uns, seiner Geschäfte wegen, nicht begleiten, aber er versprach, uns in Preßburg abzuholen, und so reisten wir an einem herrlichen Juniusmorgen mit Landkutscherpferden ab, und fuhren gleich [73] hinter der Leopoldstadt über die Donau, dann durchs Marchfeld bis Schloßhof, wo wir über Mittag blieben. Der Stabsoffizier, welcher hier befahl, war Romanos Freund, er führte uns in den kaiserlichen Stallungen und endlich im Schlosse umher, das nach dem Geschmack der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vom großen Prinzen Eugen mit Feldherrnblick auf einer weiten Fläche, die Umgegend dominierend, erbaut worden ist und das er einst bewohnte. Wir besahen seine Zimmer, die wohl seitdem – es war nahe an hundert Jahre – manche Veränderungen mochten erfahren haben. Aber ein Schrank von altväterischer Form, der jetzt als Rokokko schon deshalb geschätzt werden würde, bewahrte noch bestimmter, kostbare Andenken des erhabenen Mannes, dem er einst gedient. Der Schrank war ein sogenannter Aufsatzkasten, der unten Schubladen, dann ein schiefes, herauszulegendes Pult, und loben in dem eigentlichen Aufsatze viele größere und kleinere Fächer und Schubladen hatte, auf denen noch die Etiketten von des Prinzen eigener Hand, auf schmale Papierstreifen geschrieben, angebracht waren. Es ist ein eigenes Gefühl, nach so langer Zeit ein solches Überbleibsel der Vergangenheit und solche Spuren einer ehemaligen berühmten Wirksamkeit zu betrachten, das sorgfältig bewahrt, geradeso aussah, als ob der Prinz – der Held, dieser Sieger von Zenta und Salankemen, die Hauptstütze der österreichischen Macht – gestern noch an demselben gesessen hätte.

Nachdem wir mit vielem Vergnügen diese Anstalten der Gegenwart und diese Reliquie der Vergangenheit betrachtet hatten, setzten wir unsern Weg gegen die von fern sichtbaren Berge oder vielmehr Hügel fort, an deren jenseitigem Fuße Preßburg liegt. Im Sommer, [74] bei schöner Witterung ist diese Straße nicht unangenehm zu befahren, obgleich dem Auge auf der weiten Fläche des Marchfeldes wohl viele Dörfer und eine gedeihliche Kultur, nirgends aber – eben jenes Schloßhof ausgenommen, und dies auch nur seiner Erinnerungen wegen – irgend ein schöner oder merkwürdiger Punkt sichtbar werden. Im schlechten Wetter ist sie des fruchtbaren, aber weichen Bodens wegen sehr schlecht.

So wie man sich der Hügelreihe nähert, die meist mit Wein bepflanzt ist, wird die Gegend hübscher. Es war Abend, als wir hinkamen, alles in freundlichen Schimmer gekleidet, und sonderbar! wir bemerkten sehr viele Distelfinken, die hier in der Nähe des Weges herumhüpften und durch ihr buntes Gefieder dem Auge angenehm auffielen. Endlich hatten wir auf dieser Straße die Höhe des Weingebirges erreicht, und nun lag jenseits eine recht schöne Landschaft zu beiden Seiten der Donau verbreitet vor uns, drüben die Auen und weiter hin eine unabsehbare Fläche, diesseits die freundliche Stadt, am Flusse hin gedehnt, und mit ihren Häusern, aus denen der altertümliche Dom hervorragt, auf den Hügeln hinauf bis zum gespenstischen Schloß steigend, das – seit dem Brand 1801 nicht wieder aufgebaut, ohne Dach, ohne Abteilung der Stockwerke, ohne Fenster und Türme, wo »des Himmels Wolken hoch hineinschauen« – mir wie ein großes schauerliches Totengeripp vorkam, das von seiner Höhe auf die lebenvolle Welt unten hinabblickt. Das alles vom Abendgold verklärt, sah sehr einladend aus. Wir übernachteten in Preßburg in einem reinlichen Wirtshause, in dem Bedienung, Küche, Sprache usw. uns durch nichts erinnerten, daß wir nicht mehr in Österreich, sondern in [75] einem Lande von ganz verschiedener Nationalität waren. Alles war hier auf deutschen Fuß eingerichtet, und freilich liegt diese zweite Hauptstadt des ungarischen Reiches ganz auf der Grenze und kaum ein paar Stunden tiefer im Lande.

Am andern Morgen setzten wir unsere Reise fort. Noch war die Gegend um uns angenehm. Die Auen der Donau begleiteten uns bis Lanschitz, und hier führt noch der Weg wie durch einen Park bis zum gräflich Esterhazyschen Schlosse, dessen zierlicher Turm aus Baumwipfeln hervorragt. Hinter Lanschitz verlieren sich die freundlichen Bäume, wir sahen uns auf einer weiten, unübersehbaren Ebene, nur linker Hand zogen sich die grünenden Hügel, auf welchen St. Georgen, Bibersburg, Modern liegen, in einiger Entfernung hin. Alles übrige war eine fruchtbare, mit mehreren Ortschaften besetzte, aber übrigens sehr einförmige Fläche. Nur später erquickten das Auge die reichen, bunten Farben der Mohnfelder, die eben in schönster Blüte standen und dem Lande das Ansehen eines Gartens gaben, indem sie es zugleich zieren und den Bewohnern ihre so beliebte Speise, den Mohnsamen liefern, der zu allerlei Mehlspeisen und Bäckereien, meist mit Honig vermischt, verwendet wird. Endlich tauchten eine Menge Kirchtürme aus der weiten Fläche auf, und zu gleicher Zeit zeigten sich uns rechter Hand liebliche, begrünte Höhen, die letzten Ausläufer der mächtigen Karpathen, die sich hier in der Ebene verlieren. Auf diesen Höhen erschien ein niedliches Schloß Freistadtl, dem Grafen Erdödy gehörig, und am Fuße desselben strömt, wie unser begleitender Freund uns berichtete, jetzt noch von uns nicht gesehen, der Waagfluß hin, ein bedeutender, aber wilder und regelloser Bergstrom, der oft ungeheure [76] Verwüstungen anrichtet und, wie die Ungarn sagen, von seinem irren, ungezügelten Laufe – vagari – den Namen Vagus hat, den die Deutschen mit Waag wiedergeben. Jene vielen Türme zeigten sich bald als die kleine, aber hübsche Stadt Tyrnau, damals noch der Sitz des Domkapitels von Gran, das, als im 16. Jahrhundert diese Stadt nebst Ofen und vielen andern Bezirken in die Macht der Türken gefallen war, sich von Gran nach Tyrnau gezogen. Überhaupt begegnet man in Ungarn vielen geschichtlichen Erinnerungen, aber meist trauriger Art, von innerlichen Kriegen und auswärtigen barbarischen Eroberungen, wie denn sogar behauptet wird, daß die Türken einst bis Freistadtl gekommen, und der runde, halbzerfallene Turm, den man daselbst sieht, noch ein türkisches Überbleibsel sei.

Nach drei Viertelstunden erreichten wir den Ort unserer Bestimmung, das Schloß Bucsan, das recht freundlich zwischen den hohen Pappeln und andern Bäumen des großen Gartens in einer Niederung vor uns lag. Daß wir mit großer Herzlichkeit aufgenommen wurden, und die vierzehn Tage unsers Aufenthalts aufs Angenehmste und nur zu schnell vergingen, war zu erwarten. Außer Theresen und Minna von Artner trafen wir auch eine verwitwete Schwester derselben, Frau von Witte an, eine der trefflichsten Frauen, die ich gekannt, und Mutter von zwei Söhnen, einem Stiefsohn, der bereits Offizier war, und einem eigenen Jüngern, welcher noch studierte. Alle diese Personen gehörten der protestantischen Kirche an, aber kein Wort, keine Bemerkung berührte je diese verschiedene Stellung, und Fürst Ernst von Schwarzenberg, einer der Graner Domherrn, ein höchst liebenswürdiger Gesellschafter und ebenso schätzbarer Priester, kam sehr [77] oft von Tyrnau herüber, um einige Stunden mit seinen evangelischen Nachbarn und Freunden zuzubringen. Da trug uns denn zuweilen die Abendluft, wenn wir an einem der lieblichen Gartenplätze das Vesperbrot einnahmen, plötzlich die harmonischen Töne von zwei oder drei wohlklingenden Männerstimmen zu, welche in irgend einem nahen Gebüsch ihren Gesang anstimmten, und das waren Fürst Ernst und ein paar Herren seines Gefolges, welche die Gesellschaft aufs Angenehmste überraschten. Überhaupt wurde in Bucsan viel Musik getrieben. Der einzige Sohn des Hauses, jetzt Graf Karl Zay, spielte sehr gut Klavier, meiner Tochter Spiel und Gesang war ebenfalls nicht unbedeutend, Therese und ich halfen mit, wo es nötig war, und es herrschte ein Grad von Bildung und ein gesellschaftlicher Ton in diesem ungarischen Magnatenhause, den man nicht leicht in einer Stadt wiederfinden würde. Auch war dieses Haus, durch Vermögensumstände, allgemein anerkannte moralische Würde, Gastfreiheit und Heiterkeit, der Mittelpunkt der ringsum wohnenden Nachbarn. Das hat das ungarische Landleben vor dem in Österreich und Böhmen voraus, daß nicht ein einziger Herr die ganze, oft sehr große Herrschaft sein nennen kann, sondern daß auf demselben Dorfe sich mehrere, wenn auch unbedeutendere Mitbesitzer (compossessores) befinden, die auf anspruchlosen, aber keiner wahren Bequemlichkeit ermangelnden Edelhöfen Winter und Sommer leben, und sich auf diese Weise bald aus der Nachbarschaft ein ganz artiger Kreis von gebildeten und selbst mitunter talent- und kenntnisreichen Menschen zusammenfinden kann. Sonderbar mag es verwöhnten Großstädtern dann wohl zuweilen erscheinen, wenn sie in einen solchen [78] Edelhof treten, dessen bescheidenes Rez-de-chaussée in Österreich höchstens eine Verwalterwohnung ankünden würde; und nun in geweißten oder einfach gemalten, aber reinlichen Stuben neben einem eisernen oder wohl gar Kachelofen elegante und bequeme Möbel, eine nicht unbedeutende Bibliothek oder naturgeschichtliche Sammlung, und vor allem eine Profusion von Silbergeschirr auf der Toilette der Frau vom Hause oder bei der Tafel finden. Diese Verhältnisse sind es, welche, wenigstens in dem Teil von Ungarn, der mir bekannt geworden, dem Landleben einen großen Reiz selbst im Winter geben, und die gesellige Bildung befördern.

Die vierzehn Tage, welche zu diesem Landaufenthalt bestimmt waren, flogen nur zu schnell dahin. Romano und wir brachen endlich auf, kehrten nach Preßburg zurück, fanden hier meinen geliebten Pichler und den Schwager Karl Kurländer, die uns abzuholen gekommen waren, und in deren Begleitung wir ebenfalls über das Marchfeld nach Wien gelangten.

Denselben Herbst wurde noch eine Reise nach Linz, über Lilienfeld, gemacht. Lilienfeld, in dem romantischen Tale der Traisen gelegen, würde schon durch seine Umgebung, durch sein Alter – es ward im dreizehnten Jahrhundert vom Herzog Leopold dem Glorreichen aus dem Hause Babenberg begründet – für jeden Reisenden interessant sein. Für uns hatte es noch den Wert, hier einen alten werten Freund, den damaligen Prälaten zu finden, welcher uns stets mit der größten Freundschaft und Gastfreiheit aufnahm. Bei einem dieser Besuche, die wir fast jährlich bei ihm machten, traf es sich, daß mir in meinen ältern Tagen eine so schmeichelhafte Auszeichnung wurde, wie ich sie in [79] meiner Jugend nicht erfahren. Es regnete eben diesen Tag ganz gewaltig, was denn überhaupt in diesen Gebirgen oft der Fall ist, und mir zur Veranlassung wurde, recht anhaltend nasse Witterung ein »Lilienfelder Wetter« zu benennen, wogegen freilich unser Freund Abt Ladislaus höchlich protestierte. An jenem Tage also stand ein junger Mann – den ich übrigens nicht kannte und nie gesehen habe – durch mehr als drei Stunden trotz des schlimmen Wetters unter dem Torwege eines Hauses, um die Verfasserin des Agathokles und der Hohenberge vorüberfahren zu sehen. Diese Hohenberge gelangten überhaupt hier in Lilienfeld zu einer großen und nicht ganz verdienten Zelebrität. Man setzte nämlich sehr gütig voraus, daß alles in dem Buche Erzählte oder wenigstens das meiste geschichtlich sei – man suchte das Fenster, aus dem sich Herrmann geflüchtet, das Haus, worin Mechtild gewohnt; ja einer unserer, freilich minder berühmten Historiker bezog sich sogar in einem Werke über die Vorzeit von Steiermark auf diesen Roman, als auf einen geschichtlichen Beleg (worin er aber ganz Unrecht hatte, denn die im Romane vorausgesetzte Teilnahme des Grafen Hohenberg an dem Mord Kaiser Albrechts war reine Fiktion). Ein paar Jahre später wurde diesem Buch die Ehre, daß die Kaiserin Marie Louise, die nach ihrer Trennung von ihrem Gemahl nach Österreich zurückgekehrt war, und nach dem damals herrschenden Geschmack an Gebirgsreisen und den damit verbundenen Altertümern, auch mehrmals nach Lilienfeld kam, das Grabmal des letzten, eines Grafen Friedrich von Hohenberg, das dort im Kreuzgang befindlich ist, für ihre Mappe selbst abzeichnete.

Auf dieser kleinen Reise, und auf der Rückkehr von Lilienfeld ereignete sich das erstemal jener böse Zufall, [80] der wohl den eigentlichen Grund zu Pichlers folgenden, oft wiederkehrenden körperlichen Leiden legte. Er hatte im Stifte mit den Beamten desselben und denen des Kreisamtes, die ihn begleiteten, sowie mit den Gräflich Hoyosschen und mit den Besitzern der Schwemmen usw. mehrere Tage kommissioniert, und solche Auseinandersetzungen, wobei der Privatvorteil mit dem des Staates in sehr begreiflich leichten Konflikt kam, konnten ebenfalls dem höhern Staatsdiener, der hier die Interessen dieses letztern vertrat, leicht Verdruß erregen. Das geschah denn auch, und Pichler kam den Abend vor unserer Abreise so spät in die uns angewiesenen Zimmer zurück, daß Lotte und ich uns bereits niedergelegt hatten. Er war erhitzt und unmutig im höchsten Grade; erzählte mir, daß er viel Verdruß gehabt, äußerte sich aber nicht bestimmt mit wem? und worüber? und ging dann auch zur Ruhe. Am andern Tage war es kalt, stürmisch, wir fuhren ab. So lange wir zwischen den Bergen blieben, war die Kälte erträglich, bei Mödling aber auf die freie Ebene gelangt (wir fuhren die Wallfahrtsstraße, welche ungleich schöner ist als die über St. Pölten) wurde der scharfe Nordostwind sehr empfindlich. War es nun diese Kälte, war es der gestrige Verdruß und die dadurch gereizten Nerven oder beides zusammen; genug, Pichler fühlte schon im Wagen Schmerz und Krämpfe. – Zu Hause angekommen, mußte er sich sogleich zu Bette legen und Karl (Kurländer), unser treuer Freund und Hausgenosse, eilte selbst zu einem Doktor aus dem Universalspital, um sogleich Hilfe zu schaffen, weil hier Gefahr auf dem Verzuge war. Sodann wurde, weil unser Ordinarius Baron Türkheim abwesend war, ein anderer, für geschickt bekannter Arzt gerufen und die nötigen Mittel [81] unter Angst und Sorge angewendet. Pichler litt sehr, es dauerte einige Stunden, endlich löste sich durch Gottes Hilfe der fürchterliche Krampf, das Übel war besiegt, und Ruhe und Wärme heilten es vollends aus. Wie mir und der Tochter war und wie entzückt wir Gott dankten, als die Heilung versichert war, brauche ich wohl nicht zu schildern. Aber leider mag sich in diesem Anfall der Grund zu allen nachfolgenden ähnlichen gebildet haben, die denn auch – freilich erst nach mehr als zwanzig Jahren, aber dennoch unwiderleglich die Ursache seines Todes wurden.

Noch muß ich eines Ereignisses erwähnen, das, obwohl es ohne alle Folgen blieb, mir und meiner Tochter immer wert und wichtig bleiben wird. Einer unserer ausgezeichnetsten Männer, der als Gelehrter eines mehr als europäischen Rufes genießt, und als Mensch nicht weniger allen seinen Bekannten und Freunden schätzbar ist, warb um diese Zeit um Lottchens Hand. Der Antrag war ebenso schmeichelhaft als ehrenvoll. Pichler und ich erfreuten uns dessen sehr, und würden, wenn die Tochter Liebe für den Freier empfunden hätte, über den einzigen ungünstigen Umstand einer zu großen Altersverschiedenheit hinweggesehen haben. Da aber Lottchens Herz, so sehr sie übrigens den Mann als einen Freund ihrer Eltern ehrte, nicht für ihn sprach, machten wir uns ein Bedenken, das Mädchen, das noch nie geliebt hatte, zu einer Vernunftheirat zu überreden, fürchtend, daß, wenn früher oder später diese Gefühle in ihr erwachen und vielleicht die Richtung auf einen andern jüngern Gegenstand nehmen sollten, ihr und ihres Gatten Glück auf dem Spiele stehen würde. So enthielten wir uns alles Zuredens und erwarteten bloß, ob und wie Lottchens Herz entscheiden würde. Es [82] sprach nicht für den Bewerber, und dieser zog sich mit ebenso viel Würde und Zartgefühl, als er sich genähert, wieder zurück, blieb aber fortan unser und Lottchens treuer Freund. Ungefähr ein Jahr darnach fand er in einem andern, ebenfalls sehr jungen und höchst gebildeten Mädchen unserer Bekanntschaft vollen Ersatz, und mehr als dies, indem seiner jetzigen Gemahlin Geschmack und Lebensbegriff, der sich mehr für die große Welt eignet, viel besser zu dem ihres Gatten paßten, als der stillere Sinn Lottchens je getan haben würde.

Bald darauf wurden uns noch ein paar Anträge dieser Art gemacht; ebenfalls von älteren, angesehenen Männern, deren einer Besitzer eines Landgutes und Vater von drei Kindern in dem Alter meiner Tochter war. Hier war kein persönlicher Ersatz für entbehrtes Jugend- und Liebesglück – bloße Versorgung, und dieserwegen bedurfte, durch Gottes Gnade, unsere Tochter nicht zu heiraten.


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So ging das Jahr 1815, das mir viel Schmerz, viel Sorgen, aber auch mitunter manches Angenehme gebracht hatte, vorüber und wir standen wieder erwartungsvoll vor einer Pforte der Zukunft.

Unser geselliges Leben setzte sich auf die Weise, wie es bisher gestaltet gewesen, fort. Es besuchten uns viele Einheimische und beinahe noch mehr Fremde. Durch das Haus Friedrichs von Schlegel, mit dessen Frau ich seit dem Anfange unserer Bekanntschaft einen freundschaftlichen Umgang unterhalten hatte, lernte ich viele, und mitunter bedeutende Auswärtige kennen, deren einige denn auch in unser Haus kamen. Einer derselben, der uns sehr wert wurde, war der nun auch verstorbene [83] Herr von Bucholtz, als Schriftsteller und Mensch gleich achtungswürdig. Hofrat Büel, unser mehrjähriger Freund, führte vieler seiner Landsleute, Schweizer, bei uns ein, von denen der eine, ein ungemein achtungswerter Mann, Herr Peter, Kaufmann aus Winterthur, uns bis jetzt seine Freundschaft treu bewahrt, uns, so oft er nach Wien kommt, stets die Freude seines Besuches gönnt, und öfter freundliche Andenken zurückläßt. Ich werde später Gelegenheit haben, dieses Mannes noch dankbar zu erwähnen. Auch Baron Retzer, damals als Bücherzensor ein wahrer Mäcenas und schützender Hort vieler Autoren, der diese Mäcenatenschaft mit Umsicht benutzte, um sich an den von ihm protegierten Schriftstellern, die er nicht allzustreng zensurierte, ebenso viele Panegyriker und Klienten zu erwerben, die seinen Namen und sein Lob in Dedikacen oder Gedichten in alle Welt trugen – auch Baron Retzer stellte mehrere Fremde bei uns vor. Dies war überhaupt sein gern geübtes Geschäft, und er teilte dann mit den eingeführten Fremden die diesen erwiesenen Artigkeiten, Diners, Einladungen usw., gab sich aber auch sonst mit vieler Gefälligkeit Mühe, den Ankommenden, die sich aus der Ferne schon an ihn wandten, hier Quartier zu bestellen, sie überall hinzuführen, wo etwas Merkwürdiges zu sehen war oder wo sie hingebeten waren. Seit längerer Zeit hatten wir immer mit einer unserer ausgezeichnetsten Schauspielerinnen, Fräulein Toni Adamberger in freundschaftlichen Beziehungen gestanden. Schon ihre Eltern (ihre Mutter war früher eine große Zierde der hiesigen Bühne gewesen, und ihr Vater, ein ausgezeichneter Sänger und Mitglied des Opernpersonales sowohl als später der Hofkapelle, hatte mich im Gesang unterrichtet) waren mit den meinigen [84] wohl bekannt, und oft in unserm Hause gewesen. So setzte sich dieses Verhältnis auch nach der Eltern Tod, als Fräulein Adamberger mit ihren Geschwistern bei ihrer unverheirateten Tante lebte, fort. Für sie hauptsächlich war in meinem Heinrich von Hohenstaufen die Margarethe, und im Ferdinand II. die Maria Hofkirchen geschrieben. Wir besuchten uns öfters, und Toni, so wurde sie allgemein nach ihrem Taufnamen genannt, galt in ganz Wien, ja in ganz Deutschland, vor dessen Augen sie nicht bloß ihr schönes Talent, sondern noch mehr Körners Liebe und Wahl verklärte, für ein Muster weiblicher Zucht und Sitte, sowohl unter den Schauspielerinnen als den Mädchen überhaupt. – Un dragon de vertu nannte man sie sogar in den Zeiten des Kongresses, und mit den Zeilen, welche sie als Margarete im Heinrich von Hohenstaufen zu sprechen hatte:


Und die so freundlich sich um uns erweisen,

Die stets umsonst der Schuldbewußte sucht,

Die guten, reinen Engel heißen

Geduld und Frömmigkeit und Zucht –


glaubte ich, der Schauspielerin eigenstes Wesen geschildert zu haben, und ganz Wien teilte meine Überzeugung.

Da mein Ferdinand II. nicht gegeben werden durfte, veranstalteten wir wenigstens zu Hause eine Lesung des Stückes mit ausgeteilten Rollen; eine Art geselliger Unterhaltung, die damals in Wien und so denn auch in unserm Hause sehr gewöhnlich war. Die beiden Mitglieder des Hoftheaters, Fräulein Adamberger und Herr Korn, der so wie seine Gattin, mit der er damals in musterhafter Ehe lebte, ebenfalls zu den nähern Bekannten unseres Hauses gehörten, hatten die ihnen im Theater bestimmten Rollen übernommen, Korn den [85] St. Hilaire, Toni, Marien von Hofkirchen, Heurteur den Kaiser Ferdinand, Herr von Deinhardstein, jetzt Vizedirektor des Hoftheaters, den Ebergassing, Pichler den Grafen Zierotin – der übrigen erinnere ich mich nicht mehr, nur das weiß ich, daß, als im dritten oder vierten Akt der Wienerstudent Ulrich Moser auftreten sollte, ein herzliches Gelächter erscholl, indem meine Tochter, aus Mangel eines andern jungen Menschen, diese Rolle übernommen hatte, und sich nun an einen der Tische setzte, um mitzulesen. Sie las recht gut, die übrigen auch, viele, worunter Deinhardstein, meisterhaft. Aber es blieb Lotten in unserm Kreise noch eine Weile der Beinamen: Der Student. Baronin Zay, die mit den Artnerschen sich gerade damals in Wien befand, wohnte der Lesung bei, und es setzte sich unsere in Ungarn geschlossene Freundschaft hier fort.

Im Hause von Tonis Tante lernten wir jenen Winter von 1815–1816 einen jungen Mann: Otto Ignatius kennen, der sich eigentlich der Malerkunst gewidmet hatte, aber recht im Sinne der alten deutschen Meister mit seiner Kunst auch Musik und Poesie verband, und in allen dreien zwar nichts Großes, aber recht Dankenswertes leistete. Er wurde bald einheimisch in unserm Hause, malte meiner Tochter Porträt, das ziemlich gelang, aber doch von Kunstkennern als eine Anfängerarbeit, die für die Zukunft mehr versprach, beurteilt wurde. Ignatius war ein Liefländer, weitläufig mit Kotzebue verwandt, ein sittlicher, gebildeter, junger Mann, der in Berlin ein Liebesverhältnis mit der Tochter eines dortigen Künstlers angeknüpft hatte, von hier nach Italien zu reisen, und wenn er sich dort genugsam ausgebildet, nach Rußland zurückzukehren, eine Anstellung zu finden und sein Mädchen heimzuführen [86] gedachte. Durch ihn lernten wir noch andere, eben auch hier befindliche Künstler kennen, und ein anderer junger Mann, Herr Arneth, im k.k. Münzkabinette angestellt, führte einen jungen Grafen Dietrichstein, bei dem er Mentorstelle versah, nebst andern Jünglingen dieses Standes, wie Grafen Walter Stadion, zwei Grafen Lanckoronski, bei uns ein. Späterhin ließen sich zwei junge Fürsten Schwarzenberg bei uns vorstellen. Alle diese waren ausgezeichnete, sehr artige und einige davon sehr gebildete junge Leute, welche unsere fixierten Abendgesellschaften fleißig besuchten, und deren einige, wie Graf Dietrichstein samt seinem Mentor Arneth und Walter Stadion, beinahe täglich zu uns kamen. Ihre Eltern und Verwandten wußten und billigten dies nicht bloß, sie hatten es veranlaßt, und mancher Vater, manche Mutter dieser jungen Leute ließ mir durch andere Personen dafür danken, daß ich ihren Söhnen erlaubte, unser Haus zu besuchen. So kam ich mir vor wie eine jener römischen Matronen, deren Cicero erwähnt, denen man Jünglinge, die sich dem Staatsdienst und der Rednerbühne widmen wollten, zur Aufsicht und zum Umgang übergab, damit sie sinceram latinitatem, und wohlanständige Sitten im Hause solcher Frauen lernen sollten. Die Latinitas war bei mir nicht zu erlernen; aber feine Sitte und gebildeten Umgang fanden sie wohl in unserm Kreise.


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Eben in diesem Winter machte eine Räuberbande, deren Haupt ein ehemaliger Soldat mit Namen Grasel war, und die ihr Wesen jenseits der Donau trieb, hier viel Aufsehen. Lange stellte die Polizei ihnen und hauptsächlich dem Hauptmann nach, allerlei sonderbare [87] und mitunter poetische Züge wurden von ihm erzählt, die von einem wilden, aber nicht gemeinen Charakter zeigten. Der nun längst verstorbene, angesehene Polizeibeamte Regierungsrat la Roze befand sich auf einem Ball zufällig bei demselben Soupertisch mit mir, und gab uns mehrere Anekdoten von Grasel zum besten, die mir Anteil, ja Mitleid mit dem damals schon Gefangenen und zum Tode Verurteilten einflößten. Dies regte meine Phantasie auf, und ich schrieb die Erzählung »den schwarzen Fritz«, der damals vielen Beifall erhielt und in fremde Sprachen übersetzt wurde. So ging der Winter vorüber, im Frühling hatte jene Lesung des Ferdinand statt, und hierauf trat ich, wie schon erzählt wurde, meine Reise nach Ungarn mit meiner Tochter zu unserer Freundin Baronin von Zay an, wo wir einige Wochen im Kreise so wertgewordener Freunde zubrachten. Wieder nach Wien zurückgekehrt, versetzte uns eine Kränklichkeit meines Mannes wohl nicht in augenblickliche Angst, wie das vergangene Jahr, aber in dauernde Besorgnis. Es war keine Krankheit, aber es war ein fortwährendes Übelbefinden mit periodischen kleinen Fiebern und Husten, die sich regelmäßig jeden Abend zwischen acht und neun Uhr einstellten, und unerklärlicher Mattigkeit, welche ihm den Besuch des Bureaus unmöglich machte und im ganzen drei bis vier Wochen anhielt. Die Ärzte erklärten es für eine Folge zu großer Anstrengung im Arbeiten, und so kam denn auch eine abermalige Reise in die Berge bei und hinter Lilienfeld sehr gelegen, da die Geschäfte hier nicht anstrengend, die Bergluft aber höchst wohltätig befunden wurden.

Hofrat Büel, unser alter Freund, der Lilienfeld und Maria-Zell nie gesehen, und als Schweizer von Geburt [88] neugierig war, unsere Berge kennen zu lernen, begleitete uns mit seinem Eleven, dem Grafen Moritz von Browne. Wir fuhren alle zusammen in zwei Wagen ab, diesmal nicht auf der Wallfahrts-, sondern der gewöhnlichen, einst sogenannten Reichsstraße. In dem anmutigen Waldtal, wo Hadersdorf und Weidlingau, eine Besitzung des Fürsten Dietrichstein liegt, kamen uns dessen Sohn, Graf Dietrichstein und sein Mentor Arneth freundlich entgegen und bewirteten uns mit einem eleganten Frühstück. Dann ging es weiter bis St. Pölten, wo mein Mann, von einigen der Kreis- und Forstbeamten begleitet, seinen Weg gegen Ybbs fortsetzte, wir aber, Lotte und ich, Hofrat Büel und sein Zögling, den unsrigen nach Lilienfeld verfolgten.

Im Stifte wurden wir wie gewohnt mit großer Freundlichkeit empfangen. Wir trafen hier einen alten Bekannten, Herrn Haschka an, den des Herrn Prälaten Sinn für höhere Bildung und längere Bekanntschaft mit demselben ebenfalls zu einem Besuch des Stiftes vermocht hatte. Noch schwebt mir lebhaft unsere Unterhaltung an jenem Abend vor, wie wir alle in meinem Zimmer versammelt, recht heiter und gemütlich mit den sogenannten Kühlheiten oder Rätseln des Hofrat Lehmann uns unterhielten, die damals in allen geselligen Kreisen zirkulierten, und je platter und komischer sie waren, desto mehr unser Lachen erregten. Haschka, der ehemalige Professor der Ästhetik, nahm indes den größten Skandal daran und bemühte sich, uns die Geringfügigkeit dieser Witze zu beweisen, an der wir ohnedies nicht zweifelten, die uns aber doch unterhielt, z.B.

Fr. Was für ein Unterschied ist zwischen einer Violine und einem Baum?

[89] Antw. Die Violine hat ein G (Saite), der Baum hat Zwei ge.

Fr. Was war König David für ein Landsmann?

Antw. Ein Holländer, denn er sagt von sich: er sei zu Leiden geboren.

Fr. Was trieb der Apostel Paulus für eine Beschäftigung?

Antw. Er war Artillerist, denn er sagt: Unser Wissen ist Stückwerk usw. usw.

Solcher kindischer Rätsel brachte nun Hofrat Büel und wir übrigen eine Menge vor, zu Haschkas großem Ärger. Beim Eintritt des Prälaten, den früher Geschäfte von uns entfernt gehalten hatten, hoffte der gute alte Herr auf Sukkurs, er eilte dem Probste entgegen, und beschwerte sich über uns, die ihn schon die ganze Zeit mit elenden Witzen plagten. Aber da kam er vom Regen in die Traufe, denn Prälat Ladislaus, ein genauer Freund von Hofrat Lehmann, brachte nun erst die allerkomischesten und plattesten vor, so daß endlich Haschka selbst mitlachen mußte, und dieses Lachen als Professor der Ästhetik eigentlich damit rechtfertigte, daß er uns die Theorie des Lächerlichen entwickelte, das nach seinem Ausspruch in einer erregten, aber schmählich getäuschten Erwartung bestand.

Am andern Tage, einem herrlichen Septembermorgen, brachen wir – Büel, Graf Browne, Lotte und ich – nach Maria-Zell auf, durch die Felsenschluchten, über die sonnigen Waldhöhen, an klaren, rauschenden Bächen hin, immer tiefer in die Gebirgswelt hinein, wo schon hinter dem Annaberg der majestätische Ötscher mit seiner zur Seite, wie eine Nachtmütze geneigten Spitze vor uns stand. Es war mir leid, daß diese Gebirgswelt, die ich unserm Freund hier aufzuführen mich freute, [90] auf ihn – aus sehr begreiflichen Gründen, eben weil er ein Schweizer war – wohl einen angenehmen, durchaus aber keinen großartigen Eindruck machte. Doch fühlte er sich so wie die übrigen durch die Schönheit der Gegenden, durch die Bequemlichkeit und Reinlichkeit der Herbergen, durch das herrliche Herbstwetter sehr behaglich gestimmt, und wir kehrten vergnügt nach zwei bis drei Tagen ins Stift zurück, wohin auch bald Pichler kam, uns abzuholen, um nach Wien heimzureisen.

Denselben Herbst sprach man viel von der Erwartung eines ersten Produkts eines bisher ganz unbekannten Dichters, Herrn Grillparzers, dessen wahrlich sehr unromantischer Name bei dieser Gelegenheit zum erstenmal genannt wurde, und von dem wenig Jahre darauf Lord Byron, der gewiß juge compétent war, mit Recht und prophetischem Geiste sagen konnte: Die Welt und Nachwelt werde diesen etwas seltsamen Namen schon aussprechen lernen. Herr von Schreyvogel, einer unserer ausgezeichnetsten Literaten, ein vieljähriger Bekannter von uns, und damals Vizedirektor des Hoftheaters, welcher Stelle er mit Kenntnis, Geist und Kraft vorstand, besuchte uns zuweilen, und hatte die Güte, mir fast alle seine neuen Produktionen, noch bevor sie gedruckt wurden, mitzuteilen. Eine Sitte, die in unserm Kreise seit undenklichen Zeiten, schon als meine Eltern noch ihr großes glänzendes Haus hielten, eingeführt war, und wo einst Haschka, Alxinger usw., später Hofrat Collin, Streckfuß, Rothkirch und andere uns ihre Leistungen avant la lettre mitteilten. Jetzt ist das, wie so manches andere aus der Mode gekommen. Schreyvogel gab mir auch die erste Nachricht von dem bisher unbekannten Dichter und dem Trauerspiel: »Die Ahnfrau«, das wir[91] zu erwarten hätten, indem er mir einige leichte Umrisse desselben mitteilte: die Schuld der Ahnfrau, die erst mit dem Untergang des ganzen Geschlechts gesühnt werden sollte, die Stellung Jaromirs zu seiner Schwester usw.; und im Voraus freute sich Wien auf diese neue Erscheinung.

Um dieselbe Zeit machte ein Ereignis anderer Art ebenfalls in gewisser Rücksicht Aufsehen. Fräulein Toni Adamberger verließ das Haus, den mütterlichen Schutz und mit demselben die mächtige Ägyde, die bis jetzt ihren Ruf vor allen Pfeilen der Verleumdung, ihre Person vor jeder unbescheidenen Annäherung geschützt und sie nicht bloß in Wien, sondern in ganz Deutschland als Körners Braut mit einem Tugendnimbus umgeben hatte. Sie zog in unsere Vorstadt, wo ihre verheiratete Schwester mit vielen Kindern still und eingezogen lebte. Das Zimmer, welches diese der zu ihr Geflüchteten geben konnte, war geräumig und anständig, aber es war so gelegen, daß man Toni besuchen konnte, ohne die Schwester und andere Hausgenossen zu sehen oder von ihnen gesehen zu werden; schon ein schlimmer Umstand, welcher Toni jedem, auch unwillkommenen Besuch und einer möglichen Nachrede bloßstellte. Daß sie uns sogleich besuchte, fortan viel bei uns war und wie sie mit Vergnügen an jeder Unterhaltung in unserm Hause teilnehmen müssen, versteht sich von selbst, so wie sie mich und meine Tochter auch öfter ins Theater oder zu Bällen begleitete, wo ich dann als garde de dame von hübschen Kindern, deren eine eine edle Augenweide für die ganze Stadt war, gar gern gesehen wurde.

Zu Weihnachten war es bei uns seit langem Sitte gewesen, nach Gewohnheit des übrigen Deutschlands[92] einen Christbaum zu errichten und die jüngeren Mitglieder der Gesellschaft durch kleine Geschenke zu erfreuen, die früher aber meist scherzhafter Art waren, Anspielungen auf Verhältnisse, Liebhabereien, kleine Vorfälle usw. enthielten und meist von mir mit einigen flüchtigen Versen begleitet und erklärt wurden. Toni wurde dann wie natürlich auch beigezogen und sie sowohl als die übrige jugendliche Gesellschaft – Ignatius, Arneth, Graf Dietrichstein, Graf Stadion, Malchen Schechtern, eine Gespielin meiner Tochter und sehr hübsches Mädchen, mein Schwager Karl Kurländer und manche andere, deren ich mich nicht mehr entsinne, bekamen kleine Gaben von oben beschriebener Art. Bei diesem Christbaum war es nun – Gott weiß wie – daß zuerst zwischen Fräulein Adamberger und Herrn Arneth sich ein Verhältnis entspann, das mit der Zeit zu unsrer aller Verwunderung immer deutlicher hervortrat, bis es sich endlich zuletzt im kommenden Frühling 1817 zum größten Erstaunen von ganz Wien und zur Betrübnis aller Theaterfreunde und Bewunderer dieser Schauspielerin mit der ehelichen Einsegnung des Paares und Tonis Abschied von der Bühne endigte.

Wohl hatte ich bald, in den ersten Wochen hier eine Annäherung bemerkt, aber bei Tonis entschiedenem Liebreiz und ihres Bewunderers ernstem, schüchternem, ja etwas steifem Wesen und seinem oft und laut erklärtem Widerwillen gegen den Schauspielerstand, hielt ich und mit mir die übrigen das Ganze für eine, in seinem Herzen einseitig auflodernde Flamme, der kein Erfolg und durchaus keine Erwiderung entsprechen würde. Ich benützte indessen das Vertrauen, welches Toni mir oft gezeigt und die freundschaftliche Achtung, [93] die Arneth schon meiner Mutter und dann auch mir bewiesen hatte, um in dem vorliegenden Falle ein mütterlich gemeintes Wort mit den beiden jungen Leuten zu reden, um sie auf die Gerüchte aufmerksam zu machen, die sich bereits über dieses Verhältnis zu verbreiten anfingen. Aber – ich kam zu spät! Die beiden Leute hatten sich bereits untereinander verständigt. Fräulein Adamberger war fest entschlossen, die günstige Gelegenheit nicht entwischen zu lassen, an der Hand eines sehr rechtlichen Mannes das Theater zu verlassen, welches ihrer nicht sehr festen Gesundheit und seit sie die schützende Ägyde der Tante verlassen, auch ihrem Ruf nachteilig zu werden begann und Arneth, der, man kann es dem jungen, verliebten Mann nicht verdenken, fühlte sich nur zu geschmeichelt, zu glücklich, von einem Mädchen geliebt zu sein, dessen Schönheit, Anmut und ausgezeichnetes Talent sie zum Gegenstand der allgemeinen Bewunderung und vieler geheimer Wünsche machten. Als ich mit meiner wohlgemeinten Ermahnung auftrat, hörten mich beide recht geduldig an, erwiderten auch manches, aber ich hätte, wie Figaro von jenem Billette, das schon geschrieben war, als er es zu schreiben anriet, sich selbst scheltend, auch sagen sollen:


era già scritto.


Von den Klatschereien, lieblosen Nachreden, komischen oder boshaften Ausfällen, die nun über dies Paar in der Stadt zirkulierten, ist sich kaum ein Begriff zu machen, und ich mußte den Bräutigam und neuen Ehemann oft gegen die widersinnigsten Angriffe verteidigen, z.B. daß er zu alt für seine Braut sei, da er doch in Wahrheit um einige Monate jünger war als sie, und nur sein gar zu trockenes, ernstes Aussehen ihn älter [94] zu machen schien. Kurz, die ganze Welt war gegen ihn, weil er ihnen die Lieblingsaktrice entführte und auch sie wurde bei dieser Klatscherei nicht geschont. Zu ihrem Abschiede vom Theater gab sie die Jerta in der Schuld, eine ihrer besten Rollen und ich dichtete ihr einen Epilog dazu, den sie sehr schön sprach.

Die Hochzeit war nun vorbei. Arneth mit seiner Frau und seinem Zögling, dem jungen Grafen Dietrichstein, ging nach Genf, wo sie ein paar Jahre verweilten, während welchen jene Gespräche und Bemerkungen in Vergessenheit gerieten und kamen mit einem hübschen Knaben wieder nach Wien zurück. Seitdem leben sie hier, haben zwei wackere Söhne und genießen die allgemeine Achtung. Frau von Arneth erfreut sich überdies in hohem Maße des Vertrauens der Kaiserin Mutter Majestät, welche ihr die Leitung ihrer Erziehungshäuser für weibliche Dienstmädchen übergeben hat.

Endlich führte uns Schreyvogel seinen jungen Schützling, den Verfasser der »Ahnfrau« auf, die indessen gegeben worden war, und wodurch die Augen nicht bloß der Stadt, sondern Deutschlands, ja Europas auf denselben gerichtet worden, wie jenes Wort Lord Byrons beweist. Nie werde ich den Abend vergessen, und den allgemein günstigen Eindruck, den seine Erscheinung hervorbrachte; Grillparzer war nicht hübsch zu nennen, aber eine schlanke Gestalt von mehr als Mittelgröße, schöne blaue Augen, die über die blassen Züge den Ausdruck von Geistestiefe und Güte verbreiteten und eine Fülle von dunkelblonden Locken machten ihn zu einer Erscheinung, die man gewiß nicht so leicht vergaß, wenn man auch ihren Namen nicht kannte, wenn auch der Reichtum eines höchstgebildeten [95] Geistes und eines edlen Gemüts sich nicht so deutlich in allem, was er tat und sprach, gezeigt hätte. Dieser Eindruck war allgemein in der kleinen Gesellschaft, die sich an jenem Abend in unserm Garten versammelt hatte, und es mochte sich auch der junge Dichter durch das, was er hier gefunden, auf genügende Art angesprochen gefühlt haben, denn er kam von nun an zuweilen und gegen den Winter zu immer öfter.

Noch eine zweite merkwürdige Erscheinung war uns diesen Sommer beschieden, nämlich Öhlenschläger, dem ein großer literarischer Ruf voranging und ihn beinahe neben Goethe stellte. Wir erwarteten ihn eines Abends im Garten, wo ihn uns der dänische Gesandtschaftssekretär von Koß aufzuführen versprochen hatte. Alles war gespannt auf seine Ankunft, da man nicht bloß von Öhlenschlägers poetischem Verdienst, sondern von seiner Persönlichkeit viel Lobenswertes gesagt hatte. Aber es wurde spät und immer später, der Erwartete kam nicht. Eine Freundin meiner Tochter, die Erzieherin in einem großen Hause und ein sehr gebildetes Mädchen war, wollte sich eben, da ihre Stunde zur Rückkehr schon geschlagen hatte, mißmutig über die verfehlte Hoffnung, entfernen, und stand mit ihrer Elève am Tor des Hauses, als ein Wagen vorfuhr, und Herr von Koß mit einem Fremden ausstieg, dessen schöne Gestalt jenes Mädchen ganz verblüfft machte, wie sie uns selbst hernach gestand. Es war auch nicht zu leugnen, daß körperliche Schönheit und männlicher Anstand Öhlenschlägers literarischem Ruhm noch zur Folie dienten, so wie im Gegenteil der Gedanke an sein großes Talent seine Wohlgestalt noch anziehender erscheinen machte. Daß er allgemein gefiel, war also kein Wunder, erhöhte aber in meinen und vieler unparteiischen [96] Augen Grillparzers Persönlichkeit noch mehr, der ohne Hilfe eines bestechenden Äußern bloß durch den geistigen Eindruck, den er machte, so viel Wohlmeinung gewonnen hatte.

Auch Öhlenschläger schien sich bei uns zu gefallen. Er besuchte uns sehr oft und hielt sich, der ernste Mann, der bereits die vierzig überschritten hatte, am liebsten in den Kreisen der jungen Mädchen und Männer auf, welche meine Tochter in unseren Gesellschaftsabenden umgaben, worüber manche der ältern Frauen, die sich lieber selbst an seinem Umgange hätten erfreuen mögen, spöttisch die Nase rümpften. Er aber fuhr fort, wenn größere Gesellschaft da war, sich mit der Jugend zu unterhalten, der ihn sein offenes, zwangloses Benehmen, die Frische seiner Empfindungen und Ansichten gleich stellte; war aber nicht minder liebenswürdig, geistreich und interessant im ernsteren Gespräch, wenn er von seinen Reisen, seinen Dichtungen, seinen Ansichten über Poesie und Leben sprach, in welchem allen sich ein höherer moralischer Charakter und ein würdiger Standpunkt aussprach, der über die gemeinen und beschränkten Lebensverhältnisse erhaben, diese in ihrem wahren Lichte betrachtete, und so selbst dem Tode mit echt tragischer Ruhe eine heitere Seite, wie unser verklärter Freund Collin, abzugewinnen wußte. Belege dazu finden sich genug in seinen Schriften, und im Gegensatze mit den damals Mode gewordenen Fluch-, Schauer- und Schicksalsdichtungen schrieb er in das Stammbuch eines meiner Bekannten:


Die klare, heit're Sonnenhöh' der Tugend

Ist schöner als der Abgrund grauser Schuld;

Erhabenheit wohnt in der Tiefe nicht,

Und Gott ist doch poet'scher als der Teufel.


[97] Ich bitte Öhlenschläger um Vergebung, wenn die erste Zeile nicht treu wiedergegeben ist – aber ich schreibe nach so vielen Jahren aus dem Gedächtnis – die übrigen drei sind genau, und das Ganze charakterisiert den Dichter, wie mich dünkt, vollkommen. Sein Andenken lebt noch wie ein wertes Bild der Vergangenheit unter uns.

Während Öhlenschläger noch in Wien war, kam die Zeit unserer gewöhnlichen Reise nach Ungarn. Wir fanden alles so lieb, herzlich, freundlich wie sonst im Schlosse und bei allen übrigen Bekannten in jener Gegend, aber unter dem Landvolk herrschte Not und Elend; denn eine Reihe unfruchtbarer Jahre hatte die alten Vorräte aufgezehrt, und nun trat der Mangel hart heran an diese armen Menschen. Es war ebenso in Österreich, nur gewahrt der Großstädter dies nicht so schnell und so sichtlich, wie es sich auf dem Lande zeigt. Und selbst auf dem Lande war noch ein großer Unterschied zwischen den Bewohnern der fruchtbaren Ebene um Bucsan und Tyrnau herum, und den kargeren Gebirgsgegenden, wo das Stammschloß Ugrócz, die große bedeutende Besitzung des Hauses Zay, liegt. Dahin wollte die Baronin in diesem Sommer gehen, und mir das Vergnügen verschaffen, sie zu sehen. Ihr Gemahl konnte sich nicht entschließen, sie zu begleiten, weil er den Anblick der Not und das Flehen der Hilfsbedürftigen fürchtete, denen er vollkommen zu helfen nicht imstande war. Sie ging daher allein mit uns und den Artnerschen über Pistyan und Trentschin, diese zwei berühmten ungarischen Badeorte, nach Ugrócz. Das erste liegt in einer unbedeutenden Gegend, am Ufer der Waag, die hier eine starke Krümmung macht, und daher oft Überschwemmungen verursacht. Damals [98] waren noch gar wenig Anstalten für die Bequemlichkeit der Badegäste getroffen (ein späteres Mal fand ich hier große Verbesserungen). Man wohnte in Bauernhütten, die nicht einmal gediehlt waren, und ein großes Tuch, längs der Wand gespannt, diente zum Schrank für die Kleider, die hinter demselben an Pflöcken aufgehängt waren. Merkwürdig ist die Hitze des Badewassers, dessen Quellen unmittelbar neben der Waag fortlaufen, worin man keinen Finger halten, wohl aber ein Ei sieden lassen könnte. Als in einem folgenden Jahr meine Freundin Therese Artner sich die Bäder von Pistyan nach Bucsan, anderthalb Stunden weit, führen ließ, mußte das Wasser, wenn es ankam, noch eine Weile stehen bleiben, bis es zu der für ein Wannenbad geeigneten Temperatur herabsank.

Von Pöstyan oder Pistyan ging nun unsere Reise ins Waagtal hinein, das in geschichtlicher Hinsicht eine merkwürdige Gegend ist, und wo mehrere noch bestehende oder zerstörte Schlösser, Betzko, Trentschin, so wie früher schon Cseithe und Temetvény geschichtliche Erinnerungen hervorrufen. Baron Mednyánsky, dessen Namen jedermann kennt, der mit Ungarn und seiner Geschichte nur einigermaßen bekannt ist, und der damals, in der Nähe von Bucsan auf seinen Besitzungen lebend, sehr oft ein Gast im Zayschen Hause war, hatte die Güte gehabt, mich mit einer von ihm selbst entworfenen Schilderung jener Gegenden und ihrer geschichtlichen Merkwürdigkeiten zu versehen, denen noch dazu kleine Handzeichnungen von einigen Ruinen des Waagtals beigefügt waren. Er hatte diese Notizen aus dem reichen Schatze geschichtlicher Quellen, Dokumente, Autographen usw. geschöpft, deren Sammlung seine Lieblingsbeschäftigung war. Die Gegend ist [99] schön, die Berge begrünt, zum Teil bewaldet, dennoch schien es mir, als hätten ihre Formen, so wie das Kolorit ihrer Vegetation einen andern Charakter als bei uns in Österreich oder Steiermark. Gegen Abend erblickten wir das Trentschiner Schloß auf einem mäßigen Hügel, an dessen Fuße die Waag tobend und wild, wie es im Charakter eines Waldbaches liegt, dahinströmte. Wir gingen hinauf und besahen uns diese mächtigen und noch großenteils unzerstörten Gebäude, welche von der Macht und Fürstengröße Johann Zapolyas zeugten, der hier mit seiner Gemahlin, einer polnischen Prinzessin, als Gegenkönig Ferdinands I. durch Unterstützung der Pforte Hof hielt und sich lange behauptete. Von hier fuhren wir tiefer in ein Waldtal hinein, in dem das Bad liegt, das man wohl mit Unrecht das Trentschiner nennt, indem es eigentlich Töplitz wie das böhmische von dem slavischen Worte »Tepel« warm heißt. Auf dem Wege dahin hinderte die einbrechende Nacht und ein Gewitter mit Regengüssen, uns an dem Anblick des freundlichen Waldtales zwischen mäßigen, schön begrünten Bergen zu erfreuen, und auch der nächste Morgen, an dem mehrere Bekannte meiner Freundinnen, die wir hier trafen, und die schon den Abend vorher mit uns soupiert hatten, uns überall herum begleiteten, um uns das Bad, das Schloß usw. zu zeigen, war zu unfreundlich und nebelhaft, um uns einen rechten Genuß der Gegend zu gestatten.

Gegen Mittag hellte das Wetter sich auf, und wir gelangten auf nicht gar bequemen und durch Regen verdorbenen Wegen nach Zay-Ugrócz. Auf einer kleinen Anhöhe liegt das halb moderne Schloß, denn nur zwei Seiten des Vierecks, welches es bildet, sind von neuerem Bau, etwa aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, die zwei [100] anderen, viel älteren lagen unbewohnt und unbewohnbar, dem Verfalle nahe. Gegenüber dem Schlosse zieht sich eine Hügelreihe hin, deren obere Teile mit Wald gekrönt sind, während unten der Lehmboden ziemlich nackt zu sehen ist, aber das Ganze sich doch freundlich ausnimmt. Diese Beschaffenheit der Berge, daß nämlich das harte Gestein, aus dem sie bestehen, nicht bis ganz hinab ins Tal reicht, sondern diese Täler bis auf eine gewisse Höhe mit Lehm, Sand usw. gleichsam aufgeschwemmt sind, ist wohl auch die Ursache, daß sie alle beinahe muldenförmig erscheinen, und man äußerst selten auf Quellen stößt. Es war daher notwendig, bei den vielen und oft weiten Spaziergängen in die anmutigen Berge ringsum, uns immer Wasser nachtragen zu lassen, das freilich matt und warm geworden war, wenn wir nach einem angenehmen Gang von ein paar Stunden uns auf einer Waldwiese oder einer Berghöhe lagerten, die einen hübschen Ausblick in die Gegend gestattete, dann Feuer gemacht, der Kaffee gekocht und von der Gesellschaft unter Scherzen und Lachen verzehrt wurde. O, das waren schöne Abende, wenn ich an Theresens Seite sitzend, mich an ihrer Freundschaft für mich, an ihrem edlen Gemüte, an ihrem gebildeten Verstand und der Einfachheit, mit der sie alles betrachtete, erquickte, und oft die zwei »Grasgrünen«, wie wir von den andern scherzhaft genannt wurden, fast die ältesten und zugleich die heitersten des Kreises waren. Jene Benennung von der grünen Farbe hatte aber ihren Ursprung in einem Scherze, indem wir nämlich die Gemütsstimmungen der Menschen um uns nach Farben zu bezeichnen anfingen, trübe Menschen grau oder dunkelbraun, jugendlich heitere Gemüter rosenfarb, heftige gelb oder feuerfarb, sanfte blau usw. gedacht [101] wurden, und in diesem Sinn auch uns beiden, als stets heitern, Gutes hoffenden, vertrauenden Seelen, die grasgrüne Farbe zugeteilt wurde. O, meine Therese! von welchem Stern blickst du vielleicht jetzt nieder und denkst der Freundin, die so lange nach dir noch auf dieser, ihr stets fremder werdenden Erde weilt?

Der Baron hatte in Rücksicht des hier herrschenden Elends richtig gesehen. Täglich erschienen in der Vorhalle des altertümlichen Schlosses, vor den Zimmern der Baronin, abgezehrte Jammergestalten, deren manche, wie man später erfuhr, mit Gras in Ermanglung jeder andern Nahrung ihren schreienden Hunger hatten stillen müssen. Die gütige Herrin half so vielen und so viel sie vermochte, sie unterstützte sie mit Nahrungsmitteln, mit Geld, sie gab ihnen Arzneien, denn viele waren krank, und so war ihr Erscheinen auf dem Bergschlosse wirklich das eines hilfreichen Engels.

Unter den Spaziergängen, welche wir von hier in die Umgegend machten, war einer der fernsten, aber auch der schönsten, der Besuch der alten Bergfeste Zay-Ugrócz, die im Anfange des vorigen Jahrhunderts während der Religionskriege noch bewohnt gewesen war, und einmal einer großen Anzahl Flüchtiger zur Zufluchtsstätte vor den Gräueln des Krieges gedient hatte. Dieses Schloß liegt wie ein rechter Adlerhorst auf der Spitze eines, aus der übrigen Reihe tretenden Felsens, rückwärts und an den Seiten von andern Felsenwänden umgeben und nur vorne, über den bewaldeten Rücken des Berges herab, weit über die Ebene schauend, die ihr damals ringsumher unterworfen war. Sie ist noch ziemlich wohl erhalten. Eine Zisterne mit köstlichem Wasser, eine Küche mit Herd und Schornstein, eine Kapelle, viele Türen und Fenster sind noch in gutem [102] Stande, und konnten mit nicht zu großen Anstalten für ein Mittagsmahl oder auch ein Nachtlager, einer nicht unbedeutend großen Gesellschaft wohnlich gemacht werden. Auch wir speisten oben, und es stand Theresen und mir frei, uns recht in die mittelalterliche Sitte, von der wir rings umgeben waren, hineinzuträumen. – Seitdem ist diese Ruine von dem jetzigen Besitzer sehr viel verbessert und zum Gebrauch hergerichtet worden, so wie das halb neue Schloß, die eigentliche Wohnung der Familie, ebenfalls ganz umgestaltet wurde.

Zurück nach Wien gekommen, trafen wir Öhlenschläger noch, was uns sehr freute, und genossen noch mehrete Male seines anziehenden Umganges. Denselben Sommer begleiteten wir noch Pichler auf einer Geschäftsreise, die ihn nach Brünn führte. Ich hatte gehofft, die drei oder vier Tage, während Pichler sich anhaltend mit der Untersuchung der Strafanstalten zu beschäftigen hatte, nach Raitz zu Graf Salm zu gehen, zu diesem ebenso durch seinen würdigen Charakter als seine Geistesbildung allgemein geschätzten Kavalier, mit dem ich, so wie mit seiner ihm ganz gleichen Gemahlin, einem gebornen Fräulein Mac-Affry, seit langem bekannt war, und bei welchem sich Hormayr, der damals noch nicht nach Wien durfte, seit seiner Freilassung aufhielt. Hormayr hatte das eingeleitet, aber ein Zufall vereitelte den Plan, und so blieben meine Tochter und ich in der uns ganz fremden Stadt, wo ich nur einmal in meiner frühern Jugend mit meinen Eltern ein paar (herzlich langweilige) Tage zugebracht hatte, uns ganz allein überlassen, denn der Vater und Gemahl war zu beschäftigt, um uns Gesellschaft zu leisten. Alle diese Umstände, so wie die Erinnerungen [103] machten mir diesen Séjour unangenehm, und überdies kam mir noch die Feste des Spielbergs, die die ganze Stadt überragt und in alle Gassen hineinschaut, wie eine Personifikation der Inquisition oder geheimen Polizei vor, die ebenfalls überall in alle häuslichen Geheimnisse oder freundschaftlichen Verhältnisse blicken will. Hier war ja Hormayr längere Zeit gefangen gehalten worden, und als wir hinaufstiegen, das Äußere des Baues zu besehen, uns die Gefangenen entgegen kamen, welche Wasser holten, und wir hier und dort die, wie vergitterte Brunnen oder hohe Drahtkäfige aus der Erde heraufragenden Maschinen sahen, die wahrscheinlich unterirdischen Gefängnissen zu Soupirails dienten, da überfiel uns Bangigkeit und Grauen, und wir waren froh, als wir wieder hinabstiegen und uns die Straßen und Häuser der Stadt umgaben. An einem Nachmittag spazierten wir, weil wir gar nichts zu tun wußten, auf ein nähe gelegenes Dorf Kumrowitz, wenn ich nicht irre, wo Kirchtag sein sollte. Wohl begegneten wir mehreren Personen, die sich in gleicher Richtung mit uns bewegten, aber von der heitern Fröhlichkeit, der lauten Freude, welche in Österreich einen solchen Tag charakterisiert, war hier keine Spur, und Lotte sagte: Sieh nur einmal, die Leute sehen alle aus, als ob man sie zum Kirchtag geprügelt hätte.

Pichlers Geschäfte waren bald geendet, und wir kehrten nach Wien zurück, aber nur um sogleich eine zweite Reise nach Linz zu machen, und zwar in derselben Absicht, nämlich, damit mein Mann auch hier die Strafanstalten besehen könne, weil er sich mit der Einrichtung und Verbesserung des Strafhauses in Wien, während ihm das Referat über mehrere Stiftungen und Anstalten, nämlich über das Waisen-, Kranken-, Findel-, [104] Straf- und Arbeitshaus aufgetragen war, sehr ernstlich beschäftigte, und daher sich überall von dem Stande, den Einrichtungen, Wirkungen solcher Anstalten überzeugen wollte. Vieles und Nützliches hat er in diesem Kreise geleistet, die Einrichtung des hiesigen Strafhauses ist sein Werk, er hat die Arbeitszimmer gestiftet, in denen die Sträflinge unter strenger Aufsicht und bei gänzlichem Stillschweigen, je nach ihrem Geschlecht, Alter, Kräften und Geschicklichkeit zu verschiedenen Arbeiten, deren Ertrag großenteils den Sträflingen zugute kommt, angehalten werden. Diese Arbeiten bestehen meist in den Bedürfnissen der Anstalt selbst oder anderer milden Stiftungen. Hier werden also Leinwanden gewebt, Kotzen verfertigt, Schuhe, Anzüge für die Sträflinge usw. gemacht. Verstand der Sträfling schon eine Arbeit, so wurde er dazu verwendet, war er zu keiner geschickt, so mußte er die eine oder andere hier lernen. Dadurch geschah es, daß mancher, besonders jüngere Leute, hier erst in der Strafanstalt in den Stand gesetzt wurden, sich künftig ihr Brot ehrlich zu erwerben. Auch wurde ihnen beim Austritt aus der Anstalt das Geld, was ihnen nach Abzug ihrer Verpflegungskosten von dem Erwerb ihrer Arbeit übrig geblieben, eingehändigt, so daß sie etwas besaßen, wann sie entlassen wurden, und nicht gezwungen waren, sich sogleich einem nichtswürdigen Leben hinzugeben, sondern sich ruhig um einen rechtlichen Erwerb umsehen konnten. Überdies war durch einen Geistlichen, der die Sträflinge in der Religion unterrichtete und durch Sonntagsschulen auch für ihre geistige Ausbildung gesorgt. Diese Pläne und ihre Ausführung beschäftigten Pichler sehr, und auf jenen Reisen suchte er durch Besuch dieser Korrektions- sowohl als anderer [105] Anstalten, sowie durch Lesung alles dessen, was über diesen Gegenstand geschrieben wurde, seine Ansichten immer mehr auszubilden und zu berichtigen.

Während dieser Reise nach Oberösterreich, welche unmittelbar auf jene nach Brünn folgte, konnten wir recht den Unterschied des Nationalcharakters in Gestalt, Aussehen und Benehmen der deutschen und slavischen Nation bemerken. Wenn uns in Brünn, sowie viele Jahre später in Prag, ein ernster, beinahe düsterer Ausdruck des ganzen Volkes entgegentrat, wenn weder Mienen noch Geberden, noch Gesang oder Musik auf den Straßen (selbst nicht im »klangreichen Böhmerland«) eine fröhliche Stimmung verkündeten, und die mehr den mongolischen Charakter tragenden Züge nicht freundlich erschienen, so begegneten uns in der Nähe von Linz muntere Landleute mit fröhlichen Gesichtern. Blühend hübsche Bauernmädchen, ihre bunten Tücher nicht ohne Schönheitssinn um den Kopf gebunden, saßen auf Wagen mit Grummet, und alle sahen heiter aus, obgleich auch dieses Land, so wie die übrigen, den Druck der Zeit durch mehrjährige schlechte Ernten fühlte. In dieser Rücksicht trug man sich mit allerlei Sagen und Prophezeiungen, wie nämlich der Türmer von St. Stephan in einer, ich weiß nicht welcher Nacht, ein Gesicht gesehen habe, das ihm für das kommende Jahr 1818 die Pest mit Hungersnot und Leichen in allen Straßen der Stadt gezeigt hatte usw.

Mir war dieses Jahr ziemlich angenehm vergangen, nur ein langwieriges Augenübel, das eigentlich in einem für das Licht allzu empfindlichen Nervenreiz bestand, nötigte mich oft, mich eines Schirms zu bedienen, ja manchmal die Augen ganz zu schließen, weil jeder hellere Strahl sie verletzte. Nicht ein weißes Kleid [106] durfte ich tragen, weil es mir die Augen fast schmerzlich reizte. Dieser Zustand war mir oft sehr peinlich, denn er machte mir Lesen, besonders musikalischer Blätter, beschwerlich und jede Handarbeit, außer dem Stricken, fast unmöglich. Eine große Erleichterung war es für mich, daß mich das Augenübel nicht am Schreiben hinderte, und ich daher meinen Fleiß in dieser Hinsicht nicht einzustellen brauchte.

Wirklich hatte ich jetzt eine größere Arbeit angefangen, einen Roman: »Frauenwürde«, welcher den zweiten Vers des Schillerschen Spruches: »Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld«, ebenso durch Leben und Beispiel zeigen sollte, wie im »Agathokles« den ersten auszuführen meine Absicht gewesen. Es sollte aus diesem Romane hervorgehen, daß auch die glänzendsten Eigenschaf ten, Talente, Geistesschwung und Herzensgüte nicht hinreichend sind, ein dauerhaftes Glück zu begründen, sobald sie nicht von Achtung für die Pflicht und strenger Befolgung derselben begleitet sind. Rosalie Sarewsky, eine junge, reiche, schöne, talent- und gemütvolle Frau, erreicht nicht allein das Ziel ihres Strebens nicht, sich ein dauerndes Glück zu gründen, sie fühlt sich vielmehr in jeder Lage ihres Lebens unglücklich, sie klagt beständig über ihr hartes Geschick, das sie verfolgt, und ahnt nicht, daß es ihr pflichtwidriges Benehmen ist, zu dem sie sich durch Phantasie und Leidenschaft hatte hinreißen lassen, was ihren Frieden und ihr Glück zerstört.

Diese Romangestalt war nicht ein bloßes Ideal. Viele, ja die meisten Züge, welche nämlich nicht der äußern Stellung in der Welt, sondern dem moralischen Innern gelten, waren von jener schönen und interessanten [107] Frau v. K. entlehnt, die lange ein Mitglied unsers engen Kreises gewesen, deren Herz, unbefriedigt in ihrer Ehe, stets nach Außen um sich griff und nacheinander, bloß, so weit ich sie beobachten konnte, drei- bis viermal Leidenschaften eingeflößt und geteilt hatte. Nun war sie seit ein paar Jahren tot – aber nicht so wie ich Rosalien, und ich glaube, nicht ohne gehörige Konsequenz geschildert, durch Selbstmord, sondern an einer langen, unheilbaren Brustkrankheit gestorben, und ich konnte meine Schilderung ziemlich getreu machen. Auch bei Frau von K. waren, wie bei Rosalien, herrliche Geistesanlagen gar nicht oder zweckwidrig entwickelt worden, auch bei ihr führten Phantasie und Gefühl den Oberbefehl über die gesamten Geisteskräfte, und eine schöne Gestalt, die Leichtigkeit, womit sie alles, was sie zu lernen oder zu üben wünschte, in Musik, Zeichnung, ja auch in der Poesie auf einen bedeutenden Grad brachte, würden sie, bei zusagenden häuslichen Verhältnissen und Umgebungen vielleicht zu einer berühmten Frau wie die Sarewsky gemacht haben. Übrigens hatte ich die glänzende Periode des Freiheitskrieges in Deutschland zum Hintergrund des Gemäldes gewählt, und dadurch sowohl, als durch die mancherlei politischen und sozialen Ideen, welche damals die Gemüter erfüllten und bewegten, demselben einen lebhafteren Reiz zu verleihen gestrebt. Hierbei fällt mir eine Bemerkung ein, welche ich später aus dem Munde eines sehr gebildeten und geistvollen Mannes vernahm, und die mich auf eine Betrachtung leitete, welche ich seitdem bei meinen eigenen sowohl als fremden Arbeiten anzustellen nur zu oft Gelegenheit hatte. Wie es nämlich Schriftstellern, vorzüglich Dichtern, öfters ergeht, daß die Leser in ihren Schriften etwas suchen und finden, [108] und wirklich mit statthaften Gründen dessen Absichtlichkeit beweisen, woran der Dichter nicht gedacht hatte, als er jene Stellen schrieb oder diesen Charakter schilderte; so war es auch bei diesem Roman. Jener sehr geistreiche und gebildete Mann behauptete, daß ich in Fahrnau und Lothar die zwei Haupttendenzen jener Zeit, Aristokratismus und Liberalismus dargestellt hätte. Mich überraschte diese Bemerkung, da ich durchaus beim Entwerfen meines Planes nicht daran gedacht hatte. Ich hatte nur eines Charakters wie Lothar bedurft, um Rosalien in jene Lagen zu versetzen, wie sie notwendig bei ihr die beabsichtigte Katastrophe hervorbringen mußten. Oder vielmehr, da dies Verfahren für die Art, wie ich zu arbeiten pflegte, viel zu planmäßig und überlegt zu nennen wäre, ich sah mit den Augen des Geistes, der Phantasie diese Personen. – Ich erschuf sie nicht, sie waren da, und sie handelten und wirkten vor meinen geistigen Augen nach ihrer Natur, wie sie eben wirken konnten. An jenen Gegensatz der damals sehr oft besprochenen Ideen von Aristokratismus und Liberalismus hatte ich nicht gedacht, mußte aber, wie mir die Bemerkung gemacht wurde, selbst gestehen, daß es so aussah, als hätte ich geflissentlich jene zwei Systeme in Handlung und Konflikt miteinander zu stellen beabsichtigt. Eine sehr achtungswürdige Frau hatte es getadelt, daß ich auf Leonorens Charakter den Schatten einer leichten Neigung zu einem andern Mann, ihrem edlen Freunde Tengenbach, hatte fallen lassen. Auch hierüber glaube ich mich mit der Ansicht rechtfertigen zu können, daß es mir bei meinen Begriffen von dem richtigen und allein beglückenden Verhältnis zwischen Weib und Mann in der Ehe notwendig erschien, Fahrnau neben Eleonoren [109] nicht gar zu tief sinken zu lassen. Er soll und muß im innern Menschenwerte höher als sie stehen, wenn sie an seiner Seite sich glücklich fühlen soll. Darum muß er durch seine Teilnahme am Kampfe für die Freiheit des Vaterlands, durch seinen Mut, durch die Gefahr und Leiden, denen er sich bloßstellt, sich im allgemeinen schon über sie erheben, aber er muß auch eben in jenem Punkt, in welchem seine größte Schwäche liegt, die ihn dem Tadel billig aussetzt, nicht zu tief sinken. – Es muß aus ihrem, wie aus seinem Betragen hervorgehen, daß das menschliche Herz oft und vielfältig schwach ist, und nur wenige sind, die mit Recht den ersten Stein aufheben dürften, um es zu strafen. Auch Fahrnau hat zu verzeihen, wenn gleich nicht so viel und so Entschiedenes. – Leonore hat sich des Eindrucks, den der unglückliche, edle, aufopfernde Freund, der Mann, dem sie einst hätte angehören sollen, und den ein Zufall ihr nach langer Zeit entgegenführte, auf ihr Herz gemacht, nicht ganz erwehren, sie hat ihn nicht mit völlig ruhigem Gemüt betrachten können. Sie hat gefehlt; aber sie hat ihren Fehler erkannt, bereut und gebüßt – und wer wird in der Lage, in der sich die vom Gemahl Vernachlässigte, Verlassene, tief Gekränkte befand, sie wohl streng zu richten wagen? Fahrnau erkennt dies wohl, er fühlt sein Unrecht gegen sie, sie das ihrige gegen ihn, und so kommen sich Herzen und Geister nach schweren Prüfungen geläutert, liebend und treu entgegen. Das war meine Vorstellung von Leonorens Verhältnis zu ihrem Mann und zu Tengenbach.

Unser Freund Hofrat Büel verließ uns diesen Sommer, um, nachdem er die Erziehung des jungen Grafen Moritz Browne beendet hatte, und dieser an Geist und [110] Kraft wunderbar herabgekommene Jüngling ins Militär getreten war, über Oberitalien in sein Vaterland, nach Zürich zurückzukehren. Diese Abreise war ein großer Verlust für mich, insbesondere aber auch für unseren ganzen geselligen Kreis. Büel war ein Mann von gediegenem Charakter, gründlichen Kenntnissen, christlichem Sinn und herzlicher, beinahe kindlicher Wahrheit und Güte. Ihm konnte ich vertrauen, ihm vertraute ich auch von Herzen, ihm konnte ich recht ernst über manche Vorgänge in meinem Innern, über meine Fehler und Irrtümer sprechen, und oft sagte ich im Scherz (er war reformierter Prediger in der Schweiz und mit einer liebenswürdigen Frau verheiratet gewesen, nach deren Tod er seine Stelle aufgab, sein Vaterland verließ, in Deutschland herumreiste, und ich weiß nicht mehr wie, die Hofmeisterstelle bei Graf Browne übernahm), oft also sagte ich ihm im Scherz: für mich als Katholikin sei sein Priestertum ein Charakter indelebilis, und als solchen betrachtete ich ihn wie meinen Beichtvater. Und wirklich hat der erfahrene Freund, der Welt und Menschen genau kannte, und mir herzlich wohl wollte, mir manchen weisen Rat gegeben, manchen Trost erteilt, und mehr als einmal eben wie mein guter Pater Marcellian mir das rechte Verständnis meines Innern eröffnet.

Mit ihm verließen auch die beiden jungen Maler Ignatius und Pezzold Wien, um wenigstens einen Teil ihrer Römerreise mit dem väterlichen Freund zu machen. Wir gaben Ignatius noch eine hübsche Uhr meiner Mutter und andere kleine Andenken mit; wir hofften, ihn wieder zu sehen. – Es kam anders. Er kehrte über München nach Petersburg zurück, wo er nach einiger Zeit eine genügende Versorgung als Hofmaler [111] in Zarskoje-Selo fand, dann sein Mädchen (Fräulein Schadow) aus Berlin abholte, und nur zu kurze Zeit mit ihr glücklich lebte. Sie starb bald, und er folgte ihr in Kurzem. Friede seinem Andenken! Er war ein vorzüglicher junger Mann und ein freundlicher Briefverkehr verband uns bis zu seinem Tode. Noch besitze ich radierte Blätter, die er mir als Andenken geschickt, meist religiöse Sujets; ein anderes Kahier ebenfalls von seiner Hand, Ansichten von Petersburg, die uns besonders zur Zeit, als die große Überschwemmung der Newa aller Blicke auf diese hart mitgenommene Stadt zog, von großem Interesse waren, habe ich später einer Freundin, die selbst Künstlerin ist, der Frau Pauline von Schmerling verehrt. Wohl glaubte meine Tochter in einer Stelle eines Briefes, den Ignatius aus Rom an eine gewisse Frau von Krause geschrieben, die wir später kennen lernten, und die uns, wie Lotte sich erinnert, diesen Brief selbst mitteilte, einen bittern Anstoß zu finden. Er hatte nämlich an Frau von Krause geschrieben: Ein Wort von Ihnen ist mir lieber als ein Brief der Pichler. – Ich habe die Stelle auch gelesen, sie hat mich nicht erfreut, aber Frau von Krause war jung und ziemlich hübsch, Ignatius hatte sich sonst in jedem Stücke als rechtlicher Freund gegen uns bewiesen, so nahm ich ihm denn jene Äußerung nicht so übel, und blieb ihm nach wie vor herzlich gut.

Diese Freunde waren also fort und nur der älteste von ihnen, Büel, kam nach ein paar Jahren wieder, uns und seine übrigen Bekannten zu besuchen. Dies war das letztemal. Schon damals zeigte sich eine große Abnahme seiner Kräfte; später rührte ihn eine Art Schlagfluß. – Wir setzten unsere Korrespondenz fleißig fort, aber auch sogar seine Briefe trugen die Spur seiner zunehmenden [112] Schwäche. Ein paar Jahre später führte sich der damals neu angekommene schweizerische Gesandte, Baron von Effinger Wildegg, ein ausgezeichneter, gebildeter Mann, durch einen Brief von Büel bei uns ein. Ohne im geringsten Anspruch auf äußere Wohlgestalt zu machen, sprach sich in des jungen Mannes ganzem Wesen eine höhere Bildung, ein feinerer Sinn und richtiger Takt aus. Ich werde Gelegenheit haben, bei einer meiner späteren Arbeiten ihn, so wie jenes jungen Malers Pezzold zu erwähnen. Noch einige Jahre dauerte meine Korrespondenz mit Büel, die häufig jetzt durch Baron Effingers Vermittlung geführt wurde, fort. Öftere, sehr ernste Kränklichkeiten, die Schlaganfällen nur zu ähnlich waren, unterbrachen manchmal lange unseren brieflichen Verkehr. Endlich kam einmal – ich denke es war im Jahre 1830 – ein Brief mit so unsicherer Hand und in Ausdrücken geschrieben, die sehr deutlich auf einen gänzlichen Verfall der Kräfte und auch darauf hindeuteten, daß der verständige, fromme Freund seinen Zustand ziemlich klar erkannte. Mir tat das unendlich weh – denn, wenn gleich getrennt, hatte ich doch das mir so tröstliche Bewußtsein, daß, so lange Büel lebte, dort fern in den schweizerischen Bergen ein Herz schlug, das an allem, was mir und den meinigen begegnete, lebhaften, treuen Anteil nahm. Effinger, dem ich den Brief zeigte, urteilte ebenso: das ist ein Abschiedsbrief, sagte er mit wehmütigem Ausdruck und wirklich kam, vielleicht kein Jahr nach diesem Blatte, die Nachricht von Büels Tode mir durch einen andern bewährten Freund in der Schweiz, in Winterthur, Herrn Peter, den Büel vor vielen Jahren als einen jungen, blühenden Mann bei uns eingeführt hatte und der nun schon lange als angesehener [113] Kaufmann und Familienvater in Winterthur lebte, von wo er fast alljährlich eine Reise nach Wien macht und zu unserer Freude nie vergißt, uns zu besuchen. Von ihm erhielt ich auch später Büels wohlgetroffenes Porträt.

Nach dieser Abschweifung, die ich mir erlaubt, um das Verhältnis, in welchem Büel zu uns stand, ganz bis zu seinem Tode zu schildern, wozu in den spätern geeigneten Jahren, zwischen lebhafter bewegten Szenen vielleicht sich keine passende Gelegenheit geboten hätte, kehre ich zu dem Sommer von 1817 zurück.

Der Herbst nahte sich mit seinen geselligem Abenden, wir blieben jede Woche, so wie früher zu Lebzeiten meiner Mutter, ich denke jeden Dienstag und Donnerstag abends, zu Hause, um die Besuche unserer Freunde und auch Fremder zu empfangen. Außer diesen gingen wir aber auch an Sonntagen abends fast niemals aus, weil mir der Zusammenfluß so vieler Menschen, wie er an Feiertagen stattzufinden pflegt, unangenehm war. Des Sonntags aber kamen nur unsere näheren Freunde und Bekannten, die Baronin Rothkirch, Richler, Br. Bretton usw. zu uns.

Grillparzer, den unser Haus und der Ton, der darin herrschte, so wie der Kreis, der uns umgab, im Anfange angesprochen zu haben schienen, war an Dienstagen und Donnerstagen abends oft bei uns, und nicht selten an Sonntagen unser Gast zu Mittag, dann blieb er auch manchmal den Nachmittag und Abend bei uns, und machte mit mir und meiner Tochter Musik, denn er spielt sehr fertig Fortepiano, und phantasiert auf demselben mit ebenso viel Talent als Geschmack. Sein reich geschmückter Geist, noch mehr aber die Einfachheit und Herzlichkeit seines Benehmens, gewannen ihm [114] unser aller Achtung und Zuneigung, und auch er schien sich mit gleichen Gesinnungen an uns anzuschließen. Er benahm sich offen und herzlich; er erzählte von seiner Jugend, von seinen Eigenheiten, teilte uns seine poetischen Pläne mit (damals arbeitete er an der Sappho) und manches kleine Gedicht, von denen einige ihren Ursprung seinem Umgang mit unserm Hause dankten. So z.B.: Das Gespräch in der Bildergallerie, ein anderes bei der Zurückgabe eines Exemplars des Thomas a Kempis, den ihm meine Tochter geliehen hatte, und das schöne Frühlingsgespräch, das, wie ich glaube, bald darauf in der Aglaja erschien. Wir waren nämlich an einem schönen Frühlingsnachmittag, wo die außergewöhnliche Wärme die Blüten im Garten vor der Zeit erschlossen hatte, hinabgegangen, und standen vor einem Mandelbaume, der in den ersten Tagen des Aprils oder gar noch in den letzten des Märzes mit tausend halbrötlichen Blüten prangte, und sprachen darüber. Außer meiner Tochter und Grillparzer war noch Graf v. Stadion, der als Kadett in der nahen Kaserne wohnte, und uns oft besuchte, gegenwärtig, und ich stand bei dem Dichter in dem Verdachte, im Leben und auch in den Erzeugnissen der Poesie, das Ernste, das Moralische, welches den Menschen erhebt und bessert, dem rein Phantastischen, der poetischen Poesie vorzuziehen. Wenige Tage darauf brachte nun Grillparzer das folgende Gedicht, welches den Vorgang und die teilnehmenden Personen vortrefflich charakterisierte.


Mutter (ich):
Wie die Knospen schwellend blitzen!
Jede scheint ein schöner Stern;
Er kann blühen, er kann nützen,
Blüt' und Frucht, so hab ich's gern.
[115] Jüngling (der Dichter):
Glücklich bin ich wie ein König!
Mir gefällt der wackre Strauch.
Schläft acht Mond', blüht dann ein wenig,
Ja, bei Gott! so mach ich's auch.
Mädchen (meine Tochter):
Weiß der Unschuld, Rot der Freude,
Und der Hoffnung frommes Grün
Stehn auf ihrem Blütenkleide,
Und zum Himmel sehn sie hin.
Soldat (Graf Walter v. Stadion):
Weiß und rot, mit Grün umwachsen,
Recht gut kaiserlich, fürwahr!
Hat man Lust sich rum zu boxen,
Beut er seine Gerten dar. 1
Der Gärtner, nachdem jene Personen sich entfernt haben:
Ei! mit Hoffen, Wünschen, Freuen!
Mit Erwartung, Blut und Frucht!'
Heut nacht kommts, denk ich, zum Schneien,
Dann kommt morgen her, und sucht!

Und wirklich, um den Spruch des alten Römers wahr zu machen, daß die Dichter Seher sind: – ast sacri vates et divum cura vocamur – kam bald darauf Kälte und Reif, und der Mandelbaum, der die Veranlassung zu dem sonnigen Gedichte gewesen, brachte auch nicht eine Frucht. Ein paar Jahre darnach ging er ganz zugrunde, es war ein sehr alter Baum, und mit ihm die letzte sichtbare Erinnerung an jene schöne Zeit, wo wir uns an Grillparzers Umgang erfreuten, und er sich in unserer Freundschaft zu gefallen schien.

Die Sappho war nun vollendet und sollte gegeben werden. Ein Zug, der Grillparzers Gemütsstimmung treu abspiegelt, war ein Traum, den er uns damals erzählte. [116] Er träumte nämlich, er befände sich bei der ersten Aufführung der Sappho im Theater; das Stück mißfiel gänzlich, und er sah, wie ich und meine Tochter in einer Loge durch Lachen und spöttische Mienen in das allgemeine Urteil einstimmten, und uns über das Stück lustig machten. Dieses Traumbild war nichts anderes, als der Unfrieden, wie er ihn selbst in einem spätern Gedichte nennt; dies tückische Gespenst, das aus seinen Werken, so wie sie vollendet sind, hämisch herausblickt, und ihm sagt, daß sie nichts taugen; es war die Stimme des Hypochonders in ihm, welche ihm im voraus schon jede Freude verleidet.

Bei der Aufführung ging es ganz anders, als der mißmutige Dichter geglaubt hatte, die Sappho fand ungeheuren Beifall, und wir erfreuten uns bei der ersten Vorstellung von ganzem Herzen des Triumphs, den der Dichter feierte.

Bald nachher aber wurde seine Stimmung immer trüber und trüber, er kam selten und immer seltner zu uns, und da wir gar keine Veranlassung zu dieser Veränderung kannten oder ersinnen konnten, mußten wir sie, so leid es uns tat, ertragen, ohne etwas dagegen tun zu können.

Ich habe bei den Beziehungen unseres Hauses zu dem Verfasser der Sappho, so wie früher bei denen zu Büel, um des Zusammenhanges willen, der Zeit vorgegriffen, denn die Sappho wurde erst 1818 aufgeführt.

Dieses Jahr ließ sich in Beziehung der Witterung viel besser an, als mehrere vorhergegangene. Man versprach sich eine gesegnete Ernte, und die düstere Prophezeiung von dem Gesicht, welches der Türmer von St. Stephan gesehen haben sollte, ging nicht in Erfüllung. Aber niemand sprach darüber und so sind die [117] Götter gerettet, und die Orakel blieben bei Ehren. Trifft eine solche Vorhersehung ein, hält ein Lostag Wort, und bringt das Wetter, das er nach dem Sprichwort bringen sollte (und diese sind nicht bloß aus der Luft gegriffen, sondern auf vieljährige Erfahrung der Landleute, Jäger usw. gegründet), so wird es mit Vergnügen bemerkt; fehlt die Voraussagung, so denkt niemand daran; sie wird nicht Lügen gestraft, sondern man baut das nächste Jahr darauf mit eben der Zuversicht als auf etwas Unfehlbares.


* *

*


Im Anfange des Sommers gingen wir wieder nach Lilienfeld, wo Pichler oft Geschäfte in den weitläufigen Waldungen des Stiftes sowohl, als den angrenzenden Gräflich Hoyosschen Besitzungen hatte. Wir freuten uns auch, den würdigen Herrn Prälaten wieder zu sehen, der uns stets freundschaftlich behandelte, und so zählten wir auf einige recht genußreiche Tage in der herrlichen Gebirgsgegend.

Und noch eine kleine Hoffnung gesellte sich dazu. Der Prälat nämlich als vorzüglicher Dichter und Verfasser der Tunisias und Rudolphiade hatte in Wien Grillparzers Bekanntschaft gemacht, den jungen Mann liebgewonnen und eingeladen, ihn in Lilienfeld zu besuchen. Wir hatten nicht ohne Grund vermuten können, er würde vielleicht während unserer Anwesenheit daselbst eintreffen. Es geschah nicht und diese getäuschte Erwartung schmälerte in etwas den sonst so großen Genuß dieses Aufenthalts in den schönen Gebirgen.

War es diesen Sommer oder den darauffolgenden, ich erinnere mich dessen nicht genau, und es ist auch[118] gleichgültig, genug, der Herr Prälat lud uns ein, die Klosteralpe zu besteigen, die sich gleich hinter dem Stifte in die Lüfte erhebt, und wir nahmen den Vorschlag mit Freuden an. Sehr frühmorgens brachen wir in zahlreicher Gesellschaft auf, an der leider mein Mann, den seine Geschäfte abhielten, nicht teilnehmen konnte, und stiegen munter bergan, bei dem schönen Wasserfall vorbei, ungefähr anderthalb Stunden, bis auf den sogenannten Kulm, wo sich eine Meierei des Stiftes befand. Von diesen Anhöhen sahen wir, wenn wir uns rückwärts wandten, die Abtei mit allen ihren weitläufigen Gebäuden, den ganzen Ort Lilienfeld, das dazu gehörige Marktl oder Dörfel, wie es heißt, wo die Gewehrfabrik ist, wie aus der Vogelperspektive, tief unter uns liegen. Es ist eine eigentümliche Empfindung auf einmal so hoch, so fern auf die Gegenstände herab zu blicken, die uns sonst nahe umgaben, zwischen denen wir wandelten, lebten, unsere Geschäfte trieben. Wie so ganz anders stellen sie sich nun unsern Augen dar! Wie klar sahen wir ihre Lage gegeneinander, ihren Zusammenhang, ihre ganze Örtlichkeit ein, deren Beziehungen uns früher, als sie uns noch dicht umgaben, ganz entgangen waren! Ist es im Leben nicht auch so? Gehört nicht ein längerer Verlauf der Zeit, eine Fernstellung durch Zeit oder Raum dazu – oft lange Jahre – bis wir über eine Periode unsers eigenen Lebens oder auch der Geschichte ein klares, richtiges Urteil, sine ira nec studio, wie Tacitus sagt, zu fällen imstande sind?

Auf dem Kulm wurde ein ländliches Frühstück eingenommen, und nach einigem Ausruhen der Weg auf die Alpe fortgesetzt. Hier wurde das Gehen oft beschwerlich. Es ging über steinichte Stellen, wo man[119] klettern mußte, oder über ziemlich gäh aufsteigende Alpenwiesen; und da die Sonne schon hoch am Himmel stand, wirkte auch die Wärme drückend auf uns, obwohl die reine Luft und der Duft der würzigen Kräuter dem Steigen viel von seiner Beschwerlichkeit benahmen. Die letzte steile Anhöhe am Saum eines Waldes hin kam mir, nachdem wir bereits mehr als drei Stunden immerfort bergan gestiegen waren, sehr ermüdend vor. Freundlich unterstützten mich unsere Begleiter und so gelangte ich endlich auf den Gipfel und zur Sennhütte.

Hinter oder vielmehr vor derselben führte man uns nun durch ein kleines Gebüsch auf einen freien Rasenplatz, und hier lagerte sich die ganze Gesellschaft ins kurze, balsamduftende Alpengras, und ruhte eine Weile aus. Ich hatte mich nach dem Rate, den man mir gab, der Länge nach hingestreckt, und – wunderbare Kraft der reinen Bergluft und der Alpennatur! – meine ganze Ermüdung und Erschöpfung verlor sich, und nach wenigen Minuten fühlte ich mich so gestärkt und erheitert, daß ich aufsprang und mir vorkam, als wäre ich wieder jung geworden. Doch konnte ich mich nicht mit Antäus vergleichen, denn sicherlich war es nicht die bloße Einwirkung der mütterlichen Erde, welche mit verjüngender Kraft auf mich eindrang, sondern das Ganze der mich umgebenden Natur. Jetzt traten wir alle an den Rand der Wiese, auf welche wir uns gelagert hatten, und welche Aussicht bot sich uns dar! Von St. Pölten, ja von Melk an, bis gegen Wien lag das ganze Waldviertel wie eine ausgebreitete Landkarte unter uns. Wir konnten den Lauf der Donau durch diese ganze Strecke verfolgen, und jenseits des Stroms noch einen großen Teil des hügelichten, größtenteils mit [120] Wald bedeckten Viertels Obermannhartsberg. Durch ein gutes Fernrohr entdeckten sich dem bewaffneten Auge noch entferntere Punkte, und der Herr Prälat glaubte mit Zuversicht, bei besonders reiner Luft einmal, als er sich mit dem Erzherzoge Johann eben auf diesem Punkt seiner Berge befand, den Stephansturm unterschieden zu haben. Sicher ist es, daß ein paar Jahre später, da ich eben auch in Gesellschaft des Herrn Prälaten und einiger seiner Begleiter den Stephansturm bestieg, wir in der Gegend, in der Lilienfeld liegt, durchs Fernrohr Berge gewahrten, deren Umrisse ziemlich mit denen des Mukenkogels (so heißt die Stiftsalpe) und der sie umgebenden Bergspitzen übereinstimmten. Wenn man nun vom Stephansturm aus jene Berge sehen kann, so kann man ja wohl auch bei recht heiterer Luft von diesen aus den Turm erkennen. Wunderschön war der Ausblick über diesen weiten Landstrich hin; es war von oberhalb Melks abwärts, über Pöchlarn, Mautern usw. der Weg, den die Burgunden des »Nibelungen-Liedes« gezogen waren, und es bestärkte sich in uns die Meinung, welche mehrere Schriftsteller geäußert, daß diese genaue Kenntnis und Schilderung des Reiseweges, sowie mehrere andere Umstände darauf hindeuten, daß der Sänger des berühmten Heldenliedes ein geborner Österreicher oder sehr bekannt mit diesem Lande gewesen sein mußte.

Das war die Fernsicht, welche sich auf dieser Seite darbot; sie war prächtig, erhebend; mir aber gefiel die andere, welche sich uns zeigte, als wir uns umwandten und rückwärts in die kolossale Bergwelt blickten, noch viel besser. Hier türmten sich die gigantischen Berge hintereinander und übereinander empor; einige mit Wäldern bedeckt, andere kahl und schroff. Da erhob [121] sich der Ötscher, hinter ihm blickte in weiter Ferne der Hochschwab hervor, und geheimnisvoll senkten sich in allen Richtungen zwischen diesen aufstrebenden Massen die Täler hinab, Wohnungen der Menschen, einzelne Gehöfte, ganze Dörfer, hier und dort wohl auch kleine Städte in ihrem tiefen unsichtbaren Grund verbergend; für mich war dieser Anblick anziehender als der des weit sich hinbreitenden Flachlandes.

Nachdem wir uns an diesen beiden Naturgemälden erquickt und gesättigt hatten, kehrten wir in sehr fröhlicher Stimmung zur Alpenhütte zurück, wo noch mancher Scherz getrieben und jene (wie es hieß nach einem alten Brauch), welche zum erstenmal auf eine Alpe kamen, getauft wurden. Die Herren (und ihrer waren mehrere) bekamen hübsche Ladungen aus dem Quellbrunnen der Sennerin, der immerfort von sich selbst quillt und treffliches Wasser spendet; aber auch meine Tochter und ich wurden bespritzt, und der Grafen von Hohenberg wegen, die sich in diesen Gegenden einer großen Popularität erfreuten, Mechtild und Agnes getauft.

Ein einfaches, aber sehr wohlschmeckendes Mahl, aus ländlichen Speisen bestehend, ward unter heitern Gesprächen und Scherzen verzehrt, und der Rückweg gegen Abend auf einem andern, aber nicht minder schönen Pfade angetreten. So verging der angenehme Tag, dessen Bild mir nach so vielen Jahren erfreulich wiederkehrt, und ein kleines Gedicht, das ich nach meiner Heimkunft dem Herrn Prälaten mit einem Exemplar der Nibelungenlieder übersandte, sollte ihm meinen Dank für jenen frohen Tag aussprechen, und ihn an die herrliche Aussicht und die Gespräche mahnen, die wir auf jenen heitern Höhen geführt hatten.

[122] Im Herbst, wann die meisten Familien vom Lande oder von Badeörtern wieder in die Hauptstadt zurückkehren, begann auch das angenehme gesellige Leben, wie es damals gestaltet war, sich zu entfalten. Mit ihm kamen seine Zerstreuungen, seine Vergnügungen, aber auch seine Enttäuschungen und mancherlei bittere Augenblicke, welche die unausweichliche Folge einer beziehungsreichen Stellung zu mehreren, ja zu vielen Menschen von verschiedener Denk- und Empfindungsweise sind, in deren Mitte wir uns befinden.

Eines der Häuser, mit welchen wir in nähern freundschaftlichen Beziehungen standen, war das des damaligen Obersten Barons von Rothkirch, dessen diese Blätter schon oft erwähnten. Er sowohl als seine in jeder Rücksicht verehrungswürdige Gemahlin hatten sich seit einer langen Reihe von Jahren als wahre, verläßliche Freunde gegen uns erwiesen. Die Nähe unserer Wohnungen, der – damals beinahe gleiche Fuß, auf dem wir trotz des großen Unterschieds der Geburt lebten; ein gleicher Sinn für Literatur und Bildung hatten diese Bande fester gezogen, und die Abende, an welchen sich unsere nächsten Umgebungen entweder bei uns oder bei ihnen versammelten, waren durch die geselligen Annehmlichkeiten der Frauen und die höhere Bildung der Männer, sehr genußreich. Hier trafen wir mehrere Offiziere des Generalstabes, zu dem auch Baron Rothkirch gehörte, die gehaltvollen Dichter Pannasch und Weingarten, die uns öfters durch Vorlesen ihrer meist dramatischen Arbeiten erfreuten, so wie auch der Herr vom Hause bereits mehrere Trauerspiele geschrieben und sich als militärischer Schriftsteller, ebenso wie jene beiden und die damaligen Hauptleute (jetzt Generäle) von Schönhals und Martini, [123] ausgezeichnet hatte, so daß einer von diesen den Generalstab nicht mit Unrecht »den Geist der Armee« genannt hat. Hierher kam sehr oft Baron Hormayr, der württembergische Gesandte Graf Mandelslohe, sein höchst geistvoller Sekretär Baron von Trott, Graf Bombelles und mehrere andere. Unter ihnen zeichnete sich vorteilhaft der Stiefsohn des früher öfters genannten Professors Schneller, von Prokesch, aus, der seiner hübschen Gestalt wegen vorzugsweise der schöne Fähnrich genannt wurde, dem Generalstab zugeteilt und ebenfalls Mitarbeiter an der militärischen Zeitschrift war, in welcher unlängst ein Aufsatz von ihm: Über die Schlacht von Waterloo erschienen war, der ungemein viel Aufsehen gemacht, und die allgemeine Aufmerksamkeit auf den noch sehr jungen Verfasser gelenkt hatte. Alle diese Personen zusammen bildeten einen höchst angenehmen Kreis der Geselligkeit, und manche derselben besuchten auch unser Haus, so wie wir sie ebenfalls in dem Hause der Baronin Pereira wieder fanden, wo ähnliche Unterhaltungen und überhaupt ein ähnlicher Geist herrschten. Hier durfte man auch darauf zählen, bedeutende fremde Notabilitäten kennen zu lernen, welche selten versäumten, sich bei der Baronin Pereira und ihrer Tante, der Baronin von Eskeles, vorstellen zu lassen. Der Besuch dieser beiden Häuser, die damals vor vielen ihresgleichen glänzend hervorragten, war auch mir sehr angenehm, besonders bei Pereira, wo ein ungezwungener Ton herrschte, viele Jugend sich versammelte, und Musik, Tanz, Vorlesen eine lebhafte Abwechslung der Unterhaltung boten. Ich und meine Tochter kamen oft hin, denn schon zwischen den Eltern der Baronin Pereira und den meinigen hatte ein freundliches Verhältnis gewaltet, [124] und zufällige Ereignisse hatten es zwischen uns fester gezogen.

Im Jahre 1810 entstand bei mancher dringenden, durch die Ungunst der Zeitumstände erzeugten Not unter den Bewohnern Wiens der Verein adelicher Frauen zur Beförderung des Guten und Nützlichen, und die allgemein geachtete Fürstin Karoline von Lobkowitz wurde zur Vorsteherin gewählt. Zwölf Damen bildeten den Ausschuß. Jeder von ihnen war ein Bezirk der Stadt oder der Vorstädte als Wirkungskreis angewiesen, und wohldenkende Frauen des Mittel- und Bürgerstandes waren zu wirkenden Mitgliedern ernannt, welchen die Pflicht oblag, sich um die nähern Umstände der empfohlenen Armen zu erkundigen; den in Kost gegebenen Findelkindern nachzusehen; arme, verheiratete Wöchnerinnen zu besuchen, für sie zu sorgen usw. Ohne mich zu befragen, hatte die Fürstin, in ehrenvollem Vertrauen auf meinen guten Willen, wie sie mich immer mit Auszeichnung behandelt hatte, mich unter die Zahl der wirkenden Mitglieder aufgeschrieben, und ich habe mit Freuden unter ihr sowohl, als unter ihrer unmittelbaren Nachfolgerin, der mir unvergeßlichen Gräfin Dietrichstein, Regentin des Damenstiftes, die Pflichten eines wirkenden Mitgliedes unserer Gesellschaft geübt.

Das Arnsteinische Haus, die beiden Familien Eskeles und Ephraim mit einbegriffen, war wegen seiner Mildtätigkeit gegen Arme und Hilfsbedürftige jedes Glaubens schon lange in Wien geschätzt und berühmt. Jährlich gaben B. Arnstein und seine Tochter bedeutende Summen für solche Zwecke aus, und die übrigen Zweige der Familie blieben nach dem Verhältnis ihres Vermögens nicht zurück. Man hat freilich oft, wenn von [125] reichen Wohltätigen die Rede war, eingewendet, daß sie eben, weil sie reich sind, dies leicht tun können; da es aber eben so viele Reiche gibt, die es unterlassen, so ist, wie ich glaube, diese Eigenschaft, wo sie sich mit dem Reichtum zusammenfindet, immer achtend anzuerkennen, und ich kann, da ich außer jenen Familien noch so manche bemittelte Wohltätige kennen gelernt habe, nicht ganz der Meinung sein, die der Verfasser des trefflichen Stückes: »der Adept« aufgestellt zu haben scheint: als müßte notwendigerweise der Besitz von Reichtümern die Menschen verschlechtern. Die B. Pereira wurde zu einer der zwölf Ausschußdamen gewählt, ihrer Obsorge war besonders das Marienspital in Baden, auch eine Privatstiftung wohltätiger Frauen, übergeben. Hier waren ihr nun, während unseres gemeinschaftlichen Aufenthaltes in Baden, meines Mannes einsichtsvoller Rat, seine freundliche Teilnahme und Unterstützung sehr willkommen; ja, er wurde später von der Frauengesellschaft zu einer Art von Konsulenten nach Graf Pergens Tode ernannt, und wohnte in dieser Eigenschaft ihren Sitzungen regelmäßig bei. Sein edles, menschenfreundliches Herz freute sich jeder Gelegenheit, wo er Gutes wirken, Arme unterstützen, Leidenden helfen konnte. In diesem Sinne war er die Hauptveranlassung, daß eine Quelle des Badner Heilwassers, welche bis dahin unbenützt abgeflossen war, gefaßt und zu einem Bade, das Franzensbad nach dem Namen des Kaisers genannt, für Arme eingerichtet wurde. In eben diesem Sinne war es abermals mein edler Pichler, der die erste Anregung zu dem Wohltätigkeitshause in eben dem Baden wurde, der die Fonds dazu aufsuchte und ermittelte, so daß man wohl sagen kann, daß es ihm seine Entstehung und mehrere hundert [126] Kranke oder Dürftige darin jährlich ihre Heilung oder zeitweise Verpflegung danken.

Alles dies brachte uns in nähere Beziehung mit Frau von Pereira und ihren Verwandten. Wir brachten oft Abende dort zu; im Fasching war jeden Mittwoch thé dansant daselbst, der bis 11, halb 12 Uhr währte, und bei welchen ich mit meiner Tochter und ihrer Gespielin, Fräulein Amalie Schechtern, beide hübsche Mädchen und flinke Tänzerinnen, stets eine willkommene Erscheinung war. An anderen stillen Abenden, wenn nur ein kleiner Kreis sich versammelte, wurde entweder Musik gemacht oder vorgelesen oder auch bloß geplaudert, indem wir Frauen mit unsern Handarbeiten um den runden Tisch herum saßen, die Herren zwischen oder hinter uns Platz fanden, und die Gesellschaft ein Ganzes ausmachte, dessen Seele die Frau vom Hause vorstellte, und jeder, so gut er es vermochte, zu der allgemeinen Unterhaltung beitrug. Die neuere Gewohnheit, daß die Frauen ebensowenig wie die Herren eine Arbeit zwischen den Fingern haben, und also wie diese nur auf das Gespräch, und nicht auf ein allgemeines, sondern auf das von einer oder zwei Personen angewiesen sind, die der Zufall neben sie geführt – diese neue Gewohnheit scheint mir der höhern Geselligkeit gar nicht günstig zu sein. Gewiß ist es, daß der leichte Austausch der Gedanken, zwischen mehreren Personen von ungleichen Ansichten, verschiedener Empfindungs- und Denkungsart, die sich in einem lebhaften allgemeinen Gespräch berühren, gleichsam Geistesfunken aus jedem der Teilnehmer lockt, die dann einer am andern schnell fortzünden, und in rascher Wechselwirkung eine Menge von Behauptungen, Ansichten, Witzspielen usw. zutage fördern, die jeden angenehm aufregen, und [127] ihm das Bewußtsein geben, ebenfalls seinen Anteil zum allgemeinen Vergnügen beigetragen zu haben. Freilich kommt hier das meiste auf die Frau vom Hause an, die es verstehen muß, dies allgemeine Gespräch in Gang zu erhalten, indem sie allgemein ansprechende Gegenstände herbeiführt, was nicht immer leicht ist, weil die Gesellschaft öfters aus heterogenen Teilen besteht. Indessen es geht, wenn nur die Frau vom Hause Lust und Geschick dazu hat, und es nicht vorzieht, ihre Gäste sich den Stoff zum Gespräch mühselig und unbefriedigend genug aus, auf den Tisch gelegten Zeitungen und Kupferwerken suchen zu lassen.

So wie es hier geschildert ist, waren die Abendgesellschaften in früherer Zeit bei den Familien, mit denen wir in freundschaftlichen Verhältnissen standen, beschaffen, unter welchen mir die des königl. preußischen Legationsrats von Piquot, und des hiesigen Staatskanzleirates von Hoppe vorzüglich wert waren. Bei Piquots waren eine Tochter und ein Sohn; Hoppe hatte keine Kinder. In beiden Häusern herrschte ein Ton und eine Geistesrichtung, die mit der unsrigen sehr übereinstimmte. – Bekanntschaft mit den bessern Erscheinungen der neuen Literatur; lebhaftes Interesse daran; zuweilen eine kleine Vorlesung oder ein geistreiches Gesellschaftsspiel erhöhten den Reiz dieser Gesellschaften, denen eine ehrenvolle Gesinnung und wahrhaft freundschaftliches Wohlwollen noch höhern Wert gaben. Bei Piquot hatte Marie, die Tochter, ein Mädchen in Lottens Alter, von seltner Geistesbildung und trefflichem Charakter sich warm an diese angeschlossen und der Sohn, ein geistig gebildeter, aber sonst nicht sehr bedeutender junger Mann, schien nicht gleichgültig gegen sie. Bei Hoppe waren die Frau und ihre Schwester, [128] Fräulein Justine von Krufft, zierliche Dichterinnen, und so wie ihr Bruder Nikolas, ausgezeichnet durch seine Klavierkompositionen und sein meisterliches Spiel, Jugendbekannte von mir und durch lange Jahre mir lieb und wert geworden. – Nun sind sie alle tot! Bei Piquot starben die Kinder noch vor den Eltern, diese folgten ihnen in einigen Jahren, dann beide Geschwister der Mutter; bei Hoppe sind er und sie, ihre drei Geschwister, ein Neffe usw. gestorben, kurz, beide Familien so werter Freunde sind im eigentlichsten Sinne verschwunden. Wie vielmal habe ich dies schon erleben müssen, und wie schmerzlich ist es!

Es wird mir wohl als ein angenehmes, mütterliches Bewußtsein verziehen werden, wenn ich darauf hinwies, daß meine Tochter, ohne eine Schönheit zu sein, ohne schimmernde Talente zu besitzen, schon öfters von höchstbedeutenden Männern war ausgezeichnet, worden, auch von solchen, die keinerlei Absicht auf eine Verbindung mit ihr hatten oder haben konnten und die also nicht die Hoffnung auf ihr einst zu ererbendes Vermögen anlocken konnte. Eben die Einfachheit ihres Wesens, die Wahrheit und tiefe Weiblichkeit ihres Charakters, verbunden mit einer nicht alltäglichen Geistesbildung und einem wohl nicht glänzenden, aber tiefempfundenen Talent für Gesang und Klavierspiel mochte es sein, was eben geistreiche Männer an die, in der Welt immer seltner werdende Erscheinung einfacher Natur und wahrer Gefühle zog. Auch kann der Leser sich aus dem Gange der Erzählung selbst beantworten, ob meine mütterliche Eitelkeit mich bei dieser Bemerkung getäuscht hat.


* *

*


[129] Während dieser angenehm bewegten Zeit verlor sich aber leider einer der bedeutendsten Teilnehmer unseres geselligen Kreises, Grillparzer, immer mehr aus demselben. Die heitere Stimmung, die ihn eine Zeit hindurch beseelt und seinen natürlichen Trübsinn verscheucht zu haben schien, verschwand allmählich und machte düsteren Ansichten Platz. Er kam selten, meist nur, wenn er ausdrücklich gebeten wurde und selbst dann lag trotz der Feinheit seines Benehmens und des natürlichen Wohlwollens, das ihn stets belebte, etwas in seiner Art sich zu betragen, das uns zweifelhaft ließ, ob die Einladung ihm willkommen gewesen, ob sie ihn nicht geniert haben möchte. So machte er es bei Piquot, bei Hoppe, bei Pereira und bald wurde es eine Seltenheit, wenn er wieder einmal sich in einem dieser Häuser sehen ließ.

Wir pflegten alle Jahre eine kleine Weinachtsfeier bei uns zu halten. Ein Baum wurde mit Lichtern, Bändern usw. geschmückt, und der nähere Kreis der Freundinnen und Bekannten meiner Tochter mit kleinen Gaben beschenkt, welche meistens in Kindereien, in Anspielungen auf vorwaltende Verhältnisse bestanden, von erklärenden Versen begleitet, und so ein harmloser Scherz waren.

Im vergangenen Jahr 1817, wo wir unsere Bescherung statt zu Weihnachten nach der alten österreichischen Sitte am Nikolaustag hielten, war er ebenfalls gebeten. Viele ernste und komische Verse und Sprüche kamen vor, ihm wurde eine Leier mit einem Lorbeerzweige überreicht, welchen die folgenden Verse begleiteten:


Nimm dies Saitenspiel aus meiner Hand,

Mit dem wohlverdienten Reis umwunden,

Die Gefährtin deiner schönsten Stunden

[130]

Und der besten Himmelsgabe Pfand.

Mächtig kannst du zu den Herzen sprechen,

Sie nach Willkür unter Martern brechen

Oder zaubern in die höchste Lust.

Laß dich einen Himmelsbürger 2 warnen,

Von den dunkeln Mächten nicht umgarnen 3,

Folg der Spur in deiner eignen Brust.

Auf der Tugend steilen Felsenwegen

Führ die Herzen jenem Ziel entgegen,

Das dir selber strahlt aus lichten Höhn.

Dann mag unter donnernden Gewittern

Jede Hoffnung, jede Lust zersplittern,

Mag das Leben untergehn,

Ewig wird ihr wahres Glück bestehn.


In diesem Winter (1818), in dem Grillparzer sowie im vorhergehenden, als einer der wertesten jüngern Bekannten, ebenfalls beschenkt wurde, hatte ich für ihn, der eben mit frischem Lebensmute an seiner Medea arbeitete, einen Kupferstich, der den Theseus im Kampf mit dem Minotaurus vorstellte, gewählt, und er wurde von folgenden Versen begleitet:


Mit der Argo kühnen Helden

Wagt' einst Theseus auch den Zug,

Und die alten Sagen melden

Uns von Kampf und Fährlichkeit genug.


Klippen waren zu umschiffen,

Oftmals hemmte träger Sand,

Oftmals zwischen Felsenriffen

Schien das Fahrzeug festgebannt.

Doch die Götter lächeln Gnade,

Und der Lauf beginnt aufs neu,

Alle feindlichen Gestade

Segelt Argo kühn vorbei.


Bringt das goldne Vließ zurücke

An der Heimat teuren Strand:

Und noch sind der Nachwelt Blicke

Rühmend auf die Tat gewandt.

[131]

Dein Beginnen wird wie jenes enden,

Glück und Ruhm sind dir gewiß,

Und zum zweitenmal aus deinen Händen

Nehmen wir das goldne Vließ.


So wohl und herzlich gemeint diese Worte waren, schienen sie den Dichter doch eher trüb als froh zu stimmen, und es ging mit dieser kleinen Gabe, sowie mit manchem andern Versuch in dieser Zeit, der bestimmt war zur Aufheiterung, zur Herstellung des alten zwanglosen Verhältnisses wie es früher zwischen uns geherrscht hatte, beizutragen; es mißglückte und schien gerade das Gegenteil, Mißmut und Entfremdung hervorzubringen; ja, es war als berühre ihn schon jetzt die Vorahnung eines unseligen Ereignisses, das bald darauf eintrat.

Grillparzer liebte seine Mutter aufs innigste, und wurde ebenso von ihr geliebt. Ihm Freude zu machen, entschloß sie sich, ihr lange beiseite gesetztes Klavierspiel wieder hervorzusuchen, um mit ihm die vierhändigen Stücke aus Beethovenschen oder Mozartschen Sinfonien, Sonaten usw. oder die Ouvertüren der neuesten Opern zu spielen, die er mich und meine Tochter oft spielen hörte, und einst äußerte er sich gegen diese in Rücksicht seiner Mutter: daß, wenn sie sterben sollte, man ihn nur gleich mit ihr begraben möchte, weil er sonst niemand auf der Welt habe!

Und diese Mutter starb! eben in diesem Winter, eben während er an seiner Trilogie: der Gastfreund, das goldene Vließ und Medea arbeitete; und so wie man erzählte, war diese Katastrophe von sehr erschütternden Umständen begleitet. Ich war damals der Meinung, daß diese über alle Maßen störende Unterbrechung der Fortsetzung seiner Arbeit an jener [132] Trilogie nicht günstig sein könne und sagte es ihm, als ich ihn – sehr unvermutet bald darauf wieder sah, er aber war hierin anderer Meinung und setzte seine Arbeit fort.

Er war jetzt ziemlich lange nicht bei uns gewesen. Wenige Tage nach diesem traurigen Vorfall besuchte er meinen Mann im Bureau, was sonst äußerst selten geschah, und sagte ihm, daß er mit seinem Schmerze zu ihm komme, weil er glaube, daß nach seiner Mutter Tod niemand wärmer an ihm teilnehme als unser Haus. Befremdend war diese Äußerung seiner Anhänglichkeit wohl in einer Periode, wo er sich seit mehr als einem halben Jahre ganz von uns zurückgezogen, und auffallend kalt gegen uns benommen hatte. Dennoch empfingen ihn Pichler, und als er bald darauf zu uns kam, auch wir mit großer Herzlichkeit, obwohl ich nicht bergen kann, daß in der Tiefe unsrer Herzen etwas Gespanntes zurückblieb, erzeugt durch das Bewußtsein seines kalten Benehmens. Nach und nach glich sich das wieder aus, die alte Freundschaft trat wieder in ihre Rechte ein, aber das allererste Verhältnis ganz rücksichtsloser Annäherung, wie es im Anfang unserer Bekanntschaft und bis nach der Aufführung der Sappho bestanden, stellte sich nicht wieder her.

In diesem nämlichen Winter von 1818/19 lernten wir den Stiefsohn einer unsrer alten Bekannten, des Herrn Professor Schneller (damals in Grätz) kennen, Herrn von Prokesch, oder vielmehr wir erneuerten seine Bekanntschaft wieder, die wir schon im Winter 1816 gemacht, wo Ignatius, der junge livländische Maler, der in unserem Hause wohlbekannt und gerne gesehen war, diesen seinen Freund, einen sehr geistreichen, feingebildeten jungen Mann aufführte. Die Stellung, [133] welche dieser Mann seitdem in der Welt eingenommen hat, seine Kenntnisse, seine Talente, die Bahn, welche er durchlaufen, der Platz, den er jetzt behauptet, werden es begreiflich machen, daß seine Erscheinung in unserem Kreise nicht unbemerkt bleiben konnte und daß er bald unter der damaligen Bezeichnung »der schöne Fähnrich« ein bedeutendes Mitglied desselben wurde.

Im folgenden Frühling machte unser Hof eine Reise nach Italien. Grillparzers dichterischer Ruhm, sowie seine einnehmende Persönlichkeit hatten ihm viele Freunde und Teilnehmer an seinem Wohl erworben, und so fand er Gelegenheit, sich Personen des Hofes anzuschließen und die Reise im kaiserlichen Gefolge mitzumachen, wozu ihm jedermann, der ihn kannte, Glück wünschte, weil man sich eine günstige Einwirkung auf sein Gemüt wie auf seine Gesundheit versprach. Sein väterlicher Freund und Ratgeber, Schreyvogel, interessierte sich sehr dafür und freute sich dieses glücklichen Zufalls für seinen Günstling, und dieser in jugendlich frischem Mute, wie ihn ihm die Hoffnung, das Hesperische Land zu sehn, einflößte, rezitierte uns ein Gedicht, welches er auf die bevorstehende Reise gedichtet und wovon ich eine Strophe behalten habe, die ungefähr so lautete:


Dann komm ich zurück mit frischem Sinn,

Und schaff' in stolzer Ruh,

Was jung soll sein, wie ich es bin,

Und alt soll werden wie du (nämlich das ewige Rom).


Wie wenig entsprach der Erfolg diesen fröhlichen Erwartungen! Ebensowenig als die glänzende Aufnahme der Sappho, von der sich seine Freunde so viel Gutes für des Dichters Erheiterung versprochen. Es[134] war und ist wohl in dieses Sängers Innerm ein Zug, der ihm nicht erlaubt, sich irgendeines Gelingens recht zu erfreuen, wie er es auch in dem »Bann« und dem »Unfrieden« geschildert hat, und das ihm nach Iphigenias Worten: »die nächste Freude von den Lippen wegzehrt.«

Bald brachte uns Schreyvogel seinen ersten Brief aus Venedig. Die ganze Trunkenheit jugendlicher Lust sprach aus diesem Blatt. Der Anblick der Meerstadt, die Neuheit des Schauspieles, die italienische Luft – alles schien bezaubernd auf den empfänglichen, mit aller Kenntnis des Altertums und der Neuzeit geschmückten Geist gewirkt zu haben. Herzlich erfreuten wir uns dieses Briefes und der milden Freude seines väterlichen Freundes, der einigen Wert auf unseren warmen Anteil an seinem Günstling zu legen schien. Der zweite Brief, aus Rom, trug schon ein ganz anderes Gepräge. Hier sprach ihn alles weniger an, vieles widerte ihm, die Fasten (es war die Karwoche), die er, als zur Suite des Hofes gehörig, beobachtete, die italienische Küche schadete seiner Gesundheit, und aus diesen und ähnlichen Einwirkungen erkläre ich mir die so höchst gereizte, so befremdende Stimmung, welche ihn antrieb, auf den Ruinen des Kolosseums ein Gedicht zu verfassen, das zwar nichts Schlimmeres enthielt, als Schiller uns in den Göttern Griechenlands sagte, das aber einem Katholiken weniger zu verzeihen war und das noch darüber eine Bitterkeit der antichristlichen Stimmung zeigte, wie sie nur ein zweimal abtrünniger Gibbon gegen das Christentum aussprudeln konnte. Damals wußten wir von dem Gedichte noch nichts, und es wäre zu wünschen gewesen, daß nie jemand davon erfahren hätte. Daß es [135] bald darauf, ehe er noch hier war, in der Aglaja erschien, war gewiß ein Mißgriff seines sonst wohlgesinnten Freundes Schreyvogel, der dem Dichter viel Schaden getan, indem er aufs strengste von der Zensur gerügt wurde und sogar die Bogen der Aglaja umgedruckt werden mußten. Er selbst war indes bei dem schwer erkrankten Grafen Wurmbrand, der ihn liebgewonnen, in Neapel zurückgeblieben. Geschrieben hatte er uns nicht mehr, und die ganze freundlichere Stimmung, welche nach dem Tode seiner Mutter sich gezeigt, war wie ein freundlicher Sonnenstrahl an einem halbtrüben Tage hinter den Wolken verschwunden, ohne daß wir erraten konnten, warum. Nur Schreyvogel kam noch öfters, solange wir hier blieben, und brachte uns Nachricht von dem Entfernten.

In der Mitte dieses Sommers kam denn auch für uns abermals die Zeit, uns zur Reise nach Ungarn zu dem Wiedersehen so werter Freunde zu rüsten. Dieses Jahr wartete unser noch eine besondere Feierlichkeit. Unser vieljähriger Freund, der Feldkriegskommissär von Romano, derselbe, der uns vier Jahre früher das erstemal nach Bucsan begleitet hatte, sah sich nun, durch die Umstände begünstigt, am Ziele seiner lange genährten Wünsche und war auf dem Punkte, der lange und treu geliebten Freundin Wilhelmine von Artner seine Hand bieten zu können. Die Hochzeit sollte auf dem Gute des Barons von Zay im Gebirge, welches von jeher der Lieblingsaufenthalt der Baronin und der Artnerschen Schwestern gewesen war, gefeiert werden. Wir versahen uns daher schon hier mit »hochzeitlichen Kleidern« und freuten uns überdies sehr, daß noch vor unserer Abreise der Baron auf ein paar Tage nach Wien kam und sein Absteigquartier bei uns nahm. Während [136] dieser kurzen Frist fiel eine so außerordentliche Hitze ein, daß – es war eben um die Erntezeit – einige Personen auf den umliegenden Feldern vor Hitze krank wurden oder, wie man sagte, sogar starben. Ein paar Tage darauf erschien ein kleiner, aber mit freiem Auge sichtbarer Komet am nordwestlichen Himmel, der aber nicht lange über unserm Horizont verweilte. Nach wenig Tagen brach sich auch die allzugroße Hitze durch ein heftiges Gewitter und die Luft wurde wieder gemäßigt.

Ich glaube während meines langen Lebens bemerkt zu haben, daß jene Sommer, in welchen Kometen erschienen, besonders heiß waren, so der von meinem Geburtsjahre 1769, wie ich im Anfange dieser Blätter berichtet, so im Jahre 1811 und 1819. Nach den, freilich viel richtigern Beobachtungen, welche die Kalender des Herrn von Littrow enthalten, trifft dies sich nur zufällig; aber meine Erinnerungen sind eben jener Beobachtung günstig gewesen.

Von Grillparzer hörten wir, ehe wir Wien verließen, daß er auf der Rückreise aus Italien nach Gastein gegangen sei, wo er auch später öfters mit dem damaligen Prälaten von Lilienfeld, seinem Freund, zusammentraf oder die Reise mit ihm machte. Daß wir sonst gar nichts vernahmen, wunderte uns bei der Kenntnis von diesem düstern Charakter nicht, der so oft, trotz seiner tiefen Gefühle für alles Schöne und Gute, selbst die Berührung einer treuen Freundeshand nicht vertragen konnte.

Wir waren also nach Bucsan gekommen und sollten von dort in sehr zahlreicher Gesellschaft nach dem alten Stammschloß Zay-Ugrócz abgehen; nämlich mit allen Schwestern der Braut, Mariannen von Neumann, der [137] Jugendfreundin derselben, mit ihrem Gemahle und einem Offizier, dem Rittmeister vom Regimente Kronprinz-Kürassier, Hrn. Töpke, dessen sonderbares Schicksal hier mit ein paar Worten erzählt werden mag. In seinem Vaterlande Hannover zum ausübenden Arzte bestimmt, bereitete er sich in seinem zwanzigsten Jahre eben vor, die rigorosen Prüfungen zu machen und dann seinen Beruf anzutreten, als ihn das Los, Soldat zu werden, unter der Regierung Königs Jérôme von Westfalen traf, und er ohne weiteres in ein Regiment enrolliert wurde. Dies Regiment war eines von den beiden, mit welchen in der Schlacht von Leipzig der damalige Befehlshaber derselben, Baron von Hammerstein, zu den Österreichern überging. So warf ein unberechenbarer Zufall den jungen Mann aus seiner gewählten Bahn zuerst in eine ganz verschiedene, die er wahrscheinlich freiwillig nie betreten haben würde, und so brachte die zweite Begebenheit den jungen hannoverischen Arzt nach Österreich und in den Dienst eines Staates, den er kurz vorher als eine feindliche Macht hatte betrachten müssen. Seltsames Spiel scheinbarer Zufälligkeiten – und doch gewiß eine weise und zweckmäßige Leitung der Vorsicht. Töpke ist nun längst Stabsoffizier, und wenn ich nicht irre, in dem berühmten Regiment Savoyendragoner, das noch immer den Namen des Helden Eugen trägt. Er ist verheiratet, lebt angesehen und vergnügt, wie ich höre und wie es sein rechtlicher Charakter, sein gebildeter Geist verdient hat.

Damals war er ein junger, ziemlich hübscher Offizier, der der ganzen Gesellschaft durch seine Persönlichkeit sowohl als durch sein treffliches Talent zum Vorlesen willkommen war. Nebst ihm war noch ein Herr [138] von Maillard aus Tyrnau in der Gesellschaft, vielleicht noch ein paar Personen, deren ich mich nicht erinnere, und dann die Hausgenossenschaft der Zayschen Familie. Diese ganze ziemlich zahlreiche Versammlung, die sich in Bucsan zusammengefunden hatte, war bestimmt, von dort nach Ugrócz abzugehen, und diese Reise machte mir durch die begleitenden Umstände ein besonderes Vergnügen. Sie begann nämlich in der Nacht vor Tagesanbruch. Und dies war notwendig, um bei der schlechten Beschaffenheit der Straßen zum Mittagsessen noch Ugrócz, das 8 bis 10 Stunden entfernt im Gebirge und vor dem kein Ort zum Einkehren lag, zu erreichen. Alles ging daher den Abend vor dem Aufbruch zeitlich zur Ruhe, und um zwei Uhr nach Mitternacht, wo es selbst im Anfange des Juli noch Nacht ist, wurde die ganze Gesellschaft geweckt. Jeder suchte sich bald fertig zu machen, man frühstückte, trug sein kleines Gepäck zusammen – die Wagen mit den Koffern waren schon den Tag zuvor abgegangen – und allmählich sammelte sich die Gesellschaft im Schloßhof, wo die bereits angespannten zahlreichen Chaisen standen, und die Laternen und Fackeln der einpackenden Dienerschaft die Finsternis einigermaßen erhellten. Noch aber erkannte und fand man sich eigentlich nur an den Stimmen zusammen, und endlich zwischen 3 und 4 Uhr war alles in Ordnung, und die Gesellschaft in die Wagen verteilt. Kaum zeigte sich, wie wir hinaus ins Freie kamen, in Ost ein hellerer Streifen am Horizont. Das heilige Licht, wie alles Gute und Wahre in der Welt wurde langsam, aber unwiderstehlich stärker, die Schatten wichen allmählich, wir fingen an, uns selbst, die Wagen, die Gegend um uns zu erkennen. Jetzt war es Tag geworden, jetzt lag die freundliche [139] Landschaft und die Hügelkette, von welcher das Schloß Freistadtl aus seinen Gärten herabblickt, vor uns. Aber noch war die Sonne, die Königin des Tages, nicht erschienen. Der Wagenzug klimmte den Gabor, einen mäßigen Berg, hinan, und bei jedem Schritt vorwärts erweiterte sich der Gesichtskreis und traten uns mehrere Ortschaften und Fluren vor die Augen. Nun war der Gipfel erreicht, und in diesem Augenblick (die Marschroute war auf diesen Effekt berechnet) stieg die Sonne empor, und jetzt erst schien der Gegend Licht und Leben erteilt. Es war ein schöner Moment, der gar wohl zu frommen Gefühlen stimmen konnte. Alle hatten die Wagen verlassen und weideten sich an dem schönen Schauspiel, denn alle oder doch die meisten in diesem ziemlich zahlreichen Kreise hatten tiefen Sinn und warmes Gefühl dafür.

Die wieder angetretene Fahrt brachte uns nun durch minder pittoreske, aber fruchtbare Gegenden um Mittag an unser Ziel, das Schloß Zay-Ugrócz, wo unser in ländlicher Stille, aber zusagender Geselligkeit von werten Hochzeitsgästen angenehme Tage warteten. Schade nur, daß eine kühle, regnerische Witterung uns in der ersten Zeit manche Spazierfahrt und noch mehrere Spaziergänge verdarb. An einem recht regnerischen Abend aber kam, trotz der unfreundlichen Atmosphäre, ein gar lieber und überraschender Besuch; Baron von Jetzer, ein alter, treuer Freund des Hauses, damals Hauptmann im Generalstab, jetzt lange schon General, trat mit Grillparzer ein, dessen Ankunft uns ebenso erfreulich als unvermutet war, denn niemand von uns allen hatte seit langem von ihm etwas mehr gewußt, als daß er auf der Rückreise von Italien nach Gastein gegangen war.

[140] Herzlich freuten sich alle, besonders die treffliche Frau vom Hause über diesen Besuch, der ihrem Hause so schmeichelhaft war, und er versprach auch, mehrere Tage bis nach den Hochzeitsfeierlichkeiten zu bleiben. Er erzählte uns von Italien, von Gastein, er teilte unsere Spaziergänge und zeigte sich als ein rüstiger Fußgänger beim Erklettern der Berge. Aber statt des jugendfrischen, mutigen Gedichtes, das er zu machen gesonnen gewesen, und von dem ich eine Strophe angeführt habe, rezitierte er uns den wunderschönen, aber in ganz anderer Stimmung gedichteten »Abschied von Gastein«, der seine ganze trübe, mit sich und der Welt zerfallene Stimmung ausspricht und wie eine frühe Dämmerung den kurzen Tag seiner Heiterkeit verschlungen hatte. Mein glückliches Gedächtnis ließ mich vieles, ja den größten Teil des freilich nicht langen Gedichtes behalten, besonders da ich es ihn später noch einmal sagen hörte. In mein Zimmer gekommen, schrieb ich mir sogleich auf, was ich behalten hatte; aber mir fehlte mancher halbe und sogar mancher ganze Vers, und zuweilen hatte ich ein entfallenes Wort durch eines von ähnlicher Bedeutung ersetzt. Als ich Grillparzern, als er einmal in unser Zimmer kam, meinen Diebstahl gestand, schien er nicht angenehm davon berührt; ob wegen meiner Kühnheit ihm sein Gedicht aus dem Munde zu stehlen oder wegen der schlechten Ersatzwörter – das weiß ich nicht. Er las, schüttelte den Kopf, ergriff die Feder und füllte die Lücken aus, die ich aus Mangel an Erinnerung hatte stehen lassen und berichtigte die Ersatzwörter, und so besitze ich das herrliche Gedicht, halb von seiner Hand geschrieben, und hebe es sorgfältig auf. Die trübe Stimmung verließ ihn auch nicht mehr während seines Aufenthaltes [141] unter uns; aber sie tat der Liebenswürdigkeit und Feinheit seines Betragens keinen Eintrag.

Nur weiß ich noch jetzt nach mehr als zwanzig Jahren die eigentliche Veranlassung seines Kommens mit Baron Jetzer und seiner so auffallenden Verstimmung nicht zu erklären, wenn ich nicht ein Motiv, das in seinem Herzen seinen Grund hatte und ein darauffolgendes Mißverständnis voraussetze, das, dem Publikum, wenn auch nach so langer Zeit mitzuteilen, das Zartgefühl verbietet, obwohl jene beiden Voraussetzungen weder ihm noch sonst jemand nachteilig sein könnten, da ja verliebte Regungen der Jugend natürlich sind.

Endlich, nachdem das Regenwetter fast vierzehn Tage angehalten hatte, klärte sich mit dem Mondeswechsel der Himmel wieder auf, und an einem schönen Sonntagsmorgen im August wurde die Trauung Wilhelminens mit dem werten Freunde Romano in der katholischen Kirche des Ortes – denn die Protestanten machen die Mehrzahl der Bewohner aus, und auch die Herrschaft ist evangelisch – recht feierlich und an ständig vollzogen. Nur eine Kleinigkeit, die mit unterlief, machte uns alle, während der Messe, beinahe lachen, der Schulmeister nämlich spielte unter der Wandlung, wo der Kirchengesang wie gewöhnlich schweigt, die Musik des Liedes: »Ein Mädchen oder Weibchen wünscht Papageno sich«, aus der Zauberflöte, und meinte gewiß bei der Hochzeitsfeier etwas sehr Sinnreiches getan zu haben. Nach dem reichlichen Mittagsmahl wurde getanzt, wobei sich ungarische Tänzer in ihren nationalen Tänzen sehen ließen, und so der Tag froh beschlossen.

Wir waren unser vier Dichterinnen auf Schloß Ugrócz gewesen: die Hausfrau selbst, Therese von Artner, [142] Marianne von Neumann und ich. Im Scherze nannten wir uns: die Sänger auf der Wartburg, fühlten aber keinen Beruf in uns, unsere Musenkünste vor dem gewaltigen Sänger der Ahnfrau und Sappho, der uns hier wie Klingsor auf der Wartburg erschien, sehen zu lassen, sondern teilten uns Hochzeitsgedichte, die wir für dieses Fest gedichtet hatten, nur in der Stille mit. Bald darauf verließen uns Jetzer und Grillparzer; mich erfreute bald darauf meines lieben Pichlers Ankunft, und mit ihm kehrten wir im nächsten Septembermonat nach Wien zurück.


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Es wäre unnütz und darum beinahe lächerlich, die Ereignisse, welche nun in unserem Familienleben folgten und auf dasselbe einen großen und sehr schmerzlichen Einfluß hatten, in diesen Blättern mit Stillschweigen übergehen zu wollen, gleichsam als könnte das, was damals mit unserm Wissen und Willen bekannt war worden, nun aus dem Gedächtnis der Welt verlöscht werden. Drum stehe denn auch jene Katastrophe, so tief sie unser Haus verwundete, mit kurzen, aber durchaus wahren Worten hier und ich denke, der Mann, welcher jetzt sehr glänzend und einflußreich vor den Augen der Diplomatie und Literatur sich erhebt, wird, wenigstens in seinem Innern, bekennen müssen, wenn ihm einst nach meinem Tode diese Blätter in die Hände kommen, daß ich durchaus mindestens von meinem Standpunkte aus Wahrheit und nichts als Wahrheit geschrieben habe.


Im folgenden Winter von 1819 auf 1820 begann eine neue, aber wahrlich nicht glückliche Epoche für[143] uns alle, besonders aber für meine Tochter. Ein junger Offizier (Herr von Prokesch), der seit einem Jahre ungefähr ein immer fleißigerer Besucher unsers Hauses geworden war, fing jetzt an, sich meiner Tochter sehr bestimmt zu nähern, und nicht bloß wir, sondern alle unsere Bekannten bemerkten es, und nahmen freundlichen Anteil an dem hübschen und durch manchen Vorzug ausgezeichneten Paare. Pichler und ich hätten uns zwar einen Schwiegersohn gewünscht, der nicht einem so beweglichen Stande, als das Militär ist, angehört hätte, konnten aber billigerweise keine Einwendung machen, denn gegen den Charakter des jungen Mannes und seine Persönlichkeit war nichts zu sagen, und seine ausgezeichneten Geistesgaben sicherten ihm eine glänzende Laufbahn, wie es sich auch in der Folge bewährt hat. So sahen wir der Zukunft unsers einzigen Kindes ziemlich ruhig entgegen, als plötzlich Dienstverhältnisse den jungen Mann nach Prag riefen. Es war eine bittere Trennung, aber wir hofften Gutes von diesem Rufe für des talentvollen Offiziers künftige Laufbahn. Aus Prag warb er schriftlich um meine Tochter. Wir gaben die Antwort, über welche wir, Pichler und ich, früher schon übereingekommen waren. Des Bewerbers erste Anwort war voll Jubel und Liebe. Bald darauf zeigten sich Hindernisse, die sich seiner Rückkehr zu seiner Braut in den Weg legten. Er mußte seinen hohen Vorgesetzten, zu dem er gerufen wurde, nach L begleiten und wurde von ihm und seiner Familie mit großer Auszeichnung behandelt, wodurch wohl seine Hoffnungen, seine Erwartungen erweitert und ein bescheidenes Los, wie es ihm die Verbindung mit Lotten bieten konnte, ihm zu beschränkt erschienen sein mögen. Seine Briefe trugen ein seltsames Gepräge, [144] er konnte sich nicht entschließen zurückzukehren, bis sein Chef aus den Toren derselben Stadt, in welche er vor 7 bis 8 Jahren als Sieger eingezogen war, als Leiche hinausgetragen wurde. Am Tage seiner Ankunft war sein erster Weg nicht zu seiner Braut, sondern in das Haus seines verblichenen Chefs, das ihm wie sein Vaterhaus geworden zu sein und ihn dem eigentlich bürgerlich häuslichen Leben entfremdet zu haben schien.

Dieser Winter war durch die Anwesenheit eines hochberühmten Künstlers, des Dänen Thorvaldsen, merkwürdig. Wohl wurden ihm damals vor mehr als zwanzig Jahren die Ehrenbezeigungen nicht erwiesen, welche jetzt Mode geworden und der zufolge die Reisen, die Ankunft, der Abschied von berühmten Personen zu einer Angelegenheit des allgemeinen Interesses und durch die Zeitungsschreiber, welche ihre Spalten gern füllen, zu europäischen Bedeutenheiten gemacht werden, die aber eben dadurch, und weil sie in demselben Maße und Übermaße einer Tänzerin, einem Virtuosen usw. zuteil werden, viel an ihrem Werte verlieren und bald durch etwas anderes werden ersetzt werden müssen. Dennoch war Thorvaldsens Erscheinung in Wien auch damals ein Gegenstand ungeheuchelter, wahrer, tiefgefühlter Verehrung für alle, welche sich einen Begriff von seinen Leistungen zu machen imstande waren. Seine Persönlichkeit, diese hohe Gestalt von kräftigem Wuchse, die stark ausgesprochenen Züge, der ernste und doch so milde Ausdruck derselben, das blonde Haar und die lichtblauen Augen gaben ganz das Bild eines Skandinaviers oder eines alten Deutschen, wie sie Tacitus schilderte. Diese Augen waren aber auch von einer Klarheit, Helligkeit [145] und Farbe, wie ich sie nie gesehen, und schienen ungeachtet eines sehr freundlichen, wohlwollenden Ausdrucks, während er sprach, tief in des Zuhörers Seele einzudringen und sie zu durchforschen. Übrigens war sein Benehmen höchst einfach, anspruchslos und bei viel natürlicher Höflichkeit doch gerade so weit vom Weltton entfernt, wie man es bei einem so großen Künstler voraussetzen kann. Ich lernte ihn bei B. Pereira kennen, wo ich mit ihm speiste, und dann brachte er einen Abend bei uns zu, an welchem auch Madame Stich, jetzt Crelinger, bei uns war, welche unser Publikum damals durch ihr herrliches Spiel auf der Bühne entzückte. Nie werde ich vergessen, wie sie die Julie in »Romeo und Julie« spielte, besonders die Szene, in der sie den Schlaftrunk nehmen soll, und wo die innerste Natur sich vor dem Gedanken des Giftes und Todes entsetzt – und noch erklingt in meinem Ohr der Ton des: tausend gute Nacht! – das sie vom Balkon dem scheidenden Geliebten nachrief. Überhaupt war unser Haus damals von Einheimischen und Fremden viel besucht, und die Literatoren fanden es nicht so beschwerlich und widrig wie jetzt in einen Salon oder gar in die Vorstadt zu gehen. Aber freilich führt das Wort »Salon«, das jetzt überall gang und gäbe ist, eben durch die jetzt eingeführte Sitte einen unangenehmen Nebenbegriff von Zwang und Langweile mit sich, den unsere ehemaligen Abendgesellschaften, Soireen oder wie immer wir sie damals nannten und wie sie in diesen Blättern geschildert sind, nicht erweckten.


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Ich habe gesagt, daß der Verlobte meiner Tochter natürlicherweise, weil sie ihm von uns zugesagt worden, [146] und wir als Menschen, denen ihr Wort, das sie nicht ohne Überlegung gegeben, heilig war, dieses kein Hehl vor der Welt hatten. Im übrigen aber war sein Benehmen so sonderbar, daß sich uns immer mehr und mehr Zweifel über den Bestand und ein erwünschtes Ende dieses Verhältnisses aufdrängten. Am wichtigsten schien es mir, daß ich, wie oft ich auch in ihn drang, sich über seine Zukunft bestimmt auszusprechen, ob und wann er sich entschließen werde, aus dem Generalstab (in welchem zu heiraten damals den Offizieren nicht gestattet war) in ein Regiment überzutreten oder eine andere militärische Anstellung zu suchen? – nie eine klare, bestimmte Antwort erhielt. Zudem waren so manche Ansichten, die er aussprach, von der Art, daß ein Mann, der sie wirklich und mit Überzeugung hegen und sein Leben darnach gestalten würde, kein Mädchen, das Sinn für stilles, häusliches Glück gehabt hätte, und also auch Lotten nicht glücklich gemacht haben würde, so daß selbst die leidenschaftlichen Äußerungen seiner Liebe weder meine Tochter noch mich beruhigen, sondern nur dazu dienen konnten, uns zwischen Besorgnis und Hoffnung quälend hinzuhalten.

In den Frühling dieses Jahres fiel die Feier unserer silbernen Hochzeit. Sie wurde mit lebhaftem Dank gegen Gott, der uns vor 25 Jahren vereinigt und zwischen guten und bösen Tagen in Liebe und Zufriedenheit bis hierher geführt hatte, in einem Kreise treuer, bewährter Freunde gefeiert, die herzlichen Teil an uns nahmen, uns mit freundlichen Gaben beschenkten, und wobei wir und Lotte besonders, die das ganze kleine Fest anordnete, nur mit Schmerz ihren Verlobten vermißten, der bereits auf seine Mappierungsstation in der fernen Zips abgereist war.

[147] Unsere Freunde in Ungarn empfingen uns wie immer mit der gewohnten Herzlichkeit, und bei den mancherlei Sorgen und Befürchtungen, welche das seltsame Benehmen des Bräutigams meiner Tochter uns einflößte, war uns die liebevolle Teilnahme derselben ein wahrer Trost. Die Baronin sprach damals ein sehr treffendes Urteil aus, indem sie, eine Stelle aus Schillers »Wallenstein« auf Lottens Verhältnis anwendend, sagte: sie fürchte, diese möchte wie Wallensteins Gattin mit ihm an ein feurig Rad geflochten sein.

Dies Jahr gingen wir wie gewöhnlich mit der Baronin und dem ganzen Hause wieder nach Ugrócz, und dorthin kam denn auch Pichler, um einige Wochen der Landluft zu genießen und uns abzuholen, was jedes Jahr geschah. Diesmal aber wurde ein, an sich unbedeutender Vorfall zur Veranlassung einer bedeutenden Veränderung in unserer Lebensweise, und vieles gestaltete sich demgemäß jetzt auf andere Weise. Wir waren wie gewöhnlich nachmittags spazieren gegangen, Pichler begleitete uns diesmal nicht, was ihn abhielt, weiß ich nicht mehr, aber wie es anfing zu dämmern, wollte er uns nach dem kleinen Garten, Strebrnizza genannt, den der Baron zwischen den nächsten Hügeln hatte anlegen lassen (denn beim Schlosse selbst war nur ein altmodischer Obstgarten) und wo wir oft das Vesperbrot einnahmen, entgegen gehen. Der Weg über den Hügel, auf dem das Schloß steht, bis herab war ungleich, holperig, wie die meisten Wege in dieser Gegend; Pichlers kurzes Gesicht hinderte ihn, genau zu sehn, wo er hintrat und ich, die deshalb bei Abendspaziergängen an seiner Seite blieb, war diesmal nicht bei ihm. Er tat einen Fehltritt, glitt aus und fiel und verstauchte sich den Fuß, so daß er nur mühsam ins [148] Schloß zurückkehren konnte. Der jüdische, nicht ungeschickte Arzt in Bannowetz, den die Baronin sogleich im Wagen holen ließ, erklärte die Verletzung für nicht bedeutend und verordnete bloß Ruhe und Eisumschläge. Wirklich besserte sich das Übel zusehends, und nach Verlauf einiger Tage, während welcher die Baronin so gütig war, abends mit ihrer Gesellschaft in unser Zimmer zu kommen, damit Pichler des Umganges derselben genießen könne, war er imstande, mit der ganzen Gesellschaft nach Bucsan und kurz darnach mit uns allein nach Wien zurückzukehren.


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So verging dieser Sommer unter mancherlei Besorgnissen wechselnd mit einigen frohern Tagen.

Im Herbste wurde die Oper: der Freischütz, in Wien gegeben, deren Gegenstand ich als sehr hübsches Märchen von Kind bei Piquot in einem kleinen Kreise hatte vorlesen hören, und das allen sehr wohlgefallen. Mich entzückte diese Oper, als ich sie bei der zweiten Vorstellung hörte, um so mehr, als die enthusiastischen Bewunderer der italienischen Musik schon im voraus eine ungünstige Meinung dagegen ins Publikum zu bringen gesucht hatten. Aber das echt Schöne und Gute gewann wie natürlich den Sieg. Alles war hier aus einem Gusse, das Libretto, die Lebens- und Denkweise der handelnden Personen. Selbst das Geisterhafte, welches dem Ganzen ein ernstes, echt nordisches Gepräge aufdrückte, ergriff die Seele mit unabweisbarer Gewalt. Bald darauf ward mir die Freude, den Kompositor Herrn C.M. von Weber selbst kennen zu lernen, der mir einen freundlichen Gruß von dem berühmten Hofrat Tieck brachte und mir das angenehme Gefühl [149] erregte, von diesem ausgezeichneten Geiste, der meiner seit seiner Anwesenheit in Wien i.J. 1808 öfters gedacht, und manche bedeutende Personen an mich adressiert hatte, nicht vergessen zu sein. Webers Äußeres war von dem Thorvaldsens völlig verschieden. Von kaum mittlerer Größe, schmächtig, ja selbst schwächlich gebaut, mit scharfgezeichneten Gesichtszügen, einer verhältnismäßig zu großen Nase, und einem lahmen Fuß, war diese Erscheinung nicht geeignet, einen vorteilhaften Eindruck zu machen. Und dennoch bedurfte es nur kurze Zeit im Gespräche mit diesem ausgezeichneten Mann zuzubringen, um in ihm den durchaus gebildeten Geist, und die ganze höhere Natur, möchte ich sagen, dieses Künstlers zu erkennen; eine seltene Erscheinung überhaupt, am seltensten bei Tonkünstlern, selbst bei den ersten derselben. Feine Lebensart, hohe Geistesbildung, vor allem ein wohlwollendes, edles Gemüt sprach sich in allem aus, was Weber tat oder sagte, und sein Andenken – obwohl ich ihn nicht oft sah, und durchaus keinen nähern Umgang mit ihm hatte, – wird mir unvergeßlich bleiben. Er ist mir nun schon lange vorausgegangen in jene Auen des Friedens, wo alle Dissonanzen unsers Lebens sich in Harmonien auflösen werden und wo auch er, dem Kränklichkeit und mancher Kummer viel solcher Mißtöne hiernieden erzeugten, sich nun im Anschaun Gottes und im Erkennen seiner Werke des reinsten Wohllautes erfreut.

Ich habe ihn auch ein paarmal seine eignen Kompositionen auf dem Fortepiano vortragen hören. Er spielte mit vieler Fertigkeit und natürlicherweise auch mit Geschmack und gehörigem Ausdruck, doch war kein Vergleich zu ziehn zwischen diesem Spiel und dem [150] eines Thalberg oder Liszt. Es war eben wie einst bei Mozart und Beethoven, welche ich oft gehört, der tiefempfundene und mit Fertigkeit ausgeführte Vortrag eines ausgezeichneten Tonstückes von eigener Komposition. Aber es war keine Produktion, kein in Erstaunen setzendes Spiel fingerfertiger Geschicklichkeit und einer an Zauber grenzenden Behandlung des Fortepianos, welche dies zu einem dem Ohre der Zuhörer fast fremden Instrumente macht und ihnen das Geständnis abdringt, daß sie nie geglaubt hätten, ein Fortepiano könne auf diese Art behandelt und von solchem Effekte werden.


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Der Krieg in Italien gegen das revolutionierte Neapel hatte begonnen. Zu unserer großen Beruhigung traf Lottes Bräutigam nicht das Los, mit unsern Truppen auszuziehen, denn nicht ohne Grund mußte man befürchten, daß dieser Krieg ein mörderischer sein und viel Blut kosten würde, wenn erst die Bewohner der Abruzzen sich in aller ihrer Kraft und Wildheit erheben und wie die Vendée oder Tirol sich verteidigen würden. – Es gestaltete sich wider Vermuten alles ganz anders. Es war kein Krieg zu nennen, und im Verlauf von drei Tagen war die Revolution unterdrückt, Ruhe und Ordnung hergestellt; ein deutlicher Beweis, daß es nicht die Gesinnung, das Bedürfnis der Nation gewesen war, was hier zum Ausbruche kam, sondern bloß die Unzufriedenheit eines einzelnen Standes, des Militärs.

In unserm häuslichen Leben war diesen Winter eine lange dauernde Störung eingetreten. Im Markte Stockerau waren zwischen der Bürgerschaft (oder eigentlich [151] einigen unruhigen Köpfen) und dem Magistrate Zwistigkeiten entstanden. Es bildeten sich Parteien, welche sich die Weißen und die Schwarzen nannten und so ein parodierendes Bild der im Mittelalter nicht seltenen bürgerlichen Kämpfe darstellten, als noch die Städte, besonders in Italien ganz oder großenteils unabhängige Republiken waren, die sich selbst Gesetze gaben, sich selbst verteidigten und oft die treuesten Stützen der Fürsten gegen einen übermächtigen und übermütigen Adel bildeten. Von diesen großartigen Zügen allen hatte nun wohl der Zank in Stockerau sehr wenig an sich, aber er wurde doch mit heftiger Erbitterung geführt, und es kam endlich dahin, daß die Sache von der Landesregierung aus untersucht und beigelegt werden sollte. Pichler wurde als landesfürstlicher Kommissär nach Stockerau beordert, um diese Streitigkeiten, welche sehr ernsthaft zu werden drohten, an Ort und Stelle zu untersuchen, die Klagen und Beschwerden jeder Partei zu vernehmen und darüber zu berichten.

Dies Geschäft, das seiner Natur nach sehr unangenehm war, dauerte mehrere Monate, während welcher Pichler mit zwei ihm zugegebenen Beamten in Stockerau wohnte und nur alle vierzehn Tage Sonntags nach Wien in sein Haus und Bureau kam. Jeden zweiten Sonntag besuchten wir ihn, meist in Begleitung irgendeines unserer Freunde, speisten bei ihm und brachten, weil die kurzen Tage die Rückkehr am Abend schwer machten (die Eisenbahn existierte noch nicht), auch die Nacht dort zu. Das waren sehr angenehme Tage, wo die Freude, den geliebten Vater und Gemahl nach längerer Entfernung wieder zu sehn, noch durch freundschaftliche Mitteilungen erhöht wurde. Fräulein Jeanette [152] Maillard, ein hübsches und sehr verständiges Mädchen, die mit meiner Tochter in Bucsan im Hause der Baronin v. Zay Freundschaft geschlossen, und schon ein paarmal, namentlich auch den Winter von 1821–1822 einige Wochen bei uns zugebracht hatte, unser hochverehrter Freund Vierthaler und noch andere Bekannte begleiteten uns abwechselnd. Übrigens war auch der Winter sehr mild, wir gingen, wenn wir den Vater besuchten, jedesmal in der angenehmen Au bei Stockerau spazieren, und pflückten uns bis zum Jänner noch immer frische Blumen.

Endlich war die Kommission und unsere Trennung zu unserer großen Freude zu Ende. Pichler kehrte in den Schoß seiner Familie zurück; aber der Kampf der Weißen und Schwarzen war damals noch nicht geschlichtet, und ich weiß nicht, ob und wie er es später wurde, denn ich hörte nichts mehr davon und die eignen Angelegenheiten beschäftigten mich zu sehr, um nach so Entferntem zu fragen. Hatten wir doch den Vater, den besten Freund und Schirmer wieder bei uns.

Ihm wurde die Verletzung am Fuße, die sich von dem Fall in Ugrócz herschrieb, in Wien, wo er täglich zweimal ins Bureau zu gehen hatte, sehr lästig, denn sie machte ihm jeden weitern Gang (in Stockerau hatte er von seiner Wohnung bis ins Rathaus, wo die Sitzungen gehalten wurden, nur wenige Schritte) sehr beschwerlich. Er mußte oft fahren, und der Mangel an gewohnter Bewegung, welcher nun schon seit dem Herbste dauerte, wirkte nachteilig auf seine Gesundheit. Es stellten sich rheumatische Übel ein, gegen welche Baron Türkheim Bäder mit Schwefelleber verordnete.

Das Betragen des Bräutigams meiner Tochter, das uns schon seit anderthalb Jahren rätselhaft und peinlich [153] war, blieb sich gleich, ja das Wechselvolle zwischen Leidenschaft und Kälte trat immer öfter und greller hervor. Uns hielt das Wort, das wir gegeben, ab, die Verlobung rasch aufzuheben. Lotte selbst aber faßte den Mut, ihm zu sagen, daß sie ihre Verbindung mit ihm für aufgelöst und ihn nicht mehr für gebunden ansehe. Dies schien ihn weder abzuschrecken noch zu kränken, er kam ebenso fleißig wie sonst und benahm sich ebenso ungleich wie sonst. Da glaubte ich endlich einer Lage, welche meiner Tochter nur schmerzlich sein und an kein Ziel führen konnte, ein Ende machen und ein Bündnis aufheben zu müssen, das meinem Kinde kein Glück versprach und den jungen Mann zu drücken schien. An einem Abend im Sommer von 1822, wo ich eben wieder vergeblich eine genügende Erklärung in Rücksicht seiner Entschließungen für die Zukunft von ihm gefordert und nicht erhalten hatte, sprach ich liebreich, aber ernst das Wort der Trennung aus unter tausend Tränen von Lottens Seite, unter sehr schmerzlichen Gefühlen in der eignen Brust und einer so starken Erschütterung von Prokesch Seite, die ich doch nicht ganz für Rolle halten konnte.

Eine der seltsamen Launen des Zufalls wollte es, zu unser aller Qual, daß gerade an diesem Abend, wo Lottens Verlobter unser Haus für immer verlassen hatte, Karl Kurländer, der treue Freund und zwanzigjährige Hausgenosse, den wir wie einen Sohn, die Tochter wie einen Bruder betrachtete, wie sie sich denn auch von der frühesten Jugend an dutzten, uns eröffnete, daß er im Begriffe stehe, eine Gespielin meiner Tochter, Fräulein Amalie Schechtern, deren schon öfters Meldung gemacht worden, ein sehr hübsches, wohlerzogenes, aber armes Mädchen zu heiraten. Wir [154] hatten schon lange gemerkt, daß zwischen Karl und Malchen etwas vorgehe, wir vermuteten auch eine Art von Verständnis, durchaus aber kein ernstes, weil wir wußten, daß Karl auf eine gewisse Art bereits gebunden war.

Zugleich bat Karl Pichlern, sein Beistand bei der Vermählung zu sein, die ganz in geheim und sobald als möglich gefeiert werden sollte, und zu der er nicht einmal mich und Lotten, die ihm doch, wie gesagt, als Mutter und Schwester galten, einlud. Es hatte mit diesem Geheimhalten der Trauung, sowie mit der ganzen Heirat, die bis jetzt selbst für uns verborgen gehalten worden war, eine eigne Bewandtnis gehabt. – Karl hatte schon lange ein, wie es schien, festes Verhältnis mit der Witwe einer seiner verstorbenen Freunde gehabt, und eben dieses Verhältnis war die Ursache der Verheimlichung. Die Witwe sollte nichts davon erfahren, bis die Trauung mit einer andern vorüber war, und so geschah es auch. – Aber es war nicht gut, daß es so geschah. Die Witwe starb bald darauf, wahrscheinlich an gebrochenem Herzen, Karls Ehe blieb kinderlos, und er selbst fand in der Folge kein Glück darin.

Sehr natürlich drängt sich hier die Bemerkung auf, wie gleichgültig, ja wie gewissenlos Männer, welche sonst in allen Stücken achtungswert sind, die sich im Lebensverkehr und in Geschäften keine Ungerechtigkeit erlauben würden, ihre Verhältnisse zum weiblichen Geschlechte nehmen. Zwei Beispiele dieser Art liegen hier vor und Karl, dieser sonst liebens- und achtungswürdige Mann hatte schon ein früheres Mal ein ähnliches Unrecht an einem Mädchen – der jüngsten Schwester der Baronin Richler – begangen, das er, [155] nachdem seine Verbindung mit demselben längere Zeit gewährt und wahrscheinlich Hoffnungen erregt hatte, um die schöne Frau von Kempelen, deren diese Blätter öfters erwähnten, verließ. Ist das recht? Können diese Männer und alle, die ihnen gleichen, ein solches Betragen verantworten? Frau von Staël sagt in einem ihrer Bücher ungefähr so: wenn jemand einen Mord begeht, so wird er am Leben gestraft, was geschieht aber demjenigen, der ein Herz bricht oder ein ganzes Lebensglück zerstört?

Recht als sollte Trübes und Unglückliches von allen Seiten über uns kommen, erkrankte Pichlers ältester Bruder, der Pfarrer auf der »Laimgrube«, ein sehr würdiger Geistlicher, der uns getraut und meiner Mutter die Sterbesakramente gereicht hatte, sehr schwer, und Pichler sah dessen, für ihn sehr schmerzlichen Verlust nahe entgegen. Dennoch schien der Zeitpunkt, in dem dies Ereignis eintreten konnte, nicht so nahe, daß nicht Karls Trauung noch eher hätte statthaben können. Diese in Wien abzuwarten, wäre für Lotten zu traurig gewesen. Der Vater gab uns also die Erlaubnis zu unserer Reise nach Ungarn, wo wir bei treuen Freunden Teilnahme und Erheiterung fanden. Indessen war der Schwager in Wien gestorben, Pichler kam wie sonst, um uns abzuholen, aber der Verlust seines Bruders, der Kummer, den der Tochter Leiden dem Vaterherzen verursachten, und der vorhin schon erwähnte Mangel an hinreichender Bewegung, an die er früher so gewohnt war, vereinigten sich, um seine Gesundheit zu erschüttern, und mir sowohl als Lotten die lebhaftesten Besorgnisse einzuflößen.

Ich fand es daher nötig, als wir aus Ungarn zurückkamen, mit Baron Türkheim deswegen zu sprechen.[156] Er riet abermals zu Schwefelbädern, meinte aber, da die Natur diese Mischungen besser zu machen verstehe, als wir Menschen, daß die Badner Bäder hier sehr nützlich sein werden. Mir kam dieser Rat sehr erwünscht, denn ich hoffte auf Zerstreuung und Erheiterung für meine Tochter durch neue Umgebungen und eine veränderte Lebensweise, aber es kostete Mühe, Pichlern dazu zu überreden. Er hegte die sehr begreifliche Meinung von einem Badeorte, daß man sich viel unter ganz fremden Menschen umtreiben müsse, und sich nur wenig selbst angehören könne. Ich hatte aber früher schon Erkundigungen bei Bekannten eingezogen, welche ebenfalls ein stilleres Leben liebten und führten, und erfahren, daß, und wie man sich in Baden einrichten könne, um sich mehr selbst anzugehören.

Endlich willigte Pichler ein, aber nur für vierzehn Tage, die er in Baden zubringen wollte. Wir nahmen daher weder Köchin noch Küchengeräte mit, und Frau von Arneth, die damals in Baden wohnte, war so gefällig, uns eine kleine, nette Wohnung – in Guttenbrunn – mit der schönen Aussicht auf das Waldgebirge zu besorgen. Es war eine ganz angenehme Witterung, einige tüchtige Regengüsse hatten den Staub abgewaschen, die Hitze des Sommers gemäßigt und Wald und Wiesen neu erfrischt. So zogen wir denn also zum erstenmal nach Baden, und ich hoffte viel für Pichlers und Lottens Gesundheit und Erheiterung, denn auch sie sollte baden, und tat es auch in Gesellschaft des damals so schön blühenden, jüngsten Fräuleins von Henikstein, Marianne, die wenige Jahre darauf als Baronin Erggelet bei der Geburt ihres ersten Kindes starb.

Während dieser ganzen trüben und ängstlich gespannten Zeit hatte ich wohl einige Erzählungen geschrieben. [157] Wahre Liebe, welche durch das traurige Schicksal der Parganioten unter Ali Pascha, und das Kloster auf Capri, welches durch ein Gemälde von Catel, das die Baronin Pereira besaß, veranlaßt worden war. Auch ein längerer Roman: Die Nebenbuhler, entstand in dieser Periode. In allen diesen Werken waren Hindeutungen, welche sich auf Lottens Stellung zu Pr. und sein Betragen gegen sie bezogen. Sei es aber nun, daß meine Aufmerksamkeit zu sehr zwischen dem Roman, den ich schrieb, und jenem, der vor mir gespielt wurde, sich teilte; – sei es, daß mein Gemüt zu sehr durch die Sorge für meiner Tochter Glück gedrückt war; – diese Arbeiten fielen alle sehr matt aus, und bilden mit vielleicht noch einigen den schwächsten Teil meiner Schriften. Besser gelang mir ein anderes Unternehmen, ein Gebetbuch, das ich zuerst für meinen eigenen Gebrauch geschrieben und erst später mich entschloß, es drucken zu lassen, das dann sehr gute und unerwartete Aufnahme fand. In den vielen Sorgen und trüben Ahnungen, welche damals meinen Geist niederdrückten, nahm dieser am leichtesten und liebsten seinen Aufschwung zum Himmel, wo er bei dem Allmächtigen und allgütigen Vater aller Menschen Trost und wo möglich Hilfe suchte.

In Baden wurden wir von den Familien Pereira, Ephraim, Elkan und Henikstein, mit welchen früher wohl ich und meine Tochter viel, Pichler aber wenig Umgang gepflogen hatte, mit großer Freundlichkeit und Zuvorkommnung empfangen und umgeben, so daß wir bald nur einen Gesellschaftskreis ausmachten, der sich in den schon längern Septemberabenden stets in einem dieser Häuser, am öftesten bei B. Arnstein oder eigentlich Baronin Pereira, versammelte, denn der [158] Patriarch des Hauses brachte seine Abende meist ganz oder teilweise im Theater zu. Dort fanden sich öfters bedeutende Fremde, Gelehrte, Künstler ein, welche diese ausgezeichnete Familie auch hier in Baden aufsuchten. Hier lernte ich auch mehrere Jahre später Felix Mendelssohn, der dieser Familie durch Bande der Verwandtschaft angehörte, zu meinem großen Vergnügen kennen und fand in dem, damals noch sehr jungen Mann ein außerordentliches Talent für Komposition, eine bewundernswerte Fertigkeit des Vortrags und eine ebenso bewundernswerte Einfachheit und Anspruchslosigkeit des Benehmens. Wenn er uns ältern Mitgliedern der Gesellschaft die Freude gemacht hatte, Phantasien über Themen, die wir selbst wählen durften, und wo denn meist ältere Musik von Mozart, Gluck, Händel vorgeschlagen wurde, mit weicher Einwirkungskraft und brillantem Vortrag vorzuspielen, ließ er sich ebenso gern von seiner Kousine Flora, jetzt Gräfin Fries, damals ein blutjunges Mädchen, bestimmen, Walzer u. dgl. zu spielen, damit der jüngere Teil der Gesellschaft tanzen konnte.

Mein Mann gefiel, was ich kaum gehofft hatte, sich so wohl in diesen Umgebungen, wo er sich geachtet, gesucht, und als ratender Freund der Damengesellschaft gefeiert sah, daß er selbst unsern auf vierzehn Tage berechneten Aufenthalt bis über drei Wochen verlängerte, besonders weil ihm auch die Bäder sehr wohl anschlugen und die Schwäche in seinem Fuße, eine Folge des vorjährigen Falls, hier ganz und dauernd verschwand. Wir machten hübsche Spaziergänge, am öftesten allein, aber auch nicht selten mit einigen aus unserer Gesellschaft, und zuweilen eine zahlreiche Partie mit allen zusammen nach den schönen Umgebungen [159] von Baden: Merkenstein, Heiligenkreuz, Krainerhütten usw., kurz, unser Aufenthalt gestaltete sich sehr angenehm, und da die Wirkungen des Wassers für Pichlers Gesundheit nicht bloß in Hinsicht des Fußes, sondern im allgemeinen sehr erwünscht ausfielen, so wurde beschlossen, daß er, statt auf ein paar Wochen nach Ungarn zu gehen, künftig seine ganzen Ferien in Baden zubringen wolle. Wohl wußte ich, daß das für das Zaysche Haus eine unangenehme Entschließung sein werde, aber meines Mannes Gesundheit mußte allem vorgehen, und zu zwei Reisen und Landséjours reichten die Einkünfte nicht; denn da sich weder mit der einen noch der andern eine Geschäftsreise verbinden ließ, so konnte hier nicht von Diäten für Pichler oder einem freien Wagen die Rede sein, wie bei jenen Ausflügen nach Oberösterreich oder Steiermark, und so mußte denn die eine der beiden Reisen unterbleiben, und durch neunzehn Jahre wurden die Monate August und September in Baden zugebracht.

Noch einer bedeutenden Erscheinung in diesem geselligen Kreise muß ich erwähnen, des Frl. Adelheid Reinbold, Erzieherin der damals ganz jungen Flora Pereira, und später als Schriftstellerin unter dem Namen Franz Berthold bekannt. Sehr blond, üppig und doch schlank gebaut, mit blendendweißem Teint, blauen Augen und frischer Jugendblüte, erinnerte sie, – nicht an ein altdeutsches Gemälde auf Goldgrund, sondern an eine der vollen, reizenden Gestalten aus der Rubensschen Schule, und selbst ihre Art sich zu kleiden, obwohl in Form und Farbe wie die der andern Mädchen, hatte etwas Eignes, ich möchte sagen, Lockendes an sich. Übrigens war ihr Betragen anständig, ihre Unterhaltung geistvoll, ihre Ansichten ganz die von der Partei [160] des Fortschrittes, und sie eine eifrige Verehrerin Napoleons. Mir sagte ihre Art zu denken nicht sehr zu, obwohl wir auf recht gutem Fuße standen, aber an meine Tochter schloß sie sich sehr an, und es schien ihrem männlich entschlossenen Geiste, das echt Weibliche in der Gefühlsweise Lottens bei einem klaren und doch gebildeten Verstande zu gefallen. Meine Tochter fand Vergnügen an Adelheids geistreichem Umgang, ihre Ansichten harmonierten aber zu wenig, um eine wahre Annäherung zu gestatten. Bald darauf verließ Adelheid auch das Haus der B. Pereira, ging nach Dresden, wurde mit Tieck bekannt, war viel um ihn und die Seinigen, und fing an, ihr Talent als Schriftstellerin unter dem Namen Franz Berthold zu versuchen. Mehrere Erzählungen erschienen unter diesem Namen, und endlich ein größerer Roman, dessen Inhalt die Rettung und der endliche Untergang des Königs Sebastian von Portugal war, den Tieck bevorwortete und nach ihrem, von ihm sehr bedauerten frühen Tode herausgab. Ohne die Besitznahme von Algier durch die Franzosen hätten wir vielleicht diesen Roman nicht bekommen. Jetzt wußte der Dichterin lebhafter Geist die Lokal- und Sittenschilderungen aus den französischen Berichten mit Einsicht, Kraft und Geschmack zu benützen und so ein recht lebendiges und treffendes Gemälde jener Gegenden und Nationalsitten darzustellen. Die beiden Helden aber, der echte und der unechte Sebastian, der erste besonders, sind erbärmliche Charaktere, an Schwäche und Unzuverlässigkeit noch tief unter den Helden der Frau von Staël. Es ist und war mir stets unbegreiflich, wie ein Weib, das doch weiblich fühlen, und also das männliche Geschlecht in seiner wahren Stellung und in seinem Verhältnis zu uns erkennen [161] sollte, sich darin gefallen kann, das Weib höher als den Mann zu stellen, diesen zur willenlosen Puppe zu erniedrigen, die Leben und Impuls von der Frau empfängt und doch von ihr – unbegreiflicherweise, leidenschaftlich geliebt wird.

Es ist eine wunderbare, aber wie mich dünkt, traurige Bemerkung, daß, je mehr sich die Männer im geselligen Leben von den Frauen entfernen, den Umgang derselben verschmähen, bei Tabakrauchen und Männergelagen sich am wohlsten fühlen und, wie man vermuten könnte, kräftiger, gleich den Männern der Vorzeit den ins Gynekäum verbannten Frauen gegenüber stehen sollten, je weniger Spur von kräftiger Männlichkeit, von Ausdauer, von Mut in Gefahr oder fester Entschließung bei dem jetzigen Geschlecht gefunden wird. Sein höchstes Bestreben scheint Lebensgenuß, und die raffinierteste Bequemlichkeit zu sein, zu deren Befriedigung die Entdeckungen der Wissenschaft, die Erfindungen der Industrie verwendet werden, und im struppigten Bart, in nachlässiger Haltung, Achtlosigkeit im Betragen gegen andere, besonders gegen Frauen, besteht die ganze Heldenkraft unserer Zeitgenossen. Und solche Männer dienen auch zu Idealen in den Romanen dieser Zeit. Doch genug davon!

Zu den mancherlei düstern, bald wichtigern, bald unwichtigern Vorfällen dieses Jahres gesellte sich im Herbst noch eine schmerzliche Trennung von der, uns durch langjährige Freundschaft verbundenen Familie des Barons (später Grafen) von Rothkirch. Er wurde als General nach Klagenfurt befördert, und ich sah mit Betrübnis diese Freunde aus unserer Nähe scheiden, wohin sie nie mehr in diesem Sinne zurückkehrten. Rothkirch hatte den Grafentitel nachgesucht und erhalten, [162] was einem Abkömmling des Hauses, das schon im dreizehnten Jahrhundert die Mongolenschlacht mitgefochten, und alle seine streitbaren Männer auf dem Wahlplatz gelassen hatte, vollkommen gebührte. Aber eben dadurch wurde die Veränderung in unserer Stellung gegeneinander bedingt. Als Graf Rothkirch 10 oder 11 Jahre darnach mit seiner Familie als provisorischer Chef des Generalstabes wieder nach Wien versetzt wurde, schlossen sie sich an die Hautevolee an, besuchten den Hof, die Gesellschaften des hohen Adels, und gehörten auf keine Weise mehr dem Mittelstande an. Obwohl ich nun als alte Freundin und Patin einer der Töchter des Hauses noch öfters hinkam und zu Familienfesten gezogen wurde, konnte sich das alte Verhältnis nicht wieder herstellen, zu dem eine gleiche oder doch ähnliche Lebensweise, Einrichtung des Hauses, Wahl des Umganges usw. durchaus notwendig sind.

Noch später in diesem Herbst, schon gegen den Winter hin, reihte sich noch eine trübe Begebenheit den früheren dieses Jahres an. Luise Brachmann, die talentvolle Dichterin, die sich schon seit mehreren Jahren eines entschiedenen Rufes in Deutschland erfreute, war ein paar Jahre früher in Wien gewesen, hatte mich aufgesucht, und wir gewannen uns gegenseitig lieb. Sie war bald einheimisch in dem ganzen Kreise unserer Bekannten geworden und brachte daher die meiste Zeit ihres Aufenthaltes in Wien in der Alservorstadt bei Richler, Arneth und uns zu, wo sie überall die freundlichste Aufnahme fand und durch ihr Talent sowohl als ihre große Gutmütigkeit, ja selbst durch den, bei einer mehr als dreißigjährigen Person auffallenden Mangel an Welterfahrung und Gewandtheit die herzlichste Teilnahme erregte. Ich habe meine Bekanntschaft [163] mit ihr und ihr trauriges Geschick in einem kleinen Aufsatze geschildert, den ich an die Baronin von Perin, ebenfalls eine geistreiche Schriftstellerin und meine vieljährige werte Bekannte, gerichtet habe, weil eben Frau von Perin einst zugegen war, als bald nach Luisens Tode ein schonungsloser Aufsatz über sie in einem norddeutschen Journal erschien, und wir über sie sprachen. Mein Aufsatz ist in den Zerstreuten Blättern abgedruckt.

Bald nach ihrer Rückkehr von Wien nach Weißenfels, wo sie damals lebte, erhielt ich ein paar melancholische Briefe von ihr, in welchen sie sich unter andern sehr über die Behandlung beklagte, welche sich Müllner, der Verfasser der Schuld, gegen sie und ihre Arbeiten in seinen Journalen erlaubte und ganz davon gedrückt schien. Nicht lange hernach kam die Nachricht, daß sie ihrem Leben ein Ende gemacht und sich in die Saale gestürzt habe. So kettete damals ein unfreundliches Ereignis sich dicht an die Fersen des andern und ich war gewissermaßen froh, daß dies unglückbringende Jahr bald zu Ende ging.

Fußnoten

1 Die im Frühling von den geschnittenen Bäumen auf der Erde liegen.

2 St Nikolaus, der die Gaben austeilt.

3 Anspielung auf Sapphos Tod.

Viertes Buch 1823-1843
[164] Viertes Buch
1823–1843
[165][167]

Noch ehe das vorige Jahr, das sehr heiß und trocken war, und auch uns im Innern unsers Hauses viel heiße Leidenstage gebracht hatte, ganz zu Ende war, fragte mich mein älterer Schwager, Franz von Kurländer, der uns von jeher ein lieber und treuer Freund gewesen war, ob er uns nicht einen seiner Amtsgenossen, den Landrat von Pelzeln, aufführen dürfe? Der Name dieser Familie war mir lange ehrenvoll bekannt gewesen. Des Landrats Vater, ein treuer Freund des berühmten Vizepräsidenten von Sonnenfels und des großen Tonsetzers Chevalier Gluck, war als Beamter und Schriftsteller sehr geachtet; dessen (des Hofrats) Bruder aber hatte als Geschichtsschreiber Böhmens sich in der gelehrten Welt einen bedeutenden Ruf erworben und wurde überall mit großem Ruhm, sowie überhaupt die Familie mit Achtung genannt. Wir willigten daher sehr gern ein, die Bekanntschaft dieses Herrn Landrats zu machen, der so berühmte Verwandte hatte und selbst, wie Kurländer und jedermann sagte, ein sehr achtungswürdiger Mann war. Ich vermutete eine literarische Neugierde in dem Abkömmling zweier Schriftsteller und dachte an nichts weiters, als Kurländer uns eines Nachmittags den jungen Herrn Landrat vorstellte, der, ohne im geringsten schön zu sein, durch Gesichtszüge, welche Geist und feines Gefühl verrieten und durch einen gefälligen Anstand Wohlwollen einflößte. Nicht ohne, einiges Erstaunen ward ich aber gewahr, daß der neue Bekannte, statt, wie ich glaubte, sich um literarische Gegenstände zu bekümmern, ein Gespräch [167] über Grillparzers Sappho und Melitta mit meiner Tochter begonnen und sich recht darin vertieft hatte.

Er kam von nun an öfters, und war uns stets ein willkommener Besuch, indem wir nach und nach in ihm einen sehr rechtlichen und zugleich mit der ältern und neuern Literatur bekannten Mann und hochgebildeten Geist erkannten.

Gegen das neue Jahr zu trat nach lange milder Witterung scharfe Kälte ein, und es fiel eine ungeheure Menge Schnee, welche gegen sechs Wochen liegen blieb. Wir lebten etwas einsamer in dieser Zeit, weil Besuche in der Vorstadt nicht ohne Beschwerlichkeit waren; aber der neue Bekannte fand den Weg nicht zu mühsam und erschien gegen meine Erwartung öfters an stillen Abenden bei uns, wo wir uns ganz allein oder nur in Gesellschaft unsers verehrten Freundes Vierthaler befanden.

Ich konnte nicht umhin zu bemerken, daß Pelzeln meiner Tochter viele Aufmerksamkeit beweise; ich sprach mit Pichler darüber, wir zogen Erkundigungen ein. Sie fielen alle zum Vorteil des besprochenen Mannes aus, der jetzt schon eine bedeutende Stelle bekleidete, bei seinen Talenten und dem Rufe, dessen er genoß, wahrscheinlich eine glänzende und schnelle Laufbahn machen konnte, und dessen Charakter, soviel es uns zu beurteilen möglich war, wie jedermann, der ihn genauer kannte, bestätigte, unsers einzigen Kindes Lebensglück an seiner Seite zu sichern schien. Ruhig sahen wir daher zu, wie die Gemüter sich einander näherten, und der Gedanke, von einem so würdigen Manne geliebt zu werden, zuerst wieder einige Freudigkeit und Selbstzuversicht in meiner Tochter Herzen weckte. Denn die Art, wie Pr. sich in den letzten anderthalb [168] Jahren gegen sie betragen und sie zur Aussprechung ihrer Trennung gezwungen, hatte die düstere Überzeugung in ihr erregt, daß sie nicht imstande sei, einem bedeutenden Manne bleibende und beglückende Neigung einzuflößen. Wohl hatte sie von jeher, seit sie in der Welt aufgetreten, viele Verehrer und einige bedeutende Freier gehabt, jene aber hatten großenteils, vermöge ihrer Stellung in der Welt keinen Anspruch auf die Hand eines Mädchens, wie Lotte war, machen können, und für diese hatte ihr Herz zu wenig gesprochen. Um so mehr Eindruck machte also bei ihr die Bewerbung eines Mannes, der mit einem ausgezeichneten Charakter eine angenehme Gestalt und eine jetzt schon bedeutende Stellung in der Welt verband. Die Sache ging ihren Weg. Pelzeln warb förmlich bei uns um sie, und auf den Frühling war die Hochzeit festgesetzt.

So sehr diese glückliche Wendung der Dinge, die oft der Gegenstand meines innigsten Gebetes zu Gott und zur heiligen Jungfrau gewesen war, von deren Muttergefühl ich verstanden zu werden und wo möglich durch ihre Fürbitte Hilfe zu erhalten gewünscht und gehofft hatte, mein Herz beruhigte und uns betagten Eltern die tröstende Versicherung gab, unser einziges geliebtes Kind nach unserm, vielleicht nahen Hinscheiden unter dem Schutze eines edeln und liebenden Gemahls versorgt zu wissen, – so konnte ich damals – und kann noch jetzt nicht umhin, mich über die sonderbare Erscheinung in dem Herzen meiner Tochter zu wundern, wie es nämlich diesem Herzen möglich war, nachdem es unlängst einen Jüngling wie Pr. geliebt und allem Anscheine nach leidenschaftlich geliebt hatte, nun in nicht langer Zeit darnach mit warmem Gefühl einen [169] andern zu umfassen, der in allen Stücken und nach jeder Seite hin das Widerspiel des vorigen war. Nur die einzige Erklärung bot sich mir bei näherer Betrachtung dar, daß jene Neigung mehr durch die blendenden Eigenschaften, jugendliche Wohlgestalt und eine übergroß gezeigte Leidenschaft entstanden, folglich mehr auf Phantasie als auf den wirklich erkannten Charakter des glänzenden jungen Mannes gegründet, und eben durch dessen ungleiches, rätselhaftes Betragen in gleicher Wärme erhalten worden war. Sowie Zeit und bittere Erfahrungen das Mädchen über die wahre Sinnesart des Geliebten enttäuscht, und er aufgehört hatte, der Halbgott zu sein, den sie früher in ihm gesehen, wandte sich ihr ganzes Wesen heftig von ihm und von allem ab, was ihm glich, und kehrte sich gerade dem Entgegengesetzten zu. So allein kann ich mir diesen gänzlichen Absprung der Empfindung in einem, übrigens ganz reinen und wahren Mädchenherzen erklären.

Nun begann eine frohe, aber sehr geschäftige Zeit für mich. Die Ausstattung der Tochter, die Einkäufe, die Besprechungen mit Handwerkern und Arbeiterinnen, Besuche und Gegenbesuche erhielten mich in reger Spannung, und endlich kam die Zeit der Vermählung heran. Pelzeln lebte mit seiner Mutter, der Witwe des Hofrats, einer sehr verständigen, erfahrnen Frau, die ihren Sohn außerordentlich, wie er es verdiente, liebte, und ebenso warm von ihm geliebt wurde. Es war also von vornherein ausgemacht, daß meine Tochter nebst der Schwiegermutter bei ihrem Manne leben, und sogleich nach der Hochzeit zu ihnen ziehen sollte, weil vorderhand die Wohnung groß genug war und für den Herbst eine andere gesucht werden sollte. Demgemäß wurden die Anstalten getroffen, und Pelzeln entschloß [170] sich, wofür wir Eltern ihm herzlich dankbar waren, in unserm Hause das zweite Stockwerk für nächsten Winter zu beziehen. Das war mehr Freude, als ich erwartet hatte, denn ich hatte mich bereits ganz darauf eingerichtet, mein Kind nun oft einen oder mehrere Tage nicht zu sehen, wegen der Entfernung von der Stadt.

Unsere Freunde Zay hatten, vermöge ihrer wahren Anhänglichkeit an uns, beschlossen, bei der Hochzeit unsers lieben Kindes gegenwärtig zu sein, und so machten sie denn zu diesem Ende die Reise von Bucsan hierher, und die Vermählung wurde am 20. April, an dem Tage, an welchem mehr als fünfzig Jahre früher meine teuern Eltern getraut worden waren, gefeiert. Die Gesellschaft war nicht sehr zahlreich; außer des Bräutigams Mutter, der verwitweten Hofrätin, und den guten Zay, noch meines Mannes Bruder, der Buchhändler samt seiner Frau, meine beiden Schwäger Kurländer samt des jüngern Frau, der ehemaligen Fräulein Schechtern, die er drei Vierteljahre vorher geheiratet hatte, und die Beistände – auf Pelzelns Seite zwei seiner Jugendfreunde, Hofrat von Burgermeister und Appellationsrat von Schmerling; für Lotten ihr Oheim Pichler und unser hochverehrter Freund Regierungsrat Vierthaler. Franz Kurländer war Brautführer, als der einzige unverheiratete männliche Verwandte, und Fräulein Jeanette von Maillard übernahm das Amt der Kranzjungfer.

Es war ein schöner, ein unvergeßlicher Tag, an dem ein paar gute, rechtliche, sich warm liebende Menschen vor Gottes Thron durch Priesters Segen für ihr ganzes Leben vereinigt wurden. – Ach, leider dachte wohl Niemand der Anwesenden daran, daß diese Verbindung [171] nur wenige Jahre währen sollte! So begann diese Ehe unter glücklichen Auspizien. – Lotte war damals ihrem Bräutigam von ganzem Herzen zugetan und achtete ihn außerordentlich; – leidenschaftlich verliebt aber schien sie mir nicht, und gerade diese ruhigere Neigung war ihrer Gemütslage und den kaum verwischten früheren Eindrücken gemäß. Späterhin wuchs sie im Zusammenleben mit dem edlen, geistvollen und treuen Lebensgefährten bis zu einer Höhe der Leidenschaftlichkeit, über welche wir Eltern, wenn wir alle Verhältnisse und Umstände erwogen, uns nicht genug wundern konnten, aber freuen mußten.

Pelzelns Mutter, eine kränkliche und an ein äußerst stilles, einsames Leben gewohnte Frau, hatte sich bei der Trauung in der Kirche – es war den Tag vorher ein starkes Gewitter gewesen und die Luft sehr abgekühlt – erkältet. Sie zog gleich nach der Hochzeit in ihre Landwohnung nach Mödling, wo sie jeden Sommer allein zubrachte, und ihr Sohn sie nur jeden Samstag abends besuchte und bis Montag früh bei ihr verweilte. Dort wurde sie ziemlich ernstlich krank, was den Sohn und somit auch Lotten mit großer Besorgnis erfüllte. Sie erholte sich indes bald, und so dauerte die angenehme Stille in unserer Familie bis zum Juli, wo plötzlich der jüngste und letzte Bruder meines Mannes, eben der, welcher Zeuge bei meiner Tochter Trauung gewesen, gefährlich erkrankte und in wenig Tagen starb. Mein Mann hatte ihn sehr geliebt; er hatte, aus Liebe zu ihm, große Opfer gebracht, deren für uns nachteilige Folgen sich noch bis nach dreißig Jahren erstreckten. Er war also viel mehr durch diesen Verlust gebeugt, als früher durch den des älteren geistlichen Bruders.

[172] Zum ersten Male reiste ich nun allein nach Ungarn zu meinen Freunden, traf dort noch einmal mit der teuern Therese zusammen, die jetzt ihre Zeit zwischen ihrer Schwester Minna, welche in Agram lebte, und ihrer Freundin Zay teilen und sich wechselweis bald bei dieser, bald bei jener aufhalten wollte und erfreute mich das letztemal an ihrem so liebenswürdigen, so beglückenden Umgange. Auch hier dachte ich nicht, daß dies Band so bald reißen werde; aber gerade diese vielfachen Reisen, diese Fatiguen, denen die Kräfte der alternden Freundin nicht mehr gewachsen waren, mochten viel zu ihrem bald darauf erfolgten Tode beigetragen haben.

Damals also, i.J. 1823, waren wir noch recht froh beisammen, und ich genoß den durch die Umstände ziemlich verkürzten Aufenthalt recht vergnügt in diesen freundlichen Umgebungen.

Nach Wien zurückgekehrt, wurden Anstalten zum Séjour in Baden gemacht, der meinem Manne das vorige Jahr so sehr zugesagt hatte, und wo er seine Ferien heuer zuzubringen beschloß. Meine Tochter wohnte während dieser Zeit auch nicht fern von uns, in Mödling, mit ihrem Manne, der ebenfalls seinen Urlaub bei seiner Mutter zubrachte, und wir sahen und genossen uns während dieser Zeit viel öfter, als geschehen wäre, wenn Pelzeln in Wien geblieben wäre.

Schon vor längerer Zeit, schon während des Befreiungskrieges, hatte ich von der, in ganz Deutschland und wohl auch in Frankreich bekannten und berühmten Frau Helmina von Chézy einige Briefe erhalten und beantwortet. Sie war damals in den Rheingegenden bei den preußischen Spitälern beschäftigt gewesen und hatte sich durch gutgemeinten, aber wenig überlegten [173] Eifer viele Verdrießlichkeiten zugezogen. Jetzt war sie nach Wien und von da nach Baden gekommen, wo sie, begleitet von ihren zwei Söhnen, mich freundlich aufsuchte. Ich hatte sie mir anders vorgestellt und fand eine kleine, untersetzte Frau mit sprechenden Augen und freundlichen Zügen, die in frühern Jahren hübsch gewesen sein mochten, denen man aber jetzt nicht bloß die Spuren vorgerückten Alters (sie mochte zwischen 40–50 Jahre alt sein), sondern einer nicht sorgenfreien, nicht bequemen Existenz ansah. Auch antwortete sie mir, als ich fragte, wo ihr gewöhnlicher Aufenthalt sei (denn damals war sie von Dresden gekommen): ich habe keine Heimat!

Ich kann nicht sagen, wie wehmütig mich dies Wort ergriff! Keine Heimat! Eine Frau von Geburt (eine Baronesse Klencke), von ausgezeichnetem Talent und mit zwei herangewachsenen Söhnen, die erzogen und versorgt werden sollten! Das war es auch vermutlich, was sich mir sogleich in ihrer ersten Erscheinung zeigte, diese Entfremdung von aller geregelten Häuslichkeit und Stetigkeit des Lebens; dieser ihrer Herkunft und Stellung fast widersprechende Anzug, – ihr, wenn ich so sagen darf, weather-beaten shape, wie man von Soldaten oder Seeleuten sagt: weather-beaten features! Übrigens mußte die geistige Bildung, die sich in ihrem Gespräche zeigte, sowie eine außerordentliche Gutmütigkeit, welche sie so oft bewog, bei Notleidenden oder solchen, die sie unterdrückt glaubte, als Helferin und Retterin aufzutreten, für sie gewinnen. Von da an blieb Frau v. Chézy einige Jahre in Wien, nachdem sie vorher in Berlin, Paris, Dresden usw. gelebt hatte, und später wieder sich in Oberösterreich, Paris, München, Stuttgart usw. abwechselnd aufhielt. Sie schien [174] sich in Wien wohlzugefallen. Vorzüglich schloß sie sich an die Familie Schlegel an, die sie noch aus Paris kannte und dort einige Zeit mit ihnen gelebt hatte, und auch in dem Kreise der Frauen von Pereira und Ephraim ward sie bald heimisch, und so sahen wir uns denn öfters, teils in diesen Häusern, teils bei mir.

Da mein Geist von der drückenden Spannung, in welcher ihn das peinliche Verhältnis meiner Tochter zu Pr. durch ein paar Jahre gehalten hatte, nunmehr frei geworden war, indem ich dieses einzige, geliebte Kind an der Seite eines trefflichen Gemahls versorgt und glücklich sah, erwachte auch wieder die Lust, etwas zu schaffen, und da der historische Roman durch Walter Scott jetzt solchen Anklang gefunden hatte, wollte auch ich mich in diesem Fache versuchen und wählte einen vaterländischen Stoff: »Die Belagerung Wiens (1683)«. Dazu suchte ich mir nun die Daten aus Geschichts- und Chronikbüchern zusammen, las fleißig und bewarb mich auch um Auskunft über die Lokalitäten; denn ich bin überzeugt, daß ohne Autopsie, ohne genaue Kenntnis des Schauplatzes, auf welchem man eine Geschichte vorgehen läßt, nie eine naturgetreue, lebendige Schilderung zu erreichen ist. So begab ich mich denn mit Lust und Liebe an meine neue Arbeit, und so entstand dieser Roman, in welchem ich einzelne Züge von mir bekannten Charakteren und einzelne Ereignisse, die ich erlebt, aufgenommen habe. Madame de Montolieu, die schon meinen »Agathokles« ins Französische – mit Haut und Haar übersetzt, das heißt, verfranzösiert hatte, wofür ich ihr nicht viel Dank wußte, hat auch den Siège de Vienne ins Französische übertragen, aber doch bei weitem treuer und naturgemäßer. Beim Agathokles ließ sie alles, was von Reflexion über Religion, [175] über damalige Lebensverhältnisse, Begebenheiten usw. vorkommt, ohne weiters aus, und gab nur die Fabel des Buches, indem sie mich in einem, übrigens recht freundlichen, ja mütterlichen Briefe – denn wir standen damals im J. 1814–15 ungefähr in unserm Alter so zueinander – versicherte, daß sie diese Auslassungen und Veränderungen habe vornehmen müssen, um den Roman nach dem Geschmack ihrer Landsleute einzurichten, womit sie diesen, wie ich glaube, kein Kompliment gemacht hat.

Nach dieser verstümmelten Übertragung hat ihn dann auch Herr Rasori ins Italienische übersetzt, dies aber nicht bekannt, sondern vermuten lassen, daß es ein Originalwerk von ihm selbst sei.

Im kommenden Herbst zog meine geliebte Tochter mit ihrem Manne und ihrer Schwiegermutter in unser Haus. Sie durfte damals schon auf Mutterfreuden hoffen, und wir waren sehr froh über alle diese günstigen Wendungen unserer häuslichen Verhältnisse. Auch hatte ich auf ein oftmaliges Zusammensein nicht bloß mit meiner Tochter, sondern auch mit Pelzeln und seiner Mutter gehofft. Aber diese Erwartung schlug fehl. Die Mutter war kränklich, ging wenig aus, und kam also auch nur selten zu uns herab. Lotte war oft bei uns, ging damals auch noch zuweilen mit uns zu ihren frühern Bekannten; aber dies hörte bald auf, denn ihr Mann sah es nicht gern, und es schien eine Art von System bei ihm zu sein, sie ihrem vorigen Kreise ganz zu entfremden und sie dafür in dem seinigen einheimisch zu machen. Daß mir das nicht ganz lieb war, läßt sich begreifen. Da aber des Schwiegersohnes übrige Eigenschaften so schätzbar waren, und meine Tochter sich an seiner Seite je länger, je glücklicher[176] fühlte, gingen wir über jene Verschiedenheit der Meinungen hinaus.


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Das neue Jahr begann unter trüben Auspizien, und es bewährte sich auch als ein fatales in seinem Verlaufe. Meine Tochter, bereits im fünften Monate ihrer Schwangerschaft, erkrankte schwer an einer Verkältung, die eine Unterleibsentzündung nach sich zog, in welcher ihr zweimal Egel gesetzt werden mußten. Diese Krankheit, verbunden mit dem Zustand, in welchem sie sich seit fünf Monaten befand, flößte uns allen unnennbare Angst ein. Die geschickte und teilnahmsvolle Behandlung unsers Arztes und alten Freundes, des Barons von Türkheim, rettete sie diesmal, wie er sie schon mehrmal in der Ruhr und im Scharlachfieber gerettet hatte. Sie genas, konnte am neunten Tage schon auf eine Stunde aufstehen und besserte sich nun schnell. Aber die Frucht, welche sie in sich trug, fühlte doch die Rückwirkung des Sturmes, der den Körper der Mutter erschüttert hatte. Sehr leicht und glücklich wurde diese – nach unser aller Rechnung vielleicht um vierzehn Tage zu früh – von einem zwar gesunden, aber sehr kleinen und schwächlichen Knaben entbunden, der in der Taufe den Namen Theodor erhielt.

Die Mutter war nicht imstande, ihn zu stillen, wohl der eigenen, zurückgebliebenen Schwäche willen. Er bekam eine Amme und versprach ein schöner Knabe zu werden, denn seine Züge waren angenehm. Noch war er aber nicht drei Monate auf der Welt, als sich ein Sturm anderer Art über uns erhob. Mein Schwiegersohn, durch amtliche Verhältnisse bestimmt, war[177] am Ratstische durch eine vielleicht unüberlegte, aber sehr verletzende Rede seines damaligen Chefs beleidigt worden. Er konnte sich nicht entschließen, länger in diesem Collegio zu dienen und suchte höhern Orts um eine Versetzung in ein anderes Kollegium an, die zugleich eine Beförderung wäre. – Sein Wunsch ward ihm gewährt, denn seine Verdienste waren bekannt, aber nicht so, wie wir und vielleicht auch er gewünscht hatten. Er wurde zum Appellationsrat ernannt – in Prag, und sollte im Herbste Wien verlassen und sich auf seinen neuen Posten verfügen.

Ich finde, im eigentlichen Sinn, keine Worte, um zu bezeichnen, wie diese Nachricht, welche mein Mann eines Mittags nach Hause brachte, auf mich wirkte. Ich war nicht – wie man öfters sagt – vom Donner gerührt, ich war im eigentlichen Sinn vernichtet. Mein einziges, mein mir so teures und mit Recht geliebtes Kind, die Mutter eines holden Enkels, samt diesem zu verlieren, sie aus meiner Nähe für lange, vielleicht für immer scheiden zu sehen, ohne andere verläßliche Aussicht, als hier und dort in einem oder andern Jahre einen kurzen Besuch – und das jetzt, wo ich mich erst wieder recht an sie gewöhnt, und in die süße Gewißheit, unter einem Dache mit ihr zu wohnen, hineingelebt hatte! Meinem ärgsten Feinde möchte ich die Gefühle nicht wünschen, welche die folgenden Tage und Nächte mein zerrüttetes Gemüt bestürmten. Schlaflos, unter peinlichen Träumen, verschlichen die Nächte; am Tage mahnte jeder Gegenstand, jeder Blick auf meine Tochter mich an den nahe drohenden Verlust. Daß ich meine Zuflucht im Gebete zu Gott nahm, daß ich ihn um Ergebung in seine Fügungen, um Erleuchtung auf meinem nächtlich gewordenen Pfad anflehte, war wohl [178] natürlich. Am dritten Tage endlich ward mir in diesem Sinne Erhörung, und ich erkannte abermals, wie schon oft, die Kraft und den Nutzen des Gebetes. Es war, als riefe eine leise, aber vernehmliche Stimme in meinem Innern mir zu: Du hast deine Tochter zu sehr geliebt, hast zu sehr dein Glück auf sie gebaut, und das solltest du nicht, denn des Menschen Herz soll nie am Irdischen so fest hangen, darum entzieht dir sie Gott auf eine Weile oder auf lange.

Jetzt ward es mit einem Male Licht in meiner Seele, und die schmerzlichen Dissonanzen: warum denn diese Trennung statthaben und ich mein Kind verlieren sollte, nachdem es ohne jenes Streben ihres Mannes nach einer andern Anstellung so wohl hätte in meiner Nähe bleiben können? – lösten sich in eine ruhige, klare Schlußkadenz auf, daß das zum Besten meiner Seele sei – und wenn gleich mein Schmerz derselbige blieb, so wurde er von diesem Augenblick an ruhig und ergeben. Wie wahr empfand ich die Worte Fenelons: Tant qu'on veut le mal qu'on souffre il n'est point mal. Pourquoi en faire un vrai mal, en cessant de le vouloir.

So ergab ich mich denn in den Willen Gottes, und sah mit tiefem, aber ruhigem Schmerz die Vorbereitungen zur Abreise meiner Kinder, welche im September statthaben sollte, und die Schwiegermutter ging, wie natürlich, mit ihrem Sohn ebenfalls nach Prag. Uns riefen die Badner Bäder, deren mein Mann jetzt im eigentlichen Sinn jedes Jahr bedurfte, von Wien ab, noch ehe Pelzelns Abreise erfolgen sollte. Das tat unserer armen Lotte zu weh, sich jetzt schon von den Eltern, deren alles und Liebstes sie war, trennen, und jene sobald allein zu lassen. Sie entschloß sich daher zu [179] einem großen Opfer; sie ließ ihren Mann samt seiner Mutter und ihrem Kinde abreisen, das unter dieser Aufsicht wohl geborgen war, und kam zu uns nach Baden, um noch ein paar Wochen mit uns zuzubringen. Wir hatten dies durchaus nicht von ihr verlangt, ja wir weigerten uns beide ernstlich, dies Opfer anzunehmen, weil sich nicht ohne Grund voraussehen ließ, daß es ihr von einigen Personen werde übel gedeutet werden; aber ihre kindliche Pietät überwand diese Rücksichten, und so blieb sie denn ein paar Wochen bei uns, die wir mit wehmütiger Freude genossen. Sie empfand schon damals, daß sie abermals werde Mutter werden, und die Unpäßlichkeiten, welche ihr der Anfang jeder Schwangerschaft verursachte, trübten ebenfalls unsere letzten Freuden.

Ein paar Bekanntschaften machten wir während dieses Aufenthaltes in Baden, die sich dann auch in Wien dauerhaft an uns anschlossen und uns manche angenehme Stunden verschafften. Es waren ein Herr v. Graffen, aus Hamburg gebürtig, der hier Resident seiner Vaterstadt war, und ein Herr Hülsemann aus Hannover. Beide sehr gebildete und artige junge Männer. Graffen, bei weitem der Bedeutendere unter ihnen, hatte während des Freiheitskrieges in der hanseatischen Legion gedient, weshalb wir ihn unter uns den Hanseaten nannten, sowie er von einer Eigenheit seines Geistes, jedem Dinge aufs genaueste nachzuforschen, besonders im wissenschaftlichen Sinne, den Beinamen: Herr von Gründlich erhielt.

Wir kehrten hierauf noch mit Lotten nach Wien zurück, und es war uns eine große Beruhigung, daß zwei Schwestern ihrer Tante Pichler, der Witwe des Buchhändlers, samt dem Sohn derselben, dem Kousin [180] Lottens, gerade damals nach Prag reisten und meine Tochter mitnahmen. So war sie doch unter Freunden und Bekannten nach ihrer ersten Trennung von uns.

Wie weh mir war, als ich mich endlich allein im Hause fand – brauch ich nicht zu schildern. Aber ein großer Trost wurde mir durch den glücklichen Zufall, daß meine teure Freundin Schlegel, als sie vernahm, daß die Wohnung in unserm Hause leer geworden, sich entschloß, dieselbe zu beziehen. Ihre Nähe, ihr Umgang, die mannigfachen Ressourcen, welche ein gebildeter Mensch in diesem Hause finden konnte, das von so vielen bedeutenden einheimischen Personen und von den meisten interessanten Fremden besucht wurde, und vor allem die Freundschaft, die herzliche Teilnahme und der fromme Sinn Dorotheens taten meinem wunden Herzen unendlich wohl, und ich konnte ihren Entschluß, zu uns zu ziehen, nur als eine, zu meinem Troste gelenkte Fügung Gottes betrachten.


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Unser Leben war von nun an stiller als zuvor. Schon im Jahre 1823 hatten wir, weil Karl Kurländer und meine Tochter geheiratet und das Haus verlassen hatten, uns enger zusammengezogen und einen Teil der Wohnung an einen alten Bekannten und Freund vermietet. Nun war ich oft in dieser engern Umgebung den ganzen Tag allein, denn Pichler ging zeitlich ins Bureau, kam nur zur Essensstunde nach Hause, und verließ dies wieder nach dem Essen, um spät, oft gegen 9 Uhr erst, wiederzukehren. Obgleich ich von Kindheit an stets gern allein war, und sogar ein Bedürfnis fühlte, täglich einige Stunden völlig einsam zuzubringen, so war es mir doch eine Erholung und Freude, [181] jetzt recht oft – beinahe täglich – meine liebe Hausgenossin, Frau von Schlegel, zu besuchen. Am öftesten geschah dies abends, wo ich denn meistens angenehme Gesellschaft fand, wie Herrn von Klinkowström (den Vorsteher einer musterhaften Erziehungsanstalt in unserer Nähe), dessen Schwägerinnen Fräulein von Mengershausen, sehr angenehme Frauenzimmer; Herrn v. Bucholtz, einen sehr gebildeten, ja gelehrten und überaus achtungswerten jungen Mann, der mit seinem Freunde Hülsemann oft kam; Frau von Doré, ehemals Fräulein Caspers; Herrn Fendi, den geistreichen Maler, und sonst noch mehrere, teils hiesige, teils durchreisende Gelehrte, und ausgezeichnete Menschen. Sehr oft erschien auch die Gräfin L..a, die aber, wenn sie kam, stets eher den Herrn vom Hause in seinem Schreibezimmer besuchte, was wir meist dadurch erfuhren, daß der Bediente ihre Arbeit brachte und indessen bei der guten Schlegel niederlegte, die denn, klug und taktvoll wie sie war, dies dem Anschein nach ganz gleichgültig geschehen ließ, und der Dame, wenn sie endlich zu uns herüber kam, freundlich begegnete. Diese Andeutungen mögen dazu dienen, die Stellen von Schlegels treuer und ausschließender Liebe zu seiner Frau zu beleuchten, welche sich in dem etwas exzentrischen Aufsatze »Friedrich und Dorothea von Schlegel« finden, der bald nach dem Tode dieser unvergeßlichen Freundin in der Allgemeinen Zeitung stand.

In diesem Kreise fand ich die befriedigendste Unterhaltung, sowie ich in der edlen Schlegel herzlichen Neigung zu mir, in ihrem frommen Sinn und ihrer Achtung für Häuslichkeit und stilles Walten, Nahrung für mein Herz fand. Dorothea wußte ebenso richtig[182] über ein neu erschienenes literarisches Produkt, wie über die Zurichtung einer Speise, über irgendeine häusliche Arbeit zu urteilen, und bei ihr tat weder die Hausfrau der Schriftstellerin (denn sie hatte früher, aber nicht unter ihrem Namen, den Roman Florentin und manches andere erscheinen lassen) noch diese jener in ihrer prosaischen, aber nützlichen, ja notwendigen Wirksamkeit Eintrag. Und alle diese schönen Eigenschaften waren durch eine warme Frömmigkeit und stille Heiterkeit eines klaren, selbstbewußten Geistes verklärt.

Wohl könnte es mir nicht einfallen, das Übermaß von Frömmigkeit, in das sich Frau von Schlegel hineinverloren hatte, und das sie den Ansichten der Ligorianer, überhaupt dem Ultramontanismus so geneigt machte, zu billigen oder wohl gar zu verteidigen; ebensowenig als manche falsche Eingebung ihres jugendlichen Herzens, die sie zu vielem Tadelnswerten verleitete. Für mich existierte Dorothea nur, seit ich sie kennen gelernt, seit 1808, und da waren jene Verirrungen vorüber, zum Teil vergessen, zum Teil vergütet durch ein musterhaftes Betragen. Doch kann ich nicht umhin, zu erwähnen, daß manchmal ihr ein Wort, eine Andeutung entschlüpfte, die man wohl dafür auslegen konnte, daß ihr Gewissen ihr über jene Begebenheiten noch zuweilen Vorwürfe mache und ihre zu weit getriebene Frömmigkeit, ihr Versinken im Hyperkatholizismus von diesem beunruhigten Gewissen herrühre, das darin Büßung, Trost, Ruhe gesucht.

Noch eine andere freundschaftlich gesellige Erheiterung ward mir damals dadurch, daß meine älteste Jugendfreundin, Fräulein von Ravenet, die im Hause der Gräfin Esterhazy in Preßburg als Erzieherin gelebt, gerade ein Jahr, nachdem meine Tochter geheiratet, [183] also im Mai 1824, nachdem sie die Erziehung ihrer Elève vollendet und diese an den Altar begleitet hatte, nun selbst ihre Hand einem Manne reichte, den sie lange gekannt und geschätzt hatte, und der ihr durch 25 Jahre eine unverbrüchliche Treue hielt. Es war Herr Schödelberger, der als Schulmann, als Künstler und als Mensch sehr achtungswert, einer unserer bedeutendsten Landschaftsmaler, und im Umgang, trotz einiger Trockenheit, geistvoll und unterrichtet war. Diese werte Freundin besuchte uns öfters des Abends, wo denn mein Mann uns die neuesten Erscheinungen der schönen Literatur vorlas, bis Schödelberger kam, seine Frau abzuholen und wir mit ihm noch ein Stündchen verplauderten.

So gestaltete sich mein Leben äußerlich recht freundlich, und ich konnte diese angenehmen geselligen Verhältnisse nur mit innigem Dank gegen die Vorsicht, welche mir diese Tröstung und Erheiterung zugesendet, anerkennen. Aber dennoch blieb die tiefe Wunde, welche mir die Trennung von meinem einzigen Kinde geschlagen, offen und blutete fort, und ein Mollakkord tönte aus der Tiefe meines Herzens durch alle diese Zerstreuungen und Annehmlichkeiten durch. Ich möchte dieses Durchtönen mit der Wirkung eines Chores in Händels Oratorium Acis und Galathea vergleichen, das ich in meiner Jugend aufführen hörte, als Baron van Swieten im Verein mit Fürst Dietrichstein und Schwarzenberg mehrere Kompositionen dieses großen Meisters unter Mozarts Direktion, der die Blasinstrumente zu diesen, so höchst einfachen Kompositionen hinzugefügt hatte, dem Publikum zu genießen gab. In jenem Chor nun, den die Hirten anstimmen, um Galathea über Acis Tod zu trösten, tönt [184] das Wort tot durch alle andern Melodien und Worte, die der Chor noch spricht und singt, wie ein erschütternder Grundton hindurch und macht einen unglaublichen Effekt.

Unsere Weihnachtsbescherung war, da meine Tochter nicht mehr dabei sein konnte, abgestellt worden, aber am heil. Dreikönigstag veranstaltete ich einen andern Scherz. – Es wurden zwei Torten gebacken, in jeder derselben eine Bohne verborgen, und nun die Stücke unter die Gesellschaft – von der einen den Frauen, von der andern den Herren – ausgeteilt, damit König und Königin zugleich gewählt würden. Sehr belustigend für alle war es, daß dies Los Herrn Friedrich von Schlegel und Frau von Arneth (ehemals Adamberger) traf, und nun beide ihre Rollen mit gutmütiger Laune zur Freude der Gesellschaft ausführten.

In der folgenden Fasten wurde Grillparzers Ottokar aufgeführt, als Benefize der Regisseurs. Wir nahmen mit Karl Kurländer gemeinschaftlich eine Loge, und wohnten der Aufführung mit lebhaftem Anteil bei. Sehr spannend und ergreifend waren die ersten zwei Akte, wo Siege und Glücksfälle sich zu überbieten scheinen, um Ottokars Macht und Ruhm zu vergrößern. Der dritte Akt, wo der Auftritt mit dem Zelte vorgeht, dessen Zeltschnüre der boshafte Zawisch abschneidet, ließ schon etwas kälter. Im vierten Akt berührte, mich wenigstens, der Anblick des von seiner stolzen Höhe herabgeschleuderten Königs, der da unmutig, fast verzweifelnd, vor dem Tore seines Schlosses in Prag liegt, höchst unangenehm, besonders da noch seine Frau und ihr Buhle (jener Zawisch) auftreten und ihn gleichsam für das, was er getan, ausschelten. Es scheint mir dies Ausschelten des Helden [185] eines Stückes – mag er es übrigens verdient haben oder nicht – immer etwas, was dem Interesse, das man bisher an ihm genommen und daher auch dem Stücke Eintrag tut. Die Strafpredigt, welche Medea in dem Trauerspiele Grillparzers dem, ebenfalls am Boden liegenden Jason hält – wirkt ebenso, und in einem freilich geringeren Maße auch die Ermahnung, welche Theramenes in der Sappho dem Phaon hält. Dahin gehört, meinem Gefühle nach, auch die Szene im Trauerspiele meines unvergeßlichen Freundes Collin: Mäon, wo Mäon vor seinem Oheim Odenat am Boden liegt, und dieser ihm in Zenobias Gegenwart, die der junge Held heimlich liebt, den Fuß auf den Nacken setzt. Bei mir, wenn ich an Zenobias Stelle gewesen wäre, hätte eine sehr robuste Liebe dazu gehört, um bei solch einem Anblick noch auszuhalten und den schimpflich Gedemütigten noch ferner zu lieben. Doch wir kehren zum Ottokar zurück, dessen Interesse im vierten und auch im fünften Akt merklich abnahm. Dazu dauerte auch das Stück ungewöhnlich lange, und da doch fast jedermann noch den Epilog und das Erscheinen der Regisseurs erwarten wollte, wurde es elf Uhr, bis alles zu Ende war. Das Stück wurde indes doch sehr beklatscht, der Verfasser gerufen, der, wie natürlich, nicht erschien, und alles sehr beifällig aufgenommen.

In Prag erklärte man sich sehr gegen das Stück. Die untergeordnete Rolle, welche der wilde, gewaltsame Ottokar, den sein Ehrgeiz und ein böses Weib rücksichtslos forttreiben, neben dem würdigen, ruhigen, weisen Rudolf spielt, das Licht, in welchem er seiner Frau und ihrem Buhlen gegenüber erscheint, endlich manche Roheiten und geringschätzige Reden, die er[186] sich selbst gegen seine Böhmen erlaubt, wenn er ihnen ihren Mangel an Kultur im Vergleich mit den Deutschen vorwirft – alles dies reizte und verletzte den Nationalstolz der Böhmen. Und wenn ich schon sagen muß, daß dies die Nationaleitelkeit gegenüber einem trefflichen Werke, das noch dazu ziemlich der geschichtlichen Wahrheit getreu ist, zu weit treiben heißt, wenn ich gleich selbst über diese Verletzbarkeit des böhmischen Nationalgefühls zu klagen habe – denn dies Gefühl, und nur dies war schuld, daß im Jahre 1816 mein Kaiser Ferdinand nicht aufgeführt wurde, weil die Böhmen darin als Rebellen erscheinen – so muß ich doch diesen Zug an einer Nation ehren, und von Herzen wünschen, daß meine guten Landsleute, die Österreicher, etwas von dieser Verletzbarkeit fühlten, und nicht allein geduldig, sondern sogar beifällig die Spöttereien und geringschätzigen Urteile Fremder über sich fürder nicht mehr anhören möchten.


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Meine arme Tochter war mittlerweile in eben diesem Prag in einer sehr betrübenden Lage. Ihr kleiner Knabe Theodor kränkelte, und auch ihrer Schwiegermutter schien das rauhere Klima nicht zu bekommen. Auch sie fühlte sich nicht wohl, und es reifte in ihr und ihrem Sohn der Entschluß, sich lieber zu trennen. So wurde beschlossen, daß die Hofrätin nach Wien zurückkehren sollte, so wehe ihr die Trennung von ihrem Sohn tat, und dieser sie hierher geleiten werde. Der Entschluß wurde ausgeführt, freilich zu einer Zeit, die für meine arme Tochter nicht günstig war; denn ihr Kind, ihr damals einziges, war bedenklich krank, sie selbst hoch schwanger, und ihr Mann reiste in eben diesen Tagen [187] mit seiner Mutter fort. Ein großes Glück war es, daß derjenige Freund Pelzelns, der, selbst in Prag etabliert, ihm den Herbst zuvor die Wohnung auf der Kleinseite gemietet, zufälligerweise das Haus einer meiner Jugendfreundinnen, der Baronin Hennet, gewählt hatte. Diese Frau war eine geborne Baronesse v. Born, Nichte des berühmten Mineralogen und Kousine eines andern, mir ebenfalls werten Fräuleins v. Born, des Gelehrten Tochter, die nun schon längst mir in das verhüllte Jenseits vorangegangen ist. Josefine nahm meine Tochter, wie sie mit ihrem Manne in ihr Haus zog, mit mütterlicher Zuneigung auf, und in ihrer Tochter Marie (jetzt Frau von Müller) fand Lotte eine Schwester. In dieser Fügung sah ich wieder die väterliche Waltung der Vorsicht zu unserm wahren Besten, denn in der traurigen Zeit der Trennung von ihrem Mann, am Bette des kranken Kindes, leisteten die beiden Freundinnen der Vereinsamten, was sie nur von einer Mutter und Schwester erwarten konnte.

Pelzeln war also nach Wien gekommen; er wohnte, wie sich das von selbst versteht, diese wenigen Tage bei uns, und seine Mutter, bis sich eine Wohnung für sie fand, bei einer Freundin. Kaum aber waren sie einige Tage hier, so erhielt ich einen Brief von meiner armen Tochter, die mir den bald darnach erfolgten Tod ihres Kindes meldete. In dieser düstern Zeit, so allein neben dem Bette des verstorbenen einzigen Kindes, konnte nur die Hoffnung auf den nahen Ersatz – der aber nie ein vollständiger ist – ihr einigen Trost geben. Es ist auch eben kein Ersatz, denn eine Mutter hat nie zu viel Kinder, und keines bietet jemals alle die Charaktereigenschaften dar, die das Verstorbene hatte. Doch kann dieser Unterschied [188] bei einem zehn Monat alten Kinde zum Glück nicht bemerkt werden.

Pelzeln wünschte, daß ich zur Entbindung seiner Frau nach Prag kommen möchte, weil sie nun auch des Beistandes seiner Mutter beraubt war. Wohl verließ ich Pichlern ungern auf so lange Zeit; denn da ich, um nichts zu versäumen, doch einige Zeit vor der Entbindung dort sein mußte, konnten leicht zwei Monate vergehen, ehe ich wieder nach Wien zurückzukehren vermochte. Indessen lag mir selbst sehr viel daran, meine Tochter in einer solchen Periode nicht zu verlassen, Pichler willigte ebenfalls ein, und so rüstete ich mich denn, um gegen den 20. April in Prag einzutreffen. Von jeher war das Reisen, die Unordnung, die es mit sich bringt, der Aufenthalt in den Gasthöfen, die Voranstalten, die es nötig macht – besonders wenn die Hausmutter sich entfernen, und in den Fällen, wo niemand da ist, der ihre Pflichten übernähme, alles den Dienstleuten überlassen, folglich für jeden möglichen Fall Vorsicht treffen soll – mir sehr widerwärtig. An dem Tage vor meiner Abreise besuchte mich noch meine werte Schlegel – da lagen die Pakete, da standen die Koffer usw., und ich klagte ihr, wie ungern ich reise, wie fatal mir diese Anstalten seien. Ach! sagte sie, wie gern würde ich Ihnen das Materielle der Reiseanstalten abnehmen, wenn ich statt Ihrer fortfahren könnte! So sind die Menschen verschieden! Was den einen quält, erfreut den andern, und solche Bemerkungen müssen uns Toleranz für die Eigenheiten anderer einflößen, die recht brav, recht klug, recht liebenswürdig und doch von uns sehr verschieden sein können! Frau von Schlegel war in ihrem Leben viel gereist, in Paris, in Rom, fast in ganz Deutschland gewesen; [189] sie reiste aus Lust und sie war bei allem dem eine emsige treffliche Hausfrau.

Ich machte mich also in einem Separateilwagen mit meinem Stubenmädchen und einem Bedienten auf den Weg nach Prag und kann diese Art zu reisen nur höchlich loben. In zwei und einem halben Tage war ich in Prag und hatte jede Nacht, einmal in Budwitz und einmal in Czaslau, bequem geschlafen. Die Pünktlichkeit, mit der man in den Posthäusern bedient wird, die Willkür, die dem Reisenden doch bleibt im Vergleich mit dem Drängen und Treiben auf dem allgemeinen Eilwagen, obwohl man die Stunden der Ankunft sehr berücksichtigen muß, machen diese Reiseart sehr angenehm.

Die Witterung war nicht günstig, und obwohl in der zweiten Hälfte des April, fand ich Schnee durch ganz Mähren und am andern Tage auch in Czaslau. Das Land in Böhmen gefiel mir nicht sonderlich. Es ist meist flach, doch sehr wohlgebaut, indessen sind die Gasthöfe größtenteils unter der Mittelmäßigkeit und das Trinkwasser sehr schlecht, was für Reisende, die weder Bier noch Wein trinken, höchst unangenehm ist.

Am dritten Tage, nachdem ich in Czaslau ziemlich gut übernachtet hatte, näherte ich mich dem Ziele meiner Reise, und bald, nachdem ich die letzte Post Biechowitz hinter mir hatte, erschienen mir von weitem die Zinnen von Prag. Diese Stadt nimmt sich wirklich, von dieser Seite erblickt, sehr vorteilhaft aus; ich möchte sie eine gekrönte Stadt nennen, denn über dem Berg, der sich aus der Häusermasse der Alt-und Neustadt sowie der Kleinseite erhebt, steigen noch die Paläste des Hradschin empor und über diesen die St.-Veitskirche. Das Ganze bildet einen imposanten Anblick, [190] man erkennt, daß man sich einer Hauptstadt, einer Königstadt nähert, und selbst das altertümliche Aussehen so vieler Gebäude vermehrt noch das Erhebende des Eindrucks. Wunderbar ragt in Prag die alte Zeit noch überall in die neue hinein. So manches wohlerhaltene Gebäude aus den vorigen Jahrhunderten, der Pulverturm, die beiden Brückentürme, die Teinkirche, das Altstädter Rathaus usw. erregen die Erwartung in uns, irgendeinen gewappneten Ritter oder einen ehrsamen Bürger mit gefaltetem Kragen und Barett daraus hervortreten zu sehen, und so manches Haus, manches Denkmal erzählt uns eine Episode der Geschichte Böhmens, so daß eine geistreiche Frau, die Gräfin von Engl, Prag eine versteinerte Geschichte genannt hat.

Meine Kinder empfingen mich mit herzlicher Liebe, und ich fand zu meiner großen Beruhigung Lotten viel gesünder und stärker als ich geglaubt. Auch meine Jugendfreundin Hennet wieder zu sehen, machte mir viele Freude, und so vergingen ein paar Tage in stillem Genuß auf dem einsamen Pfarrplatze, wo das Haus lag, in dem die Tochter wohnte. Einer Wienerin mußte es seltsam vorkommen, wenn sich manchmal wohl durch eine halbe Viertelstunde kein Vorübergehender zeigte, so daß die Schildwachen am Hause des Oberstburggrafen und gegenüber am Landschaftsgebäude die einzigen lebenden Wesen waren, die man erblickte, einige Haus- und Perlhühner ausgenommen, welche zwischen den Pflastersteinen verstreute Körnchen suchten. Ungewohnt waren mir die Stille und Einsamkeit, aber sie mißfielen mir nicht.

Ein paar Tage darauf dachte ich daran, meine Empfehlungsschreiben an die Frau Oberstburggräfin von[191] Kolowrat und die Fürstin von Kinsky abzugeben, die mir eben jene Gräfin Engl, eine nahe Verwandte und Freundin dieser beiden Damen, mitgegeben. Mit großer Güte und freundlicher Zuvorkommenheit wurde ich in diesen beiden Häusern aufgenommen und genoß in beiden sehr angenehme Tage. Ich hatte den Vorteil, nicht allein die Glieder dieser Familien als Menschen, welche, abgesehen von Geburt und Rang, durch die schätzbarsten persönlichen Eigenschaften ausgezeichnet waren, kennen zu lernen, sondern in ihrem Kreise auch noch die Bekanntschaft mancher andern, durch persönlichen oder literarischen Ruhm merkwürdigen Menschen zu machen. So die der beiden Grafen Kaspar und Franz von Sternberg, des Grafen Buquoy mit seiner Gemahlin, des Abbé Dobrowsky, dessen früher in Wien gemachte Bekanntschaft ich hier erneuerte, des Professor Kapp, Erziehers im fürstlich Kinskyschen Hause, eines ältern Bekannten meines verstorbenen Freundes Büel, und vor allen die der so liebens- als achtungswürdigen Gräfin Karoline Latour, Prager Stiftsdame, die mir ein herzliches Wohlwollen schenkte, und mit deren Wesen ich das meinige tief zusammenklingend fühlte. Auch waren unsere Prager Bekannten so freundlich, uns beide fleißig zusammenzubringen, und wenn die eine zu einem Diner oder einer Soirée gebeten war, wurde gewöhnlich auch die andere eingeladen.

So gestaltete sich mein geselliges Leben sehr angenehm, und die Freude, bei meinen Kindern zu sein, wurde mir dadurch und durch das Besehen aller Merkwürdigkeiten der Stadt, sowie durch vielseitig gebildeten Umgang erhöht. Die schönen Geister von Prag, unser alter Freund Professor Gerle, der schon[192] früher meine Kinder öfters besucht hatte, Herr von Rittersberg, der echte Dichter Ebert (später Sänger der »Wlasta«), der Geschichtsforscher Palacky, Hauptmann Marsano usw. kamen ebenfalls zu Pelzeln, und ihr Prager Arzt, Professor von Bischoff, ein Mann, der als Mensch, Arzt und Schriftsteller ausgezeichnet ist, erfreute uns oft mit seinen Besuchen, die er als Arzt begann und als Freund fortsetzte.

Am 10. Mai endlich meldeten sich die Vorläufer der Niederkunft bei meiner Tochter, und abends um halb 9 Uhr kam glücklich ein munteres, hübsches Knäbchen auf die Welt, das am folgenden Tage den Namen August in der heiligen Taufe empfing. Wir waren alle ganz glücklich und vergnügt, daß der Himmel uns den jüngsthin erlittenen Verlust nun mit Vorteil ersetzt hatte, denn das gegenwärtige Kind sah viel stärker und kräftiger aus, als Theodor bei seiner Geburt, und durch Gottes Gnade hat sich seine körperliche und geistige Natur auch demgemäß in der Folge bewährt.

Gern hätte meine Tochter dieses Kind selbst gestillt, ihr Mann und ich wünschten es sehnlich, weil ich in diesem Selbststillen den Grund künftiger Gesundheit für Mutter und Kind sah; aber die Hebamme behauptete, es sei keine Milch vorhanden, vermutlich, weil sie sich nicht die Mühe geben wollte, öftere Versuche zu machen, was freilich Zeit und Aufmerksamkeit kostet. Indessen hatte diese nicht vorhandene Milch später in einem Krankheitsanfall, den eine Unachtsamkeit eben dieser weisen Frau herbeigeführt hatte, bei meiner Tochter ein Depot auf den Fuß gemacht. Überhaupt fehlte es damals in Prag an gar manchen Bequemlichkeiten und Einrichtungen, an die wir in Wien längst gewohnt waren, und auf die ich bei anderm Anlaß [193] später zurückkommen werde. Unter diesen führe ich nur an, daß die Hebammen keine sogenannten Helferinnen bei sich haben, wie es in Wien Brauch ist, und daß ein glücklicher Zufall wollte, daß meine, damals aus Wien mitgebrachte Stubenmagd eine von ihrem Mann geschiedene Frau war, die meiner Tochter bei dieser Gelegenheit sehr nützliche Dienste leistete.

Während der neun Tage las ich meiner Tochter aus einem Buche vor, das dem Titel nach wohl nicht zur Unterhaltungslektüre geeignet schien, und dennoch der höchst anziehenden Darstellung und trefflichen Schreibart wegen uns sehr interessierte, nämlich aus Professor von Bischoffs »Lehre von den Fiebern«. Es unterhielt Lotten sehr, die überhaupt aus allzu sorgender Zärtlichkeit für die Gesundheit der Ihrigen sich gern aus medizinischen Büchern unterrichtete. – Eine Ansicht, die mir für Gemütsruhe und ungehindertes Handeln im häuslichen Leben nicht passend scheint, und die ich und verständige Männer öfters, aber immer vergeblich, zu bekämpfen suchten.

Das berühmte Fest Johannis von Nepomuk fiel in diese neun Tage, und da die Wöchnerin sich vollkommen wohl befand, konnte ich mir erlauben, dieser Feier auf dem Hradschin beizuwohnen, wohin Gräfin Karoline Latour mich zum Frühstück gebeten hatte, mich dann in die hochgeschmückte Veitskirche, ein schönes, aber leider nur fragmentarisches Monument des Mittelalters, zum Hochamt führte, und dann in Begleitung mehrerer Personen und ihres Bruders, des Feldmarschalleutnants Grafen Latour, der uns freundlich zum Führer diente, uns das ganze königliche Schloß, den Thronsaal und die übrigen Denkwürdigkeiten einer grauen Vorzeit zeigte. Auf dem Platz vor der Kirche, [194] vor dem Schloß bis in die Sperrgasse und noch weiter hinab, war überall reges Volksleben; Tische waren aufgeschlagen, auf denen man speiste, Buden eröffnet, wo allerlei, besonders Eßwaren, zu kaufen waren. Unter diesen spielen in Prag gedörrte und weichgesottene Pflaumen und Stücke von gebackenem Fisch nebst Wuchteln, eine Art Germ-(Hefen-)Kuchen, eine Hauptrolle und werden auf allen Straßen das ganze Jahr hindurch verkauft.

Am Abend dieses Tages, sowie an dem Vorabend der Feier war auf der Moldaubrücke ein großes Gedränge von Menschen um die Johanniskapelle, denn auf dieser Brücke hatte der gefeierte Heilige eine, wie es scheint, bei den Böhmen beliebte Todesart, die des Hinabstürzens, erlitten, und eine große sittliche Würde verklärte seinen Tod; denn er litt aus Ehrfurcht für seine Pflicht (das Geheimnis der Beicht, das er nicht zu verletzen sich entschließen wollte). Auch in der ganzen Stadt, wo eine Statue oder ein Bild des Heiligen sich befand, war er bekränzt und erleuchtet, und die Menge sang fromme Gesänge davor. Das war aber das einzige Mal, daß ich Musik auf den Gassen von Prag hörte, und auch diese Melodien hatten etwas Melancholisches.

Meine Tochter hatte sich von einer Verkühlung, welche ihr eine Unvorsichtigkeit der Hebamme, wie ich oben gesagt, zugezogen, so ziemlich, aber nicht völlig erholt. Doch war sie imstande, ihr Hauswesen zu besorgen, und ich erhielt dadurch mehr Muße, mich in Prag umzusehen und alle architektonischen und historischen Denkwürdigkeiten zu betrachten. Doch will ich meine Leser mit der Beschreibung derselben, die sie viel besser und weitläufiger in meines alten Freundes Gerle Schilderung von Prag finden, nicht aufhalten. [195] Nur eines Besuches in der Wenceslaikapelle erlaube ich mir zu erwähnen, weil die dort befindlichen Merkwürdigkeiten nur selten und nicht allgemein zu sehen sind. Der Oberstburggraf Graf Kolowrat, in dessen Hause ich so gütig aufgenommen worden war und so viele schöne Stunden genossen hatte, lud uns einmal, wie wir zu Tische bei ihm waren, die Gräfin Buquoy und ihren Gemahl, Gräfin Karoline Latour, einige Herren und auch mich ein, am nächsten Morgen uns in der Wenceslaikapelle in der Domkirche einzufinden, um die böhmischen Reichskleinodien zu sehen, die nur bei solcher Gelegenheit, wenn z.B. der Oberstburggraf, unter dessen Obhut sie sich, mit Gegensperre eines der ersten Landstände und eines Domherrn von St. Veit, befinden, Prag auf einige Zeit verlassen und sie dann zu revidieren und wieder an ihrem Platz zu verwahren hatte, zur Schau kamen. Gräfin Kolowrat, meine sehr gütige Gönnerin, nahm mich mit sich auf den Hradschin, wo sich in der benannten Kapelle bereits mehrere Böhmen und Fremde eingefunden hatten, um diese Schätze und auch die Kapelle zu betrachten. Auf einem Tische stand die echte Krone Karls IV. von reinem Gold und mit vielen, aber ganz in natürlichem Zustand, ohne Schliff und gehörige Fassung befindlichen, großen und kleinen Edelsteinen geziert, wie sie eben im 14. Jahrhundert die Goldschmiedskunst zu behandeln verstand. Ferner der Zepter, Reichsapfel, viele Reliquien, teils von einheimischen, teils auswärtigen Heiligen, welche der fromme Kaiser auf seinen Reisen gesammelt und in Prag aufbewahrt hatte. Auch die Wände der Kapelle ließ er auf goldenem Grund mit Edelsteinen auslegen, und man erzählte mir, daß dies ebenso in der Kapelle zu Karlstein, seinem Lieblingsaufenthalte, [196] der Fall sei. Nachdem die ganze Gesellschaft, unter der sich nebst andern Fremden auch russische Damen befanden, die Kleinodien besehen, bot man uns Einheimischen an, auch den Ort zu beschauen, wo die Reichskrone gewöhnlich aufbewahrt wurde. Die Fremden mußten zurückbleiben, weil jener Ort und sein Geheimnis etwas Heiliges war, das nur die Landeskinder oder österreichische Untertanen wissen durften. Wir wurden also über eine äußerst schmale und wie es mich dünkte, in der Dicke eines Pfeilers oder einer Hauptmauer angebrachte Wendeltreppe von nicht großer Höhe geführt und befanden uns, oben angelangt, in einem kleinen, geweißten, ganz ungeschmückten Gemach, wo in einer der Wände ein Schrank oder vielmehr eine Höhlung in der Mauer mit einer Türe von hartem, mit eingelegter Arbeit verziertem Holz angebracht war, auf die Art, wie man deren noch in vielen Sakristeien oder in alten Schlössern findet. Dieser Schrank, 3–4 Schuhe über dem Fußboden erhoben, war von innen mit purpurfarbenem Samt (wenn ich nicht irre) ausgeschlagen, stand aber jetzt offen, weil sich die Krone nicht darin befand. Diese verborgene, nicht leicht zu findende Treppe, dies Gemach, dessen Fenster, soviel ich mich besinne, auf lauter Dächer hinabsehen, gab mir bei dem Roman »Elisabeth von Guttenstein« die Idee zu der geheimen Treppe und dem Gemache, in welchem Franziska von Teuffenbach mit ihrem Geliebten heimliche Zusammenkünfte hat.

Sehr merkwürdig ist noch in Prag der alte Judenkirchhof nebst der alten – der ältesten – Synagoge. Ich besuchte ihn in Gesellschaft der Gräfin von Buquoy, welche, wie das oft geschieht, erst durch die [197] Fremde auf diese Merkwürdigkeit ihres Wohnortes aufmerksam gemacht, sich an uns und den Abbé Dobrowsky anschloß, dessen historische Gelehrsamkeit uns bei diesem Besuch sehr zu statten kam, der aber mit dem Rabbiner, der uns gleichfalls begleitete, in einen sehr heftigen und uns übrigen fast komischen Streit geriet, indem Dobrowsky dem Rabbi mehrere seinsollende geschichtliche Nachweisungen, z.B. das Grabmal einer alten Königin, nicht gelten lassen wollte, und dies alles für Fabeln oder höchstens Sagen erklärte.

Auch das Prager Theater bot mir eine sehr angenehme Zerstreuung. Unter der Leitung eines gewissen Herrn Stiepanek (wenn ich diesen Namen aus dem Gedächtnisse recht schreibe) gewährte es mit Mitgliedern wie den Herren Bayer, Polawsky, Ernst, Feistmantel, Frau van der Klogen, Fräulein Pistor und ihrem Vater, viele vorzügliche Darstellungen, die meine Kinder und ich, so oft, als es die Umstände erlaubten, besuchten. Das Theater selbst, der Saal, ist groß und geräumig, trug aber (wenigstens damals) den allgemeinen Charakter der Stadt Prag samt ihren Bewohnern, eine Art von Düsterheit, wozu wohl der Anblick so mancher verfallender Paläste und Kirchen, welche melancholisch auf eine glänzendere Vergangenheit hinweisen, und die Einsamkeit so mancher Straßen und Plätze besonders für jemand, der aus dem lebensfrohen Wien kommt, viel beiträgt. Hier war es einst prächtig und belebt – wir waren eine selbständige Nation, jetzt ist es anders – das scheinen uns die altertümlichen und nun häufig verlassenen und verfallenden Gebäude, das scheint uns der ernste Volkscharakter zu sagen, der sich nie in Musik oder fröhlichem Genuß auf öffentlicher Straße [198] oder an Spazierorten äußert, wie in Wien, wo im Sommer die Leute, im Freien sitzend, essen und trinken, fröhlich sind und Musik fast überall erschallt. Sparsam waren damals die wenigen Spaziergänge in Prag besucht, und auch dort war nicht viel für den Genuß oder die Bequemlichkeit der Gäste gesorgt. Bier und »Gugelhupf«, leider mit Muskatblüte gewürzt, war das einzige, was man an solchen Orten zum Essen oder Trinken erhalten konnte, und von Kaffeehäusern oder Zuckerbäckerladen, in denen man Eis, Kaffee oder Konfitüren finden und sie, im Freien sitzend, genießen konnte, keine Rede. Kaum daß man in den wenigen Zuckerbäckerladen leidliches Zuckerwerk für die Tafeln fand. Ebenso fehlte es damals (1825) an manch andern häuslichen Einrichtungen, z.B. an einem anständigen Badehause, mit den Bequemlichkeiten versehen, welche die Wieneranstalten dieser Art schon seit vielen Jahren bieten, und aus welchen man sich ein Bad konnte holen lassen. Wer zu Hause baden und das Bad nicht selbst wollte hitzen lassen, war gezwungen, das heiße Wasser aus dem nächsten Brauhause, deren zum Glück viele in Prag sind, holen, und zu Hause gießen zu lassen, wozu es jederzeit, des Hin- und Hergehens wegen, dreiviertel oder auch eine Stunde bedurfte. Ebenso hatte man, wenigstens so weit meine Erfahrung reichte, keine Idee von einer sogenannten Wärmeschachtel oder Trommel, welche in Wien selbst beschränkte Familien besitzen und die bei Wöchnerinnen, Kranken oder Badenden beinahe unentbehrlich scheint. Überhaupt bildete sich in mir bei diesem dreimonatlichen Aufenthalt in Prag sehr lebhaft die Vorstellung aus, daß der Geist sich vortrefflich in Prag befinde, aber der Körper nicht ebensowohl, denn diesem mangelte [199] es an vielen Genüssen und Bequemlichkeiten, an die man sich in Wien so leicht gewöhnt.

Was nun die geistigen Bedürfnisse betrifft, so war durch das Museum auf dem Hradschin, das großenteils dem Grafen Kaspar von Sternberg sein Entstehen verdankt, und eine Bibliothek, ein Naturalienkabinett und eine Gemäldegalerie in sich begreift, durch Privat- und öffentliche Sammlungen dieser Art, durch das Zusammenwirken geistreicher und gelehrter Männer und durch ihren Umgang hinreichend gesorgt, und ich kann sagen, daß ich in dieser Hinsicht in Prag volle Befriedigung fand. Bedenkt man ferner, daß alles, was hier für Wissenschaft, Kunst, Theater usw. geschieht, von den Bewohnern selbst, größtenteils von einem sehr aufgeklärten, humanen und vermöglichen Adel ausgeht, daß dieser Adel sich durch hohe Geistesbildung, durch Humanität und Feinheit des Betragens vorteilhaft vor manchen andern dieser Kaste auszeichnet, so wird man begreifen, daß Prag unstreitig große Vorzüge hat. Dennoch dünkte es mich, als würde ich mich nicht haben entschließen können, meine heitere, lebensvolle, freundliche Vaterstadt mit Prag zu vertauschen, das im ganzen, wie gesagt, einen düstern Eindruck macht und in der Seele hinterläßt.

Die Gegend um die Stadt herum ist freundlich, aber von keinem bedeutenden landschaftlichen Reiz, desto malerischer und imposanter sind die Ansichten, welche die Stadt selbst in ihrem Umkreis bietet. Majestätisch und überraschend ist der Ausblick vom Hradschin herab auf das Häusermeer, welches sich am Fuße desselben zu beiden Seiten des schönen und breiten Moldaustromes ausdehnt, der die Kleinseite und den Hradschin von der Alt- und Neustadt am jenseitigen Ufer [200] scheidet. Aus diesem Häusermeere ragen hier und da gotische Kirchen, Basiliken in italienischem Geschmacke, uralte Gebäude, die an das 13. Jahrhundert erinnern, das sie entstehen gesehen, und über die mit zahllosen Statuen besetzte kolossale Brücke zwischen den zwei altertümlichen Türmen am Anfang und Ende derselben wogt eine Menge Fußgänger, fahren zahlreiche Equipagen, die ganz im Geschmack des 19. Jahrhunderts, einen seltsamen Kontrast mit dem Zeitalter Karls IV. machen, das die Brücke und die Türme entstehen sah. Diese Brücke, von soliden Quadern erbaut, widerstand der Macht des Geschützes, als im Siebenjährigen Krieg der kommandierende General der Österreicher, um die Kleinseite und den Hradschin zu schützen und zu verteidigen, indes sich die Preußen bereits der Alt- und Neustadt bemächtigt hatten, die Brücke durch Kanonen zerstören lassen wollte. – Ringsherum außer der Stadt ziehen sich angenehme, begrünte Hügel hin, von fern, jenseits der Moldau, sieht man das Schloß Troja, von dem man eigentlich nicht weiß, woher es seinen, ans Altertum erinnernden Namen hat, und gerade gegenüber dem Hradschin erhebt sich der sogenannte Ziskaberg, von dem aus dieser Hussitenfeldherr einst die Stadt beängstigte und auch eroberte.

Man genießt dieser sehr schönen Ansicht über die Stadt und ihre Umgebung von mehreren Punkten des Hradschin, gewiß aber angenehmer und malerischer aus dem Garten des Fürsten Lobkowitz auf dem Lorenzberge, auf dessen Spitze das Prämonstratenserkloster Strahov steht, in einem schattigen Kastanienwäldchen, das dem weiten, hellen Gemälde gleichsam zum dunkeln Vorgrund dient, oder von der Gloriette im Graf Schönbornschen Garten gleich daneben, wo ich einen [201] sehr schönen Abend bei der Fürstin von Kinsky in gewähltem kleinen Kreise mit Gräfin Karoline v. Latour, deren Bruder, Schwägerin und noch einigen Personen sehr vergnügt zubrachte.

Eine ebenso schöne Ansicht bietet Prag von der gegenüber liegenden Seite, wenn man es vom Vissehrad am jenseitigen Moldauufer betrachtet. Dann erhebt sich der Hradschin mit seinen Palästen und dem altertümlichen Dom, der in seiner Bauart und dem freistehenden Bogen sehr an den Dom von Köln erinnert, uns gegenüber, die Kleinseite steigt an dem Hügel empor, und zu beiden Seiten des klaren, breiten Stromes dehnen sich die Häuser der Alt- und Neustadt, das Stift Emaus, die Maltheserkirche und viele andere merkwürdige Gebäude aus. Hier soll Libussa gehaust haben, jetzt steht eine Kirche auf dem Hügel, aber am Fuße desselben weist man noch ein kleines zerstörtes Gemach, welches das Badezimmer der königlichen Zauberin genannt wird.

Schöne Ansichten bieten sich auch von den Hügeln der Umgegend dar, zwischen denen einige Landhäuser liegen, welche den Bewohnern der Stadt zum Sommeraufenthalt dienen, die aber – wenigstens damals – nur in geringem Maße besucht wurden, denn die Prager schienen im ganzen freie Luft und Spazierengehen nicht zu ihren Bedürfnissen zu zählen, wie es denn damals wenig Spazierorte, und an denselben wenig Menschen gab. Eines dieser Landhäuser, die Bertronka genannt, das ziemlich anmutig zwischen grünen Hügeln lag, wurde in jenem Sommer von der Familie des Professors Bischoff, seiner jungen, sehr hübschen und sehr gebildeten Frau mit ihren beiden Töchtern – damals Kindern von 6–8 Jahren – bewohnt. Ein Spaziergang [202] auf einem, die Bertronka umgebenden Hügel führte zu einem Punkte, auf dem sich fast dieselbe Aussicht auf das nahgelegene Prag mit seinen drei Städten, dem Hradschin und dem Moldaustrom darbot, wie vom Hradschin herab, und noch mehr überraschte, weil man diese Fernsicht hier nicht erwartete. An einem schönen Abend, den ich dort zubrachte, machte ich die Bekanntschaft zweier merkwürdiger Frauen, der Frau Karoline von Woltmann, deren Ruf als Schriftstellerin mir schon früher bekannt war, und der Frau des Professors Mikan, die ihrem Manne nach Brasilien gefolgt war, ihn auf seinen Wanderungen begleitet und in allen seinen naturhistorischen Arbeiten und Studien unterstützt hatte. Es war etwas Ungewöhnliches und doch Einfaches in dem Betragen dieser Frau, die, obwohl über die Jahre der Jugend hinaus, noch Spuren ehemaliger Reize zeigte, und in den feinen, aber tiefen Zügen, in den großen, dunkeln Augen an südländische Gestalten erinnerte. Wir sprachen, wie natürlich, von ihrer Reise nach Rio Janeiro und ihren naturhistorischen Streifereien ins Binnenland in Begleitung ihres Gemahles. Ich äußerte zuletzt: eine solche Reise gemacht zu haben, sei allerdings wünschenswert, aber sie zu machen, doch mit vielen Beschwerlichkeiten verbunden. Gewiß, antwortete die interessante Frau, aber es war weder meine erste noch meine beschwerlichste Reise. Ich sah sie erstaunt an, mein Blick mochte sie gefragt haben. Ich war mit meinem ersten Manne (einem russischen Offizier), erwiderte sie, auf dem Ural. Ich gestehe, diese Antwort überraschte mich, aber sie vermehrte meine Achtung für diese Frau, welche Liebe und treue Pflicht zu solchen Opfern vermocht hatten, und stellte sie weit über alle die genialischen Frauen, [203] die es mit ihren Männern nicht aushalten können, fast jede geschieden leben, oder vollends dem Manne, dem sie am Altare Treue geschworen haben, mit einem andern entlaufen. Überhaupt haben mir, mit wenigen Ausnahmen, diese norddeutschen weiblichen Naturen stets mißfallen, wie es einst Mode war sie zu nennen, um schon im voraus alle Anforderungen der Pflichten, die mit den Namen von Gattin, Mutter, Hausfrau verbunden sind, zu beseitigen.

Da meine Tochter sich ziemlich von ihrem Unwohlsein erholt hatte, dachte ich nunmehr daran, einen längst entworfenen Plan auszuführen, über Teplitz und Karlsbad, das mir ganz neu war, nach Dresden zu gehen, wo mir sehr werte Freunde, Herr Generalkonsul von Krause mit seiner Familie lebten, mit welchen uns schon in Wien eine recht herzliche Freundschaft verbunden hatte, und die mich wiederholt aufgefordert, sie in Dresden oder auf ihrem schönen Landsitz Weißtropp zu besuchen. Sehr freute ich mich auf diese kleine Reise, auf Dresden, seine Kunstschätze, seine Elbegegenden und auf meine Freunde. Ich schrieb deswegen an diese, bekam sehr freundliche Antwort, es wurden Zimmer für mich bereitet, der Wagen bestellt, und alles eingerichtet, um in wenigen Tagen abzureisen. Vorher noch wollte ich, einer Einladung der Gräfin Max Althann, geborenen Gräfin Thürheim, zufolge, auf ihr nahe bei Prag gelegenes Gut Swoyschitz einen kleinen Abstecher machen, und ich sah mich dort von Herr und Frau vom Hause mit so viel Güte und Freundlichkeit behandelt, daß ich diese dritthalb Tage wohl mit zu den angenehmsten der ganzen böhmischen Reise zählen darf. Gräfin Althann zeichnete sich in ihren frühern Jahren, wie sie noch in Linz lebte und ich sie [204] öfters bei unserer gemeinschaftlichen Freundin, Frau von Sorgenthal, und bei uns sah, ebensowohl durch höhere Geistesbildung als Schönheit aus. Einer unserer Bekannten wandte das Wort Schillers: die Anmutstrahlende aus der Erwartung, auf sie an, und mit Recht. Damals in Swoyschitz, wo zwei ihrer Söhne erwachsene junge Leute waren, war wohl die Schönheit nicht mehr bedeutend, aber die Anmut und der gebildete Geist waren geblieben.

Am dritten Tag abends kehrte ich recht vergnügt nach Prag zurück und dachte nun schon an meine Reise nach Dresden. Aber was sind unsere Vorsätze und Hoffnungen? Bei Pelzeln angekommen, eilte mir der gute Schwiegersohn auf der Treppe entgegen – und meine Tochter nicht. – Schon das befremdete mich – bald aber sollte ich Trüberes hören. Sie lag zu Bette und war bedeutend krank. – Das lange verhaltene Übel, eine Folge jener Unvorsichtigkeit der Hebamme, deren ich schon früher erwähnt, und das, wie sich später klar auswies, nichts als eine Versetzung der Milch war, welche nach der Hebamme Meinung nicht vorhanden gewesen sein sollte, brach nun als ernsthafte Krankheit aus. Von einem Fortreisen nach Dresden konnte keine Rede mehr sein, ich schrieb sogleich an Krause und war froh, wenigstens nicht bereits abgereist zu sein. Ein schlimmer Umstand war es wohl, daß der Arzt und Freund meiner Kinder, Doktor Bischoff, gerade zu dieser Zeit nach Breslau zu seiner Schwägerin Westenholz war gerufen worden, die dort schwer krank lag. Indessen konnten wir mit Bischoffs Stellvertreter und Freund, dem Doktor Baër, sehr wohl zufrieden sein, der die Kranke vortrefflich behandelte.

Die Krankheit war schmerzhaft und langdauernd.[205] – Welche bangen Tage, welche noch bängeren Nächte brachte sie uns! Wie spähte ich nach jedem Ton, nach jeder Äußerung der Kranken oder des Arztes! Wer ein einziges geliebtes Kind in Gefahr sieht, wird mich ohne weitere Auseinandersetzung verstehen.

Es war früher schon verabredet gewesen, daß Pichler in der Hälfte des Juli, wo ich von Dresden zurückgekehrt zu sein dachte, nach Prag kommen, sich eine Weile dort aufhalten und dann mit mir zurückkehren wollte. Dem Vater – der sein Kind zärtlich liebte und den in der Entfernung der Gedanke, sie bedeutend krank zu wissen, aufs Schrecklichste geängstigt haben würde, mußte – so waren Pelzeln, Lotte und ich übereingekommenn – die Gefahr verborgen, und der Tochter Krankheit als etwas leicht Vorübergehendes geschildert werden. Aber der Vater war gewohnt, von ihr und mir oft und ausführliche Briefe zu erhalten. Ich konnte wohl schreiben und unsere Lage, so gut sich's tun ließ, bemänteln, aber er mußte doch die Handschrift seiner Tochter wenigstens in einigen Zeilen sehen, um glauben zu können, daß sie nicht bedeutend krank sei. Das kostete nun der Tochter bei ihrem leidenvollen Zustande eine unsägliche Anstrengung, um mit zitternder Hand einige beruhigende Zeilen zu schreiben. Aber die kindliche Liebe half ihr, die Leiden überwinden; die Briefe sahen somit ziemlich unverdächtig aus, und der Zweck dieser Aufopferung, die Beruhigung und Zufriedenheit des geliebten Vaters, war erreicht.

Indessen hatte die Krankheit ein Depot auf den Fuß gemacht, und ein Vesikator, um die Kniekehle gelegt, zog – freilich unter unsäglichen Schmerzen – eine Menge Feuchtigkeit heraus, worauf sich alle Umstände [206] besserten, die Krankheit gehoben war und nur Schwäche und Zusammenziehung im Fuße übrig blieb. Die Jugendkraft wirkte mächtig mit, und Doktor Baër wünschte und hoffte mit uns allen sehr, die Tochter wenigstens in so weit herzustellen, daß sie dem ankommenden Vater ziemlich gerade entgegengehen könnte. Das gelang denn auch, obwohl nicht so ganz, wie wir gewünscht, aber sie war hergestellt, sie sah wieder wohl aus, und der Vater erfuhr nie, wie übel sie gewesen, und wie wir ihn getäuscht; denn wir wollten uns für einen möglichen künftigen Fall nicht um den Kredit bringen.

Doktor Baër hatte sich ganz zuletzt einiger homöopathischer Pülverchen bedient, denn damals war diese Heilart, obwohl in Prag sehr beliebt (so daß im schwarzen Roß eine eigene homöopathische Küche bestellt war, wo die diese Kurart Gebrauchenden zweckmäßige Speisen erhielten), dennoch im ganzen noch verpönt, und mit ungünstigen Augen, zumal von den Behörden, angesehen. Baër fand es also für nötig, seine Pülverchen geheim zu halfen. – Sie wirkten zweckmäßig, obwohl nicht so bewundernswürdig, als er sich vielleicht versprochen hatte, und das alles vergrößernde Gerücht und der Parteigeist so manche Kuren dieser Art verkündet hat.

Pichler war hocherfreut, seine Tochter hergestellt und einen gesunden Enkel zu finden. Auch ihn interessierte Prag mit seinen Eigentümlichkeiten. Die ersten Tage führte ich ihn überall herum, und als er erst Weg und Stege so ziemlich kannte, unterhielt es ihn sehr, auf Entdeckungsreisen, wie er es nannte, auszugehen und sich willkürlich in irgendeinem Teil dieser großen Stadt oder vielmehr dieser vier Städte: Alt-und Neustadt, [207] Kleinseite und Judenstadt, umzusehen. Ganz überrascht und verwundert kam er aber eines Tages nach Hause, an dem seine Wanderungen ihn in die Judenstadt geführt und er diese alten, halbverfallenen Häuser, diese winkeligen Straßen und den Trödelmarkt, von allen erdenklichen Gattungen von Lumpen, zerbrochenem Geräte, alten Kleidungsstücken usw. auf den, mit allerlei Schmutz bedeckten Gassen aufgestellt sah. Lachend lösten wir zu Hause ihm das Rätsel, als er uns den Weg beschrieb, den er genommen, und er erfuhr nun, daß der Ort, der ihm so abscheulich und unheimlich vorgekommen, die Judenstadt war.

Viel reputierlicher, aber nicht weniger eigentümlich und komisch ist in Prag der gewöhnliche Trödelmarkt der Juden, welcher in der Altstadt bei der St. Galli-Kirche unter einer der Lauben oder Bogengänge gehalten wird, wie sie an vielen Häusern, besonders an älteren, hinlaufen, den Fußgängern zu großer Bequemlichkeit, aber eben nicht zum Vorteil der, dadurch stets finstern Buden und Läden, deren Fenster und Türen sich unter diesen Arkaden befinden. Auf diesem nur uneigentlich so genannten Trödelmarkt werden aber meist neue Sachen, Leinwand, Stoffe usw., auch Bücher, jedoch von diesen nur alte, verkauft. Wie man diese Hallen betritt, vernimmt man auf allen Seiten ein vielstimmiges Geschrei, indem jeder Handelsmann seine Waren anpreist und den Käufern ein ganzes Verzeichnis hersagt, von allem, was bei ihm, und nirgends so gut, so fein, so auserlesen als bei ihm zu finden ist, auch wohl die Waren vorzeigt und nicht selten den Käufer gewaltsam beim Arm faßt, um ihn in seine Bude hineinzuzerren. Mit Mühe kann man sich dieser Zudringlichkeiten erwehren; wenn man aber auch nichts zu [208] kaufen gesonnen ist, was auch meist rätlich sein möchte, da Übervorteilung bei dieser Menschenklasse sehr gewöhnlich ist, so gibt man sich doch eine Weile dem Spaße hin und unterhält sich an dem komischen Geschrei und an dem noch komischeren Eifer, womit ein Verkäufer dem andern seine Kunden abzufischen bemüht ist. Ob das alles sich noch so verhält, wie es vor 17 Jahren war, weiß ich freilich nicht.

Diese Zudringlichkeit, dieses ungestüme Wesen habe ich an dieser Nation auch bei einer andern Gelegenheit halb mit Lachen, halb mit Unwillen bemerkt. Es war bei der Besichtigung des alten Judenfriedhofes und der uralten Synagoge. Sowie wir uns anschickten, in diese hineinzugehen, umringte uns ein ganzer Schwarm von Männern und hauptsächlich von Weibern, welche uns anbettelten, aber nicht mit mündlichen Bitten zufrieden, uns bald hier, bald dort zupften, bei den Kleidern, bei den Händen faßten und sich durchaus nicht abwehren ließen. Gräfin Buquoy, die ihre Kinder mit sich hatte, sah nicht ohne Besorgnis, wie diese meist schmutzigen Weiber die Kleinen umdrängten, sie berühren, sie liebkosen wollten, und der Bediente und Jäger mußten die Kinder in ihren Schutz nehmen und wegführen. Mir erschienen in diesem Betragen des unberufenen Schwarms, der uns umdrängte, zwei auffallende Eigenheiten in dem Charakter dieser oft verkannten, oft mißhandelten, aber auch oft mit Recht getadelten Nation: die Gier nach Geld – und die Lust, sich zuzudrängen, sich überall einzumischen und neugierig auszuforschen. Jene Gewinnsucht, die bei dem rohen Teil des Volkes sich als schmutzige Begierde nach Gold durch Bettel oder Verkauf zeigt, treibt die gebildete Klasse desselben zum Handel und Verkehr im [209] großen und macht sie – wie sie einst, wenigstens in Österreich, Kammerknechte der Herzoge hießen, jetzt zu Kammerknechten aller europäischen Potentaten und gibt ihnen in diesen Verhältnissen Mittel und Macht in die Hand, um in den politischen Angelegenheiten ein so gewichtiges Wort mitzusprechen, wie es Knechten doch nimmer geziemt. Nicht minder unangenehm ist jener, an so manchen Individuen dieses Volkes bemerkbare Eifer, sich in die Angelegenheiten des Nächsten zu mischen, sich um dessen Geschäfte, Neigungen, Verhältnisse usw. aufs genaueste zu erkundigen und gelegentlich mit Rat und Tat einzugreifen. Ich erinnere mich vor vielen Jahren von Klemens Brentano eine ähnliche Bemerkung gehört zu haben, die er noch dazu mit diesen Worten ausdrückte: Sie greifen einem mit dem Finger bis mitten ins Herz.

Daß es viele und sehr ehrenvolle Ausnahmen von dieser allgemein ausgesprochenen Bemerkung gibt, daß ich selbst viele höchst schätzbare Personen aus dieser Nation habe kennen und in vieljährigem, freundschaftlichem Umgange aufs Innigste würdigen gelernt, davon enthalten selbst diese Blätter manche Beweise. Im ganzen aber wird man mir nicht unrecht geben, wenn ich jene Eigenschaften als Merkmale des jüdischen Charakters im allgemeinen bezeichne, von denen freilich höhere Geistesbildung, Umgang mit feinen Menschen, eigenes Nachdenken und die Erkenntnis des Bessern die einzelnen oft und sicher befreit.

Es ist die Frage über die Judenemanzipation in unserer Zeit vielfach zur Sprache gekommen. Immer scheint es mir mißlich, diesen Punkt zu erörtern: der großen Vorliebe unserer Zeit, jede Schranke aufzuheben, jede Fessel zu lösen, zu sehr nachzugeben und einer [210] zahllosen Menschenklasse, die sich bisher unter einem harten Drucke befand und unter diesem man ches Schädliche verübte, plötzlich alle Rechte und Freiheiten ihrer übrigen Mitbürger einzuräumen. Noch ist es ja durch allen Scharfsinn der Gelehrten nicht entschieden, ob die schlimmen Eigenschaften, welche uns an dieser Nation mißfallen, ein ihnen angebornes oder durch den harten Druck, der viele Jahrhunderte lang auf ihnen lastete, erzeugtes Übel sei; und dieser Streit gleicht dem, ob das Ei oder die Henne früher existierte. Sicher ist es, daß manche unangenehmen Züge, die die Juden an sich tragen, schon von den römischen Schriftstellern gerügt wurden; sicher ist es, daß sich in dem Evangelium Spuren davon nachweisen lassen; sicher ist es, daß ihre Religionsvorschriften, so wie sie ihnen Moses gab, um sie von der Gemeinschaft mit den, sie umwohnenden Heiden abzusondern und den Dienst eines einzigen Gottes bei ihnen zu erhalten, ihnen Feindseligkeit gegen andersdenkende Völker, und wenn es not tat, auch deren Ausrottung zur Pflicht machte. Wie manches davon mag sich in ihnen durch Tradition erhalten haben. Wie vieles ist noch durch den Druck und die Grausamkeiten, die man sich gegen diese Unglücklichen erlaubt hat, dazu gekommen und hat die Annäherung derselben zu den Christen, wenn sie sich hier und dort im Laufe der Zeit und durch deren ausgleichende Macht erzeugt, entwickeln wollte, wieder gewaltsam zerstört. Immer noch kommen sie den, sie umgebenden Völkern, Christen oder Mohamedanern, nicht freundlich, nicht brüderlich entgegen, immer noch sind diese beiden Religionsparteien geneigt, alles Üble von den Juden zu glauben und zu fürchten, und sich daher gegen diese Wehrlosen, wie die neuesten Vorfälle [211] in Damaskus beweisen, alle Härten zu erlauben. Wenn sie in Europa und unter den, durch Europäer zivilisierten Ländern der andern Weltteile größere Milde und eine billige Anerkennung genießen, so ist dies nur eine Wirkung der allgemeinen Gesittung und durchaus kein durch Anordnungen oder Gesetze ausgesprochener Schutz. Es ist eine Art von Waffenstillstand, der im nächsten Augenblick durch irgendeine Aufregung, eine böswillige Laune, einen Mißverstand gebrochen werden und in einen offenbaren oder versteckten Krieg ausarten kann, wie uns vor nicht sehr langen Jahren die Hepp! Hepp-Geschichten in Frankfurt und wenn ich nicht irre auch in Berlin bewiesen haben. Selbst die zivilisierten und oft sehr hochgebildeten Juden stehen noch immer in einem ähnlichen Verhältnis, wenn auch ein Verdacht wie der zu Damaskus nicht auf sie fallen kann; aber dennoch wird sich ein gewisses Mißtrauen, eine gewisse Abneigung, solange sie uns so gegenüberstehen wie jetzt, nie ganz aus unsern Seelen verlieren; so wie auch der Jude seinen geheimen Unwillen gegen den bevorzugten Christen nie ablegen wird.

Es wäre also meiner Meinung oder vielmehr meinem Gefühle nach allerdings wünschenswert, daß die christlichen Regierungen in und auch außer Europa sich ernstlich und gutmütig mit der Verbesserung des Loses der Juden beschäftigten, daß sie daran dächten, einen gesetzlichen Zustand für sie festzustellen, der ihnen die nötigen Rechte sicherte, zugleich aber auch dies mit jener Bedächtlichkeit und Umsicht täten, daß die Rechte der übrigen Einwohner durch die Emanzipation einer Nation, in deren Religion es Vorschrift ist, die Andersglaubenden zu vertilgen oder wenigstens [212] zu hassen und zu übervorteilen, nicht zu sehr gekränkt würden. Bis diese Gesetze aber einmal in Europa gegeben und allgemein anerkannt werden, wollen wir hoffen, daß eben durch die alles ausgleichende Zeit und die durch sie bewirkte Gesittung dieser Periode, durch Milderung der Gesinnungen auf beiden Seiten, durch Verschmelzung und Annäherung, soweit es ohne Wechselheiraten möglich ist, vorgearbeitet werde, damit jene Emanzipation, wenn sie einmal ausgesprochen sein wird, den Juden ohne seinen völkerrechtswidrigen Haß, den Christen ohne Intoleranz und Vorurteil finden möge!


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Meine Reise nach Dresden hatte, wie schon gesagt worden, unterbleiben müssen, und unterdes war auch die Zeit gekommen, daß ich an Pichlers Seite wieder nach Wien zurückkehren sollte. Wir schickten uns also an, die teuren Kinder, die geschätzten Freunde und die alte Hauptstadt Böhmens zu verlassen; doch war Pichler bedacht, mir die Rückreise angenehmer zu machen, indem wir einen andern Weg einschlugen, als den wir beide hergekommen, und so nach Schwarzenau zu unserer guten Freundin Pereira kamen, die uns eingeladen hatte, ein paar Tage bei ihr zuzubringen. Wir fuhren also nach einem schmerzlichen Abschied durch das Vissehrader Tor auf der alten Prager Straße zurück, kamen nach dem, in der Hussitengeschichte so berühmten Städtchen Tabor, und sodann über Sudomirsits, Sobieslav, durch ziemlich angenehme, waldreiche Gegenden nach Wittingau, wo wir übernachteten. – Hier ist der Boden sandig, die Vegetation nicht reich, aber das Städtchen ziemlich hübsch. Am [213] andern Tag setzten wir unsern Weg nach Schwarzenau fort, kamen bei Schwarzach über die böhmische Grenze und durch hügeliges, ziemlich starkbewaldetes Land nach Schrems. Hier sieht der Boden sehr unfruchtbar aus. Große, schwarze, runde Steine liegen überall oder schauen vielmehr zwischen ziemlich dünnen, magern Kornhalmen aus dem Boden hervor und geben ein unangenehmes Bild der Unfruchtbarkeit. Hinter Schrems, gegen Schwarzenau zu, erscheint der Boden ergiebiger, die schwarzen Steine verlieren sich und endlich steigt, wie man von einer kleinen Anhöhe herabfährt, das stattliche Schloß mit seinen Türmen empor. Auch dies, sowie manches andere in Österreich, das ich gesehen, mag einmal fest gewesen und verteidigt worden sein; auch hier ist wie bei vielen andern Schlössern der breite Wassergraben, der es einst umgeben und beschützt hatte, ausgetrocknet und ein recht artiger Garten an dessen Stelle angelegt worden.

Wir wurden mit großer Freundlichkeit empfangen, trafen die Tante der Baronin, Frau v. Ephraim mit ihrer Tochter, den hamburgischen Ministerresidenten, Herrn v. Graffen, und noch einige Gäste, und brachten einige recht angenehme Tage dort zu. Eine höchst ergreifende Mordgeschichte beschäftigte in dieser Zeit die Umgegend. In Langenlois, einem bedeutenden Marktflecken unweit Schwarzenau, hatten sich, wie ein paar Jahre früher in Stockerau, Parteien unter den Bürgern gebildet. Es war, als rege sich der städtische Geist des Mittelalters in diesen Gemeinden und treibe sie zu eigenmächtigem Verfahren, ja zur Selbsthilfe, wenn ihnen keine Unterstützung von den Behörden wurde. Der Syndikus in Langenlois war seit mehrerer Zeit, so wie damals in Stockerau der Magistrat, ein Gegenstand [214] des Hasses für viele, die eine eigene Partei in diesem Duodezstaate bildeten. – Hin und her wurde gestritten, verklagt, verschwärzt, gestraft usw. Eines Tages, als der Syndikus in seinem Keller, der, wie das bei uns auf dem Lande häufig ist, außerhalb des Fleckens lag, gegangen war, dort nachgesehen, seinen Diener, der ihn begleitet, vielleicht mit dem Wein, den er abgezogen, voran nach Hause geschickt, und sich auf eine Bank unter den Bäumen, welche den Keller beschatteten, gesetzt hatte, – fiel hinter einem Zaun ein Schuß, von dem der Syndikus in den Rücken getroffen und getötet wurde. So fand man ihn – und keine Spur war zu finden, die auf den Täter hätte leiten können. Scharfe Untersuchungen wurden angestellt, mehrere verhaftet, auf denen der Verdacht feindseliger Gesinnungen gegen den Ermordeten am meisten ruhte. Die Untersuchung währte lange – einer der Verhafteten hatte sich, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, während derselben das Leben genommen. – Bekannt aber wurde, soviel mir bewußt ist, der wahre Stand der Dinge und der Grad der Schuld der Beteiligten nicht.

Doch ich kehre nach Schwarzenau zurück. Die Gegend ist meines Erachtens nach nicht schön. Hügeliges Land, meist mit dunkeln Kieferwäldern und Gebüschen bedeckt, ohne bestimmte oder bedeutende Formen, ein Ansehen von Trockenheit und Unfruchtbarkeit, ein rauhes Klima, so daß die Zwetschgen nur selten, ja manchmal sogar die Haferernten nicht reif werden – gibt dem Ganzen einen düstern Charakter. Ganz in diesem Charakter fand ich auch den Anblick der Ruinen von Krumau, einem alten Schlosse, auf einem von den dunkeln, ich möchte sagen stygischen Fluten des Kamp [215] umflossenen Felsen. Hier soll die unglückliche Königin Margarethe, die Schwester Friedrich des Streitbaren, gelebt haben, nachdem sie früh schon Witwe des römischen Königs Heinrich von Hohenstaufen gewesen, mit dem sie seine Gefangenschaft in S. Felice geteilt, dann gezwungen, den viel jüngern Böhmenkönig Ottokar zu heiraten, und von ihm verstoßen, sich wieder auf dies Schloß zurückgezogen hatte. Zum mindesten stimmt die Wahl dieser melancholischen Gegend recht gut zu der Stimmung, in welcher sich diese unglückliche Frau befunden haben mag. Nebst dieser Ruine sind noch andere verfallene Schlösser in der Nachbarschaft, und selbst das bewohnbare und bewohnte, sehr schön eingerichtete Allentsteig trägt einen altertümlichen Charakter.

Nach Wien zurückgelangt, war auch für uns bald der Zeitpunkt des Badeaufenthalts gekommen. Wir bezogen eine schon bekannte Wohnung in Guttenbrunn, denn es lag uns daran, so ländlich zu wohnen, als sich nur immer mit dem Gebrauche der Bäder vertrug, die für Pichler der Hauptzweck dieser Reisen waren. Ich genoß nur die frische, gesunde Luft und befand mich damals stets wohl dabei. Im September besuchte uns unsere Tochter zu unserer Freude und Beruhigung auf einige Tage und bewies durch ihre Reise auf dem Eilwagen und ihr blühendes Aussehen, daß sie wieder ganz hergestellt sei, wofür wir Gott nicht genug danken konnten. Sie blieb nur wenige Tage und beeilte sich, zu ihrem Mann und Kind zurückzukehren. Aber so kurz auch dieser Besuch war, gewährte er uns Freude und Trost.

Im folgenden Winter faßte ich die Idee, einen historischen Roman zu schreiben, dessen Stoff aus der böhmischen [216] Geschichte und dessen Schauplatz Prag, das ich nun ziemlich kannte, sein sollte. Es war nicht leicht, einen solchen zu finden, obwohl die böhmische Geschichte sehr reich an bedeutenden Zügen und eigentümlicher Nationalentfaltung ist. Aber diese Züge und diese Charakterentfaltung sind häufig, ja meistens sehr widerhaariger Art – oft in Opposition mit den Regenten Böhmens, von welcher Dynastie sie sein mochten, und fast immer in feindseliger Richtung gegen die deutsche Nation. Es mußte also ein Zeitpunkt ausgefunden werden, der an sich prägnant, für die Nation rühmlich und nicht in gerader Opposition mit dem deutschen oder österreichischen Interesse war, und da zeigte sich kein anderer als der, den mir Baron Hormayr, den ich bei meinen historischen Arbeiten stets um Rat fragte, schon früher bei ähnlichem Zweifel gegeben, nämlich das Ende des Dreißigjährigen Krieges, als die Schweden sich durch nächtlichen Überfall des Hradschins und der Kleinseite in Prag bemächtigt hatten und diese Plätze auch bis zum Friedensschluß 1648 inne behielten. Hier war nun die Bevölkerung von Prag ganz im Einverständnis mit den Ansichten des kaiserlichen Hofes. Die Schweden hatten längst aufgehört, selbst bei den Protestanten, noch mehr aber bei der katholischen Partei in Deutschland als Retter und Befreier zu gelten, und alle waren froh, daß sie sich wieder über die Ostsee zurückziehen sollten. In diesem Sinn konnte ich also meinen Plan vorläufig zu den Schweden in Prag entwerfen. Die nähern Bestimmungen, die Lokalitätsverhältnisse hatte ich mir wohl eingeprägt, und die Herren Literatoren von Prag, besonders Professor Gerle, dann die Herren von Rittersberg, Ebert, damals ein junger Mann, der kaum [217] 25 Jahre zählte, waren mir mit großer Freundlichkeit behilflich, Notizen zu sammeln, die auf jene Zeit Bezug hatten. Herr von Rittersberg war so gütig, mir eine lateinische Übersetzung eines böhmischen Manuskripts oder einer gedruckten Nachricht über die Verteidigung der Alt- und Neustadt durch die Studenten unter ihrem tapfern, geistreichen Anführer P. Plachy zu verschaffen, die einen dieser Studenten selbst zum Verfasser hatte, und die mir bei der Schilderung des Kampfes am Neutor sehr zu statten kam.


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Im Laufe des Winters 1825–26 kamen nach und nach mehrere werte Bekannte, die wir in Prag kennen gelernt und sehr ungern verlassen hatten, durch Übersiedlung hierher nach Wien. Der erste war der würdige Professor und k.k. Rat Doktor v. Bischoff, mit seiner ebenso schätzbaren als liebenswürdigen Frau. Nicht lange darnach rief eine kaiserliche Entschließung den Oberstburggrafen, Grafen von Kolowrat, als Staatsminister hierher, und wieder bald nach dieser Versetzung wurde dessen Frau Schwägerin, die Fürstin Kinsky, zur Obersthofmeisterin der Erzherzogin Sophie ernannt. So waren denn alle diese, von mir verehrten Personen jetzt in Wien einheimisch. Aber diese Nähe erwies sich nicht so befriedigend für uns, als man es auf den ersten Anblick hätte denken sollen. In Prag, in der Provinz hatten die bürgerlichen Bekannten freieren Zutritt zu ihren hochgestellten Gönnern, und obwohl ich nicht die geringste Ursache hatte noch habe, mich in den fünfzehn Jahren, seit jene Familien in Wien leben, über irgendeine Hintansetzung oder Kälte oder Hochmut in ihrem Benehmen gegen mich zu beklagen, [218] obgleich ich versichert bin, bei den seltenen Besuchen, die ich in jenen Häusern mache, stets als eine werte Bekannte mit Achtung und mit Freundlichkeit aufgenommen zu werden: so brachte es doch die Stellung dieser Personen und ihr Verhältnis zum Kaiserhofe mit sich, daß der ungezwungenere Umgang, wie er in Prag stattgefunden, hier nicht fortgesetzt werden konnte. Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht umhin, in dieser sowie in Rücksicht meiner Stellung in der literarischen Welt gegen Schriftsteller und Rezensenten zu erwähnen, wie wenig ich mich über meine Aufnahme von Seiten hochgestellter Personen wie von seite meiner Kunstgenossen zu beklagen Ursache hatte und noch habe. Im Hause des Fürsten von Lobkowitz, im Hause des verehrten Grafen Franz von Széchény, sowie im Hause meiner langjährigen, innig geachteten Freundin Gräfin von Zay wurde ich nicht bloß von den Mitgliedern dieser Familien, sondern auch von den fremden Besuchern, die oft zum höchsten Adel gehörten, nicht allein mit Achtung, sondern mit Auszeichnung behandelt. Bei Fürst Lobkowitz, wo ein sehr angenehmer Ton herrschte und man stets versichert war, geistreiche Gesellschaft zu finden, wie ich denn öfters den Marquis de Chasteler, den Baron von Steigentesch und andere dort getroffen, befand ich mich mehr als einmal bei Soiréen, wo entweder Musik gemacht oder Opern gegeben wurden, im Salon der Fürstin mitten unter den Damen vom höchsten Range, und in der Nähe der kaiserlichen Prinzen, die diese Gesellschaften mit ihrer Gegenwart beehrten. Nie, ich kann es mit Wahrheit bezeugen, erfuhr ich die geringste Zurücksetzung oder wohl gar eine Demütigung, wie man sich von andern Frauen des Mittelstandes erzählte. Das [219] allein beobachtete ich stets genau, mich nie vorzudrängen, stets zu warten, bis ich aufgesucht oder aufgefordert wurde, einen Platz einzunehmen, den ich aber auch dann unbestritten und ungekränkt behauptete.

Ebenso bin ich mir keines Unfriedens mit andern Schriftstellern und, einige Ausfälle in obskuren und schon vergessenen Journalen von unbedeutenden Rezensenten ausgenommen, auch mit keinem Kritiker bewußt. Stets bin ich mit Höflichkeit, oft mit Achtung, manchmal mit Lobpreisungen, die mir selbst zu hoch schienen, behandelt worden, und mit vielen von unsern österreichischen Autoren bin ich persönlich wohlbekannt, mit einigen in freundschaftlichem Verhältnisse – mit keinem in Fehde. Aber ich habe auch nie in meinem Leben eine Rezension geschrieben oder drucken lassen, ich habe meine Urteile über fremde Werke so schonend und mit so viel Nachsicht wie möglich ausgesprochen, nie Zwischenträgereien Gehör gegeben, nie auf eine schmähende Rezension geantwortet, und wenn in früherer Zeit einige meiner literarischen und persönlichen Freunde den Fehdehandschuh für mich aufnehmen und dem schmähen den Rezensenten antworten wollten, suchte ich dies auf alle Art zu hindern und habe mich bei dieser Verfahrungsart seit mehr als 40 Jahren stets wohl befunden und viele Beweise aufrichtiger Achtung, Teilnahme und Dankbarkeit von Personen jeden Ranges erhalten, welche mir die Versicherung gaben, in meinen Schriften Trost und Beruhigung gesucht und gefunden zu haben.


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Der Winter von 1825–26 verging ziemlich gleichförmig und ziemlich angenehm, wenn ich bei der Trennung [220] von meinem einzigen Kinde dieses Wort von meiner Lage eigentlich brauchen kann. Viel trug die Nachbarschaft der trefflichen Schlegel zu meiner Aufheiterung bei. Es war nun eine Nichte ihres Mannes, Baronin Buttlar, Tochter von Schlegels Schwester, aus Dresden hierher gekommen und wohnte bei ihren Verwandten. Diese, eine junge, geistvolle, unterrichtete Frau und sinnreiche Malerin, vermehrte auf sehr angenehme Art den gewählten Kreis ihrer Tante und war besonders glücklich im Erfinden und Ausführen ansprechender kleiner Familienfeste, womit wir ihrer Tante oder ihres Oheims Festtage feierten.

So kam der Frühling heran und mit ihm die beglückende Hoffnung, daß Pelzeln, zwar ohne Avancement – aber schon die Transferierung war Gewinn – nach Wien werde übersetzt werden. Die Sache blieb eine Weile unentschieden, wir schwankten zwischen Furcht und Erwartung. – Endlich trat eines Morgens zu ungewöhnlich früher Stunde Pelzelns Mutter, die verwitwete Hofrätin, ein und kündigte uns die Freudenbotschaft an, daß unsere Kinder wieder nach Wien übersiedeln werden. Nun waren wir alle beglückt und selig, und ich machte mirs zur Pflicht, mich bald darauf von einer alten Jugendbekannten, der Baronin Ott, die ich öfters an einem dritten Ort traf, und auch, wiewohl selten, besuchte, bei ihrem Schwager, dem Appellationspräsidenten v. Gärtner vorstellen zu lassen, bei welchem sie seit ihrem Witwenstande wohnte, um ihm für diese große Gunst zu danken. Man sagte nämlich, er sei es eigentlich gewesen, der diese Übersetzung dadurch, bewirkte, daß er dem Kaiser vorgestellt habe, wie sehr er eines so geschickten und redlichen Arbeiters, wie Pelzeln war, bedürfe. Der Kaiser [221] bewilligte dies Gesuch, und infolgedessen durften seine Mutter und wir hoffen, unsere Kinder wieder bei uns zu haben.

Aber vorher kam noch viel Ungünstiges. Pelzeln, dem so wie seiner Mutter und auch Lotten die Luft und Lebensweise in Prag nicht gut anschlug, wurde bedeutend krank, und infolgedessen suchte er, als er hergestellt war, Prag so bald als möglich zu verlassen. Die Anstalten zur Übersiedlung waren aber noch nicht vollendet, und so kam Pelzeln zuerst allein nach Wien, um seinen neuen Posten anzutreten. Lotte, die bereits wieder seit einigen Monaten guter Hoffnung, und dadurch mehr als die beiden ersten Male inkommodiert war, blieb zurück, um jene Vorbereitungen zu treffen, und da eben das Packen und Räumen meiner Tochter in ihrer damaligen körperlichen Lage nicht zuträglich war, so ersuchte Pelzeln, als er nach Wien kam, mich, zu ihr nach Prag zu reisen, ihr, wo es nötig war, Beistand zu leisten und sie nebst ihrem Knaben, der bereits 14 Monate zählte, wohlbehalten nach Wien zurückzuführen.

Ich reiste also im Julius abermals nach Böhmen, war mit dem Separateilwagen wieder am dritten Vormittag bei meiner Tochter und freute mich sehr, Lotten und den Knaben, der früher krank gewesen war, in ziemlicher Gesundheit anzutreffen. Von meinen Prager Bekannten, bei denen ich im vergangenen Jahre so freundlich war aufgenommen worden, fand ich die meisten nicht mehr, indem einige davon übersiedelt waren, andere sich auf dem Lande befanden. Nur meine literarischen Bekannten fand ich zu Hause und empfing abermals, besonders von Professor Gerle, viele Beweise gütiger Gesinnung. Auch im Hause meiner Jugend [222] freundin Baronin Hennet fand ich eine große Veränderung. Ihre Tochter, eine treue Freundin der meinigen, war Braut geworden, und zwar die eines ihr an Jahren weitüberlegenen Mannes, des Herrn Kreiskommissärs Müller, der schon erwachsene Kinder hatte; und gerade am Tage meiner Ankunft war Hochzeit. Josefa, so heißt B. Hennet, war mit ihrer Toilette beschäftigt und drang sehr freundlich in mich, sie zu der Feierlichkeit zu begleiten. Ich hatte aber im strengsten Sinne kein hochzeitliches Kleid anzuziehen, denn mein Koffer sollte erst am nächsten Tage mit dem Brankardwagen kommen, und so mußte ich diesem Vergnügen entsagen, wie ich denn überhaupt die 14 Tage meines diesmaligen Aufenthaltes still mit Lotten und mit meiner Freundin Hennet zubrachte. Endlich war alles gepackt, die Frachtwägen gingen ab, und wir machten uns auf den Weg. Aber nach dem Ermessen des Arztes und nach Pelzelns Vorschriften, der mir und seiner Frau die höchste Aufmerksamkeit und Schonung zur Pflicht machte, reisten wir mit einem Landkutscher, den wir schon vom vorigen Jahr als sehr verläßlich kannten, und waren demnach vier volle Tage unterwegs, während welcher das kleine Bübchen von 14 Monaten uns Erheiterung und Spaß machte. Es war wirklich zum Verwundern, wieviel dies ganz kleine und noch der Sprache nicht mächtige Wesen von äußerlichen Eindrücken und Erscheinungen aufzufassen und auf eine ziemlich verständliche Art mitzuteilen vermochte. Sowie wir nach mehreren Jahren, als einmal die Rede auf einen Prager Spazierort kam, mit Erstaunen aus seiner Beschreibung erkannten, daß er, der damals 14 Monate zählte, als wir zuletzt mit ihm in jenem Garten gewesen, sich dessen noch wohl erinnerte.

[223] In Stockerau kamen uns Pichler und Pelzeln zu unserer größten Freude entgegen, und so hatte uns denn Gottes Güte und Barmherzigkeit wieder vereinigt!

Die Tochter mit ihrem Kinde wohnte einstweilen bei uns und zog auch mit uns nach Baden, um der reinen Landluft zu genießen, während ihr Mann, der sich in seiner Vaterstadt wieder erholt hatte, jede Woche ein paar Tage bei seiner Mutter in ihrer Landwohnung zu Mödling zubrachte, wo wir uns dann gegenseitig besuchten.


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Die Familie des Präsidenten Baron Gärtner brachte diesen Herbst auch einige Wochen in Baden zu, weil die ältere Tochter, ein sehr schätzbares Frauenzimmer, eines Übels am Fuße wegen diese Bäder brauchen mußte, und ihr Vater, der das Unglück hatte, eben als er zu Besuch bei ihr war, in Baden umgeworfen und am Arm beschädigt zu werden, ebenfalls an diese Heilquelle war gewiesen worden. Wir besuchten uns gegenseitig, und von dieser Zeit an knüpften sich freundschaftliche Bande zwischen uns, besonders zwischen meiner Tochter und Luisen, dem älteren Fräulein v. Gärtner, und diese bestehen noch fortan.

Im Herbst bezogen meine Kinder eine ziemlich angenehme Wohnung »am Hof«. Bei Lotten näherte sich allmählich ihre Niederkunft. Die Reise hatte ihr nicht geschadet, aber dennoch waren nicht alle Störungen beseitigt, und als sie im Dezember eines Mädchens genas, war dies ein sehr kleines, schwächliches Kind.

Es erhielt in der Taufe den Namen Franziska von seiner Patin, der väterlichen Großmutter, und durch die unermüdliche und treue Sorgfalt der Mutter, welche [224] es selbst stillte und dadurch vielleicht einer Wiederholung der Krankheit entging, die sie bei Augusts Geburt erlitten, gedieh das überaus zarte Kind doch zum Verwundern.


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Meine Schweden in Prag, zu denen ich in Prag und hier viele Vorstudien gemacht, waren erschienen, fanden eine günstige Aufnahme, und ganz unvermutet auch einen gewandten und gewissenhaften Übersetzer. Schon im Jahre 1824, als meine Tochter noch in meinem Hause lebte, war ich mit einem Legationssekretär der französischen Gesandtschaft, Herrn v. Cramayel, bekannt geworden, der uns zuweilen, aber selten besuchte. Als er im nächsten Frühling von hier nach Hannover versetzt wurde, erbat er sich die Erlaubnis, mir seinen Nachfolger im Dienste, den Grafen De la Grange aufführen zu können. Ich lernte also diesen jungen Franzosen, einen sehr gebildeten, schönen und doch sehr bescheidenen Mann kennen, und es fand sich, daß er ebenfalls bei Schlegel bekannt und geachtet war. So kam er nun von dieser Zeit an fleißig in unser Haus, in dem zwei ihm befreundete Familien lebten. De la Grange sprach ziemlich fertig deutsch, und dieser Umstand näherte ihn Pichlern, der sonst an dem Fremden, dem Diplomaten, dem Kavalier kein großes Behagen würde gefunden haben. So aber ward ihm möglich, sich mit demselben zu verständigen, und Graf De la Grange konnte bei näherer Bekanntschaft nur gewinnen. Er kam von da an sehr oft zu uns, er kannte die ganze neue Literatur seines und unsers Vaterlandes, war selbst Schriftsteller, und so gefällig, uns immer mit den neuesten Erscheinungen in beiden Literaturen zu versorgen [225] und vorzüglich meinem Manne die bedeutendsten im politischen Fache zu verschaffen, an welchen mit des Grafen Erlaubnis auch unser bewährter Freund Regierungsrat Vierthaler Anteil nahm.

Nicht lange darnach, obgleich nicht in diesem Jahre, ward mir auf ganz sonderbare Art die Bekanntschaft eines zweiten jungen und sehr ausgezeichneten Diplomaten, des Freiherrn von Maltitz, von der russischen Gesandtschaft. Ich stand schon längere Zeit mit unserm gefeierten Sänger der Undine, dem Freiherrn von Fouqué in brieflichem Verkehr, welcher sich, wenn ich nicht irre, bei Gelegenheit eines Geschäfts mit der Buchhandlung meiner Schwägerin durch meine nachgesuchte Vermittelung angesponnen hatte. Später hatte mir Baron Fouqué seine Gunlaugurssaga sehr ehrenvoll gewidmet, und so kam es, daß ich einige Jahre hindurch mit ihm und auch einmal mit seiner Gemahlin, der Dichterin, Briefe wechselte. Fast gleichzeitig erhielt ich auch einen sehr schmeichelhaften Brief des innig und längst von mir verehrten Matthisson – und beide, Fouqué und Matthisson, machten mich auf jenen Baron A. Maltitz aufmerksam, der damals in Wien lebte, den ich aber, wie das in einer großen Stadt leicht geschieht, nie gesehen, ja nie von ihm hatte sprechen hören. Ja, Baron Fouqué schloß sogar einem Brief an mich einen an diesen Baron Maltitz bei, den ich ihm durch irgendeinen gemeinschaftlichen Bekannten zukommen lassen, und der unsere Annäherung einleiten sollte. Sonderbar dünkte mich dies Verfahren, daß ich dem Kennenzulernenden selbst den Empfehlungsbrief zusenden sollte. Indes es war eine Dichterlaune, und somit gab ich ihr nach, bat eine Freundin, in deren Haus viele Diplomaten kamen, meinen Brief [226] von Fouqué an den Baron von Maltitz gelangen zu machen, und hatte bald darauf das Vergnügen, die Bekanntschaft dieses sehr gebildeten und mit dem klassischen Altertum, mehr als sonst bei unsern jungen Dichtern der Fall ist, vertrauten jungen Mannes bei eben jener Freundin zu machen, den eine edle, wiewohl düstere und ernste Haltung auf den ersten Blick auszeichnete, und der bei näherer Bekanntschaft einen ebenso düstern, ernsten Geist, verbunden mit würdevoller, menschenfreundlicher Gesinnung, bewährte.

Zu diesen beiden diplomatischen Bekannten gesellte sich ein dritter, den mir ebenfalls ein entfernter, treuer Freund, Hofrat Büel, aus Zürich zusandte. Es war der schweizerische Gesandte Baron Effinger-Wildegg, ein junger Mann, durch Geistesbildung, Kenntnisse, ein feines und doch dabei gemütliches Benehmen ausgezeichnet. Diese drei jungen Männer besuchten unser Haus öfter, und fehlten selten, wenn ich abends eine kleine Gesellschaft bei mir sah, was zwar jetzt, seit meine Tochter mein Haus verlassen, viel seltener geschah. Am öftesten kam der Graf De la Grange, und ich kann wohl sagen, daß sein Verhältnis zu meinem Manne und mir nicht bloß ein salonmäßiges, daß es beinahe ein freundschaftliches war. Aber ich sollte hier wieder, wie schon oft in meinem Leben, Freundschaftsbande, in denen mir wohl geworden, durch Zeit und Umstände zerrissen sehen. Gegen den Frühling 1827 kündigte uns Graf De la Grange an, daß er eine Kurierreise nach Stuttgart oder Karlsruhe, ich weiß das nicht mehr genau, vorhabe. Mir tat es leid, denn ich war gewohnt, mich oft seines geistreichen und herzlichen Umganges zu erfreuen, doch hoffte ich, er würde nicht lange wegbleiben und sagte ihm das. Da vernahm ich aber [227] gar anderes: De la Grange dachte nicht daran, wiederzukommen, er war im Begriff zu heiraten, und zwar ein Frauenzimmer, das er schon seit seiner Jugend geliebt, die aber, warum? sagte er nicht, einen Grafen von Clermont Laudoeuvre geheiratet habe, dann Witwe geworden, und nun zu ihrer ersten Liebe zurückgekehrt sei. Sie war eine Caumont, aus einem sehr alten Hause, und stammte von dem, dem Blutbade der Bartholomäusnacht wunderbar entronnenen Pagen Caumont, nachher Duc de la Force ab, dessen ein Vers in der »Henriade« erwähnt:


Et du jeune Caumont l'étonnante histoire


Auf jeden Fall scheint diese Heirat eine sehr vorteilhafte für den Grafen De la Grange gewesen zu sein – was ich später aus mancher Äußerung, die dem Neide glich, entnahm, wenn die Rede darauf kam – und der König von Frankreich selbst unterzeichnete den Heiratskontrakt.

Das war alles gut und wünschenswert für den Grafen, aber wir verloren ungern den ausgezeichneten und wohlwollenden Freund. Zum Abschied gab ich ihm meine »Schweden in Prag« mit, und er versprach, mir oft zu schreiben, was er auch treu gehalten.

Schon seit längerer Zeit hatte ich diesen Roman vollendet; kleine Erzählungen beschäftigten mich zwar vorübergehend; aber es erwachte wieder der Wunsch nach einer anhaltenden Arbeit, mein Geist hatte wie Rechas Herz im Nathan:


verlernt ohn' einen herrschenden

Wunsch aller Wünsche sich zu dehnen –


und so sah ich mich nach einem neuen Stoff für einen größern Roman um.

Die Bearbeitung der »Belagerung Wiens« hatte mich mit der Geschichte der Kämpfe meiner Landsleute [228] gegen die Türken bekannt und vertraut gemacht, ich wählte mir daher die Befreiung Ofens vom türkischen Joch, das es durch anderthalb Jahrhunderte, von Soliman II. bis gegen Ende des siebenzehnten, getragen, zum Gegenstande. Auch hier galt es nun wieder, Vorstudien zu machen, und vor allem sich durch Autopsie von allen Lokalitäten, Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten, welche durch diese bedingt wurden, zu überzeugen. Meine Tochter war glücklich wieder in Wien an der Seite ihres trefflichen Gemahls und im Besitze zweier lieber Kinder etabliert. Pichler konnte bei ihnen Zerstreuung und Erheiterung finden, so entschloß ich mich denn, obwohl nicht ganz gern, von allen meinen Lieben mich zu trennen und zu meiner Freundin, der Gräfin Zay, nach Ungarn zu gehen, um von Bucsan aus mit dem, seit vielen Jahren mir befreundeten Grafen Johann Mailáth (dem bekannten Geschichtschreiber der »Magyaren«), bei dem ich mir überhaupt wegen dieser Arbeit Rats erholt hatte, und der aus Gefälligkeit gegen mich seine Kur in Pistyan für einige Tage unterbrechen wollte, nach Ofen zu reisen. Es wurde alles eingeleitet, ich kam nach Bucsan, wurde wie immer mit großer Freundlichkeit empfangen, fand dort – zum letzten Male – meine teure Therese (Artner) wieder und brachte einige sehr vergnügte Wochen mit diesen verehrten Freunden zu.

Acht Tage waren der Ofner Reise gewidmet. Meine Freundin Zay versah mich mit einer tüchtigen Kalesche und gab mir, was ihr gewiß ein Opfer kostete, das ich ihr innig dankte, ihren verläßlichsten Bedienten, der sie selbst überallhin begleitete, auf die Reise mit. So fuhr ich denn an einem Samstag morgens um 4 Uhr mit dem Grafen Mailáth und meinem Dienstmädchen, den [229] braven Michel auf dem Bock, von Bucsan ab, durch lauter weite, aber sehr fruchtbare Flächen, auf denen ringsumher sich kein Baum, keine Erdhöhe zeigte, so daß die Figur eines braunen slowakischen Hirten, der in seinem Képernek am Raine dieser Felder saß und seine Schafherde bewachte, schon von weitem in die Augen fiel.

In Szered wurden Pferde gewechselt, dann ging es rasch auf Neuhäusel zu, wo wir Mittag machten. Hier war bereits klassischer Boden für meine projektierte Arbeit, und mein Begleiter war freundlich bemüht, mir aus dem Schatze seiner historischen Kenntnisse mitzuteilen und zu erklären, was hierauf Bezug haben konnte, wie z.B. die Lage des Schlachtfeldes von Parkany, wo Prinz Lothringen und der Polenkönig die Türken schlugen, das hier in der Nähe war.

Gegen Abend gelangten wir (Gräfin Zay hatte uns mehrere Relais gemacht) nach Köbelkud, wo wir eine kurze Zeit anhielten, um die Pferde Heu nehmen zu lassen, und nun ging es gegen Gran und die Donau hin. Erfreulich war mir, nach dem ermüdenden Ausblick in unabsehbare einförmige Flächen, die Ansicht der Graner Berge, die nun am Horizonte vor uns auftauchten, und an deren Fuß die majestätische Donau breit und schimmernd dahinströmt.

Schon von fern zeigten sich uns die Resultate der Tätigkeit, womit an dem erst vor kurzem begonnenen und nun schon mehr als halbvollendeten Bau der Graner Kathedrale und der Domherrenhäuser, die einen Halbzirkel um jene bilden, gearbeitet wurde. Noch war aber nichts ganz fertig, und die Kirche selbst nur bis ungefähr zwei Drittel ihrer Höhe, nämlich bis zur Kuppel, aufgebaut. Da es aber Feiertag und gegen den [230] Abend zu war, und wir von dem langen Fahren seit 4 Uhr morgens müde waren, versparten wir die Besichtigung dieser Riesenarbeiten auf den nächsten Morgen, wozu Graf Mailáth zufällig die Voranstalten traf.

Wir aßen und schliefen in einem recht ordentlichen Gasthof, und begaben uns des andern Morgens zeitig auf den Platz vor der Domkirche. Diese steht auf einer Erhöhung, und vor ihr im Halbkreis ziehen sich die Häuser der Domherren herum, deren jedes rückwärts einen kleinen Garten hat. Inmitten dieses Halbkreises steigt das Terrain allmählich aber bedeutend bis zur Kirche empor, und um den sie umwohnenden Domherren die beträchtliche Mühe zu ersparen, jederzeit, wenn sie sich sehen wollen, den ganzen Abhang zu umgehen, ist mitten durch denselben eine sehr hohe, geräumige Galerie angelegt, die eine bedeutende Länge hat und ihr Licht nur durch die entgegengesetzte Ausmündung empfängt, so daß es in der Mitte ziemlich dunkel ist. Schon diese großartige Arbeit setzt in Erstaunen, noch mehr aber die Betrachtung der Kirche selbst, der Dimensionen, der Ausgrabungen und Planierungen, welche begonnen werden mußten, ehe man zum Bau der Kirche schreiten konnte. Besonders merkwürdig schien mir die Versetzung einer ganzen Kapelle, der des einstmaligen Primas Bakács, der zu Matthias Corvins Zeit lebte, und diese Kapelle mit liegenden Gütern dotiert hatte. An dem Platze, wo sie damals war, konnte sie nun, vermöge des neuen Planes, nicht bleiben. Sie wurde also abgetragen (sie ist ganz mit rotem Marmor von innen bekleidet), in 15 oder 16000 Stücke zerlöst, und dann als Seitenkapelle an die Kathedrale gefügt. Man denkt bei einem solchen Transport an Aladins Zauberpalast.

[231] Noch merkwürdiger schienen mir die Katakomben, diese weiten, hohen, auf wunderbare Weise erleuchteten Räume, welche sich unter der Kathedrale hinziehen und bestimmt sind, teils in dem innersten Raum die sterblichen Reste der künftigen Erzbischöfe und Domherren auf 700 Jahre im voraus aufzunehmen, teils in den äußern Gewölben andern Honoratioren zur Begräbnisstätte zu dienen. Bereits ist seitdem Erzbischof Rudnay, der Gründer dieses Baues, schon in demselben, ehe er vollendet wurde, zu seiner letzten Ruhestätte gelangt, und auch der noch ganz jugendkräftige Baumeister, Herr Packh, den wir damals mitten in seiner Schöpfung kennen gelernt, ist – und zwar schrecklich genug, durch Mörderhand umgekommen. Ob er in jenen Katakomben bestattet ist, weiß ich nicht. Verdient hätte er es wohl!

Ich habe eben die Erleuchtung dieser Fürstengruft wunderbar genannt, und sie ist es auch. Von zwei entgegengesetzten Seiten fällt das volle Tageslicht von der Höhe herab durch Pfeiler, deren Dicke acht Klafter beträgt. Es kommt daher sehr gemildert an, und gleicht ganz der Intensität und dem Charakter nach dem des vollen Mondes. Es ist überall nicht finster und doch auch nirgends ganz hell. – Es ist eine Beleuchtung, die dem Auge wohl tut, weil sie nirgends grell ist, und doch intensiv genug, um das Lesen zu gestatten. Sonderbar ist die Bemerkung, daß an der Grenze, wo die beiden Lichtströme zusammenstoßen, auf einer kleinen antiken Ara, welche vor der, in ägyptischem Stile erbauten Pforte des innersten Raumes steht, sich eine Schattenlinie bildet, welche die beiden sich berührenden Lichtströme scheidet.

Als wir alles zur Genüge und mit lebhaftem Interesse [232] besehen, kehrten wir in unsern Gasthof zurück und befanden uns bald auf der Straße nach Pest. Diese geht eine Weile recht angenehm auf und zwischen bewaldeten Hügeln. Wir machten an einem Orte, dessen Namen mir entfallen ist, Mittag. Unterwegs kamen wir auch durch ein Dorf, das den Namen Vörösvar führt und sich durch freundliche Baumpflanzungen, durch frischen Rasen und kleine Gärtchen vor den meisten ungarischen Dörfern auszeichnet. Es war auch von Deutschen angelegt, die ihre freundliche Gewohnheit hierher verpflanzten, da sonst besonders in den slowakischen Ortschaften kaum ein Baum zu sehen ist, die Häuser alle auf dem nackten Lehmboden stehen, und selbst das Gras auf den Rainen und Wegen sorgfältig vertilgt wird, was solchen Dörfern ein dürres, ödes Ansehen gibt.

Bald näherten wir uns der Hauptstadt Ungarns. Schon erblickten wir links die Wogen des Isters (denn hier heißt unsere Donau schon so und wechselt, ein zweiter Tiresias, ihr Geschlecht), während rechts uns jene Hügel und mäßige Berge begleiteten, auf deren sonnigen Abhängen, den Strahlen der Morgen- und Mittagssonne gegenüber, das rote Blut der Ofner Trauben gekeltert wird – eine freundliche Landschaft, wenn man rechts blickte, wogegen links sich die unabsehbare kahle Fläche des Rakosfeldes nicht eben malerisch zeigte. Endlich gelangten wir an die Häuser von Altofen und sahen in der Nähe ein paar sonderbare runde Gebäude mit runden Türmen und Kuppeln, die weder durch moderne architektonische Schönheit, noch durch den poetischen Reiz einer Ruine gefallen konnten. Es waren, wie ich erfuhr, die türkischen Bäder, von dieser Nation während ihrer Besitznahme von Ofen [233] erbaut, an den schon damals und noch jetzt besuchten Heilquellen dieses Ortes. Auch zeigte sich rechter Hand mitten in den Weingebirgen ein ebenso unförmliches, dunkles Gebäude von eben diesem Ursprunge, das Grab eines Ali Baba oder Hadschi Baba, eines mohamedanischen Heiligen oder frommen Mannes. Endlich erblickten wir auf ihrem Felsenthrone die Hauptstadt des Reiches mit ihrem Schlosse, links die breite Donau in ihrer ganzen weit ausgegossenen Wassermasse, und jenseits, ebensoweit hin in die Fläche ausgedehnt, das ganz moderne Pest.

Sowie wir über die Schiffbrücke fuhren, welche die beiden an ihren Ufern gelegenen Städte durch diese Lage und noch mehr durch die persönlichen, nationalen und geschäftlichen Verhältnisse der Einwohner zu einer Stadt zu verbinden scheint, fiel mir eine ungemeine Ähnlichkeit der Örtlichkeiten mit dem Anblicke von Prag auf, wenn man auf der schönen Moldaubrücke steht, die hier sehr zum Nachteil der ungarischen Schwester durch eine Schiffbrücke, welche jeder Winter zerstört oder wegzuschaffen zwingt, repräsentiert wird. Wie in Prag die Alt- und Neustadt auf dem flachen Ufer der Moldau, breitet sich vor dem Ankommenden Pest weithin aus, wendet man sich aber um, so erheben sich hinter uns die Berge, auf denen Ofen mit seinem Schlosse thront und sich, der Prager Kleinseite ähnlich, bis an den Fluß herabzieht, während links vom Schlosse der grünbewachsene Blocksberg mit dem Observatorium auf seiner Spitze eine Ähnlichkeit mit dem freilich viel schönern, mit Palästen und einem herrlichen Stifte (Strahov) geschmückten Lorenzberg in Prag darbietet. Überhaupt ist an Großartigkeit des Anblicks, an Schönheit, Adel und Altertum der architektonischen [234] Zierden zwischen Prag und Ofen nebst Pest gar kein Vergleich zu ziehen. Diese zwei letzten Städte, welche erst seit ungefähr hundertundfünfzig Jahren wieder in christlichen Händen sind, können keine solchen Reste einer glänzenden Vergangenheit, noch Denkmale der Vorzeit besitzen, wie sie Prag so majestätisch zieren.

Was Ofen und noch mehr dem ganz neuen Pest in Rücksicht des architektonischen und historischen Wertes abgeht, wird für Liebhaber schöner Naturszenen fast ganz durch die lieblichen Umgebungen Ofens wett gemacht. Schöne, zum Teil bewaldete Berge ziehen sich um die Stadt her, bilden die Fortsetzung der schönen Weingebirge am Ufer des Stromes und einen lieblichen Kontrast mit der gegenüberliegenden Fläche.

Pest kam mir vor wie unsere Leopoldstadt. Auch hier lagen modern, elegant gebaute Häuser am Stromesufer auf- und abwärts, unter ihnen links ein Dianabad, fast schöner als das in Wien, auf der rechten Seite das Theater, in dem mir Graf Mailáth sogleich eine Loge verschaffte. Was den Ausdruck, die Physiognomie möchte ich sagen, von Pest betrifft, so stimmt sie mit der Wiens viel mehr als mit der Prags über ein. – Alles scheint heiter, lebensfroh. Die Menschen, die einem auf der Straße begegnen, sehen fröhlich aus, an schönen Sommertagen sitzen die Leute auf den Straßen und Plätzen vor den Gast- und Kaffeehäusern, zechen und schmausen, und dazwischen tönen die aufmunternden Klänge fröhlicher Musik; kurz, es ist eben ein Weinland, und das verkündet sich sogleich in allem.

Sobald wir uns im Gasthof umgekleidet hatten, führte mich mein Begleiter zu seiner Schwester, einer Gräfin Batthyány, die mich sehr gütig empfing, und dann zu [235] der Gräfin Teleki, an welche ich von ihrer Freundin Gräfin Zay empfohlen war, und bei der ich eine höchst freundschaftliche Aufnahme fand. Die Gräfin bot mir sogar ihr Haus zur Wohnung an, ich zog es aber vor, in dem Gasthofe, wo ich abgestiegen war, zu bleiben, mindestens mit meinen Leuten da zu schlafen und sie dort verköstigen zu lassen. Den Tag brachte ich aber schon von früh an bei der Gräfin Teleki zu, speiste mit ihr und ihrer Familie, und wurde von ihr bald vor-, bald nachmittags zu allen Sehenswürdigkeiten in Pest und Ofen geführt. Ich sah das Nationalmuseum, eine Stiftung des hochverehrten Grafen von Szecheny, die Jankovits'sche Sammlung, die Sternwarte usw. Vor allem aber interessierte mich die freiwillige Arbeitsanstalt in einer der Vorstädte von Pest, welche zwar durch den Frauenverein gestiftet, größtenteils aber durch die Tätigkeit der Gräfin Teleki, unter ihrer Aufsicht und durch ihre bedeutenden Unterstützungen so ausgebreitet und vielfach segenbringend geworden war. Die Abende wurden zuweilen im Theater zugebracht, wo ich schon am ersten Tag die »Markgräfin von Burgau« aufführen gesehen, aber nicht gehört hatte, denn Baron Zedlitz, der Verfasser der berühmten »Totenkränze«, damals eben in Pest anwesend, den ich schon in Wien gekannt, besuchte mich in der Loge, wo sich Graf Mailáth bei mir befand, und die Herren hatten so viel Interessantes über ihre literarischen Arbeiten und Schicksale, über Zensur, Rezensenten, Theaterdirektionen, Journale usw. zu reden, daß ich lieber darauf, als auf die sehr mittelmäßige Darstellung des Stückes horchte. Das Theater selbst gefiel mir nicht. Die graue Grundfarbe, welche (wenigstens damals) das Ganze bekleidete, ohne daß die Logenreihen [236] durch architektonische Verzierungen oder Draperien merklich voneinander unterschieden gewesen wären, gab dem Theater ein zu einförmiges Ansehen; die Logen erschienen mir wie kleine einzelne Behältnisse oder Fächer schief in den grauen Grund hineingeschnitten, wie etwa die Abteilungen in einem Kasten zur Aufbewahrung von Naturalien. Überdies war es sehr groß – damals, wie man sagte, zu groß für die Bevölkerung, und man klagte, daß man in den vordern Logen, eben ihrer Schiefheit wegen, schlecht sehe, und in den hintern schlecht höre. Von dem letzten kann ich, wie gesagt, nicht urteilen, denn ich gab nicht Achtung, und ein andermal, als ich mit Gräfin Teleki dort war, wurde ein Stück aus der ungarischen Geschichte Ungarisch gegeben, das eben dadurch für mich eine Pantomime war, und aus dem mir daher keine Erinnerung blieb, als an einen recht hübsch ausgeführten Nationaltanz, der in dem Stücke vorkam.

In der Nacht, die auf diesen vielbewegten Tag kam, fühlte ich mich ernstlich krank, die Hitze der Jahreszeit, die Reise, das Auf- und Absteigen in dem Graner Kirchenbau., die Toiletten, die Visiten des Nachmittags, alles zusammen ward für meine Nerven zu viel. Ich war auf eine Art aufgeregt, daß ich fürchtete, eine Krankheit sei im Anzuge. In einem unruhigen, schweren Schlaf glaubte ich den Ausspruch, von wem und warum weiß ich nicht, zu hören, daß ich heut über ein halbes Jahr sterben werde. Es war der 27. Junius, folglich mein Todestag auf den Festtag eines von mir vorzüglich verehrten Heiligen, des heil. Johannes des Evangelisten, bestimmt. Als ich erwachte, erschrak ich nicht über den Traum. Meine Tochter war versorgt, mein Mann, rüstig und in seiner ganzen Kraft, blieb ja nicht [237] vereinsamt zurück, da er seine Kinder und Enkel hatte. So war ich ruhig, selbst wenn ich annahm, daß jener Ausspruch eine Eingebung gewesen. Auch fühlte ich mich am Morgen etwas besser, stand auf, beschloß aber den Gang durch die Stadt, den mir Graf Mailáth vorgeschlagen, um die neuen Gebäude und Anlagen zu sehen, nicht zu machen, und mich in Ruhe zu erholen. Das gelang denn auch. Das Ganze war eine Aufregung der Nerven, eine zu große Ermüdung gewesen. Stille und Ruhe gaben mir meine Kräfte wieder. Dennoch schrieb ich den Traum auf, versiegelte das Blatt und wollte so, falls die Vorhersagung eintraf, ihre Echtheit beweisen. Aber sie erfüllte sich nicht, so wenig als meine Todesahnung in meiner Jugend.

Die Abende, wenn wir nicht ins Theater gingen, brachte ich im Hause der Gräfin Teleki sehr angenehm zu. Gebildete Frauen und Herren, wie Baron Zedlitz, Graf Mailáth und ein junger Offizier, Hauptmann Minarelli, der damals bei dem nun verstorbenen Sohn des Erzherzogs Palatin angestellt und ein sehr gebildeter, angenehmer Gesellschafter war, fanden sich dort ein. Im Winter, wenn der Hof des Palatin hier war, beehrte die Frau Erzherzogin sehr oft diese Soireen bei Gräfin Teleki mit ihrer Gegenwart und erschien ganz zwanglos und ohne die Etikette, welche solche Frauen sonst umgibt, im Salon der Gräfin, die sie überhaupt und nach Verdienst auszeichnete, mit ihrer Handarbeit, wie jede andere Dame.

Man erzählte mir das seltsame Schicksal des Hauptmanns Minarelli, dessen ich erwähnt. Er war ein Spanier von Geburt, und bei der Einnahme von Saragossa durch die Franzosen als ein kleines, hilfloses Kind, das seine Eltern in der allgemeinen Zerstörung verloren, [238] von einem französischen Generale aufgenommen und erzogen worden. Wie er dann später in kaiserliche Dienste gelangt, erfuhr ich nicht; ebensowenig welche (wie es scheint) ungünstige Ereignisse ihn mehrere Jahre darnach, noch lange vor dem Tode des seiner Aufsicht übergebenen Prinzen, aus dessen Nähe entfernten. Jedenfalls war Minarelli eine bedeutende und nicht leicht zu vergessende Erscheinung.

Ein heiterer Vormittag war dazu bestimmt, die innere und äußere Lage von Ofen und seinen Umgebungen zu besehen, um nach dieser Autopsie meinen künftigen Roman zu gestalten. Graf Mailáth begleitete mich gefällig und zeigte mir alles Bemerkenswerte, das ihm seine geschichtlichen Kenntnisse angaben: das Tor, welches einst das von Stambul hieß; den Platz auf dem Walle, wo – aller Wahrscheinlichkeit nach – Abdurrahman, Pascha von Ofen, den Tod fand, in der Umgebung den sogenannten Schwabenberg, wo ein Teil der deutschen Armee bei der Belagerung Posto gefaßt hatte, weiter hinunter am Strome endlich Promontorium und den Platz, wo Hamsa Beg stand usw. Nachdem wir alles besehen, und ich mich der anmutigen Aussicht in die waldigen Berge, welche Ofen von der Rückseite umgeben, erfreut hatte, schlug der Graf mir vor, nun auch den Schloßgarten des Erzherzog Palatin an dem Abhange, der sich gegen die Donau hinabzieht, zu besehen. Ich folgte dieser Aufforderung mit Vergnügen und ahnte nicht, daß es eine verabredete Sache war. Im Garten nämlich, der sehr geschmackvoll angelegt war, standen wir zu meiner großen Überraschung plötzlich vor der kleinen Erzherzogin Hermine, der Tochter des Palatinus, die sich mit ihrer Erzieherin, einer Gräfin Thurn, hier befand, und uns wahrscheinlich [239] erwartet hatte. Es war ein schönes Kind von etwa 10–11 Jahren, nur, wie es mich dünkte, waren ihre Züge für ihr Alter zu sehr formiert. Doch kam sie mir sehr liebenswürdig vor, wie sie sich mir freundlich näherte und mir einen Blumenstrauß als ein Zeichen ihrer Gewogenheit reichte. Nun ist diese liebliche Erscheinung auch schon in die Auen des himmlischen Friedens verpflanzt worden, und ein edler Bruder und trauernde Verwandte klagen ihr nach. – Es war die erste freundliche Anerkennung, die mir von einem Gliede der kaiserlichen Familie ward, sie freute mich sehr, und es war mir sehr angenehm, daß wir gleich darauf einen großen Hirschschröter im Grase entdeckten, an dem das fürstliche Kind viel Vergnügen zeigte, so daß Graf Mailáth und ich uns bemühten, ihn zu fangen und ihr ihn zu überreichen. Bald sollte ich mehrere solche Auszeichnungen erfahren.

Nachdem ich durch die gefällige Güte meiner Freunde mich über die Lage, Umgegend und manche historische Daten von Ofen und Pest genugsam unterrichtet, und einige höchst angenehme Tage daselbst zugebracht hatte, kehrte ich mit dem Grafen wieder nach Bucsan zu meiner gütigen Freundin Zay zurück.

Der gewöhnliche Badneraufenthalt folgte nun während der Ferien meines Mannes nach meiner Rückkehr aus Ungarn, und Pelzeln, der seinerseits jede Woche zwei Tage bei seiner Mutter in der romantischen Schlucht der Brühl zubrachte, erlaubte seiner Frau mit den beiden Kindern einige Wochen bei uns in Baden der Landluft zu genießen, was uns sehr freute, besonders da unsere damalige Wohnung in der Pölzgasse den Vorteil einer freien, schönen Aussicht und eines eignen Gartens hatte.

[240] Am Ende dieses Jahres – wenn ich nicht irre – wurde ich durch eine Sendung des Grafen De la Grange aufs angenehmste überrascht, welcher mir die Übersetzung meiner »Schweden in Prag« schickte, die er, wie er mir schrieb, gemeinschaftlich mit seiner jungen Frau, um auch sie in der deutschen Sprache zu üben, übersetzt, und ihr in die Feder gesagt hatte. Das freute mich ganz ungemein, denn diese Übersetzung war gewandt, fließend und vor allem treu, ein Vorzug, den ich den Bearbeitungen der Frau von Montolieu nicht nachrühmen kann. Ich war dem verehrten Freund sehr dafür verpflichtet, und er hatte auch ein anderes Mal die Güte, der »Befreiung von Ofen«, die ich ihm, so wie sie erschien, sandte, durch seine geschickte Feder in seinem Vaterlande Anerkennung zu verschaffen.


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Meine Schweden in Prag waren erschienen, und mir kamen mehrere anerkennende Urteile zu. Eine größere Auszeichnung sollte mir noch werden. Eine vieljährige Bekannte und eigentliche Jugendgespielin meiner Lotte, Fräulein v. Kirchstättern, die Tochter eines geschätzten Freundes, der aber schon lange – noch einige Jahre vor meiner Mutter Tod – gestorben war, hatte – wohl vielleicht durch meine Bemühung, einen Platz bei der Fürstin Gabriele von Auersperg erlangt und sich die ganze Zufriedenheit, ja, ich kann sagen, die Freundschaft ihrer Gebieterin durch ein würdiges, pflichtmäßiges und innig anhängliches Benehmen erworben. Einige Zeit darnach war es ihr möglich, einen braven, jungen Mann, der eine kleine Beamtenstelle beim Magistrat bekleidete und mit dem sie [241] seit Jahren in liebendem Verhältnis gestanden, bei seinem Avancement die Hand reichen zu können. Auch hier folgte ihr die Gunst ihrer Fürstin, und als nach wenigen Jahren ein voreiliger Tod diesen Gemahl seiner Frau und zwei kleinen Kindern entriß, nahm Fürstin Gabriele wieder lebhaften Anteil an diesem Unglück. Sie erinnerte sich zu wohl, wieviel sie vor nicht sehr langen Jahren durch einen ähnlichen Verlust gelitten und wie treu damals Fräulein von Kirchstättern den Schmerz ihrer jungverwitweten Herrin geteilt hatte; und sie nahm sie als Witwe ebenfalls wieder zu sich, bis sich die Gelegenheit fand, durch ihre mächtige Fürsprache ihr den Platz einer k.k. Kammerdienerin bei der Erzherzogin Sophie zu verschaffen. In dieser Eigenschaft lebte sie nun am Hofe und hatte mir und den Meinen die alte Freundschaft, die noch von ihrem seligen Vater datierte, treulich bewahrt. Sie besuchte mich zuweilen, erzählte mir oft von ihrer hohen Frau und brachte mir einst gnädige Grüße von dieser und die freundliche Äußerung, daß sie meine Schriften gerne läse. Auf dies hin wagte ich es, durch den Obersthofmeister der Erzherzogin, Graf Széchény, den ich aus seines verehrten Vaters Haus kannte, sie überreichen zu lassen. Bald darauf ließ die Erzherzogin mich rufen. – Es war das erstemal seit mehr als fünfzig Jahren, daß ich wieder die kaiserlichen Zimmer betrat, und ein sonderbarer Zufall wollte, daß es gerade dieselben waren, in welche ich noch in meiner Kindheit oft von meiner Mutter war geführt worden. Ich erkannte sogleich alles wieder bis auf das Ameublement, was nun freilich ganz anders war, als das der verwitweten Monarchin, bei der alles in einförmiges Grau gehüllt stand. Die Erzherzogin empfing mich ungemein gnädig. Im [242] Zimmer derselben fand ich die Kaiserin Mutter, die mich ebenfalls sehr huldvoll behandelte und mir viel Gütiges über den Agathokles sagte, indem sie mich versicherte, er habe ihr in ihren trübsten Stunden manchen Trost gebracht. Ich fand, daß die Züge dieser hohen Frau sich während des geistreichen Gespräches, welches sie und ihre Schwester führten, auf eine angenehme Art belebten, und daß der weiche Klang ihrer Stimme und der Blick der schönblauen Augen der ganzen schlank und zierlich gebauten Gestalt eine besondere Anmut gaben. Überhaupt war alles, was diese beiden Frauen und wie sie es sagten, die höhere Geistesrichtung, die sich in jeder Äußerung, in jedem Urteil über Bücher, Ereignisse, Gefühle und so weiter im Laufe der Unterhaltung aussprach, ganz geeignet, um jedem Unbefangenen eine Unterredung mit ihnen, selbst ganz von ihrer hohen Stellung abgesehen, bloß als hochgebildeten Frauen, zu einem wahren Genuß zu machen. Beim Weggehen reichte mir die Erzherzogin ein höchst geschmackvolles und gerade seiner eleganten Einfachheit wegen doppelt schätzbares Album, auf dessen mit gotischer Stahlarbeit verziertem Deckel sich ein hübsches Bild des Stephansplatzes mit der altertümlichen Kirche befand, so passend gewählt als Geschenk für ein Gedicht, worin eben dieser Dom in einer für Wien verhängnisvollen Zeit eine bedeutende Rolle spielte. Den Hauptwert des Geschenkes machen aber die von der eigenen, sehr zierlichen Hand der Erzherzogin eingeschriebenen Zeilen aus, welche also lauten:

»Möge der Himmel Carolinen Pichler die vielen wohlthuenden Gefühle, welche ihr ›Agathokles‹ in meinem Herzen erweckt hat, und den reinen Genuß, [243] den mir ihre übrigen Werke gewährt haben, in reichlichem Maße vergelten, das ist der Wunsch von einer ihrer wärmsten Verehrerinnen.«

Sophie.


Dies Album war mir ein kostbarer Schatz. – Ich beschloß auch sogleich, es nicht als ein Stammbuch, sondern als ein Familienbuch, in das ich nur die fröhlichen oder traurigen Ereignisse unseres Hauses oder allenfalls ein dadurch veranlaßtes Gedicht eintragen wollte, zu gebrauchen.


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Im nächsten Frühling entschlossen sich meine Kinder, ihre Wohnung abermals zu verändern, indem das Quartier »am Hofe« bei manchem Vorteile, z.B. der Aussicht auf den großen, schönen Platz, gar zu viele Unbequemlichkeiten, und vor allem eine so enge und steile Treppe hatte, daß man nicht ohne Besorgnis mit kleinen Kindern darüber gehen konnte. Sie wählten eine sehr angenehme Wohnung im Bürgerspital, gegenüber dem Palaste des Erzherzogs Karl, im dritten Stock, die ihnen von der Seite hin den freien Ausblick über die Bastei und das Glacis bis zu dem Turm der Paulanerkirche gewährte. Sie wurde bequem und anständig zugerichtet mit Parketten, neuen Türen usw. und von ihnen noch im Laufe des Sommers bezogen. Ich hatte nur zwei Ausstellungen an dieser sonst hübschen Wohnung zu machen; daß nämlich jedes Zimmer, mochte es kleiner oder größer sein, nur ein Fenster hatte, was ihm meines Bedünkens viel von seiner Freundlichkeit benahm, und daß diese Zimmer sehr niedrig waren.

Im Herbst bezogen wir wieder unser liebes Baden, und wohnten wieder in der Pölzgasse. – Ringsherum[244] aber war in und außer Baden ein reges Leben; denn ein Übungslager war auf den weiten Flächen zwischen Baden, Tribuswinkel, Traiskirchen usw. aufgeschlagen; in Baden wohnten die höhern Militärpersonen, die dazu gehörten, und elegante Kaffeehäuser und Restaurationen waren in der beweglichen Zeltstadt errichtet und boten den Badnern und auch den hierherströmenden Wienern mancherlei Genüsse und Unterhaltungen. Der Eichkogel, ein kleiner Berg, der aus der Reihe der höhern, welche sich hier bis Baden und noch viel weiter hinziehen, hervortritt, wurde bestürmt und verteidigt; allerlei Scheingefechte aufgeführt, das muntere bewegte Leben dauerte eine Weile, bis plötzlich die Äquinoktialstürme mit ungeheuern Regengüssen eintraten, diese Regen nebst schwellenden Bächen das Lager unter Wasser setzten, und die Mannschaft so schnell und so gut wie möglich in die umliegenden Ortschaften verteilt werden mußte, wobei denn auf Baden auch ein hübscher Teil kam.

Mit Anfang des Oktobers kehrten wir nach Wien zurück, wo dann meine Tochter bald darauf, am Vorabend ihres eigenen Geburtstages, mit ihrem vierten Kinde, einem schönen, starken Mädchen, entbunden wurde, das sie, wie das frühere, selbst stillte, und das in der Taufe, über die ich sie hielt, den Namen ihrer Mutter, der auch der meinige und der meiner verstorbenen Mutter war, bekam, so daß er nun in die vierte Generation reichte. Das ältere Mädchen war nach ihrer Patin, der väterlichen Großmutter, Franziska genannt; aber diese Großmutter, die schon lange kränkelte, flößte um diese Zeit ihrem Sohne und uns allen große Besorgnisse für ihre Gesundheit und Erhaltung ein, und Pelzeln, der sie unendlich liebte, litt sehr durch diese [245] Sorgen, besonders da sein Diensteifer und die außerordentliche Gewissenhaftigkeit, mit der er sein Richteramt als Appellationsrat verwaltete, seine nicht sehr feste Gesundheit zu erschüttern drohten.

In diesem Jahre 1828 war es auch, daß Baron Hormayr, der damals bereits seit mehreren Jahren wieder in Wien, und im Hause seines Freundes Grafen Salm wohnte, den wahrhaft seltsamen Entschluß faßte, nach Bayern zu übersiedeln. – Hormayr, der 1809 als der erbittertste Feind von Bayern aufgetreten war, und dessen Verhalten gegen die Beamten dieser Macht in Tirol alle Anhänger Bayerns aufgebracht hatte. Schon ein oder zwei Jahre früher hatte er eine Reise nach München gemacht, und war vom Könige gnädig aufgenommen worden. Aber durch andere Personen, und hauptsächlich durch meine vieljährige Freundin und Korrespondentin Therese Huber erfuhr ich, daß die Stimmung in München ganz gegen ihn sei. Dennoch setzte er seinen Plan durch, trat in bayrische Dienste und ward in München nach kurzer Zeit ebensoviel angefeindet, als in der letzten Zeit hier, und in böse Händel verwickelt. Seine Anstellung in Hannover und bald darauf in Bremen, verschiedene Erklärungen, die in der allgemeinen Zeitung erschienen, deuteten darauf hin – und so schreitet dieser Mann, den ungewöhnliche Geistesgaben, ein vorteilhaftes Äußeres und manche Gunst des Glückes und der Natur bestimmt zu haben schienen, eine glänzende und ehrenvolle Laufbahn zu durchmessen, nun in einer unbedeutenden diplomatischen Stellung dem Ende seines Lebens entgegen, von seinen Kindern, seinen frühern Freunden entfernt, nicht glücklich in seiner zweiten Ehe, weder von seinem angebornen noch von dem erwählten Vaterlande vermißt [246] oder besonders geachtet! Trauriges Los, das ganz anderes verhieß, und sich so unerfreulich gestaltet hat!

Trotz aller dieser unleugbar ungünstigen Verhältnisse hat sich das, freilich sehr gelockerte Band unserer vierzigjährigen Freundschaft nicht aufgelöst. Ich bewahre Hormayrn ein dankbares Andenken, ich erinnere mich noch oft mit Vergnügen jener nun schon lange verschwundenen Zeit, wo wir uns oft sahen, wo ich mich seines geistreichen Umganges erfreute, wo sein Beispiel, sein Interesse an der Geschichte seines Vaterlandes auch mich in diese erhebende Beschäftigung einführte, wo ich für meine Zweifel und Fragen in historischen Angelegenheiten immer ein williges Ohr und bereite Lösung bei ihm fand, und wo nicht allein die unglückliche Katastrophe, welche ihn aus seiner politischen Laufbahn mitten in ihrem stolzesten Gang hinausschleuderte, sondern auch so manches häusliche Leiden, das ihn drückte, und das mir vielleicht näher als andern bekannt war, meine wärmste Teilnahme für ihn erregte. Jetzt, nachdem wir durch mehr als 14 Jahre einander nicht mehr gesehen haben und wahrscheinlich auf dieser Welt nicht mehr sehen werden, zittert noch ein schwacher Faden alter Anhänglichkeit von einem zum andern hinüber. Wir schreiben uns alle Jahre ein-, höchstens zweimal, und so spinnt sich die alte Zuneigung zwischen uns fort, lebt von der Vergangenheit und erwartet wenigstens hiernieden nichts mehr von der Zukunft.

Das Jahr begann unter manchen sehr trüben Ereignissen, gleich als wollte es uns auf noch trübere vorbereiten. Herr von Schlegel, der, wie der Leser weiß, unser Hausgenosse seit fünf Jahren war, hatte im vorigen Winter schon Vorlesungen für ein gemischtes [247] Publikum – ich weiß nicht mehr über welchen Gegenstand, hier in Wien gehalten, und ich erinnere mich nur, daß sie philosophisch-moralischen Inhalts waren, daß er uns – nämlich seiner Frau, der Gräfin L..ka und mir, eine oder zwei derselben vorlas, daß er im Menschen drei Mächte, nämlich Körper, Seele und Geist unterschied, und daß ich von dieser Vorlesung, sowie es mir überhaupt mit den Schriften der neueren Zeit oft ergeht – nicht viel verstand. So viel indes glaubte ich zu fassen, daß diese Unterscheidung von Seele und Geist ungefähr das bezeichnen sollte, was man sonst die obern und untern Seelenvermögen genannt hatte; nämlich Vernunft, Urteilskraft, Wille usw. – und Gedächtnis, Phantasie, Begehrungsvermögen usw. Bald darauf reiste er, von seiner Nichte, jener liebenswürdigen Baronin Buttlar begleitet, die eigentlich aus Dresden stammte, nach dieser Stadt, um ebenfalls Vorlesungen zu halten. Am 29. Jänner, ich erinnere mich des Tages, der ein Freitag war, und aller ihn begleitenden Umstände noch sehr wohl, trat, während wir zu Tische waren, das Stubenmädchen herein, um uns zu melden, soeben habe Frau von Schlegel die so unerwartete als traurige Nachricht erhalten, daß ihr Gemahl plötzlich in Dresden am Schlagfluß gestorben sei. Ein Geistlicher, wenn ich nicht irre, ein Redemptorist, war gekommen, sie schonend vorzubereiten und den Unglücksfall zu melden. Wir erschraken alle über diese Nachricht, wundern aber konnte ich mich nicht sehr, denn des Verstorbenen Lebensweise, der bei einer meist sitzenden und gelehrten Beschäftigung mehr Wert auf eine gute Kost legte und mehr geistige Getränke zu sich nahm, als sich mit seinen physischen und pekuniären Verhältnissen vertragen [248] wollte (was mir die finanziellen Sorgen erklärte, über welche seine Frau oft mit mir sprach, ohne doch jener Ursache zu erwähnen), hatte ihm schon öfters Anfälle von Schwindel zugezogen, die mit Blutlässen abgeleitet werden mußten. Aber daß dieser letzte Anfall ihn im fremden Lande, fern von seinem Hause und seiner Gattin, traf, war für uns alle eine Verschärfung der bösen Kunde, und für jene eine Quelle bittern, untröstlichen Schmerzes.

Gleich nach Tische eilte ich zu ihr hinauf; ich traf die damals noch lebende Frau von Pilat, Frau von Doré, Herrn von Buchholtz und noch viele andere Freunde bei ihr. Andere teilnehmende Personen sammelten sich nach und nach, und so umringte ein erschütterter, aber herzlich wohlwollender Freundeskreis die arme bedrängte Witwe, die jetzt noch ziemlich gefaßt schien, und deren tieferer Schmerz sich nach und nach erst mit dem Fortschritt der Zeit entwickelte. Eine Erscheinung, die ich wohl begreife und jeder begreifen wird, der den Gefährten langer, miteinander verlebten Jahre in einem Alter verliert, in dem zwar kein heftiges, leidenschaftliches Empfinden den ersten Eindruck einer solchen Kunde zu einem lebens- oder wenigstens gesundheitsgefährlichen Ereignis machen kann; in dem aber eben im Verlauf der Zeit immer mehrere und öfter sich wiederholende Gelegenheiten eintreten, bei welchen uns der dahingegangene Freund überall und überall aufs schmerzlichste mangelt und wir mit wehmütiger Klarheit erkennen, daß die bessere Hälfte unseres Seins mit ihm zu Grabe getragen worden ist.

Am andern Morgen war ich zeitlich wieder bei ihr. – Die Hofrätin von Müller (deren Gemahl, der durch [249] seine politischen Schriften bekannte Adam von Müller, früher k.k. Konsul in Leipzig, jetzt bei der Staatskanzlei angestellt und ebenfalls sehr kränkelnd war) kam mit ihren beiden Töchtern (jetzt Frauen Endlicher und von Pilat, und entweder sie oder ein anderer Ankommender brachte eine zweite Nachricht plötzlichen Todes. – Die Fürstin Metternich, geborne Freiin von Leykam, war diesen Morgen im Kindbett ganz unvermutet gestorben. Ich hatte die Frau in meinem Leben nicht gesehen, ihr Tod konnte mir also gleichgültig sein; jetzt, so unmittelbar nach einem Trauerfall, der in meiner nächsten Nähe eine teure Freundin so schmerzlich getroffen, erschütterte er mich und uns alle doch sehr. Die begleitenden Umstände, daß es eine junge, schöne Frau gewesen, die bei der Geburt ihres Erstlings das Leben verlor, rührten doppelt, wenn man bedachte, welche und wie heftige Entrüstung, Widerspruch und Tadel die Heirat des alternden, hochgestellten Fürsten mit dem, ihm keineswegs ebenbürtigem Fräulein ein Jahr früher in Wien erregt hatte und wie die Bemerkung, daß bei allem Tadel und schlimmer Nachrede, welche ihre Familie und die Mißheirat traf, doch auf die junge Frau selbst kein Schatten gefallen war, für den schätzbaren Charakter derselben bürgen mußte. So waren denn auch wir alle tief ergriffen, und bald darauf beurlaubte sich Frau von Müller, um mit ihren Töchtern nach Hause zu ihrem Gemahl zurückzukehren. Zwei Stunden darauf kam die Nachricht, daß sie ihn sterbend – ebenfalls vom Schlag gerührt – gefunden habe.

Das war zu viel in der kurzen Zeit von kaum 24 Stunden! Ich fühlte mich wie betäubt und zerdrückt von diesen, so schnell hintereinander folgenden Todesnachrichten, [250] und es bedurfte ein paar Tage und der Erheiterung, die ich mir in der Stadt, im Umgang meiner Kinder und Enkel holte, um mich wieder in meine natürliche Stimmung zu versetzen.

Mit dem Frühling verließ – eine natürliche Folge dieser Veränderung – Frau von Schlegel unser Haus, weil ihr die Wohnung zu groß war, aber sie blieb in meiner Nähe, im Hause ihres schätzbaren, alten Freundes von Klinkowström, der nicht weit von uns sein, mit Recht berühmtes Erziehungsinstitut gegründet hatte, und ihm mit großer Ehr- und Liebenswürdigkeit vorstand. O wie viele schöne, wohltuende Abende brachte ich schon früher, aber noch mehr seit meine Freundin da wohnte, in diesem Hause zu, in welchem den Eintretenden sogleich eine Atmosphäre des Friedens, der Stille und Rechtlichkeit umfing. Ein gewählter Kreis von Menschen versammelte sich, mehr oder minder zahlreich, daselbst, welchen hohe Geistesbildung, würdiger Sinn und Bekanntschaft mit allem Neuen in der Literatur auszeichneten. Wo sind jetzt die meisten von denen, die ich dort so oft sah und an deren Umgang ich mich erfreute? Entweder tot oder fern, fern von hier, oder in ganz andere Verhältnisse versetzt. So ist der Kreis – das liebende Gedränge zerstoben! und mit tiefer Wehmut denkt das zurückgebliebene, hochbejahrte Mitglied desselben an diesen, wie an so manchen andern geselligen Kreis, in welchem es während des langen Daseins gelebt, und mit Vergnügen gelebt hatte, und der ebenso zerstoben ist, wie der im Klinkowströmschen Hause.

Der Winter verging indessen, und ein ziemlich kühler, nasser Sommer folgte ihm. Pichler hatte sich bis jetzt immer einer guten und festen Gesundheit erfreut, und [251] der Umstand, daß er täglich den – freilich nicht sehr weiten – Weg von seinem Hause ins Bureau und wieder zurück zweimal zu machen hatte, stählte seine Gesundheit, machte ihn unempfindlicher gegen die Einwirkungen der Witterung und verschaffte ihm die, einem Geschäftsmanne so nötige tägliche Bewegung. Doch endlich machten die zunehmenden Jahre ihr Recht geltend, und ein Übel, das sich schon ein paarmal im geringeren Maße gemeldet, kehrte jetzt mit größerer Kraft zurück. Pichler war an einem warmen Juniustage, ziemlich leicht gekleidet, nach Tische in sein Bureau gegangen; während er dort war, brach ein heftiges Gewitter aus, und über dem Nachhausegehen mochte die stark abgekühlte Luft bei seiner leichten Kleidung verderblich auf ihn eingewirkt haben. In der Nacht befiel ihn jenes alte Übel, das er nur zu wohl kannte, und das in heftigen Krämpfen im Unterleibe bestand. Er weckte mich, ich rief den Leuten, der Arzt wurde gerufen, Umschläge und Tee gekocht und sogleich alles angewendet, was mir bei solcher Gelegenheit als nützlich bekannt war. Gegen Morgen löste sich der Krampf, und Pichler war imstande aufzustehen und seinen gewohnten Verrichtungen nachzugehen. Aber es blieb eine Reizbarkeit zurück, die, wenn nicht die äußerste Vorsicht angewendet wurde, einen Rückfall befürchten ließ. Dieser blieb auch nicht aus, obwohl er erst in der zweiten oder gar dritten Woche eintrat und war nur um so hartnäckiger und beängstigender für uns alle. Diesmal hatte der äußerst schmerzliche und lebensgefährliche Zustand vom frühen Morgen bis zur Nacht gedauert. Die Ärzte samt dem Wundarzt waren im Krankenzimmer. – Allerlei wurde versucht – nichts wollte fruchten. – Lotte war mit ihrem [252] Manne abends voll Angst gekommen. – Solange Pelzeln, der seine Kinder nicht ganz allein lassen wollte, dableiben konnte, besserte sich Pichlers Zustand nicht. Er kehrte also allein nach Hause, aber die Tochter beschloß, die Nacht bei mir auf dem Sofa zuzubringen – währenddessen Doktor Schiffner, damals unser Hausarzt, für plötzliche Fälle so gütig war, ein paar Stunden der Nacht bei dem Kranken zu wachen, damit wir etwas schlafen konnten. – Ach, es war doch kein erquickender Schlaf! ein Hinbrüten zwischen Angst und Erwartung! Gegen den Tag zu ging ich zu dem Kranken, Schiffner nach Hause. – Noch dauerte der beängstigende Krampf. Endlich zwischen 4 und 5 Uhr morgens traten die ersten Zeichen einer Nachlassung ein – und nun besserte sich zu unser aller Freude und Trost der peinliche Zustand allmählich; aber es dauerte volle acht Tage, ehe Pichler das Bett verlassen und im Zimmer und Garten sich langsam erholen konnte.

Türkheim, der gleich am ersten Tage nebst Dr. Schiffner war gerufen worden, und jeden Morgen, wenn er von Hietzing in die Stadt fuhr, bei uns einsprach, entschied nun, daß wir so bald als möglich nach Baden gehen sollten, wo er sich von der Wirkung des Wassers viel für Pichler versprach. Dies geschah denn auch in den ersten Tagen des August, und unsere Freundin, Fräulein Henriette von Ephraim, hatte uns, wie jedes frühere Jahr, die Wohnung bestellt. Es war diesmal für uns eine neue, in der Landschaft am Josefsplatz, die uns gar sehr zuzusagen schien, indem sie innere Bequemlichkeit, ja selbst einige Eleganz mit dem Vorteile einer herrlichen Aussicht in jedem Sinne verband. Denn während mich der Ausblick auf die gegenüberliegenden Berge erfreute, fanden die meisten, welche [253] mich besuchten, es gar angenehm, daß alles, was ins Tal hinaus oder nach Vöslau, nach Heiligenkreuz usw. wollte, hier vorüber mußte.

Sei es nun, daß die früheren Erschütterungen, welche mein Gemüt und somit auch meinen Körper stark mitgenommen hatten, auch meine Gesundheit untergraben hatten, sei es, daß die Wohnung unmittelbar am Bach, der begreiflicherweise fast allen Brunnen dieser Gegend sein Wasser und somit einigen Schwefel mitteilt, ungünstig auf mich wirkte, oder beides zusammenkam, genug, ich kränkelte während der ganzen Zeit, welche wir daselbst zubrachten und genoß nur wenige ganz gesunde Tage. An einem derselben ward eine große Partie nach Merkenstein in unserm gesellschaftlichen Kreise verabredet, und wir dazu aufgefordert. B. Arnstein, B. Pereira, Frau von Elkan, von Ephraim und die Herren, welche zu dieser Kotterie gehörten, waren dabei, nur daß zufällig diese Partie auf meinen Geburtstag fiel, genierte mich ein wenig, aber die freundliche Gesellschaft wußte auch diesen zufälligen Umstand auf eine verbindliche Art zu benutzen. In zehn oder noch mehr offenen Wagen brachen wir auf – jede Familie hatte eine oder zwei Speisen, oder Wein, Obst usw. zu dem Picknick mit sich genommen, und recht lustig flog der lange Wagenzug über die Ebene dahin, im Angesicht der nahen bewaldeten Berge und umrauscht von einem nicht gerade gelinden Wind, der indes die bleibende Heiterkeit des schönen Herbstmorgens sicherte. Von weitem erblickte ich nun einen Reiter, etwas voraus der Wagenreihe – eine auffallende Gestalt, die meine Blicke auf sich zog und meine Neugier reizte.

Es war ein langer, hagerer Mann, der heftige Wind, der ihm entgegenblies, schlug den dunkeln, mit [254] grellem Rot gefütterten Mantel wild um ihn herum, und trieb ihm die schwarzen Haare unter der kleinen polnischen Mütze aus dem bleichen Gesicht, aus dessen tiefen, aber bedeutenden Zügen ein paar lebhafte Augen unter schwarzen Augenbrauen hervorblitzten, und ein starker Schnurrbart vollendete das beinahe Unheimliche dieser Erscheinung, welche sehr an irgendeinen Helden Byrons, einen jener interessanten Verbrecher mahnte, wie der Lord sie zu schildern liebte. Lange unterhielt es mich, den Reiter zu beobachten, endlich machte eine Wendung der Straße ihm die Wagen bemerklich, er wandte sein Pferd und ritt an einen derselben heran, indem er die Damen artig grüßte. Mir war das recht, denn nun konnte ich später auf meine Frage erfahren, daß dieser unheimliche Reiter ein Graf Löwenhjelm, schwedischer Gesandter an unserm Hofe war und mit zur heutigen Gesellschaft gehörte. Bei dem Mittagsessen, das, von der heitersten Herbstwitterung begünstigt und von den Bergen, in deren engem Schoß wir uns befanden, vor dem Wind geschützt, im Freien genommen wurde, ließ sich plötzlich auf einem Hügel über uns eine Harmoniemusik vernehmen, die das Vergnügen der Gesellschaft vermehrte. Nach Tische bemerkte ich allerlei Geflüster und heimlichtuenden Scherz, dessen Absicht mir und wohl vielen rätselhaft war, aber auf einmal mußte auf Befehl eines aus der Gesellschaft, diese in zwei Reihen – Frauen und Herren getrennt, wie zur Eccossaise, sich einander gegenüberstellen. – Nun trat Fräulein Ephraim hervor und las ein ebenso gemütliches als elegant stilisiertes Sonett vom Herrn Major von Weingarten, dem zierlichen Dichter, vor, das einen freundlichen Glückwunsch zu meinem Geburtstag enthielt. Hierauf [255] wendete sich plötzlich die ganze Reihe der Herren, wie sie vor uns standen, um, und präsentierten jeder auf seinen Schultern einen großen Buchstaben, aus weißem Papier ausgeschnitten, und diese Buchstaben formierten das Vivat Caroline! Ungemein freute mich diese gütige Aufmerksamkeit, und mit stiller Genugtuung fühlte ich mich im Kreise wohlwollender Freunde. Nach Tische wurde spazieren gegangen, die Aussichten in die, hinter diesen Bergen liegende ernste Gebirgswelt bewundert, wo der Schneeberg, die Neustädter Wand und andere hohe Gipfel und Bergrücken sich majestätisch erhoben, und gegen Abend kehrte alles vergnügt nach Baden zurück.

Bei dieser Gelegenheit, wo die Rede von einer Aufmerksamkeit ist, welche mir von befreundeten gütigen Personen zuteil wurde, finde ich es nicht unpassend, einer andern, ebenfalls zarten Rücksicht zu erwähnen, welche ich von einem mir gänzlich unbekannten und noch bis jetzt nicht ermittelten Manne erhielt, der meinen späten, aber darum nicht minder warmen Dank vielleicht erst in diesen Blättern lesen kann.

Es war wohl noch einige Jahre früher – vermutlich als meine Tochter schon in Prag oder wenigstens nicht mehr bei mir lebte, weil ich nicht von ihr begleitet war – daß ich nach einer alten, mir liebgewordenen Gewohnheit an einem der Karwochentage nach Tisch in die Hofkapelle ging, um die dort ungemein schön abgehaltene Pumpermette zu hören, in welcher besonders die Responsorien am Schlusse jedes Psalms von den Sängern der Hofkapelle, ohne Begleitung der Musik, ja nicht einmal der Orgel, welche nur den ersten Akkord feierlich angibt, mit meisterlicher Intonation und tiefergreifendem Effekt gesungen werden. Die [256] Kapelle ist nicht groß, die Schönheit der Musik lockt viele, daher war es zum Erdrücken voll, und ich stand recht mitten im Gedränge, nicht ohne einige Unbequemlichkeit meine Semaine sainte, einen ziemlich korpulenten Band, in den Händen emporhaltend, um in der dämmernden Kirche lesen zu können. Da gewahrte ich einen jungen ungarischen Gardisten (deren sich mehrere in der Kirche befanden, ohne im Dienst zu sein), der geschäftig um sich blickte, und endlich ein paar Personen, die ganz am Ende in den nächsten Kirchenstühlen saßen, anredete, so daß ich vermutete, er suche für jemand einen Platz, der vielleicht erst kommen werde. Weiters gab ich auf die ganze Sache nicht acht, als plötzlich ein Hofbedienter mit einem Sessel sich durch das Gedränge arbeitete, ihn hinter mir niederstellte, mit der Aufforderung, mich seiner zu bedienen. Deutlich erkannte ich jetzt, daß jene freundliche Geschäftigkeit des jungen Offiziers mir gegolten hatte und widmete ihm in meinem Herzen warmen Dank, den ich ihm leider, als die Andacht vorüber war, nicht mehr zollen konnte, denn er war aus der Kirche verschwunden. Auch glaube ich kaum, daß ich ihn würde wieder erkannt haben, denn ich hatte ihn nur flüchtig angesehen und weiß mir seinen guten Willen, sein freundliches Bemühen, der unbekannten Matrone einen bequemen Sitz zu verschaffen, nur damit zu erklären, daß er mich vielleicht aus dem Zayschen Hause in Bucsan oder Ugrócz gekannt und der schriftstellernden Frau gern eine gütige Rücksicht erwiesen habe.

Von Baden zurückgekehrt, traten wieder mancherlei trübe Ereignisse ein. Therese Artner, meine innigverehrte Freundin, war schon vor mehr als zwei Jahren von Bucsan weg zu ihrer jüngsten Schwester Minna [257] Romano gezogen, welche mit ihrem Manne in Agram lebte und ihrer eigenen Gesundheit wegen eine Stütze in ihrem häuslichen Walten bedurfte. Diese fand sie am besten und liebsten in der ältesten Schwester, welche ja schon von Kindheit an die Pflichten der frühverstorbenen Mutter an den drei jüngern Geschwistern geübt hatte. Aber Therese litt selbst an gichtischen Übeln, und oftmalige beschwerliche Reisen von Bucsan nach Agram und von hier wieder zurück, womit sie die entgegengesetzten und doch im Grunde gleichen Wünsche ihrer Schwester Minna und ihrer Freundin Zay befriedigen wollte, hatten diese Übel nur noch mehr hervorgerufen. Bald darauf waren, während Therese sich bei ihrer Schwester befand, schnell nacheinander zwei kleine Kinder derselben gestorben,und dieser Schmerz, sowie noch manch anderer Verlust erschütterte ihre Gesundheit immer mehr. Im vergangenen Jahre 1828 hoffte sie viel von einer Reise nach Vicenza zu entfernten Anverwandten, die sie freundlich eingeladen hatten. Aber die erneuerten Fatiguen der Reise, da Theresens Vermögensumstände ihr nicht erlaubten, auf recht bequeme Art zu reisen, die Veränderung des Klimas, selbst die erhöhte Wärme, auf welche sie als ein Heilmittel gerechnet hatte, und die sich schädlich für sie erwies, endlich die Hast und vielfältige Bewegung, mit welcher ihr, nach Kenntnissen und Kunstgenüssen dürstender Geist, diese überall aufsuchte, vollendeten den Ruin ihrer Gesundheit. Ihre Bemerkungen auf dieser Reise legte die teure Freundin in einem Bericht darüber, in Form von Briefen an mich, nieder und gab mir so vor ihrem Tode aus der Ferne noch ein warmes Liebeszeichen. Zurück nach Agram gekehrt, nahm ihr Leiden mit wachsender Gewalt [258] überhand, und am 25. November verschied sie in den Armen ihrer Freunde, ihnen und uns allen ein unersetzlicher Verlust.

Während dieses letzten Sommers hatte auch der Zustand von Pelzelns Mutter sich bedeutend verschlimmert. Ihr Arzt verbarg ihren Angehörigen die Wahrheit nicht. – Es war eine Brustwassersucht, und ihr Sohn, der sie unendlich liebte und die letzte Zeit fast ganz bei ihr zubrachte, litt aufs schmerzlichste durch diesen drohenden Verlust, und meine Tochter litt mit ihm.

Es war am Ende des Novembers, als ich eben abends, einsam im Zimmer sitzend, einen Brief aus Agram erhielt, der mir den Tod Theresens meldete, und dies Ereignis, das ich leider schon lange als unvermeidlich vorausgesehen, nun schmerzlich verwirklicht sah. Noch sann ich tiefbetrübt darüber nach, als man mir ein Billett meiner Tochter brachte, das mir den eben erfolgten Tod ihrer Schwiegermutter anzeigte. So kreuzten sich auch diesmal die Todesnachrichten wie zu Anfang dieses, durch manche Unfälle, wenigstens für uns denkwürdigen Jahres, das überdies noch durch eine furchtbar strenge Kälte, welche vom halben November bis zu Ende Februars anhielt, sich allen unvergeßlich machte, und der trübe Schluß desselben glich seinem finstern Anfang.

Während der zwei Jahre, welche nach der Erscheinung der »Wiedereroberung von Ofen« verflossen waren, hatte meine Phantasie, die sich ohne eine bestimmte, und umfassende dichterische Arbeit nicht recht behaglich fühlte, wieder einen neuen, ebenfalls aus der österreichischen Geschichte geschöpften Stoff gewählt: »Friedrich den Streitbaren«, den letzten [259] Babenberger. Zu diesem Behuf schaffte ich mir Raumers gediegenes Werk: »Geschichte der Hohenstaufen« an, und suchte auch in andern geschichtlichen Werken, hauptsächlich aber in Hormayrs Schriften, nach Notizen über diesen Fürsten. Raumers Werk war mir von großer Hilfe, wie denn überhaupt alles, was aus dem ernsten und dabei doch so milden Geiste dieses Mannes geflossen ist, in dem meinigen stets einen bereiten Widerklang fand und ich mit großer Beruhigung so oft meine, noch unklaren oder mangelhaften Ansichten von geschichtlichen Charakteren oder Zuständen aufgeklärt und vollständig entwickelt in seinen Werken erblickte; sowie seine persönliche Erscheinung, auf welche ich später kommen werde, mir und allen, die ihn bei uns sahen, sehr zusagte. Doch muß ich gestehen, daß eine bei weitem lebendigere (ob auch ganz richtige, lasse ich dahingestellt sein) Gestaltung von Friedrichs Eigentümlichkeit mir aus Hormayrs Schilderung entgegentrat, als aus Raumers Werk, wo ich die zerstreuten Züge erst zusammensuchen mußte, weil natürlicherweise dieses Fürsten nur bei jenen Gelegenheiten und nur insoweit, als er in Berührungen mit den Hohenstaufen kam, erwähnt ist. Hormayr hingegen hat – fast möchte ich mir erlauben zu erraten warum? – diesen Fürsten stets mit ganz besonderem Interesse betrachtet. Er hat seine gewaltige Willenskraft bewundert, seine Irrtümer und seine sich überstürzenden Leidenschaften entschuldigt, und in dem häuslichen sowohl als öffentlichen Unglück, das Friedrich betroffen, doch stets nur die Größe des Charakters im Kampf mit einem feindlichen Geschick und das traurige Bild vereitelter Hoffnungen und gehemmter Entwürfe gesehen. Eben diese sympathetische Teilnahme, wenn [260] ich so sagen darf, hat denn auch Hormayrs Phantasie belebt, und die Biographie Friedrich des Streitbaren, nach meiner Ansicht, zu einer seiner lebendigsten Darstellungen erhoben, ohne daß ich jedoch zu behaupten wage, daß es auch eine der treuesten und richtigsten sei wie denn überhaupt strengere Geschichtsforscher gegen viele seiner Arbeiten diese Einwendung machen.

Mir sagte dieser Stoff sehr zu, und ich beschäftigte mich angelegentlich damit; ja ich war, wie bei allen meinen Arbeiten, mit ganzer Seele dabei, so daß der Lauf der Begebenheiten und die Bilder der Personen mir nie aus dem Gedächtnis schwanden und ich imstande war, sowie ein freier Augenblick zwischen häuslichen Geschäften und geselligen Pflichten sich anbot, meine Arbeit fortzusetzen. Aber ich hatte Hrn. Fleischer, mit dem ich in einem langjährigen literarischen Verkehr gestanden und dessen freundliches Betragen gegen mich jede billige Rücksicht fordern konnte, eine Erzählung für die »Minerva 1831« versprochen und mußte nun daran denken, dieser Verpflichtung nachzukommen. Recht mit Mühe, kann ich sagen, riß ich mich aus dem Ideenkreise, aus den Bildern, Begebenheiten, Streben und Ringen der Epoche, in der mein größeres Werk spielte, los, um etwas ganz Verschiedenartiges vorzunehmen. Ich hatte schon seit langem den Stoff des »Turniers zu Worms« (den ich früher schon als Romanze behandelt hatte) ausersehen, um ihn in einer größeren Erzählung zu bearbeiten, nun führte ich diesen Plan aus. Hatte nun wirklich das innere Widerstreben, womit mein Geist an diese Arbeit ging, darauf eingewirkt, oder war es eine von den mancherlei Freundlichkeiten, welche Herr W. Menzel im »Literaturblatt des Morgenblattes« den schriftstellernden [261] Frauen, die er samt und sonders haßte, und somit auch gelegentlich mir erwiesen hat, genug, er sagte in der Rezension des »Almanachs«, daß die Erzählung: »Das Turnier zu Worms« zwar nicht lang, aber langweilig sei. Bei der Höflichkeit, womit sonst meine Arbeiten von den Herren Rezensenten behandelt wurden und noch werden, selbst, wenn sie etwas daran zu tadeln fanden, wogegen ich nichts einzuwenden hatte, hat mich der barsche Ton, in welchem dieser Hr. Menzel sich schon ein paarmal gegen mich vernehmen lassen, wohl nicht beleidigt, denn ein Urteil über ein gedrucktes Buch steht jedem frei, aber in Verwunderung gesetzt, da ich ihm wahrlich nie einen Grund zum Mißvergnügen gegeben, er müßte mir nur das, daß ich eine Schriftstellerin bin, als ein Vergehen a priori anrechnen. Dieser Widerwille mag es auch wohl gewesen sein, welcher, verbunden mit der stets mehr überhand nehmenden Sitte unserer Literatoren, die Gesellschaft von Frauen zu vermeiden, ihn bei seiner Anwesenheit in Wien, vor einigen Jahren, bestimmt hat, mich ganz zu ignorieren, obwohl er ins Haus der B. Pereira kam, und somit eine leichte Berührung zwischen uns möglich gewesen wäre. Nachdem ich diese Erzählung geendigt und abgeschickt hatte, wandte ich mich wieder zu meinem Friedrich dem Streitbaren, aber die erste Stimmung war zum Teil verschwunden, die Wärme verflogen, ich endigte zwar meine Arbeit nach dem früher entworfenen Plane und brachte auch alle Einzelnheiten in Ausführung, welche ich schon früher, jede an ihrer Stelle, dazu bestimmt hatte; doch freute mich jetzt diese Arbeit nicht mehr halb so sehr, als wenn ich das Ganze in einem Zuge hätte fortarbeiten können und ich möchte sagen, mich nicht aus der Atmosphäre [262] von Ansichten, Empfindungen und Schilderungen hätte entfernen müssen, in welcher, wie ich glaube, das Werk auch viel besser beendet worden wäre.

Später, nachdem ich Herrn Korn so meisterhaft seine Rolle des zartfühlenden und seine hervorbrechende Leidenschaft mit männlicher Kraft beherrschenden Vormunds in dem Stücke Raupachs: »Vormund und Mündel«, hatte spielen sehen, dachte ich daran, aus dem »Turnier zu Worms« ein Stück zu machen, und Claude de Barres Charakter und Lage schien mir ganz geeignet, auf ähnliche Art behandelt und dargestellt werden zu können. Ich teilte mir die Handlung in Akte und Szenen ein, und machte auch die Änderungen, welche mir die dramatische Vorstellung an einer Erzählung zu erfordern schien, unter andern auch die, daß der Vorsatz des Kaisers, als Gegner des französischen Ritters aufzutreten, dem Publikum nicht wie bei der Erzählung bis zum letzten Augenblick ein Geheimnis bleiben sollte, weil es sehr möglich war, daß viele Personen im Theater beim Aufschlagen des Visiers den Kaiser vielleicht nicht sogleich hätten erkennen, und folglich das Schlagende der Entdeckung nicht so allgemein wirksam hätte sein können. Im Stücke sollte der Tausch der Waffen mit Georg und das Erscheinen des Kaisers unter Georgs Namen nur den Hauptpersonen der Handlung unbekannt sein, und das Publikum bloß mit ihnen und für sie dem zweifelhaften Ausgange des Kampfes gespannt entgegen sehen. Aber ich gab auch diesen Plan auf und ließ es bei der Erzählung bewenden.

Gegen Ende des Winters brachte der Eisgang, der während der durch viertehalb Monate anhaltenden Kälte sehr stark geworden, große Bestürzung hervor. Er erfolgte in der Nacht vom letzten Februar auf den[263] ersten März, und richtete ungemein vielen Schaden in den, dem Strome zunächstliegenden Vorstädten Wiens und in der Umgegend an, wobei selbst Menschen zugrunde gingen, und der jetzige Kaiser, damals Kronprinz, wie ein helfender und rettender Engel in den gefährdeten Gegenden erschien. Auch die Einwohner Wiens zeigten sich hilfreich, man brachte Geld, Einrichtungs-, Kleidungsstücke usw. in solchem Überfluß zusammen, daß, wie man erzählte, manche Familie durch diese Beteilung nun besser als vorher eingerichtet und versehen war.

Den nächsten Monat aber traf auch uns ein trauriges Ereignis. Das jüngste Kind meiner Tochter, das eben in der vierten Generation den Namen Karoline bei uns fortsetzen sollte, starb nach einer kurzen Krankheit von wenigen Tagen an einem Wasserkopf, wie die Ärzte sagten. Am Mittwoch abends, als meine Tochter mich besuchte, hatte sich das Kind zuerst geklagt, das Übel nahm mit Riesenschritten überhand, Konvulsionen traten ein, und am Montag hatte es seine kurze Laufbahn beendigt. Es war ein schönes und für sein Alter von 18 Monaten sehr verständiges Kind. Wahr ist es, daß es nie sehr munter gewesen war, und daß der Blick seines wirklich schönen Auges oft etwas Melancholisches hatte, das mich schreckte, indem es mich den Grund des Übels ahnen ließ, der sich auch bestätigte. Bald darauf entschloß sich mein Schwiegersohn, um seiner Frau Erheiterung und den Genuß der Landluft zu verschaffen, eine Wohnung auf dem Lande zu nehmen. So lange seine Mutter lebte, pflegte er bloß im Sommer jeden Sonnabend allein zu ihr nach Mödling zu fahren, wo er dann bis Montag blieb, und seine Frau brachte den Sonntag mit den Kindern bei uns zu. Dies [264] Jahr aber war es anders. Sein Präsident, der Baron von Gärtner, bewohnte schon seit ein paar Jahren ein sehr schönes Haus in Döbling. Außer seiner großen Wohnung war noch eine kleine in diesem Hause zu vermieten. Pelzeln nahm sie auf die freundliche Aufforderung seines Chefs, und so gestaltete sich für meine Tochter, die dieser Aufheiterung wohl bedurfte, ein angenehmer Séjour im Genuß der Landluft und im Umgang mit der sehr würdigen Familie des Barons von Gärtner.

Der strenge Winter hatte einem sehr heißen Sommer Platz gemacht, und wie in der Natur schien in der Menschen- oder eigentlich der politischen Welt während langer Ruhe sich der Gärungsstoff gehäuft und jetzt in heftiger Glut entzündet zu haben. Frankreich, stets seiner Glanzperiode unter dem Kaiserreich eingedenk und nach Art leichtsinniger Gemüter der Niederlage vergessend, die eben jene Glanzperiode herbeigeführt hatte, ertrug unwillig die Einrichtungen der Restauration und so manche, nicht Neuerungen, sondern Umkehrungen zum Alten, welche die wiedergekehrten Bourbons, besonders nach des höchstverständigen und würdigen Ludwigs XVIII. Tode, einzuführen begannen. Das war im Westen von uns. – Im Osten oder vielmehr Nordosten begann es sich ebenfalls zu regen. Das unglückliche Polen hatte (vermutlich auf französische Instigationen) den Freiheitskampf wieder aufzunehmen angefangen. Unruhen regten sich hin und wieder. Ein lebhafter Geist schien alles zu beseelen – Hoffnungen lebten auf, Versuche wurden vorbereitet. Wer dem unglücklichen Lande oder vielmehr der unglücklichen Nation wohlwollte, und die Lage der Dinge genauer betrachtete, konnte sich über diese letzten Zuckungen sterbender Freiheit nicht erfreuen. Es ging [265] Polen, als Land betrachtet, nicht schlimm. Unter Alexanders milder Regierung waren Straßen angelegt, Industrie ermuntert, treffliche Einrichtungen für das Wohl der untern Stände ge macht worden. Sicher waren diese besser daran als vorhin unter ihrer Pseudorepublik. Daher war der Aufstand auch nicht vom Volke ausgegangen, sondern die mächtigen Dynasten konnten die Zeit nicht vergessen, als sie oder ihre Väter große Gewalt besessen hatten, und eine billige und edle Idee nationaler Freiheit knüpfte sich an diese Erinnerungen, und strebte, ohne die Mittel, die vorhanden waren, zu berechnen, dem glänzenden Ziel errungener Selbständigkeit zu.

Plötzlich überraschte die Neuigkeit der Julirevolution die ganze Welt, und obwohl diesmal das Ganze ohne viel Blutvergießen vorübergegangen, und Karl X. eben nicht vom Throne gestürzt, sondern höflich gebeten, herabzusteigen und mit Artigkeit aus dem Lande gewiesen worden war, so konnte doch niemand mit Sicherheit voraussagen, was noch folgen würde. Der Greis La Fayette trat wieder aus der Dunkelheit des Privatlebens hervor, in welcher er als Herr und Hausvater ebenso ehrenvoll wie früher im Glanz der Öffentlichkeit gewirkt hatte, an die Spitze der Nationalgarde, und gab dem Lande ein Oberhaupt, ganz in dem Sinne seiner alten, nie verleugneten Grundsätze, was wohl nicht viele in Frankreich von sich sagen konnten. Was auch die Ewigunzufriedenen mit Recht oder Unrecht gegen Louis Philipp sagen mögen, seine Klugheit, seine Kenntnis der Menschen sowohl als der Kabinette hat bis jetzt Frankreich und somit Europa den Frieden erhalten. Sehr witzig ist eine bald nach dieser Thronveränderung erschienene Karikatur. Die bekannte Figur des Mayeux [266] steht da, in einer Hand einen Apfel, in der andern eine Birne haltend und sagt: Le diable emporte les fruits! – Adam nous a perdu par une pomme et La Fayette par une poire! Auch ist es kein geringer Beweis für die, seit 50 Jahren vorgeschrittene Zivilisation und wahre Sittigung der Menschheit, daß in Frankreich sowie in den kleinern deutschen Staaten, wo solche Reibungen entstanden waren, alles bald wieder, und durch wen? durch das Bürgertum, die National-, Kommunal- usw. Garden beruhigt worden war.

Indessen hatte der politische Schwindel doch die Köpfe ergriffen und aufgeregt. Nach seinem Standpunkte, seinen Ansichten und Absichten sah jeder etwas anders in demselben, hoffte, wünschte, fürchtete etwas anders, und die Politik hatte in den ersten Monaten nach dieser erschütternden Katastrophe so die Oberhand über alle, besonders über die friedlichen literarischen Interessen gewonnen, daß diese großenteils unbeachtet auf die Seite geschoben wurden.

Wir waren eben in Mitte dieser Wirren nach Baden gezogen, wo wir in diesem Sommer jene, mir sehr liebgewordene und schon öfters innegehabte Wohnung in der Pölzgasse bezogen, wo das Wohnhaus mitten im Garten liegt, und von allen Seiten eine köstliche freie Luft und Aussicht auf das Gebirge im Hintergrunde, auf die Weilburg und die Weinberge in der Nähe bietet. Auf die furchtbare Kälte des vergangenen Winters war ein eben so beschwerlicher heißer Sommer gefolgt. Kaum daß man abends, nachdem die Sonne schon hinunter war, einige Kühlung genoß; am wenigsten fand man sie auf dem gewöhnlichen Spaziergange der Badner, im Helenental; dort hatten die Sonnenstrahlen am längsten verweilt, und die nahen Berge und Wälder behielten [267] noch eine Weile den Dunst und die Wärme des Tales, bis endlich ungefähr 8–10 Tage nach unserer Ankunft ein heftiges Gewitter mit Regengüssen die Luft genugsam abkühlte, und nun ein angenehmes Herbstwetter eintrat.

Wieder, wie sonst jedes Jahr, versammelte sich unsere kleine Badner-Kotterie abends meist bei der Baronin Pereira, oder mit ihr bei einer der andern Freundinnen. Da wurde denn, zumal unter den Männern, nichts als politisiert, und selten drangen andere Gespräche durch. Pichler zumal fand soviel Nahrung für seinen Geist in dem, was täglich mehrere Zeitungen ihm Neues brachten, daß ich mit Ernst wachen mußte, daß er nicht des Zweckes, warum wir in Baden waren (die Bäder allein ausgenommen) ganz vergessend, darüber Spazierengehen und Bewegung in frischer Wald- und Bergluft versäume.

Vielleicht lag es in der Beschaffenheit meines letzten Romans, Friedrich des Streitbaren selbst, daß er in der literarischen Welt viel geringeren Sukzeß als meine früheren Arbeiten gefunden, vielleicht aber erstickten die gar zu lebhaften, politischen Interessen, welche damals alle Geister aufregten, die Aufmerksamkeit für literarische Erscheinungen, vielleicht wirkte Beides zusammen. Das Resultat blieb ein unerfreuliches für mich, und spannte meine Lust zu künftigen Arbeiten sehr herab.

Zurück in die Stadt gekehrt, fand ich meine Tochter nicht unbedeutend krank an einem kalten Fieber, das sie in Döbling durch Erkältung sich zugezogen, und das in ihrer damaligen Lage, sie war das fünftemal in gesegneten Umständen, uns mit gerechten Besorgnissen erfüllte. Dennoch ging es, Gott sei Dank, vorüber, und sie erholte sich allmählich. Unsere häusliche Ruhe stellte [268] sich wieder her, und unsere häuslichen Freuden wurden bald darauf (5. Dezember) durch die glückliche Geburt eines hübschen und gesunden Mädchens erhöht, das uns die verlorene Karoline ersetzen sollte, wenn bei solcher Art von Verlust ein Ersatz denkbar ist, indem nie ein Individuum das andere vollkommen repräsentiert, und in unser aller Herzen Raum auch für diese neben der andern gewesen wäre. Auch konnten meine Tochter und ich uns nicht entschließen, das Kind, obwohl es Pelzeln seiner Frau wegen wünschte, Karoline taufen zu lassen, weil uns dies gar so wehmütig vorkam. Es wurde also Maria nach der allgemeinen Patronin unsers ganzen Geschlechts, der heiligen Jungfrau getauft.


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Indessen war die Revolution in dem bedauernswürdigen Polen, mit großer Lebhaftigkeit und von allgemeinem Enthusiasmus angefacht, fortgeschritten. Die Russen wurden an mehreren Orten tüchtig geschlagen, und die polnischen Patrioten erhoben ihre Häupter mit größerer Zuversicht. Unter ihnen zeigten sich Männer wie Chlopicky, Mickiewicz, an die nur zu denken, einem rein menschlichen Sinn wohltat; selbst jene, die von vornherein, aus den Gründen, die ich früher entwickelt, der Sache wenig Erfolg versprochen und die unglücklichen Opfer einer edlen Selbsttäuschung oder fremder Verführung im Voraus beklagt hatten, fingen nach und nach an, an ein mögliches Gelingen zu glauben, und wer sich für die gute Sache erwärmen konnte, rief sich den ebenfalls ungleichen Kampf der Schweizer, der Niederlande, endlich Nordamerikas ins Gedächtnis, und fand Bestärkung in seinem frommen Glauben. Graf Diebitsch, der sich ein oder zwei Jahre vorher [269] durch seinen Übergang über den Balkan den Ehrennamen Zabalkansky erworben hatte, schien diesmal mit seinem Feldherrntalente gegen die Begeisterung einer Nation nicht auszureichen, und in Wien wurde über seinen Namen ein Witz gemacht, und er Sobaldkannstnicht genannt.

In mein Haus war drei Jahre früher ein Pole aus Galizien, Herr Boloz von Antoniewicz, gekommen, ein Mann von sehr guter Erziehung, ein vermöglicher Edelmann und ein Jüngling von vielleicht nicht 22 Jahren, über dessen Kenntnisse und vielseitig ausgebildeten Geist ich oft erstaunte, und ihn einst so wie jenen Zögling der Ecole polytechnique, den Leutnant Raymond, fragte: Woher er denn die Zeit genommen, das alles zu lernen? Karl von Antoniewicz war auch ein zierlicher Dichter, und es ist mir noch immer komisch, daß, als er sich, ehe ich ihn gesehen, mit einem, mir sehr schmeichelhaften Gedicht bei mir ankündigte, aus welchem aber tiefe Klagen über sein Unglück durchtönten, ich ihn, mehrerer ähnlicher Erfahrungen zufolge, für einen pauvre honteux gehalten hatte, der seine Bettelei unter einer respektablen Maske anzubringen dachte. Wie war ich erstaunt und insgeheim beschämt, als nun statt des alten schnurrbärtigen, armen Polen, wie ich mir den Boloz von Antoniewicz nach seinem Briefe vorstellte, ein gebildeter und höchst eleganter junger Mann vor mir stand.

Er kam nur gelegentlich nach Wien, wohnte dann bei den P.P. Mechitaristen, und schien sich mit Literatur zu beschäftigen, obwohl er vielleicht insgeheim für sein Vaterland tätig sein mochte. Wenn er hier war, besuchte er mich oft, und schrieb mir, wenn er wieder nach Swarzowa, seiner Besitzung im Zolkiewer Kreise zurückgekehrt war, ziemlich fleißig. Ein oder zwei Jahre [270] darauf lernte ich durch ihn seinen Vetter Niclas Antoniewicz kennen, dessen Vater, wenn ich nicht irre, Appellationsrat in Galizien war; auch einen ziemlich artigen jungen Mann, der sich nebst seinen Studien mit Poesie beschäftigte, und aus Byrons Korsar ein Trauerspiel gemacht hatte, das einige hübsche Szenen bot. Sein Vetter hatte indes einen Sonettenkranz, leider aber für mich in polnischer Sprache gedichtet, und mit einem deutschen Sonette mir gewidmet. – Das war nun eine Art von Tantalusmahl – denn ich kann kein Polnisch; aber einige von den Herren, die unser Haus besuchten, und diese Sprache verstanden, übersetzten mir einiges, besonders nahm sich Baron Maltitz dieser Verdeutschung freundlich an, und so konnte ich doch einiges davon genießen.

Jetzt, in dem Winter von 1831 war Niclas Antoniewicz plötzlich aus Wien verschwunden, Karl war schon lange nicht mehr hier – der Krieg in Polen hatte begonnen, und ich konnte mir leicht denken, daß die beiden jungen Leute sich mochten haben hinreissen lassen, obwohl in unserm Galizien alles ruhig blieb, an dem Kampf ihrer Landsleute teilzunehmen. Und so hatte der eine, Niclas, auch getan; Karl aber war ruhig in Swarzowa geblieben. Lange erfuhr ich nichts von beiden. Nach dem Neujahr kam ein Brief von dem ersten, ganz voll Begeisterung, ganz voll schimmernden Hoffnungen. – Wie lange war es von der Vorsicht der unglücklichen Täuschung erlaubt, die irregeführten Gemüter zu blenden?

Bald warf Kaiser Nikolaus sich mit der ganzen Energie seiner gewaltigen Persönlichkeit und mit der ganzen Wucht seines despotisch konzentrierten Slaven- und Sklavenreiches auf dies bedauernswürdige Polen, zerdrückte [271] es unter dieser Last und verfuhr mit einer Härte und Unmenschlichkeit gegen die armen Besiegten, welche nicht die Körper der Gequälten, aber ihre Seelen bis tief ins innerste Heiligtum des Familienlebens zerriß. Wohl schmücken diesen Monarchen außerordentliche Eigenschaften, ein persönlicher Mut, eine Gegenwart des Geistes, die ihn im Augenblick der Gefahr nie verläßt; eine Unerschrockenheit, die ihm stets die klare Übersicht jeder Lage frei läßt; wohl weiß er recht schön, was gut, was menschlich, was edel ist – er handhabt es auch, so wie es nötig ist, um sich vor der Welt vorteilhaft zu zeigen, aber in seinem Innersten? Wen hat wohl der überraschende, empfindsame Besuch am Sarge unsers seligen Monarchen wirklich über die Absicht desselben getäuscht?


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Polen war unterdrückt, es war zermalmt, es war aus der Reihe der Nationen ausgestrichen und somit hatte der Giftkeim, den die erste Teilung in die europäische Politik gelegt – wider dessen Rechtswidrigkeit unsere Kaiserin Maria Theresia protestiert und das Übel vorahnend prophezeit hatte – seine vollständige Entwicklung erhalten. Der Oheim meines Schwiegersohnes, der berühmte Geschichtsschreiber Böhmens, M. Pelzel, hat bei jener Gelegenheit, wo nach der Schlacht auf dem weißen Berg und der Unterdrückung des protestantischen Prinzips in Böhmen, dies aufhörte, ein für sich bestehendes Reich zu sein, sich eines sehr poetischen Gleichnisses bedient, um dieses Verschwinden des böhmischen Namens zu bezeichnen. So wie die Moldau, nachdem sie sich in die Elbe ergossen hat, nicht mehr genannt und nur der Name Elbe für die gesamte Wassermasse [272] gebraucht wird, so heißt es jetzt mehr, sagt der Geschichtsschreiber, die Böhmen rücken ins Feld, die Böhmen machen Frieden usw. Aber wie viel preiswürdiger ist doch das Los der Böhmen und noch mehr das der Ungarn, trotz ihrer Einverleibung in den Gesamtstaat der österreichischen Monarchie, im Vergleich mit jener unglücklichen Nation, die zwei- oder dreimal, noch während ihrer Existenz als unabhängiger Staat, sich große Teile ihres Ganzen abreissen und unter fremde Herrschaft übergehen sehen mußte, bis endlich nach einem halben Jahrhundert von Schmach und Leiden, der übermächtige Nachbarstaat, der seit der sogenannten großen Katharina auf diesen Zweck hingearbeitet hatte, das Übriggebliebene eigenmächtig an sich riß und Polen somit eine Provinz desjenigen Reiches wurde, mit dem es, trotz des gemeinsamen slavischen Ursprungs in vielhundertjähriger Feindschaft gelebt hatte.

Aber als wäre es an all dem Unglück, welches diese unzeitige Schilderhebung der Polen veranlaßt hatte, noch nicht genug, wurde nun durch die Russen ein neues Übel in Europa eingeschleppt, von dessen Existenz in Asien man schon seit manchem Jahre Schreckliches gehört, das aber, eben der Entfernung wegen, keinen besonderen Eindruck auf die europäische Welt gemacht hatte, und das nun die Abendländer zu ihrem Entsetzen in der Nähe sollten kennen lernen. Es war das furchtbare Rätsel, wie es Goethe nannte, die asiatische Cholera. Langsam wälzte sich das zerstörende Ungetüm immer näher; die Märsche, die Gefechte machten die Mitteilung unvermeidlich, so stieg es endlich über die Karpathen herab und drang in Ungarn ein.

[273] Ihm weit voran gingen gräßliche Kunden, und noch gräßlichere Torheiten von Aberglauben, blinder Nachahmung ungeprüfter Heilmittel, albernem Nachbeten unverstandener Maßregeln und rücksichtslosem Egoismus, der nur bedacht, das liebe Selbst vor jeder möglichen Gefahr zu schützen, zu den widersprechendsten, ja oft zu den gefährlichsten Mitteln griff, nicht weil man sie erprobt gefunden, sondern weil man gehört haben wollte, daß der oder jener, den man oft nicht kannte, sie gebraucht habe. Welche verkehrten Maßregeln wurden nicht ergriffen, welche Summen ohne genaue Prüfung der jedesmaligen Individualität, ja oft ohne den Rat eines Arztes, für Wismut, Kamillengeist, präservative Pflaster und Räucherungen verschwendet! Zweierlei Ansichten erhoben sich unter den Ärzten und im Publikum, die von der Kontagiosität und Nichtkontagiosität des Übels. Viele und berühmte Ärzte standen auf jeder Seite, die erste behielt die Oberhand – der kaiserliche Hof zog nach Schönbrunn, das ganz abgesperrt und von aller Berührung mit dem Publikum so viel wie möglich frei bleiben sollte. Gegen Ungarn wurde ein Kordon gezogen, Rastele, Quarantäneanstalten mit unsäglichen Kosten aufgerichtet – während viele und eben auch nicht beschränkte das alles für ganz nutzlos, ja für schädlich erklärten. Diese behaupteten, durch viele Erfahrungen belehrt, daß die Krankheit nicht notwendig durch Berührung wie die Pest sich mitteile, daß, wenn dies auch hier und dort so geschienen habe, weil in einem Hause oder einer Gegend mehrere Personen erkrankten, Einbildungskraft, Atmosphäre und andere noch unerforschte Einwirkungen tätig gewesen waren. Sicher war es, daß in der Atmosphäre Veränderungen vorgegangen waren, die bei auch [274] nur oberflächlicher Beobachtung auffallen mußten. Diese glanzlosen Sonnenuntergänge, wo das Gestirn des Tages sich gleich dem Vollmond zeigte und betrachten ließ; diese feuerroten, lange dauernden und oft den ganzen Horizont bedeckenden Abendröten, diese wunderbaren Nebel! – Hierauf wurde denn auch in Schriften und Gesprächen hingewiesen, und die allerseltsamsten Hypothesen nicht bloß aufgestellt, sondern mit den sinnreichsten Gründen zu unterstützen versucht. Die Meteorologie wurde zu Hilfe gerufen, die Geschichte, Geographie, frühere dagewesene Seuchen, besonders der sogenannte schwarze Tod vom Jahre 1349, der ebenfalls aus Asien nach Europa herübergekommen, zitiert, und endlich sogar Insektenschwärme, die sich in der Luft befinden sollten, als möglicher Ursprung der Seuche angegeben. Kurz, man erschöpfte sich in Mutmaßungen, in Hypothesen, in Überlegungen, wie die Krankheit, wenn sie Wien erreichte, am zweckmäßigsten zu behandeln sein werde. Jede Haushaltung versah sich nach den verschiedenen Ansichten der Ärzte mit Essig, Wachholderbeeren, großen Töpfen voll Asche, die im Notfall gehitzt werden sollten, und mit allerlei Arzneien, wie sie dieser oder jener nach eigenen oder fremden Erfahrungen probat gefunden hatte. Aber so wie in dem Fall der beiden feindlichen Invasionen sah man auch diesmal viele gerade die verkehrtesten Maßregeln ergreifen. – Eine bekannte Frau nahm Wismut als Präservativ, weil sie irgendwo dies Mittel anraten gehört oder davon gelesen hatte, und starb daran. – Andere gebrauchten im voraus allerlei Kuren; wieder andere verließen Wien, ja Österreich, und suchten Schutz in fernen Gegenden, besonders in Gebirgsländern, wo sie sich von der reinen Luft viel [275] versprachen. Hier muß ich eines freundschaftlichen Anerbietens erwähnen, welches mir von einem alten Bekannten in der Schweiz, den ich vor vielen Jahren durch unsern Freund Hofrat Büel aus Zürich als ganz jungen Mann hatte kennen lernen, von Herrn Peter, Kaufmann in Winterthur, gemacht worden war. Büel lebte damals nicht mehr, wiederholte Schlagflüsse hatten in den letzten Jahren seine körperliche und Geisteskraft geschwächt – seine Briefe waren selten – unbefriedigend geworden. Eben durch diesen Herrn Peter erfuhr ich nach einiger Zeit den Tod dieses gemeinschaftlichen treuen, verehrten Freundes; und eben von Herrn Peter, der fast jedes andere Jahr nach Wien kam und uns freundlich besuchte, erhielt ich nun in der verhängnisvollen Cholerazeit einen recht herzlichen Brief, in welchem er uns eine Zuflucht bei sich in Winterthur anbot, wenn wir der Seuche – wie so viele andere – zu entfliehen und uns in der reinen Gebirgsluft zu bergen gedächten. Ich kann sagen, daß mich dieser Antrag ungemein erfreute, und obwohl Pichlers Dienstverhältnisse uns nicht erlaubten, ihn anzunehmen, fühlten wir uns doch dem wohlwollenden Freund zu eben dem Dank verpflichtet, als wenn wir Gebrauch von seinem Anerbieten hätten machen können. Es ist gar ein erhebendes und beglückendes Gefühl, auf einen Freund in der Not zählen zu können.

Die Gefahr der Seuche kam immer näher. Bereits hatte sie in den benachbarten Komitaten von Ungarn viele Verheerungen angerichtet. Man erzählte sich von 27000 Opfern, die sie nur allein im Neutraer Komitat geholt – und auch die mir bekannten und befreundeten Familien blieben nicht verschont. Der Gemahl meiner Freundin Zay, ein vorzüglich edler und gebildeter [276] Mann, starb daran, und ihm folgte bald darauf eine ebenso schätzbare Freundin seines Hauses, die Gemahlin des Vizepräsidenten Baron Malonyay.

Meine Kinder brachten auch diesen Sommer in einem Hause mit der Familie des Appellationspräsidenten v. Gärtner zu. – Pelzeln sah sich geehrt durch das Wohlwollen seines Chefs, meine Tochter fand Vergnügen an dem Umgang seiner sehr vorzüglichen Töchter, und wären nicht die Sorgen wegen der Cholera gewesen und mehrere Unpäßlichkeiten meines Schwiegersohnes, so würden sie den Sommer sehr vergnügt zugebracht haben. Aber so wie im Jahre 1813 waren auch jetzt den großen Geschicken ihre Geister vorausgegangen, und mehrere Menschen, zumal von zarterer Konstitution, fühlten vorahnend die Einflüsse des Übels, welches sich in der Atmosphäre immer weiter verbreitete. Pelzeln war überhaupt von nicht starker Natur –– eine kränkliche Jugend, eine umfassende Geistesbildung, die nur von wenigen ganz ohne Schaden des körperlichen Wohlseins erlangt wird, und eine Gewissenhaftigkeit, die ihm seine Pflichten in zu strengem Licht zeigte, trieben ihn zu außerordentlichem Fleiße in seinen Arbeiten, veranlaßten ihn, manche Nacht diesen Arbeiten aufzuopfern, untergruben allmählich eine ohnedies schwächliche Konstitution, und legten den Grund zu seinem viel zu frühen Tode, der nicht lange nach der eben geschilderten Epoche eintrat.

Eben diese deutliche Erkenntnis, wie schädlich eine zu weit getriebene geistige Anstrengung für jugendliche Körper sei, veranlaßte ihn zu der Bestimmung, daß sein Sohn, ein sehr kluges und hoffnungsvolles Kind, erst nach vollendetem sechsten Jahre zum Lernen angehalten werden dürfe. Er selbst, Pelzeln, war in seiner [277] Jugend dieser geistigen Anstrengung beinahe unterlegen, so daß sein Vater schon den Entschluß gefaßt hatte, den Sohn, trotz seiner bedeutenden Geistesanlagen, vom Studieren aufhören zu lassen. Das war dem Sohn sehr unangenehm, und die Mutter, eine kluge, sehr selbständige Frau, nahm es auf sich, trotz des Verbots des Vaters, den Sohn insgeheim seine Studien fortsetzen zu lassen – ein Wagnis, wozu ich an ihrem Platze, so contre vent et marée nicht den Mut gehabt hätte. Der Sohn studierte also insgeheim, und trat dann vor dem erstaunten und vielleicht nicht ganz erfreuten Vater mit einem glänzenden Examen auf, wurde angestellt, und durchlief seine Bahn mit großer Auszeichnung. Aber seine körperliche Kraft war geschwächt und seine Gesundheit oft erschüttert. Erst später, im männlichen Alter, schien er sich zu erholen, und als wir ihn kennen lernten, war keine Spur von früherer Kränklichkeit vorhanden. Doch leider blieb die Anlage in der Tiefe der Natur, zeigte sich schon in Prag, und wurde wahrscheinlich durch die üble Beschaffenheit der Atmosphäre in diesem unseligen Jahre wieder aufgeregt.

Dieser Ansicht gemäß wurde in diesem Sommer bei August mit dem Kennenlernen der Buchstaben an gefangen. Ich brachte ihm ein paar Schachteln mit einzeln auf kleine Kartenblättchen gedruckten Buchstaben, lehrte sie ihn kennen, wobei mich des Knaben schnelle Fassungskraft und sein glückliches Gedächtnis oft in Erstaunen setzte, und er fing an, von seiner Mutter und von mir unterrichtet, hübsch zu buchstabieren. Schon früher hatten sich jene zwei Geistesanlagen wirksam gezeigt, indem er alle Bände des Bertuchschen Bilderbuches nicht bloß durchgeschaut und sich damit unterhalten hatte – sondern jeden Gegenstand zu [278] nennen wußte, und sich genau alles merkte, was ihm seine Kindsfrau über diese Tiere aus dem Buche vorgelesen – und so zu unser aller Erstaunen ein überaus lebhaftes Interesse für Naturgeschichte entwickelte.

So war der Sommer zur Hälfte verflossen, die Seuche näherte sich Österreich von Osten her immer mehr und mehr – und je nachdem eine Person oder eine Familie dem System der Kontagiosität oder dem der Nichtkontagiosität anhing, sperrten sich jene ab, ließen alle Wäsche zu Hause waschen, weil sie bei gemeinsam gewaschener Wäsche Mitteilung der Krankheit besorgten, räucherten mit Chlor und andern Substanzen; desinfizierten sich und ihre Hausgenossen nach jedem notwendigen Ausgange, kurz, suchten ihr Heil in Isolierung – und änderten ihre ganze Nahrungsweise, indem sie durchaus kein Obst, kaum einiges Gemüse usw. genossen, dafür aber recht viel Fleisch, Wein usw. Andere blieben, überzeugt, daß alle jene Verwahrungsmittel unnütz, ja vielfältig schädlich seien, bei ihrer gewohnten Kost und Lebensweise, besonders da viele Ärzte ein Beharren beim Gewohnten, mit Vermeidung des anerkannt Schädlichen, wie der Gurken, geräucherten oder Schweinefleisches, empfahlen; auch ein ruhiges, furchtloses Gemüt als ein Hauptschutzmittel gegen eine Krankheit ansahen, bei der die Irritation des Nervensystems so wichtig und so gefährlich war. Aber es war für die meisten Menschen schwer, sich dies ruhige Gemüt zu bewahren, da die Zeitungen so viele Nachrichten von der Cholera, von ihren Progressen, ihren Verheerungen und von Schutzmitteln dagegen enthielten, auch noch überdies zahllose kleinere oder größere Broschüren erschienen, in welchen Ärzte oder andere wissenschaftlich Gebildete dem Publikum ihre Ansichten [279] mitteilten, so daß der Hauptgedanke der meisten Menschen in dieser verhängnisvollen Zeit, die Cholera, ihre Natur und Wirkung, und das Verhalten gegen sie war.

Der August war warm genug gewesen, auch die ersten Tage des Septembers blieben noch sehr angenehm. Wir bewohnten ein schon mehrmals von uns gemietetes Quartier in Guttenbrunn. Baden war ziemlich besetzt, weil unter den vielen, bei dem Anlaß der Cholera verbreiteten Meinungen sich auch diese fand, daß man in der Nähe dieser Heilquellen vor den Einflüssen der Seuche sicherer sein könnte. Da fiel plötzlich, im Gefolge eines mehrtägigen Regens und Sturmes – wie es in der Nähe des Äquinoktiums oft geschieht – eine empfindliche Kälte ein, und nun war die Losung zu dem allgemeinen Unglück gegeben. In einer kalten Nacht ließ sich aus dem regnerischen Dunkel das Ungetüm auf die Stadt Wien, und zunächst auf das Schottenviertel herab. Eine große Anzahl von Menschen erkrankte plötzlich in dieser Gegend. Die Cholera war da! Ärzte und Priester, welche man berief, wußten nicht, zu wem sie am ersten eilen sollten. Die Wägen der ersten, die Glöcklein der letzten, welche die Sterbesakramente zu den Kranken trugen, die Leichenbesorger, welche nach den Sanitätsvorschriften nicht genug eilen konnten, die Toten fortzuschaffen, und aus Furcht vor Ansteckung vielleicht manchen kaum Erkalteten aus den Armen der Seinigen rissen, kreuzten sich auf den Straßen. – Schrecken, Bestürzung, Jammer herrschten in der sonst so lebensfrohen Hauptstadt, und in diesem Schrecken und Schmerz vergrößerte die Phantasie die, an sich schon großen Übel noch um ein beträchtliches. Jeden Abend wurden uns in Baden neue Todesfälle von bekannten oder ausgezeichneten Personen erzählt, von[280] denen viele, ja oft die meisten nicht wahr, und wovon die Nachricht nur durch Mißverständnis oder aus bösem Willen verbreitet worden war. Jeden Tag sollten sich neue schreckliche Erscheinungen gezeigt haben – so z.B. alle Vögel die innere Stadt verlassen und sich aufs Glacis geflüchtet haben usw. Das Auffallendste für mich, was mir oft Stoff zu psychologischen Bemerkungen gab, war dies: daß gerade die lebenslustigsten, leichtsinnigsten Personen, die elegantesten und durch Erziehung und Bildung sonst von jedem Aberglauben, oft auch vom echten religiösen Glauben Entferntesten, solche Ammengeschichten, die schon den Stempel der Unglaublichkeit an der Stirn trugen, am ersten auffaßten und am gläubigsten nacherzählten.

Zunächst nach diesen folgten an Todesfurcht und Zagen die Reichen, die Lebemänner, diejenigen, die bloß genießend, selten nützend, allein für sich standen, und wohl füglich sagen konnten: morte me, morto tutto il mondo. Ein solcher war ein Handelsmann in Wien, der sich beim Ausbruch der Seuche ganz absperrte, mit der größten Vorsicht jede Berührung mit der Außenwelt vermied, seine Kost ganz nach den Vorschriften, welche damals häufig von Ärzten publiziert wurden, einrichtete, und eines der ersten Opfer der Cholera ward. Andere zogen sich durch Vermeidung aller vegetabilischen Nahrung und durch zu vielen Genuß von Fleisch und Wein Schlagflüsse zu. So starben viele, welche, wenn sie nicht eine so törichte Liebe zum Leben getrieben hätte, das Albernste zu versuchen, das Gefährlichste zu unternehmen, nur um den Atem eines vielleicht mühseligen Lebens innerhalb seiner Bande zu erhalten, noch lange auf Erden hätten wallen können. Wohl konnte auf sie angewendet werden, was Schlegel [281] in einem seiner Trauerspiele von einem Könige sagt: »Aus Furcht zu sterben, ist er gar gestorben!«

Man konnte mit ziemlicher Sicherheit berechnen, daß, je ruhiger und furchtloser jemand die Sache betrachtete, je weniger (wie es auch vernünftige Ärzte rieten) er sich von seiner gewohnten Lebensweise und Kost entfernte, und, wie schon oben gesagt worden, nur die längst als ungesund bekannten Speisen vermied, je weniger dem Übel Macht über diesen Menschen gegeben wurde. Dies hatte ich dreimal, denn so oft grassierte die Seuche in Wien und Österreich, Gelegenheit zu beobachten, und indem ich mich nebst meinen nächsten Liebsten nach diesen Ansichten verhielt, blieben wir auch mit Gottes Beistand verschont von diesem Übel. Aber ich sah und erfuhr auch aus öffentlichen Blättern, wo die Zahl der von der Seuche Ergriffenen sowie der daran Verstorbenen angegeben, und das Verhältnis dieser Personen zu der ganzen Bevölkerung berechnet war, daß doch kaum der hundert-oder hundertundfünfzigste Mensch erkrankte, von diesen wieder viele genasen, und überhaupt die Masse der Hingerafften nicht so groß gewesen war. So dachte ich, daß ich ja nicht gerade dieser Hundert- oder Hundertundfünfzigste sein müßte; ferner, daß nicht durchaus alle Erkrankten sterben müßten; endlich, daß man bei einem Alter von sechzig Jahren sich jedenfalls den Tod gegenwärtig halten müsse, daß dieser, wenn er durch die Seuche beschleunigt würde, »fürs künftige Sterben abgerechnet werde«, endlich, daß, wie schmerzhaft auch die Choleraleiden sein mochten, nach dem, was man davon erzählte, sie doch im Vergleich mit andern langwierigen Krankheitszuständen nur kurz währten, und so fand ich denn keine Ursache, mich so sehr davor zu fürchten. Vielmehr[282] blieben wir, Pichler und ich, ganz ruhig und befanden uns ziemlich wohl dabei, während so manches uns befreundete Haus hart mitgenommen wurde und nicht selten mehrere Personen in einer Familie der Seuche unterlagen.

Viel mochten die, damals noch ganz unklaren und darum oft verkehrten Ansichten von der wahren, noch bis jetzt nicht ganz ermittelten Natur dieser Seuche zu den vielen Sterbefällen beitragen. Niemand kannte das Übel aus frühern Erfahrungen. Kein Arzt hatte es bis jetzt in Deutschland behandelt. Hypothesen und luftige Systeme wurden in Unzahl erbaut, das Verfahren danach eingerichtet, und viele starben wegen die ser Unkenntnis an verkehrter Behandlung. Einer unserer ausgezeichnetsten Ärzte sagte mir im folgenden Jahre, als die Cholera wieder erschien: »Hätte ich voriges Jahr gewußt, was ich jetzt weiß, so wäre mir mancher Kranke nicht gestorben.« So wurde denn im zweiten Jahre vieles als schädlich erkannt, was früher vorgeschrieben und allgemein angenommen worden war. Was mußten die ängstlichen Charaktere nicht durch das Absperrungssystem leiden, wie schrecklich marterte man die Kranken mit Bürsten und Frottieren, verschärfte dadurch ganz umsonst die ohnehin schweren Leiden derselben, und erhöhte durch solche grauenhafte Apparate und Methoden die Angst der noch nicht Angesteckten um ein großes!

Unter allen diesen Befürchtungen, Schrecken und Trauer kam die Zeit des Herbstes, und wir kehrten nach Wien zurück, wo wir denn freilich manchen Bekannten nicht mehr und manche befreundete Familie in tiefer Trauer über geliebte Verstorbene fanden. Meine Kinder traf ich, Gottlob, bis auf Pelzeln selbst, [283] sehr wohl. Dieser aber hatte, wie schon erwähnt, den ganzen Sommer über sich nicht ganz gesund gefühlt, und war es auch im Anfang des Oktobers nicht. Dafür überraschte mich sein Knabe mit einer völlig ausgebildeten Fertigkeit im Lesen nicht bloß der deutschen, sondern auch lateinischen Druckschrift, worin er unter Anleitung seiner Mutter unglaubliche Fortschritte ge macht, und einen Beweis für die Ansicht, welche auch die seines Vaters war, geliefert hatte, daß man bei der Methode, die Kinder sich ihrer ersten Lebensjahre ungestört erfreuen zu lassen, und mit dem Lernen später anzufangen, nichts versäumt, indem das entwickeltere Kind leichter begreift und behält, was es zu lernen hat. Auch sammelt ein gutbegabtes Kind seine Kenntnisse ja nicht bloß aus Lehrbüchern und eigentlichem Unterricht, im Hause gebildeter Eltern lernt es aus jedem Gespräch, aus jedem Buch, das man ihm zur Unterhaltung gibt, aus jedem Spiel, womit man es erheitert. –

Der Winter, welcher auf diesen Herbst folgte, war sehr trüb. Wahrscheinlich hatte dieselbe Beschaffenheit der Luft, welche die Erscheinungen der Cholera hervorgebracht, und beinahe auf jeden Menschen, hier stärker, dort schwächer gewirkt hatte, auch auf den ohnehin schwächlichen und reizbaren Organismus meines Schwiegersohnes schädlich gewirkt. Wie denn auch das ältere Mädchen von einer Art von Cholera lange nachdem diese in Wien aufgehört hatte, ergriffen, aber glücklich wieder hergestellt wurde. Den ganzen Sommer über hatte Pelzeln gekränkelt, bald rheumatische, bald nervöse Affektionen gehabt, und so dauerte dieser Zustand, auch nachdem die Seuche sich schon größtenteils entfernt und nach anderen Gegenden gewendet hatte, zu meiner Tochter großer Sorge fort. Hämorrhoidalleiden, [284] wie sie bei Geschäftsmännern, die viel zu sitzen und ihren Geist anzustrengen bemüßigt sind, nur zu häufig vorkommen, zeigten sich. Seine Kräfte sanken sichtbar. Ums neue Jahr herum mußte er sich zu Bette legen. Wohl stand er zuweilen wieder auf, ging oder fuhr auf die nahe Bastei spazieren, aber die Unheilbarkeit des Übels, das in ihm wucherte, wurde seinen Umgebungen und seinen Ärzten immer deutlicher. Er selbst litt die großen Schmerzen, welche mit seiner Krankheit verbunden waren, mit wahrhaft stoischer Kraft und christlicher Geduld, welche ihm nie die Klarheit des Geistes und die dankbare Empfänglichkeit für die Beweise von Liebe, Anhänglichkeit und Treue benahm, die er von seinen Freunden, seinen Umgebungen, am meisten aber von seiner Frau erhielt, die ihn mit beispielloser Liebe und Aufopferung pflegte, und kaum ihrer Dienerschaft die untergeordneten Leistungen überließ. Wie sehr und dringend ich sowohl als ihre Freundinnen sie ermahnten, beschworen, eine Krankenwärterin anzunehmen, teils um sie am Tage zu überheben, teils ihr des Nachts einige Ruhe zu vermitteln – alle unsere Bemühungen scheiterten an ihrem festen Willen und der Vorstellung, daß niemand ihrem Gemahle die nötige Pflege so gut und so zu seiner Zufriedenheit leisten würde, als sie selbst, und an ihrer unendlichen Liebe zu ihm, die ihr jedes Opfer, selbst das ihrer Jugendkraft, ihrer Gesundheit, ihres so nötigen Schlafes leicht machte. So leistete sie ihm allein fast alles, wessen er bedurfte, durch drittehalb Monate, und erregte in uns allen große Besorgnisse für ihre eigene Gesundheit. Am 23. März 1832 machte endlich ein sanfter Tod seinen Leiden, aber auch zu unser aller Schmerz einer sehr glücklichen Ehe ein Ende, und meine [285] Tochter blieb als Witwe mit drei unversorgten Kindern zurück, wovon das älteste sieben, das jüngste anderthalb Jahre alt war.

Es wurde unter uns sogleich beschlossen, daß die Tochter mit den Kindern alsbald ihre Wohnung in der Stadt aufgeben und zu uns in die Alservorstadt ziehen sollte. Es fiel nicht schwer, ihr Quartier bald zu vermieten, und sie indessen, wenngleich etwas enge, in dem unsrigen für den Sommer mit unterzubringen. Eine gemeinsame werte Bekannte hatte die, an die unsrige stoßende Wohnung seit drei Jahren inne, sie war freundlich und zartsinnig genug, um einzusehen, daß wir derselben bedürfen werden, und kündete sie deshalb selbst auf. So war denn dieser Verlegenheit auch abgeholfen.

Wie der Gemütsstand meiner armen Tochter war, ist wohl unnötig zu schildern. Aber sie faßte sich und beherrschte ihren unsäglichen Schmerz aus Liebe zu ihren Kindern und zu uns. Eine sehr ernste, ich möchte sagen heilige Ansicht von ihren Pflichten bildete sich nun in ihrem Geiste. Die Kinder erschienen ihr nicht sowohl als ihr Eigentum, an welches sie als Mutter wenigstens das halbe Recht hatte; sie betrachtete sie bloß als das Vermächtnis des über alles geliebten Gatten und daher als ein anvertrautes kostbares Pfand, von dessen guter Verwaltung sie dem Geliebten einst Rechenschaft und Verantwortung schuldig sei. Dies machte ihr die Pflege der Kinder zu einer noch heiligeren, aber auch noch ängstlicher überwachten und erfüllten Pflicht, und erzeugte manche Erörterungen zwischen ihr und uns, ihren Eltern, weil wir über diesen hochwichtigen Punkt ihre Ansicht wenigstens nicht so uneingeschränkt teilen, und daher manche Maßregel, [286] die uns zu ängstlich schien, nicht billigen konnten. Jetzt, da ich dieses schreibe, sind die Kinder mehr als halberwachsen, der Sohn hat bereits die Gymnasialstudien mit großer Auszeichnung und Anerkennung vollendet; die Mädchen treten ins jungfräuliche Alter, sie sind herzlich gut, geistvoll, unterrichtet (obwohl sich ihr Kunstdilettantismus auf Klavierspielen und Tanzen bisher beschränkt), vor allem aber sind alle drei wahrhaft fromm, wohlgebildet und gesund. Sie haben jedoch sehr reizbare Konstitutionen, und obwohl nur der Knabe ernsthaft krank gewesen ist, so zeigen sich doch an allen die Folgen dieser Reizbarkeit bei vielen Gelegenheiten. Es bleibt aber problematisch, ob diese Anlage bei den Kindern eines kränklichen, früh verstorbenen Vaters, sich selbst überlassen, sich ebenso ausgebildet hätte, oder nicht gerade durch die allzu sorgsame Bewachung noch mehr entwickelt worden sei?


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Gegen den Herbst dieses Jahres zeigten sich abermals die Vorboten der furchtbaren Seuche, aber man rüstete sich, von den früheren Erfahrungen belehrt und gewitzigt, nicht mehr mit so großer Angst und mit so mannigfachen und unpassenden Waffen und Schutzmitteln dagegen als voriges Jahr. Die Absperrungs- und Desinfektionsmaßregeln der Furchtsamen unterblieben, man sah die Seuche als das, was sie war, als eine bittere Schickung, vielleicht eine Züchtigung, die Gott über die Menschheit gesandt, an; man ergab sich darein, man litt wohl, aber man litt mit mehr Ruhe, und, weil die Übertreibungen der Furcht und Selbsthilfe aufhörten, weit weniger als im vorigen Jahr. Als ein Beweis dieser größern Ruhe war es wohl anzusehen, daß [287] die Versammlung der Naturforscher, welche im vergangenen Jahr wegen der Annäherung der Seuche in Wien, wie es früher bestimmt gewesen war, nicht abgehalten wurde, nun ohne Anstand stattfand und zahlreich besucht wurde.

Wir waren damals samt Tochter und Enkeln auch wieder nach Baden gezogen und wohnten in derselben Wohnung am Josefsplatz, die wir im Jahre 1829 nach Pichlers schwerer Krankheit innegehabt hatten, und in der ich fast die ganze Zeit mich nie recht wohl befand, aber die Ursache dieses Übelbefindens in den Nachwirkungen jenes traurigen Ereignisses suchte. Dies Jahr herrschte nun die Cholera in Baden, und sie ergriff mich, zwar nicht mit ihrer ganzen Macht, aber Baron Türkheim, der zu meiner großen Beruhigung seine Ferien in Baden fast zugleich mit uns zubrachte, nannte mein Übel eine Cholerine, und es war teils schmerzhaft, teils abspannend und nervenangreifend genug, um für eine solche Abart der mächtigen Seuche zu gelten. Durch mehr als acht Tage lag ich zu Bette, und eine große Reizbarkeit sowie eine anhaltende Schwäche bewährten sich noch lange, nachdem das Übel vorüber war, als das echte Gefolge der Cholera.

Damals erkrankten und starben viele Menschen in Baden an dieser Seuche, und auch hier machte sich die Bemerkung ihrer rätselhaften Natur geltend; indem einerseits die in manchen Häusern oder Häuserbezirken überaus häufig vorkommenden Sterbefälle auf Kontagion schließen machten, und andererseits Beispiele genug vorlagen, wo die treueste Pflege, die stete und unbeschränkte Berührung der Kranken, ihren Umgebungen nicht den mindesten Krankheitsstoff mitteilte. Auch in diesem Jahre, obwohl jene übermäßigen Ängstlichkeiten [288] und unüberdachten, ich möchte sagen knechtischen Nachahmungen von anderer Leute Verfahren nicht mehr so häufig und so heftig auftraten, gab es doch gewisse Mittel und Mittelchen, die eins dem andern anriet, und auch hier und da ein Beispiel für deren Nützlichkeit anführen konnte, und die dann eifrig nachgebraucht wurden. Ich muß gestehen, daß während dieser zwei Jahre sich mir die Vorstellung sehr bestimmt aufdrängte, daß der Mensch nicht bloß ein geselliges, sondern auch ein instinktmäßig nachahmendes Geschöpf ist, und daß dieser Nachahmungstrieb so wie die geheimnisvollen und noch unenträtselten Triebe und Wirkungen der Sympathie aus weisen Absichten vom Schöpfer in die menschliche Brust gelegt worden sind, um an ihren feinen Fäden die Menschen auf die wenigst gewaltsamste und doch ausgiebigste Art zur Kultur, zu Kenntnissen und zur Sittigung zu führen. Seitdem habe ich noch viel über diese Erscheinungen des Nachahmungstriebes und die oft unwiderstehliche Kraft der Sympathie nachgedacht, und wenn es meine Zeit und Stimmung erlauben, will ich diese Gedanken einst niederschreiben.

Damals herrschten besonders zwei Mittel, und wurden häufig empfohlen und gebraucht: ein gewisses Pflaster, von dem in den Apotheken trotz allen Fleißes nicht genug für den ungeheuren Bedarf verfertigt und gestrichen werden konnte, und dann ein Anhängsel, aus einem Kupfer- und einem Zinkblättchen zusammengelötet, das man auf der bloßen Brust tragen sollte. Vor dem Pflaster, das auf den Magen gelegt wurde, fühlte ich einige Scheu, weil mir dessen Bestandteile unbekannt waren, aber jene Blättchen, die mir galvanischer Art zu sein schienen, verschaffte ich mir, und gab sie [289] auch meinen Hausgenossen zu tragen, da sie mir ein sonst sehr geschickter Arzt geraten hatte. Bei dem Pflaster rechtfertigte sich meine Furcht bald dadurch, daß mehrere Personen entzündliche Übel im Magen oder Unterleib bekamen, aber auch die Blättchen schaffte unser Freund und Arzt B. Türkheim sogleich ab, als ich sie ihm zeigte, indem er äußerte, daß die natürliche Feuchtigkeit der Ausdünstung bald das Kupfer angreifen und Grünspan entwickeln würde; die Blättchen wurden weggeworfen, und mit ihnen der letzte Rest der Verwahrungs- und Furchtsamkeitsmittel gegen die Cholera.


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Während dies Ungetüm die Bevölkerung von Wien mit seiner Umgegend und Baden noch in seinen unsichtbaren Krallen hielt, zeigten sich eben wie im vergangenen Jahr, nur mit weniger Intensität, auffallende Erscheinungen am Himmel, vorzüglich abends. Weitverbreitete, flammend helle Röten, deren eine einst so spät nach Sonnenuntergang und so stark zu sehen war, daß einige sie für ein Nordlicht, andere für eine Feuersbrunst, für einen Waldbrand hielten, bis sich aus Himmelsgegend und spätern Nachrichten die Nichtigkeit dieser Vermutungen nachwiesen.

Allmählich ließen alle diese Symptome nach, und ein anderes Ereignis beschäftigte in Wien und Baden die Gemüter: die schon im vorigen Jahr angekündigte Versammlung der Naturforscher, welche in der literarischen, aber auch in der geselligen, eleganten und uneleganten Welt Epoche machte. Aber nicht bloß Naturforscher und Ärzte hatten sich in den Katalog der Versammelten einschreiben lassen. Man fand die Namen [290] von Geschichtforschern, Geographen, Dichtern, kurz von vielen Literatoren, die nicht unmittelbar jenem Fache angehörten, in dem Verzeichnis, wunderte sich auch wohl darüber, und dachte zuletzt, daß jedermann, der sich einer höhern Bildung erfreuen konnte, sich doch auch gern an dem Umgang mit ausgezeichneten Geistern unserer und fremder Länder, und mitunter auch an den Festen und Genüssen, die ihnen in Wien mit wahrhaft kaiserlicher Munifizenz bereitet wurden, erfreuen mochte.

Auch bei dieser – wie leider bei schon so mancher Gelegenheit – begegnet die Erinnerung den Schatten verschwundener Freunde – wie bei Young den Geistern geschiedener Freuden (the ghosts of my departed joys). – Die Koryphäen, die Repräsentanten der österreichischen Naturkundigen: Jacquin und Littrow, welche damals an der Spitze dieser Versammlung standen, ihre Zusammenkünfte, ihre gemeinschaftlichen Arbeiten, ihre Ergötzlichkeiten regelten – sind seitdem – es ist freilich schon eine Reihe von Jahren darüber hingeschwunden – in die bessere Welt gegangen, und der Erinnerung an jene fröhlichen, lebhaften Tage im September 1832 mischt sich ein wehmütiges Gefühl bei.

Am 23. September sollten die Naturkundigen – die fremden Gäste sowohl als die Einheimischen, die sich unter allerlei Titeln an sie schlossen, nach Baden kommen, um dort die Gegend, die Heilquellen, und was von geschichtlichen Notizen über diesen Ort existierte, den schon die Römer gekannt, und Aquae comagenae genannt hatten, kennen zu lernen. Von unserm Kaiserhofe wurde eine hinreichende Anzahl größerer und kleinerer Eilwagen ihnen zur Verfügung gestellt, und in Baden erwarteten Einwohner und Badegäste, Ärzte und [291] Nichtärzte sie mit Neugier. Im Redoutensaal war ihnen ein stattliches Diner bereitet, an dem auch die Bewohner Badens, zu 2 fl. C.M. die Person, Anteil nehmen konnten, und alles harrte ihrer Ankunft, welche uns zwischen 11 und 12 Uhr verheißen war. Es war die Zeit des Hochamts, und in der sehr altertümlichen Pfarrkirche eine Menge Menschen zur Andacht versammelt, während draußen auf dem Platz, in den Straßen vor der Stadt, überall, wo der Wagenzug vorbeikommen mußte, eine noch viel größere Menge sich herumtrieb. Die Messe war beinahe zu Ende, als auf einmal das herannahende Rollen vieler Wagen sich hören ließ – und ein Geflüster: Sie sind's! sie kommen! sich murmelnd unter den Anwesenden verbreitete. – Nun lief alles aus der Kirche – wo zum Glück schon das letzte Evangelium gelesen wurde, und es erschien der endlose Zug von Wagen, in welchen man nebst vielen gänzlich Unbekannten, doch auch einige befreundete Wiener erblickte.

Auch die Zuseher eilten nach Hause – man kleidete sich um, man dachte daran, den berühmten Gästen bei ihren Spaziergängen durch Baden zu begegnen. Wirklich machten sie auch, von den Badeärzten bewillkommt und begleitet, die Runde bei den Bädern, prüften deren mineralischen Gehalt, hörten Reden an, die bei dieser Gelegenheit gehalten wurden, und begaben sich dann nach der Weilburg, um dem Erzherzog Karl ihre Aufwartung zu machen, der sie mit seiner gewohnten Güte aufnahm. Wir wohnten damals am Josefsplatze und sahen dann die Herren in einer langen Reihe paarweise in schwarzen Fracks vorüberdefilieren; es sah bald aus wie die Begleitung eines stattlichen Leichenzuges.

[292] Mittlerweile hatte Baron Jacquin, der um meinen Aufenthalt in Baden wußte, und mit dem ich seit meiner Kindheit bekannt war, obwohl wir uns, wie das in einer großen Stadt leicht geschieht, oft lange nicht sahen, zu uns geschickt, und meinen Mann und mich zum Diner einladen lassen. Pichler mochte nicht gehen, ihn genierte das; daher ersuchte ich die Baronin Doblhof), mich gütigst abzuholen, und unter ihrem Schirme als Herrschaft von Weikersdorf und eine der ersten Notabilitäten von Baden zum Diner in der Redoute mitzunehmen. Das geschah denn auch, und wir traten ein in den sehr großen Saal, in welchem seiner Breite nach vier lange Tafeln gedeckt waren, an denen bereits viele Mitglieder der Versammlung Platz genommen hatten. Frau v. Doblhof führte mich zu meinem alten Jugendbekannten Baron Jacquin, der mich sehr freundlich begrüßte, und mir einen Platz an einer andern Tafel anwies, wo ich zu meinem Vergnügen mehrere Bekannte, B. Hammer, Graf Ferdinand Colloredo, Dr. Jäger, Pastor Lumnitzer, den ich in Bucsan gesehen hatte, und noch andere traf, mit denen mich der Augenblick bekannt machte.

Die Tafel war gut, sehr reichlich, aber wie es denn bei so vielen Gästen nicht anders möglich war, nicht eben sehr elegant. Das vorzüglichste war die vergnügte Stimmung der Gäste. Man war sehr fröhlich, selbst zuweilen laut, doch stets innerhalb den Grenzen des feinsten Anstandes. Es wurden Gesundheiten ausgebracht, auf den k.k. Hof, die Versammlung, manche einzelne Gäste – sogar meiner Wenigkeit ward gedacht, was mich vor so vielen Menschen in nicht geringe Verlegenheit setzte. Endlich erhob sich Graf F. Colloredo und brachte dem »Sieger von Aspern und[293] seinem Sänger« einen Toast aus, in den alles jubelnd einstimmte, und nur ich bemerkte still in meinem Herzen, daß der 23. September Körners Geburtstag war. Während wir noch saßen, wurden mir die Prof. Dr. Froriep aus Weimar, Burdach aus Königsberg, Harleß aus Bonn und Zeune aus Berlin vorgestellt, und es freute mich sehr, solche ausgezeichnete Menschen persönlich kennen zu lernen. Mit Froriep dauerte das Gespräch am längsten und lebhaftesten, denn unsere Erinnerungen begegneten sich in dem Buchhändler Bertuch (Sohn) in Weimar, den ich in der Kongreßzeit in Wien kennen und schätzen gelernt hatte, und der, so viel ich weiß, mit Froriep verwandt ist. Professor Harleß aber sprach mir von meiner Freundin der Gräfin Zay, deren schöne Kenntnisse in der Arzneikunde er rühmend anerkannte, und mir auch versprach, ihr ein Buch zu senden, worin sie nebst andern Frauen, welche sich um die Naturwissenschaft verdient gemacht, angeführt war. Das Buch erhielt ich auch später und übergab es meiner Freundin.

Professor Burdach, mit dem ich indes nur während der Bewegung, die nach dem Aufstehen von der Tafel entstand, wo ich an B. Jacquins Arme mit den übrigen in einen andern Saal geführt wurde, um den Kaffee zu nehmen, flüchtige Worte gesprochen, war mir darum wichtig, weil er es war, der in dieser Versammlung, und wohl schon früher, eine alte Hypothese, durch Klopfen an der Brust sich von dem Zustand der Lungen zu überzeugen, wieder ans Licht gezogen und zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gemacht hatte. Diese Hypothese aber war in meiner Kindheit und ersten Jugend von einem hiesigen, übrigens ganz unbedeutenden Arzt, Dr. Auenbrugger, zuerst vorgebracht, [294] damals aber von Ärzten und Laien als eine unhaltbare Chimäre verlacht worden. Und siehe da! Nach mehr als einem Jahrhundert kommt unser alter Landsmann aus dem Staube der Vergessenheit zu medizinischen Ehren, und das Horchrohr spielt seitdem in der Hand unserer Ärzte eine bedeutende Rolle. Mir aber (es braucht sich niemand an meiner Ansicht zu ärgern, denn ich verstehe nichts von der Sache und urteile bloß nach dem gesunden Menschenverstand) erscheint die Sache noch stets, wie jenen gescheiten Männern vor 50 und 60 Jahren, als eine Charlatanerie.

Abends kehrten die fremden Gäste in demselben langen Wagenzuge, wie sie gekommen waren, unter Fackelschein wieder nach Wien zurück, und der gute Großvater Pichler machte sich die einzige Freude, die ihm der heutige glänzende Tag in Baden gewährte, und führte seine Enkel auf den Platz hinter der Redoute, wo die Wagen standen, um die Fremden abfahren zu sehen. Es war schon ziemlich dämmerig geworden, und die Sonne schon eine Weile verschwunden. Nachdem unsere Lieben wiedergekehrt waren, gingen wir, Pichler und ich, nach der in Baden eingeführten Sitte, zu Pereira, wo viele, die heute den Zug gesehen, oder beim Diner gewesen, gegenwärtig waren, und sich nun die Freuden oder andere Ereignisse des Tages mitteilten. Ich erzählte Frau v. Pereira von dem Toast, der unserm lieben Körner an seinem Geburtstage war gebracht worden, und sie bemerkte, daß wohl außer mir und ihr niemand sonst an Körners Geburtstag gedacht haben werde – desto herzlicher war gewiß unsere Erinnerung. Mit Verwunderung aber vernahm ich diesen Abend, daß ich mit manchem der hier Gegenwärtigen heute Mittags nicht bloß in einem Saale, sondern [295] an einer Tafel gespeiset, aber der Länge des Tisches und der vielen Gäste wegen meiner guten Bekannten gar nicht gewahr geworden war.

Einige Tage nach diesem Fest in Baden ließ der Hof den Naturforschern ein glänzendes Fest in Laxenburg bereiten. Unter reichgeschmückten, mit Blumen gezierten Zelten waren die Tafeln gedeckt; Fürst Metternich präsidierte an der vorzüglichsten derselben, und machte die Honneurs des Tages mit ebenso viel Würde als Anmut, wie man erzählte. Die Bewirtung war kaiserlich, und die Kutscher, welche die Gäste nach Laxenburg und wieder zurück brachten, machten den Wiener Witz, daß sie die Geleerten (Gelehrten) hinaus, und die Gefüllten wieder zurück gebracht hätten. Häufig auch wurden diese vom Volke, aus Unverstand, statt Naturforscher Naturmenschen genannt.

Wie wir nach Wien zurückkehrten, fanden wir noch einige derselben, die sich verspätet hatten, so den Professor Zeune, Herausgeber des Nibelungenliedes und Direktor der Blindenanstalt in Berlin, der unter der Rubrik eines Geographen sich der Versammlung angeschlossen hatte. Er war ein genauer Bekannter unsers vieljährigen Freundes, des Herrn O. Regierungsrates Streckfuß, und schon als solcher uns herzlich willkommen. Ich mußte ihm auch alle Erinnerungen an diesen, die sich noch in unserem Hause erhalten hatten, aufweisen, und er saß gern an den Stellen, wo jener, wie wir ihm sagten, zu sitzen gepflegt hatte. – So feierten wir das Andenken des längst Entrissenen in wehmütiger Freude.

Die Cholera hatte sich indessen auch aus Wien verloren. Meine Gesundheit war vollkommen hergestellt, und der Winter versprach, sich angenehm zu gestalten.

[296] Schon früher hatte Kurländer (Franz) uns mit einem jungen Italiener, dem Dr. B. Bolza, bekannt gemacht, der sich mit Literatur überhaupt und besonders mit Sprachforschung beschäftigte. Wie viele schöne Geister in Wien war auch er ein Beamter der Hofkammer, und es ist wirklich sonderbar, daß das Finanzfach sich so leicht mit den Musen verbinden lassen soll, da es doch etwas so Trockenes und gar Prosaisches an sich hat.

Dr. Bolza zeigte sich auch als Dichter bei verschiedenen Anlässen, aber es scheint, daß sein eigentliches Fach die Philologie ist, auch war er mit aller neuern Literatur und vor allem mit der Literatur seines Vaterlandes wohl bekannt, wodurch ich die sehr willkommene Gelegenheit erhielt, ebenfalls die besten neuesten Erscheinungen dieses Landes kennen zu lernen. Einige Zeit nachher fing ein junger Dichter, der in jene früher bemerkte Reihe der »Ärzte und Poeten« gehörte, Dr. Frankl an, in Wien einiges Aufsehen zu machen. Er war zuerst mit seinem Habsburg-Liede aufgetreten, worin er die merkwürdigsten Episoden aus der Geschichte dieses Regentenhauses in sehr zierlichen Versen besang. Die Gedichte waren unstreitig recht hübsch – nur schienen sie mir, so viel ich nämlich davon gehört hatte, jenes warmen Hauches, jenes innerlichen Lebensgefühles zu entbehren, das z.B. Collins Landwehr-Lieder, Körners oder Schenkendorfs patriotische Dichtungen beseelt. Bei näherer Bekanntschaft mit dem Dichter zeigte sich auch wohl hier und da die Ursache dieser kälteren Ruhe, indem seine Ansichten als Israelit und als Anhänger der modernen Philosophie, sowie überhaupt der modernen Lebensauffassung, sich mit einem warmen Durchdrungensein von echt österreichischer Gesinnung und einem, unsern heiligsten Gefühlen gläubigen [297] Sichhingeben nicht wohl vertrugen. Sein Kolumbus und mehrere kleinere Gedichte, die er seitdem herausgegeben hat, und unter welchen sich auch die »Sagen aus dem Morgenlande«, welche er so gütig war, mir zu widmen, befinden, vor allem aber sein, bis jetzt noch nicht vollendetes Heldengedicht: »Juan d'Austria«, scheinen mir viel gelungenere Arbeiten. Bei B. Hammer, bei uns und in mehreren Häusern unserer Bekannten eingeführt, wurde er bald heimisch in unserm Kreise und wohl war nicht leicht in einer von diesen Familien ein kleines Fest, eine feierlichere Versammlung, wozu Frankl nicht wäre gebeten worden. Oft auch trug er durch das Vorlesen seiner eigenen oder auch fremder Gedichte die eigentlichen Kosten einer solchen Versammlung, unterhielt und erheiterte sie durch seine Talente.

Im Sommer zogen wir wieder nach Baden, wo nach dem Tode des vorigen Badearztes, des geschickten und wohlverdienten Dr. Beck, ein ganz junger Mann, Dr. Habel, dessen Stelle erhalten hatte. Eine Krankheit meiner Köchin, die sich durchaus nur von diesem behandeln lassen wollte – ein Wunsch, dem ich bei meinen Leuten mich nie widersetzen mochte, weil das Vertrauen eine Frucht der eigenen Überzeugung ist, wogegen sich keine Autorität geltend machen darf – verschaffte uns dieses Arztes nähere Bekanntschaft, und ich fand nachher vielfältig Gelegenheit, mich dieser zufälligen Veranlassung zu erfreuen. Habel wurde bald einheimisch in unserm Hause sowohl als in dem Kreise unserer Badener Sozietät. Sein gebildeter Geist, seine Bekanntschaft mit der neuen Literatur in unserer und den fremden Sprachen, sein feines Betragen, und ein herzliches Entgegenkommen machte ihn bald uns allen [298] wert, und fügte zu den Annehmlichkeiten, die uns der Badener Aufenthalt jährlich gewährte, auch noch das Vergnügen und die Beruhigung, diesen schätzbaren Freund und geschickten Arzt dort zu finden, was besonders in der letzten Beziehung um der Kinder willen sehr vielen Wert hatte, wie sich in ein paar Jahren später erprobte.

Im Winter dieses Jahres, in dem mein häusliches Leben übrigens so wie das öffentliche still und gewöhnlich, ohne merkwürdige Ereignisse verfloß, war eine sehr interessante Fremde, Mrs. Jameson, in Wien eingetroffen, welche durch ihre Schriften: »Shakespeares Weibliche Charaktere«, »Memoiren berühmter weiblicher Souveräne« und andere Werke sich einen bedeutenden Namen in der europäischen Literatur bereits erworben hatte. Ich lernte sie im Hause des amerikanischen Konsuls, Herrn Schwarz, kennen, dessen Bekanntschaft ich selbst ein oder zwei Jahre früher bei Dr. von Bischoff gemacht hatte. Mrs. Jameson war nicht mehr ganz jung – sie mochte in den Dreißigen stehen; ihre Züge waren nicht eigentlich schön zu nennen, ihr Wuchs eher zu klein und zu voll; – dennoch gaben ein blendend weißer Teint, ein Ausdruck von unverkennbarer Güte und Milde, der, verbunden mit einem lebhaften Geiste, aus ihren Augen, ihren Mienen, ihrem ganzen Wesen sprach, ihrer Gestalt so viel Anziehendes, daß man sie mit Recht für eine hübsche Frau erklären konnte. Als ich sie das erstemal sah, erhoben ein Anzug von schwarzem Samt, eine einfache Perlenschnur um den blendend weißen Nacken, ein niedliches Blondenhäubchen auf den, etwas zu stark blonden Locken noch die natürliche Wohlgestalt, und wenn man sie sprechen, wenn man sie mit ebenso viel Bescheidenheit als Kenntnis, [299] mit ebenso viel Geist als Milde sich äußern hörte, mußte man sie lieb gewinnen, und das war auch der Fall beinahe mit allen Personen, die hier in nähere Beziehungen zu ihr kamen.

Sie war in Begleitung einer Freundin, der Schwiegertochter des hochberühmten Goethe, die selbst eine sehr geistreiche und beachtenswerte Frau war, nach Wien gekommen. Mrs. Jameson hatte in Weimar bei Frau v. Goethe gelebt, sie waren miteinander hierher gereist und wohnten zusammen.

Im Äußern kamen mir diese zwei Frauen sehr verschieden vor. Frau v. Goethe mochte älter sein als ihre Freundin, ihre Gestalt war durchaus nicht angenehm, obwohl ihre Züge geistvoll, ihr Gespräch lebhaft und bedeutend waren, und ihre Beziehungen zu ihrem berühmten Schwiegervater, die Erziehung, welche sie genossen, ihr Aufenthalt in Weimar usw. ihren Geist vielseitig ausgebildet hatten. Dieser Vorzüge war sie sich sehr wohl bewußt, sie suchte sie geltend zu machen und von Männern bemerkt zu werden, was ihr auch ziemlich gelang. In meinen Augen aber gewann neben dieser Frau, die sich viel zu auffallend und zu jugendlich für ihre Gestalt kleidete, ihre jüngere Freundin unendlich durch ihren einfachen aber passenden Anzug und durch ihr anspruchsloses Benehmen.

Mrs. Jameson besuchte mich öfters und ich sie. – Nur daß sie in mir ferneren Vorstädten (Leopoldstadt, hinter dem Theresiano) wohnte, hinderte mich, sie so oft zu sehen, als ich wohl wünschte. Auch daß wir beide nur in einem uns fremden Idiom, im französischen nämlich, uns unsere Gedanken mitteilen konnten – da Mrs. Jameson Deutsch verstand, aber nicht sprach, und ich ebenso Englisch las, aber es nicht sprechen konnte[300] – stand oft störend wie eine Scheidewand zwischen unsern Geistern. Nie fühlt man wohl drückender, wie wenig ausreichend eine solche Bekanntschaft mit einer fremden Sprache ist, die wohl für den gesellschaftlichen, oberflächlichen Verkehr genügt, als wenn man dann über tiefergehende Ideen, über innerliche Zustände oder Vorgänge sprechen und gern von einer verwandten Seele verstanden sein möchte. Dies hätten wir nun beide gewünscht und beide fühlten wir uns durch den Mangel an Geläufigkeit in dem uns fremden Sprachmedium gehemmt. Alles, was ich an Mrs. Jameson bemerken und beurteilen konnte, flößte mir Achtung für ihren Charakter ein, die kindliche Liebe für ihren Vater, die hingebende Freundschaft für Frau von Goethe, der sie in ihrem vielfältigen Kranksein treulich beistand und sie liebevoll pflegte; endlich der Geist, der aus ihren Schriften sprach, und der nur Menschenfreundlichkeit, Milde, versöhnende Güte atmete, so z.B. aus ihren »weiblichen Charakteren Shakespeares«, wo sie sogar an Lady Macbeth noch einen milden Zug fand, und die Untaten, welche sie beging, mit einer zu leidenschaftlichen Liebe für ihren Gemahl entschuldigte, dessen ungemessenen Ehrgeiz sie kannte und zu befriedigen beflissen war.

In einem andern ihrer Werke: »Über die weiblichen Souveräne«, fand ich so viele mir zusagende und ganz mir aus der Seele geschriebene Ansichten und Urteile, daß ich im Innersten mich dieser Übereinstimmung freute. Bei ihr lernte ich auch einen unserer jetzigen ausgezeichneten Dichter kennen. Ich war zu ihr und Frau v. Goethe gebeten, um ein neues Stück Herrn von Bauernfelds, »Fortunat«, von ihm lesen zu hören, was denn auch mit vielem und nicht bloß höflichem Beifall [301] geschah. Es hatte wirklich bedeutende Schönheiten, ich erkannte diese gewiß von Herzen; im ganzen aber war der Eindruck nicht sehr tief, vermutlich weil das Märchenhafte des Inhalts, indem das reinmenschliche Interesse sich durch die zauberhafte Einwirkung höherer, unberechenbarer Motive verflüchtigt, mich abkühlte. Übrigens fand ich es seinem Gange und tiefern Sinn nach sehr ähnlich Grillparzers Stücke: »Der Traum ein Leben«, das nicht lange vorher zuerst auf der Bühne erschienen, aber, wie man sagte, eine ältere Arbeit des Verfassers noch aus der Zeit seiner Sappho war. Das Grillparzersche Stück hatte viel Aufsehen gemacht und allgemeinen Beifall gefunden, weit größern als alles, was dieser Dichter seit der »Sappho« und dann wieder nach diesem »Traum« noch zur Aufführung hatte bringen lassen, und so ist die Vermutung wohl nicht unbegründet, daß es noch ein Produkt aus seiner jugendfrischen Periode sei, als er mit Jünglingsmute zu Italien sprach, das er bereisen wollte:


und schaff' in stolzer Ruh',

Was jung soll sein, wie ich es bin,

Und alt soll werden wie du!


Die Ähnlichkeiten, welche ich zwischen dem »Traum ein Leben« und dem »Fortunat« fand, sind folgende:

In jedem Stücke tritt ein sehr junger Mensch auf, dem es ungestüm in der Brust kocht, den die Mauern seines Vaterhauses beengen, der sich hinaussehnt ins Leben, in die weite Welt, um zu wirken, zu schaffen, auch wohl zu zerstören. Beide lieben bereits, und beiden genügt diese Liebe nicht, füllt die Leere in ihrer Seele nicht aus. Rustan wird durch ein übernatürliches Mittel in den Schlaf gewiegt, in dessen Traum er sein [302] Leben fortsetzt. Fortunat tritt zwar ganz natürlicherweise in die Dienste eines Herzogs, der durch Famagosta reist, aber erhält bald darauf den Zauberbeutel und Zauberhut, die ihn zu übernatürlichen Dingen befähigen. Beide Jünglinge kommen an Höfe großer Herren, beide werden Kriegshelden, beide dürfen um Fürstentöchter werben. Aber das Blatt wendet sich, die stolzen Hoffnungen zerrinnen, die Jünglinge er kennen deren Trug und Nichtigkeit; Rustan erwacht körperlich aus dem Traum, der bisher ihm sein Leben vorspiegelte, und findet sich mit Vergnügen in der väterlichen Hütte, an der Seite seines Mädchens wieder. – Fortunat, nachdem er seine Zauberschätze verloren, kehrt freiwillig, von seinem Pagen begleitet, in welchem er (etwas unwahrscheinlicherweise) sein ihm folgendes Mädchen nicht erkannt hat, nach Famagosta zurück und ist froh, im Vaterhause zu sein.

Mir schien diese Übereinstimmung so auffallend, daß ich mich damals und auch jetzt noch wundern muß, mit dieser Ansicht so ziemlich allein gestanden zu haben, obwohl jene Personen, denen ich sie mitteilte, mir, gleichsam überrascht, beipflichteten. Wohl mag der Umstand dazu beigetragen haben, daß das Stück nur ein einziges Mal, und das mit Unglück, war aufgeführt worden, und also vielen unbekannt geblieben war.

Nach der Vorlesung wurde von der Aufführung gesprochen. Es ergab sich, daß das Hoftheater Schwierigkeiten mache, weil dieser »Fortunat« gleichsam eine Zauberkomödie sei, und Graf Czernin schon aus ähnlicher Rücksicht beim »Traum ein Leben« Anstände gemacht habe. Bauernfeld beabsichtigte daher, ihn dem Josefstädter Theater zu übergeben. Ich konnte mich nicht enthalten, ihm zu sagen, das sei so gut als[303] ein Kindesmord, denn sein Stück werde dort gewiß schlecht gegeben werden. Er aber behauptete das Gegenteil, ja, war davon überzeugt, und so machte niemand mehr einen Einwurf. Das Stück aber ward nicht lange darnach eben auf dem Josefstädter Theater gegeben und mißfiel, wozu wohl die Kabalen des berühmten oder berüchtigten Saphirs das meiste beigetragen haben mochten, der mit seiner Partei im Theater erschien und gegen dessen böswilligen Vorsatz das laute Applaudieren einiger Freunde des Autors (Graf Mailáth, Grillparzer, Baron Zedlitz), die sich in einer Loge befanden, einen grellen Gegensatz bildete, ja vielleicht eben durch den Widerspruch jenen rohen Lärm noch mehr hervorrief. Kurz, das Stück ward richtig »ermordet«, wie ich es dem Autor vorausgesagt hatte.

Nicht lange darnach ließ er sich durch Frankl bei uns aufführen, und mir schien aus manchem kleinen Umstande, daß er mich das vorige Mal bei Frau von Goethe und Mrs. Jameson gar nicht gekannt oder meinen Namen nicht gehört hatte.

Der Sommer, welcher auf diesen Winter folgte, brachte uns eine unerträgliche Hitze, die denn, wie ich das öfter und aus sehr begreiflichen Ursachen in heißen Sommern erlebt hatte, Anlaß zu vielen Feuersbrünsten gab. Wir waren wieder in Baden und wohnten in der schon genannten Wohnung am Josefsplatze, als man uns eines Abends (ich glaube es war der Frauentag Maria Geburt, im September) meldete, man sehe gegen Süden zu den Schein eines großen Feuers, der sich immer mehr ausbreitete. Bald erfuhren wir auch, daß dies Unglück die bedauernswerte Neustadt (die allzeit treue) getroffen hatte. Allerlei schreckliche Kunden [304] von dieser Feuersbrunst gelangten nach Baden, von wo viele Menschen nach dem, nur ein paar Stunden entfernten Neustadt eilten, teils um ihre Neugierde zu befriedigen, teils aus bessern Beweggründen, um etwa Verwandten und Freunden in solcher Not beizuspringen oder zu retten. Nur zu bald erfuhr man, daß viele Menschen dabei das Leben verloren hatten; der Feiertag hatte viele veranlaßt, sich ohne Sorge weit vom Hause zu entfernen, die mit der Ernte des Jahres gefüllten Scheuern außerhalb der Stadt wurden von der Flamme ereilt, und diese war von einem sich erhebenden starken Wind wieder gegen die Stadt zurückgetrieben worden. Es war ein Tag des Jammers und Schreckens für Neustadt, aber auch für die Umgegend und ganz Österreich. Mildtätig und hilfreich suchte dies nachher den verunglückten und verarmten Landsleuten durch bedeutende Spenden und Unterstützungen zu Hilfe zu kommen. Sehr lange, vielleicht zwei oder mehrere Jahre darnach, soll ein Bauernknecht, der lange an körperlichen Leiden und Gemütskrankheit in Neustadt gesiecht, auf seinem Totenbette sich angeklagt haben, durch sträfliche Nachlässigkeit beim Tabakschmauchen die erste Ursache dieses entsetzlichen Unglücks gewesen zu sein.

Fürwahr, wenn man zusammenrechnen könnte, wie viel Unheil und Brandschaden durchs Tabakrauchen entstanden, wie großen Verlust der feinere Ton, die geistreiche Mitteilung und die gesellige Sitte erlitten, wie schädlich endlich das Verschlucken des Tabakdampfes und das oftmalige Ausspucken der Gesundheit junger Leute geworden, so würde sich leicht eine Summe von Übeln und wirklichem Nachteil ergeben, gegen welches man doch das egoistische und halb gedankenlose Vergnügen, das der Tabakraucher in seiner Dampfwolke [305] und dem Hinaufwirbeln der Rauchsäulen findet, nicht geltend machen könnte.

Dies Tabakrauchen und die rasende Liebe dafür, welche sich unter dem Szepter der Mode jetzt bis beinahe in das kindische Alter des männlichen Geschlechtes erstreckt, ist es denn auch, was die stets mehr zunehmende Trennung der beiden Geschlechter im geselligen wie im häuslichen Leben begünstigt, ja notwendig macht. Mit der Pfeife im Munde kann man doch nicht in Gesellschaft anständiger Frauen erscheinen, von der Pfeife will man sich aber nicht trennen, so trennt man sich von den Frauen, überläßt diese sich selbst, und in ihren Haremssozietäten aller Nichtigkeit, Frivolität und Klatschhaftigkeit, die in solcher Einseitigkeit unvermeidlich sind, und ergibt sich mit gleichgesinnten Freunden aller Ungeniertheit, Roheit, mitunter Grobheit, welche ebenso unabtrennbar von burschikosem Leben sind.

Noch aber wäre gegen eine solche Absonderung der Geschlechter, welche uns in die mittelalterliche, ja in die antike Welt zurückzuführen scheint, nichts oder wenigstens nicht viel einzuwenden, wenn der große Gewinn eines wirklichen Erstarkens des männlichen Charakters im allgemeinen davon zu hoffen wäre; wenn diese Tabaksorgien zu einer heiterern Ansicht des Lebens, zu kräftigen Entschlüssen, vor allem zu mutiger Bekämpfung eigner und fremder Leidenschaften, zu der Kraft, für einen höheren Zweck zu entbehren und zu opfern, führen würden. Aber ich frage meine Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, ob diese Zerrissenheit, diese allgemeinen und ewigen Klagelieder, diese Unzufriedenheit mit sich und der Welt, diese innerlichen Zerwürfnisse uns ein kräftiges Erheben des Männergeschlechtes [306] andeuten? Ob nicht gerade diese Sehnsucht nach Bequemlichkeit, nach ungestörtem und recht raffiniertem Genuß körperlicher Erquickung, guten Essens, Trinkens und andern Komforts, auf ein eigentliches Erschlaffen der Kraft deute? Ob nicht das unselige Geschwätz von der Emanzipation der Frauen, dieser schrecklichsten Abirrung vom Pfade der Natur, recht eigentlich dahin weise, daß die Frauen an der Seite solcher verweichlichter Männer, die nur zu klagen, aber nichts zu bessern wissen, sich nicht an ihrem Platz (nämlich dem untergeordneten) finden, und daher den erschlafften Händen ihrer kommoden Ehehälften den Kommandostab entwinden möchten, und dies auch für leicht halten müssen? Frau von Staël, diese doch wahrlich nicht allzu weibliche Frau, ruft, von einem richtigen Naturgefühl überwältigt, in ihrer »Corinna« einmal aus: Il avait pour elle les soins protecteurs, qui font le plus doux bien de l'homme à la femme. – Ne faut-il pas pardonner aux coeurs des femmes les regrets déchirants qui s'attachent à ces jours où elles étoient aimées, où à tous les momens elles se sentoient soutenues et protégées? Das war ein Naturschrei, den ihr besseres Gefühl dieser femme supérieure vielleicht gegen ihren Willen entriß. Und ich möchte alle meine ältern oder jüngern Schwestern fragen können, ob sie sich in dem natürlichen Verhältnisse von Abhängigkeit und Unterordnung (nicht Erniedrigung und sklavischem Gehorsam) gegen ihre Männer nicht glücklich fühlen und an keine Emanzipation denken würden, wenn die Männer es verstünden, recht eigentlich Männer zu sein?

Sehr natürlich knüpft sich an diese Betrachtungen die Beobachtung, daß, ganz entgegen den früheren[307] Gewohnheiten der Geselligkeit in Wien, jetzt die Männer, und besonders die höher gebildeten, alle gemischten Gesellschaften fliehen. Es ist, als litten sie alle an der »Salonscheue«, wie an einer geistigen Wasserscheue! – Auch suchen sie die Einwirkung der Salons auf die Geister als etwas Verflachendes und Erschlaffendes darzustellen, und wohl mag das, was man jetzt »Salonleben« nennt, solche Wirkung hervorbringen. – Ich besuche die Salons seit Jahren nicht mehr; früher aber wirkten die Gesellschaften, die Soiréen hier und auch in Paris nicht so, nicht erschlaffend, nicht abspannend. Gebildete Frauen, geistreiche und gelehrte Männer, vielgereiste Fremde, Künstler usw. versammelten sich in denselben. In lebhaften Gesprächen über interessante Gegenstände berührten sich die Geister, Witzfunken sprühten, energische oder eigentümliche Ansichten wurden geäußert, fanden Teilnahme oder Widerspruch. Es war ein lebendiges Aufeinanderwirken der Geister, das oft Gedanken entwickelte oder Gesichtspunkte aufstellte, welche neu und merkwürdig erschienen, Gedichte wurden gelesen, die neuesten Erscheinungen in der Literatur besprochen, Kunstwerke vorgezeigt, zuweilen Musik gemacht. So waren die Abendunterhaltungen vor 20, 30 Jahren in Wien, so mußten sie nach dem, was wir durch Journale, durch Frau von Staël, durch ihre Zeitgenossen wissen, nur vielleicht in größerem Stil, in Paris gewesen sein, wenn diese Frau von ihrem Salon nach der Restauration sagen konnte: Qu'il avoit été comme un hôpital pour les blessés de toutes les parties.

Jetzt freilich ist das vielleicht sogar in Paris anders geworden. – Aber ich bin der Meinung, daß jenes Absonderungssystem, dem wenigstens bei uns – hauptsächlich [308] das Tabakrauchen zum Grund liegt, den meisten Einfluß auf die Gestaltung der Gesellschaften und somit auf den gesellschaftlichen Ton und besonders auf die Sitten und das Benehmen der jüngeren Männer hat, welches alles seit ungefähr zwanzig Jahren wenigstens nicht besser oder feiner geworden ist, als es früher war.

Vieles mag zu dieser Flachheit in dem Ton der gemischten Gesellschaften und zu diesem Bequemlichkeitssystem die zahllose Menge der öffentlichen Orte, Kaffeehäuser, Gasthäuser, Reunionen, Gärten usw. beigetragen haben, die sich jetzt in und um Wien überall aufgetan, und wo auch Frauen aus den bessern Ständen, ohne die Sitte zu verletzen, erscheinen können, was ehemals nicht war und nicht für möglich gehalten worden wäre. Bequemer ist es nun freilich, sich in einen Gasthof oder ein Kaffeehaus hinzusetzen, für sein Geld zu zehren, niemand eine Verbindlichkeit schuldig zu werden und sich um niemand zu kümmern, wegen niemand genieren zu müssen. Ob aber nicht auch durch ein solches Isolement viele zarte Fäden feinerer Rücksicht, verbindlicher Höflichkeit zerrissen, ob nicht selbst die Ökonomie unter diesen so oft wiederkehrenden Ausgaben an öffentlichen Orten leiden werde, das wäre immer einer Betrachtung wert?

Ich kehre zur Erzählung zurück. Etwa um diese Zeit, ich erinnere mich nicht genau, wann es eigentlich war, brachte ein Herr, der mir bis dahin unbekannt gewesen war, meinem Manne einen Brief von Hofrat Reinbeck aus Stuttgart an mich, den eigentlich der damals berühmt gewordene Dichter Niembsch von Strehlenau, der unter seiner pseudonymen Bezeichnung Lenau sich bereits einen großen und wohlverdienten [309] Namen in der deutschen Poesie erworben hatte, bringen hätte sollen. Er war von Stuttgart gekommen, Hofrat Reinbeck, ein vieljähriger literarischer Bekannter von uns, der im Jahre 1811 in Wien und viel bei uns gewesen war, hatte Lenau den Brief übergeben, um sich mittelst desselben bei uns einzuführen. Aber auch Lenau gehört – und vielleicht mehr noch wie andre – zu den Literatoren, die durchaus jeden Umgang fliehen und sich unter ähnlichen, oft etwas unfeinen Kameraden am wohlsten, weil am ungeniertesten fühlen. Einer von dieser Gesellschaft soll sogar geäußert haben, daß es ihm schon zuwider sei, an einem Tische zu essen, auf den ein Tischtuch gebreitet wäre, weil er am liebsten am unbedeckten Tische im Bierhaus speisen möchte. Daher ließ sich Herr von Niembsch bei uns mit Unwohlsein entschuldigen, obwohl ich recht gut wußte, daß er alle Tage im Kaffeehause zu sehen war und ich mußte Hofrat Reinbeck antworten, daß ich seinen Freund nicht kennen gelernt, weil – er eben zu den modernen Dichtern voll Misanthropie und Unglück gehört.

Lange Zeit darnach kam er jedoch, abermals mit einem Briefe von Reinbeck, der ihm vielleicht ins Gewissen mochte geredet haben, und ich gestehe, daß seine Persönlichkeit ihn gar wohl berechtigen könnte, sich mit Vorteil in der Welt zu zeigen. Seine Gestalt erinnerte mich lebhaft an die unsers verehrten Tieck, wie er damals aussah, als er 1808 zuerst mit seiner Schwester Bernhardi in Wien erschien, wo er denn ungefähr in demselben Alter wie Lenau jetzt stehen mochte.

Ein bescheidenes, mildes und anständiges Benehmen, das eine edlere Natur voraussetzen ließ, erhöhte und [310] verlängerte den angenehmen Eindruck der Erscheinung und ließ uns um so mehr die starre Zurückgezogenheit bedauern, in welcher sich der Dichter von jeder Annäherung hielt. Mit Frankl und Bauernfeld baten wir ihn später einmal zu Tische. Er kam, – war sehr artig, aber meist still und überließ den beiden andern das Wort – das war das letzte Mal, wo ich die beiden Herren Lenau und Bauernfeld in meinem Hause sah, und ich gestehe, ich war viel zu stolz, um durch eine nochmalige Einladung ein Verlangen nach ihrem Umgang zu zeigen, das sie nicht nach dem meinigen fühlten. Überhaupt habe ich es in meinem Leben mit alten und vorzüglich mit neuen Bekanntschaften so gehalten, daß ich ein Benehmen gegen mich, welches man nicht anders beobachtet haben würde, wenn man einen alten Umgang auf höfliche Art hätte abbrechen oder einen neuen nicht näher an sich kommen lassen wollen, stets für dies nahm und mein Betragen danach einrichtete, indem ich voraussetzte, daß, wenn ich geirrt und jene Personen wirklich Vergnügen an meinem Umgang oder in meinem Hause finden würden, sie schon annähernde Schritte machen würden.

In diesem Jahre war ich mit einem längeren Roman, »Elisabeth von Guttenstein« beschäftigt. Der Leser wird in dem Anfang dieser Blätter bemerkt haben, in welch heiliger Erinnerung und ehrfurchtsvollem Andenken die Kaiserin Maria Theresia, welcher meine Mutter ihre ganze Erziehung, Ausbildung und nachmalige günstige Lage verdankte, in unserm ganzen Hause lebte, und wie tief diese Empfindungen auch in meinem Herzen Wurzel gefaßt. Es war mir nun eine ebenso angenehme als würdige Beschäftigung, die Thronbesteigung dieser großen Regentin, die unglücksvollen [311] Umstände, die sie damals umdrängten, die Gefahren, mit denen sie zu kämpfen hatte, diesen für Österreich so wichtigen Zeitpunkt zum Hintergrund eines geschichtlichen Romans zu machen, und denselben mit allen Äußerlichkeiten in Sitte, Kulturstufe, Lebensweise usw. jener Zeit zu umkleiden, in der ich zwar nicht selbst gelebt, die aber teils noch mit einzelnen Zügen in meine eigene Kindheit hineingeleuchtet hatte und teils von meinen Eltern und bejahrten Verwandten und Bekannten mir geschildert und wohl noch selbst in ihrer eignen Persönlichkeit repräsentiert wurde. So z.B. die Art des geselligen Umganges, die starke Einwirkung der französischen Bildung und Literatur, der ersten Morgenstrahlen der deutschen, die Manie des Goldmachens usw.

Der Roman wurde ziemlich günstig rezensiert, aber, wie ich zu fühlen glaubte, ziemlich kalt aufgenommen. Es war auch meine letzte Arbeit dieser Art, denn die Zeitbilder, welche vier oder fünf Jahre darnach erschienen, sind durchaus nicht als Roman, als poetisches Erzeugnis, sondern lediglich als Sittenschilderung meiner Vaterstadt in den Jahren 1770 und 1780, dann dreißig Jahre später zwischen 1800 und 1810 und endlich wieder nach einem ähnlichen Zeitraum zwischen 1830 und 1840 zu betrachten und zu beurteilen.

Nach dem neuen Jahre, das heißt ungefähr in der Hälfte des Februars, ward mir wieder die Ehre, dieses Werk: »Elisabeth von Guttenstein«, Ihrer Majestät der Kaiserin und der Frau Erzherzogin Sophie überreichen zu dürfen. Ich wurde huldreich aufgenommen, fand die beiden erlauchten Schwestern beisammen in den Zimmern der jungen Prinzen, wo diese einen ganz militärischen Apparat, Schilderhäuser, Gewehre, Trommeln [312] usw. zum Spielzeug hatten, und die Kaiserin sich zu ihnen am Boden niedersetzte, um mit ihnen zu spielen. Da äußerte denn auch sie die Grundsätze, welche bis in die neuere Zeit von jedem erfahrenen Erzieher aufgestellt wurden, daß nämlich pünktlicher Gehorsam ein Haupterfordernis sei, auf welches man bei den Kindern dringen müsse. Jetzt aber scheint dieser Grundsatz, wie so vieles andere, als veraltet betrachtet und beiseite geschoben zu werden, indem man vielfach die Ansicht aussprechen hört: ein Kind, besonders ein Knabe, der gehorsam sei, könne keine Energie des Charakters haben, und sehr oft sieht, wie die Eltern sich in der Widerspenstigkeit ihrer Kinder sogar mit einigem Stolze gefallen.

Aber nur zu oft nimmt man bei Söhnen Ungezogenheit für Kraft und schmähliches Nachgeben an augenblickliche Gelüste für Unabhängigkeit des Charakters. Überhaupt aber scheinen mir, soweit ich es bei den sehr kurzen und seltenen Gelegenheiten zu beurteilen imstande, war, die Methode und vorzüglich die Ansichten über die Erziehung im kaiserlichen Hause, das des Erzherzogs Karl mit inbegriffen, ebenso verständig als zweckmäßig. Nur selten habe ich ein kleines Kind von nicht drei vollen Jahren gesehen, das so zutraulich mit ganz Fremden, so herzig und so zugleich entwickelt geschienen hätte, wie die, leider nur zu bald verstorbene Erzherzogin Maria Anna Pia, die ich in dem Zimmer ihrer Mutter fand, als ich im Jahre 1838 eine Audienz bei derselben hatte.

Nicht lange nach jenem Tage, an dem ich den obenerwähnten Roman überreicht hatte, erkrankte, zur größten Bestürzung der Stadt und des Landes, unser väterlicher Monarch auf so ernsthafte Weise, daß das Lebensgefährliche [313] sogleich erkannt und gefürchtet wurde. Jeden Tag klangen die Nachrichten bedenklicher. Viel wurde von der christlich heitern Fassung des Kaisers, von dem rührenden Schmerz seiner Umgebungen, besonders von den Äußerungen tiefer kindlicher Liebe des Kronprinzen erzählt. Andere Ärzte wurden noch nebst den gewöhnlichen Leibärzten berufen; – alles erwies sich als erfolglos. – Ein Leben voll moralischer Leiden, schmerzlicher Verluste, Selbstüberwindungen (gewiß der aufreibendste Kampf des menschlichen Herzens) und Resignationen hatte bei einem von Jugend an zarten Körperbau, trotz einer musterhaften Mäßigkeit und eines höchstgeregelten Lebens, dennoch die Kräfte des Monarchen er schöpft, ohnedies scheint Longävität kein Erbteil des lotharingisch-habsburgischen Stammes gewesen zu sein, indem nur wenige Glieder desselben das 60. Jahr erreichten. – Eine allgemeine Entzündung, wie man die Todeskrankheit des Monarchen nannte, machte in der Nacht vom 1. auf den 2. März 1835 seinem Leben ein Ende, nachdem er eben auch am 1. März vor 43 Jahren den Thron seines Vaters bestiegen hatte.

Jedermann erinnert sich gewiß dieser Epoche noch lebhaft; – doch in unserm öffentlichen Leben ging keine bedeutende Veränderung vor. Der neue Herrscher schien mit kindlicher Pietät alles, was sein Vater und wie er es getan, festhalten und als Norm seines eigenen Wirkens und Handels befolgen zu wollen; so blieb alles ziemlich wie es gewesen, und das Privatleben gestaltete sich nach gewohnter Weise. Nur der Zeitgeist und manche, wie es anfangs schien, unbedeutende Veränderung im täglichen Verkehr brachten nach und nach bedeutendere Umwälzungen in der geselligen Lebensweise hervor und auseinanderfallend, wie so [314] manches, was früher in unsern Begriffen und Gemütern fest und kompakt aneinandergehalten hatte, zersplitterten sich die verschiedenen Kreise der Bevölkerung. – Nicht bloß durch den Unterschied in Aristokratie der Geburt oder des Geldes, im Gegensatze mit dem bürgerlichen Leben, nein, selbst in Mitte der stillen Häuslichkeit erzeugten die veränderten Amtsstunden in Kanzleien und Comptoiren, die neuen Einrichtungen bei der Aufgabe der Briefe, endlich selbst die Abfahrts- und Ankunftsstunden der Eilwagen und Dampfboote, eine ganz veränderte Einteilung des Tages. Hierzu kam noch, daß viele ältere Einrichtungen, z.B. die Stunden für Schulen und Kollegien, sowie fürs Theater, beinahe dieselben blieben, und so kam eine Vielgestaltigkeit und Unbestimmtheit in den Tageslauf, die zwar keine wesentlichen Nachteile, aber doch viel unangenehme Störungen erzeugten. Es wurden die Eßstunden außerordentlich ungleich, und von 1 bis 6 und selbst halb 7 Uhr konnte man in verschiedenen Häusern die Familie bei Tische finden. Dies späte Tafeln machte die Déjeunés à la fourchette notwendig, indem man nicht leicht von 8 oder 9 Uhr morgens bis 5 oder 6 Uhr abends aushalten konnte, ohne etwas zu sich zu nehmen, und so erzeugten sich eine Menge Differenzen und Kollisionen. In einigen Häusern ließ man die Dienstboten vor der Herrschaft essen, weil es sonst zu spät geworden wäre, in den Häusern alter Art aßen sie nach derselben. Für die studierende Jugend mußte bei der grellen Verschiedenheit zwischen der altmodischen Schul- und Theaterzeit und den modernen Eßstunden wieder eine andere Einrichtung getroffen werden, und so irrt das alles noch, wie mir scheint, ziemlich chaotisch durcheinander, bis im Verlauf [315] mehrerer Jahre die Unterschiede aufhören, die alten Gewohnheiten nach und nach ganz verschwinden und die neue Gestaltung des geselligen Lebens überall durchgreifen und allgemein herrschen wird. Daß Menschen, die drei Viertel oder sieben Achtel ihres Lebens auf die alte Weise zugebracht, sich in diese Zustände und Gewohnheiten hineingelebt haben und mit ihnen gleichsam eins geworden sind, sich nur mit Mühe und widerstrebend in das Neue fügen und es überall unbequem finden müssen, ist wohl auch natürlich, und so wird es ihnen billigerweise nicht übelgenommen werden, wenn sie in der Unruhe und Geschäftigkeit dieses neuen Aufbaues rings um sie her wenigstens darauf hoffen, daß sie diese Neuerungen nicht mehr lange werden mitzumachen haben.


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Zwischen den Jahren 1833 und 1835, wie ich glaube, war es, daß ich bei einer sehr werten Freundin Fräulein v. Isenflamm den als Dichter, Schauspieler und Mensch gleich interessanten Raimund kennen lernte. Fräulein Isenflamm, die Schwester der Frau von Piquot und eine treue, warme Freundin unsers verehrten Freundes Streckfuß in Berlin, war auch, wie das leider ältern Menschen öfters geschieht, von ihrem ganzen Hause allein übrig geblieben. Marie, das treffliche Mädchen, ihre Nichte, war schon im Jahre 1822 am Nervenfieber gestorben, ihr Bruder Karl folgte ihr ein Vierteljahr darauf, und die armen Eltern blieben kinderlos zurück. Aber bei dem ersten Erscheinen der Cholera im Herbst 1831 starb der Vater Piquot und ein halbes Jahr darauf seine Frau, Theresens Schwester – und es stand vielleicht nicht zwei Jahre an, so raffte [316] die Grippe, die dazumal sehr bösartig war, den Bruder derselben, Herrn von Isenflamm weg, mit dem die Schwester seit langem zusammen gelebt und gewohnt hatte. Die Arme blieb einsam zurück, das bedeutende Vermögen, das durch so viele Todesfälle an sie gelangt war, konnte sie nicht recht erfreuen, sie kränkelte immer und nur der Umgang mit einem vieljährigen Freund, Herrn Schonner, der schon während ihres Bruders Leben mit ihnen zusammen gewohnt hatte, war noch das einzige Band, das sie an die fremdgewordene Welt knüpfte.

In ihrem Hause lernte ich denn Herrn Raimund, der Schonners alter Freund war, kennen, und sowohl Pichler als ich fühlten uns von seiner Persönlichkeit sehr angezogen. Seine Gestalt erinnerte an Grillparzer, und schon dieser eine Umstand sprach bei uns zu Raimunds Vorteil. Im Verlauf der Unterhaltung aber offenbarte sich ein so tiefes und anspruchsloses Gemüt, eine so herzliche, einfache Weise sich auszudrücken, daß er meinem Manne und mir Achtung und Wohlwollen einflößte, und wir nur im stillen bedauerten, daß bei ihm ebensowenig als bei Grillparzer auf einen bleibenden freundschaftlichen Verkehr zu hoffen war; denn diese beiden ausgezeichneten Menschen glichen sich, wie in schönen geistigen Anlagen und einer seltener Gemütstiefe, auch an trüber hypochondrischer Laune, welche sie jeden Umgang fliehen machte.

Später sahen wir Raimund bei Fräulein Isenflamm noch ein paarmal, einmal besuchte er auch uns, speiste bei uns mit Frankl und schien ungemein viel Freude an den Kindern meiner Tochter zu finden, die denn auch ihrerseits sich kindlich freimütig mit ihm unterhielten. Als er in der Josefstadt Gastrollen spielte, [317] erhielten wir durch seine Vermittlung ein paarmal Logen, die sonst schwer zu bekommen waren, und als er als Valentin (im Verschwender) erschien und unsere Kinder dem berühmten Mann, der so freundlich mit ihnen gewesen war, zuklatschten, blickte er herauf und lächelte ihnen gütig zu, worüber sie sehr erfreut waren.

Im Sommer 1835 brachten wir wieder die beiden Monate August und September in Baden und zwar wieder im Hause bei der Landschaft zu; aber wieder, wie fast jedesmal, wenn wir in dieser Gegend, in der Nähe des Baches wohnten, fühlte ich eine unangenehme Einwirkung der Luft oder des Trinkwassers, ich weiß es nicht – auf meine Gesundheit. Ich litt wieder im Unterleibe und mußte mich im Essen und Trinken und auch vor Verkühlung sehr in acht nehmen. Doch waren Pichler, die Tochter und die Kinder recht wohl, und wir kehrten vergnügt von Baden in die Stadt zurück. Kaum aber waren wir acht oder zehn Tage in der Stadt, so wurden wir durch ein Ereignis erschreckt, das an und für sich schon sehr beunruhigend, uns mit noch bangeren Ahnungen für die Zukunft erfüllte. Pichler stand eines Morgens, wie es schien, wohl und gesund auf, ging in sein Zimmer, um sich anzukleiden, kam dann wieder zu mir herüber, die ich noch im Bette lag, und erzählte mir mit ganz heiterer Miene, daß ihn heute Nacht ein Schlagfluß getroffen habe. – Ich erschrak, wie natürlich; da ich Pichler aber so heiter und kräftig wie sonst vor mir stehen sah, hielt ich es für Scherz, aber für unerlaubten, und sagte es ihm auch, daß dies Frevel sei. – Er aber versicherte mich dessen noch einmal, und nun glaubte ich auch ein kleines Hemmnis in seiner Aussprache zu bemerken. Sehr bestürzt drang ich in ihn, zu Hause zu bleiben und den [318] Arzt rufen zu lassen. – Er aber ließ sich nicht abhalten und ging in sein Bureau. Sobald er das Haus verlassen, schrieb ich an unsern Arzt und Freund B. Türkheim, der zum Glück noch zu Hause war, und mit seiner gewohnten Güte erhörte er sogleich meine Bitte, eilte zu Pichler ins Bureau, fand ihn aufgeregt, mit starkem Andrang des Blutes gegen den Kopf, und bewog ihn, sogleich nach Hause zu fahren und nach seiner Angabe, die er ihm schriftlich mitgab, sich behandeln zu lassen. So wurden ihm denn im Nacken Egel gesetzt, Sinapismen, Fußbäder usw. gebraucht, und in der Tat hatte sich in wenigen Tagen der Andrang des Blutes gelegt, die übrigen furchtbaren Symptome waren verschwunden, und wir atmeten wieder freier. Doch blieb in unser aller Herzen eine große Besorgnis wegen möglicher Wiederkehr dieses Übels zurück, das sich nur zu gern wiederholt, und leider sollten wir – wenn auch erst zwei Jahre nach diesem Anfall – unsere Sorge nur zu wohl begründet finden! –

Ein vieljähriger Freund in Prag, Herr Gerle, schickte uns diesen Winter einen sehr jungen Mann, dessen er sich mit lebhaftem Interesse annahm, Herrn Uffo Horn, mit einem Briefe zu. Der Jüngling schien Geist und ein hübsches Talent zur Dichtkunst zu haben, auch war sein Äußeres empfehlend. Aber schon im ersten Gespräch sah ich das junge Deutschland und den Tatendurst der Studentenwelt aus jedem Worte hervorgucken, so daß ich mich nicht entbrechen konnte, ihm zu sagen: Tatenlust und Eifer für das, was ihr gut schiene, möchte die Jugend wohl haben und gelegentlich auch beweisen; frei aber und bloß nach ihrer Willkür handeln zu dürfen, könnte sie doch wohl nicht fordern, weil es ihr bei allen Talenten doch [319] noch an Erfahrung mangle. Er nahm das freundlich hin, kam auch noch öfters zu uns und schrieb für den Telegraphen (ein Journal, das damals entstand, aber nach 18 Monaten wieder zu Grabe ging) einige artige Aufsätze, in deren einem er meiner mit mehr Lob, als mir gerade angenehm war, gedachte, weil dies oft nur Unwillen bei andern erregt. Später ließ er ein Stück: »Die Vormundschaft«, das er mit Gerle gemeinschaftlich gedichtet hatte, mit ziemlichem Beifall aufführen, schloß sich eng an Herrn Saphir an, was ich ihm ebenfalls widerriet, kam in Händel mit der Zensur und Polizei; verlor sich aus unserer und unserer Bekannten Nähe, und verschwand endlich auch aus Wien. Nach einiger Zeit kam er in Hamburg bei Gutzkow wieder zum Vorschein, und spielt nun wahrscheinlich seine Rolle unter den sogenannten jungen Deutschen oder deutschen Jungen – einer Menschenart, die für mich etwas so Widerwärtiges hat, daß ich mich nie, auch nur von fern damit befreunden konnte. Ihr ganzes Streben, sobald es aus dem Kreis der Burschenschaft in die Wirklichkeit, ins Staatsleben treten wollte, oder wie im Hambacher Fest und in ähnlichen Explosionen wirklich ins Leben getreten war, kam mir stets wie eine bedauernswerte Verblendung vor, vermöge welcher sich Knaben und unerfahrene Jünglinge Männer zu sein dünken; das, was sie nicht zu übersehen imstande sind, nicht allein zu beurteilen, sondern zu verändern, zu bessern sich anmaßen, und darum, weil sie bei der Juliusrevolution in Paris durch Pflastersteinaufreißen und mutiges Kämpfen mitgewirkt haben, sich einbilden, die Revolution gemacht, geleitet, vollendet zu haben, und in Deutschland dasselbe tun möchten.

[320] Der Winter von 1835–1836 verging im ganzen ziemlich ruhig, was das äußere Leben betraf, aber es schien, als ob aus einer Zusammenstimmung verschiedener unbekannter Ursachen der Tod durch den Verlust vieler werten Freunde sich mir in diesem Jahr auffallend nähern, und mich auf einen noch herbern Todesfall, der nicht mehr lange ausbleiben sollte, vorbereiten wollte. Im Mai starb nach langem Krankenlager und vielen Leiden die Baronin von Richler, eine Frau, mit der ich mehr als 30 Jahre in engem Freundschaftsbunde, und durch einige Zeit selbst in einem Hause gelebt, sie fast täglich gesehen und mich ihres geist- und gemütsvollen Umgangs stets erfreut hatte, obwohl unsere Sinnesart wenig Ähnlichkeit hatte, und die meisten Dinge, so wie hauptsächlich die Erscheinungen in der neueren Literatur uns beide auf ganz verschiedene, ja entgegengesetzte Weise berührten. Ihre Geistesbildung war zwar in der nämlichen Epoche (denn wir waren gleichaltrig), aber auf ganz verschiedenem Wege bewirkt worden. In Heidelberg von mittelmäßig begüterten Eltern geboren und still, ohne vielen Unterricht, bloß für Häuslichkeit erzogen, aber mit einem lebhaften Geiste und warmem Gefühl fürs Schöne begabt, waren es zuerst Romane und Gedichte, welche den Funken höherer Bildung in ihre Seele warfen. Lafontaines Gefühlswelt ging zuerst wie eine Sonne in ihrem und ihrer Schwestern Gemüte auf; Matthisson, Salis, später Goethe, Schiller und andere nahmen Platz in dem erhellten Raume, aber sie alle erschienen mehr oder minder in dem Reflex des Lafontaineschen Lichtes, sowie die Welt überhaupt; und wir übrigen pflegten oft im Scherz zu sagen, daß bei Frau von Richler und ihren Schwestern nur die [321] Handlungen, Empfindungen, Gesinnungen als zulässig und gesetzmäßig betrachtet würden, welche mit Lafontaines Romanen übereinstimmten. Von Goethes Werken ging ihnen nichts über Werther und Tasso. – Don Karlos stand in ihrer Meinung viel höher als Wallenstein oder Tell – und das Unnatürliche oder Geisterhafte störte sie nur wenig, während sie irgend eine wahre Naturäußerung, z.B. im Götz von Berlichingen oder in Wallensteins Lager beleidigte. Von der bezauberten Rose von Schulze, die übrigens in der Welt ein sehr ephemeres Dasein hatte, waren sie auch bezaubert und die Schuld erfreute sich ihres ungemessensten Beifalls. Hingegen war es ihnen nicht möglich, an der Poesie der Psalmen das geringste Interesse zu fassen, und irgend ein ungewöhnlicher, echt orientalischer Ausdruck schreckte sie auf immer zurück, so wie sie auch Öhlenschlägers Werken durchaus keinen Geschmack abgewinnen konnten, eben weil einige grellere Worte darin vorkommen.

Aller dieser Dissonanzen ungeachtet, achteten und liebten wir einander herzlich, unsere Gesinnungen und Grundsätze begegneten sich einander nicht im Lafontaineschen, sondern im Lichte tüchtiger Menschheit, und so stand unsere gegenseitige Achtung und Freundschaft fest durch mehr als 30 Jahre. Gemeinschaftlich getragene Sorgen und Leiden, sowie gemeinsam genossene Freuden verbanden uns stets inniger, und es war ein wahrer Verlust für mich, als Frau v. Richler starb; aber es war ja nur der Anfang einer ununterbrochenen Kette ähnlicher Fälle. Schon seit einiger Zeit fühlte mein Schwager Kurländer (Franz) zunehmende Beschwerden eines Übels, das er sich selbst nicht erklären konnte oder wollte, das uns übrigen [322] aber zu unserer großen Besorgnis apoplektische Symptome zu haben schien. Zuweilen konnte er sich nicht mehr auf das besinnen, was er kurz zuvor getan oder gewollt hatte, zuweilen versagten ihm die Worte, um auszudrücken, was er beabsichtigte, und das Alltäglichste fiel ihm nicht ein. Beim Spiel, das er mit ebenso großem Eifer als Glück als seine Lieblingsbeschäftigung trieb, und das ihm – auf eine sonst ganz ungewöhnliche Weise den Zutritt in den Häusern der Großen und des höchsten Adels öffnete – verließ ihn manchmal die Besinnung, und er spielte so töricht, daß ihn seine Mitspielenden ermahnen mußten. Uns allen kamen diese Zustände bedenklich vor, wir baten und beschworen ihn, seinen Arzt zu befragen, aber der gute – dem Weltverkehr und den Zerstreuungen zu sehr ergebene Freund konnte sich nicht entschließen, vielleicht, ja wahrscheinlicherweise einen Ausspruch zu vernehmen, der ihn zum Zuhausebleiben, zum Zurückziehen, zu einer stillen Lebensweise verdammt haben würde, und so dauerten jene bedenklichen Symptome fort, und nahmen vielleicht durch die, eben um diese Zeit wieder ausbrechende Cholera einen bedenklicheren Charakter an. Denn das ist eine, sich jedem aufdringende Beobachtung, daß in den Epochen, wann diese Krankheit herrscht, in der Atmosphäre eine auffallende Veränderung vorgehen müsse, wovon schon die dichten, sonst in dieser Jahreszeit ungewöhnlichen Nebel, die bald ganz strahlenlosen und bald mit dem höchsten und dauerndsten, Krokusgelb gefärbten Sonnenuntergänge Zeugenschaft geben. Bald brach die Seuche mit Macht aus, und hatte wieder, wie schon die beiden ersten Male, gewisse Gegenden zu ihrem eigentlichen Herde ausersehen. [323] Zu unserm Unglück war es diesmal die Alservorstadt, und in dieser eigentlich der Umkreis des Platzes und Brunnens, wodurch denn auch wir mit in den verhängnisvollen Kreis gezogen wurden. Wirklich erkrankte zuerst eine sehr würdige Familienmutter, welche zu gleicher Zeit Vorsteherin einer Mädchenschule in unserm Hause war. Ihr folgten in kurzen Zwischenräumen ihre drei erwachsenen Kinder; das kleine Kind einer andern Mietspartei, und endlich eine hochbejahrte Frau, die, eine langjährige Freundin meiner verstorbenen Mutter, seit 24 Jahren bei uns gewohnt hatte. Es war eine schauderhafte Zeit damals. Kaum verging eine halbe Stunde, daß man nicht die Glöckchen des Chorknaben klingeln hörte, der den Priester mit den Sterbesakramenten zu irgend einem Kranken begleitete, oder daß in den Nachmittagsstunden ein Leichenzug durch die Straßen ging. – Später wurden, um das Entsetzen der übrigen Bewohner nicht zu vermehren, das Läuten auf der Gasse eingestellt und die Toten ohne Begleitung fortgebracht. Kein Tag verging, wo man nicht von dem Todesfall eines Bekannten in der Nachbarschaft hörte, die der vielen Unbekannten gar nicht zu rechnen. Bei uns allein hatte die Seuche sechs Opfer in einem Hause geholt. In einem andern gegenüber waren ihrer neun gestorben. Zwei sonderbare Bemerkungen hatte ich Gelegenheit zu machen, und ich denke, es wird nicht ganz überflüssig sein, wenn ich sie mitteile.

Alle sechs Personen, welche in kurzer Frist bei uns starben, wohnten auf einem Flügel des Hauses, und bedienten sich – nach der Bauart unsers Hauses, desselben heimlichen Gemaches in den beiden Stockwerken. Wir selbst und die Bewohner des rechten [324] Flügels hatten einen andern solchen Ort, und auf dieser Seite erkrankte niemand. – Auch hatte ich gleich von Anfang, als mir dieser Umstand aufgefallen war, meinen Leuten eingeschärft, sich niemals jenes Bedürfnisses wegen auf den linken Flügel zu begeben, und wir blieben alle gesund, obwohl sich hier und dort eine Neigung zur Diarrhöe gezeigt hatte.

Die zweite Bemerkung ist folgende: So lange die Cholera wütete, war es warm und trocken gewesen. An jenem Sonntag nachmittag, als unsere alte 90jährige Mitbewohnerin beerdigt werden sollte, brach um dieselbe Stunde ein heftiges Gewitter aus, mit Donner, Blitzen und Regen. Die Luft wurde merklich abgekühlt, und das zweite Kind jener Mietpartei, die schon eines an dieser Seuche verloren hatte und dessen Tod man stündlich erwartete, erholte sich gegen Mitternacht, bedurfte der Arznei, die man auf den äußersten Fall bereitet hatte, nicht mehr, besserte sich allmählich, genas endlich, und die Seuche ließ von diesem Tag an nach. Mich dünkt, diese beiden Bemerkungen zeigen wohl, wie oft durch Mangel an Beobachtung oder unvermeidliche Bedingungen die Seuche sich verbreiten kann und wie viel Einfluß die Luftbeschaffenheit darauf hat.

Allmählich reinigte sich die Luft, und gleichzeitig besserte sich die Gesundheit der Bewohner Wiens. Auf der Wieden war die Ansteckung ebenfalls sehr stark gewesen, und ich glaube, es wäre nicht unnützlich, einzelne Data über die Lokalitäten und deren Beschaffenheit, wo sich die Seuche am frühesten oder am stärksten gezeigt (wie z.B. im Jahre 1831 im Schottenviertel in der Stadt), über die Witterung, die Lufttemperatur usw. zu sammeln, und hieraus wenigstens [325] allgemeinere Beobachtungen und Ergebnisse zu notieren, die vielleicht doch einmal zu einigen Aufschlüssen über das furchtbare Rätsel führen könnten, an dessen tausend Schlössern die Natur- und Arzneikunde vergeblich seit beinahe dreißig Jahren in allen Weltteilen herumklimpert, ohne auch nur eines öffnen zu können.

Unser kränklicher Freund Kurländer war nun ernstlich und sehr bedenklich krank geworden. Eine Art Schlagfluß rührte ihn an einem warmen Juliusnachmittag, als er eben im Begriff stand, mit dem Dr. Bolza, mit welchem er schon früher eine Reise nach Paris und London gemacht, spazieren zu fahren. Von dem Augenblicke an ging sein Übel rasch vorwärts – und – sei es Delikatesse, sei es Abneigung gewesen, sich vor seinen Freundinnen in dem Zustand seiner Hülflosigkeit sehen zu lassen – weder ich noch seine Schwägerin (Maly Schechtern), noch selbst seine alte Freundin Gräfin Fekete wurden vorgelassen, und ich mußte mich begnügen, mich manchmal im Vorzimmer bei den Freunden, die ihn fleißig besuchten, wie z.B. eben jenem Dr. Bolza, nach seinem Befinden genauer zu erkundigen. Dr. Bolza erwies ihm wirklich kindliche Treue, und pflegte seiner Tag und Nacht, was Kurländer auch in seinem Testamente dankbar anerkannte.

Indessen während der letzten Hälfte des Julius und dem ganzen Augustmonat wechselte sein Zustand zwischen besser und schlimmer. – Es war die Rede vom Ausfahren, von nach Baden gehen, um die Trinkkur zu gebrauchen, wir hofften; – plötzlich verschwand der lichte Hoffnungsschimmer wieder, und wir mußten das Schlimmste fürchten.

[326] Wir waren indes, unserer Gewohnheit gemäß, nach Baden gezogen, und wohnten im Mayerschen Hause in Guttenbrunn, wo wir schon oft gewohnt hatten, und woselbst ich mich, das Cholerajahr 1831 ausgenommen, stets recht wohl befunden hatte. Auch diesmal würde mir der Aufenthalt gedeihlich und angenehm, gewesen sein, wenn nicht so manche trübe Vorfälle vorausgegangen wären und ihn begleitet hätten. Kurländers Krankheit bekümmerte uns alle, der Tod der B. Richler hatte mir sehr leid getan, es war eben wie der eine Gestalt aus der lieben Vergangenheit, in der ich so manche Freude genossen, so manchen Aufschwung des Geistes, so manchen Schmerz, so manche begeisternde Erhebung gefühlt, und deren Einwirkungen in dem trauten Freundeskreise, wozu die Richler gehörte, ausgebebt hatten. Auch Kurländer gehörte zu diesem Kreise, wir hatten vieles, Böses und Gutes, miteinander verlebt, wir hatten uns gegenseitig handeln gesehen, und unsere gegenseitige Achtung war dadurch – ich darf es wohl sagen – gewachsen. Nun war die eine geschieden, des andern Scheiden stand mir nahe bevor, und eben um diese Zeit erschreckte uns alle in Baden die Kunde von dem unglücklichen – und verfehlten Selbstmordsversuche des Schauspielers Raimund, der durch sein poetisches Talent, durch seine mimische Kunst einen europäischen Ruf mit Recht erworben hatte, und mit ebensoviel Recht um seiner Persönlichkeit, seines einfachen, wohlwollenden Charakters wegen allgemein geschätzt wurde. Nicht weit von Baden, auf seiner kleinen Besitzung zu Pernitz, in einem der lieblichen Täler des Schneeberges wohnend, wo er durch Wohltaten und Gutmütigkeit sich viele dankbare Herzen verpflichtet hatte, hatte er das [327] Unglück, eben wie er im Begriff stand, eine Reise nach Maria-Zell anzutreten, von einem Hunde gebissen zu werden, dessen Gesundheitszustand verdächtig war. Ein Mensch von kühlerer – von gefesselter Phantasie würde in diesem Augenblicke die Abreise aufgegeben, den Hund einsperren und genau beobachten lassen haben. Aber der Dichter fuhr nach Maria-Zell, – ließ den Hund zu Hause, und erfuhr bei seiner Rückkehr in Pottenstein, noch ehe er Pernitz erreichte, daß der Hund, der während der Zeit noch ein paar andere gebissen hatte, erschossen worden war. – Nun hatte des unglücklichen Dichters Phantasie volle Freiheit, sich allen Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten einer verzweiflungsvollen Todesart zu überlassen – und – er faßte den furchtbaren Entschluß, allem diesen grauenhaften Elend durch Selbstmord zu entgehen.

Zu seiner Entschuldigung, ja ich möchte sagen zur Rechtfertigung und rührenden Ansicht dieses Entschlusses, will ich hier beifügen, was ich einige Monate nach Raimunds Tode von meiner Freundin, Fräulein Therese von Isenflamm, über ihn erzählen hörte. Raimund hatte (so erzählte Therese) von jeher eine entsetzliche Furcht vor dem Zustand der Wasserscheu gehabt, und mehr als einmal hatte er geäußert, daß man einen Menschen, der das Unglück gehabt hätte, von einem wütenden Hunde gebissen zu werden, auf der Stelle erschießen sollte, um andere Menschen vor ähnlichem Schicksale zu bewahren. Und nun traf den Unglücklichen gerade dies Los, vor dem er so sehr gebebt! Es ist mir also mehr als wahrscheinlich, daß der Unglückliche eine heilige Pflicht zu erfüllen wähnte, wenn er in sich selbst einen Gegenstand der Gefahr und des Verderbens für andere aus der Welt schaffte.

[328] War die Pistole, womit er sich in den Mund geschossen, schlecht geladen; – zitterte des Selbstmörders Hand, indem sie den furchtbaren Entschluß ausführen sollte? – in schrecklicher Verirrung blieb die Kugel oben in der Hirnschale stecken, und namenlose Leiden des zerrissenen Körpers wie des denkenden, selbstbewußten Geistes mochten nun für den Unglücklichen beginnen, bis nach drei entsetzlichen Tagen der letzte Augenblick, endlich von Gott gesandt, diesen Qualen ein Ende machte. Die näheren Umstände dieser grauenvollen Geschichte erfuhren wir sehr zuverlässig durch Dr. Rollett, den man sogleich nach Pottenstein zu dem Unglücklichen gerufen, und der ihn dann wieder besucht hatte. Auch brachte Rollett ein Blättchen Papier mit herüber von Pottenstein, auf welches Raimund nach der entsetzlichen Tat und wie er sich wahrscheinlicherweise seines Zustandes deutlich bewußt geworden war, mit Mühe die Worte gekritzelt hatte: Gott anbeten! – Mich dünkt, diese zwei Worte, in dieser Lage geschrieben, machen die schönste Schutzschrift für den, von Phantasie und Angst betäubten Selbstmörder aus, und werden, vereint mit so manchem Zuge seiner Gutmütigkeit, auch vor Gottes Thron, der Herzen und Nieren durchforscht – vor dem Thron des barmherzigen, liebenden Vaters aller, seine Sache am besten geführt haben. Und in ihnen fand ich auch eine Bestätigung meiner Ansicht von den Beweggründen, die den Verstorbenen zu der entsetzlichen Tat bestimmt hatten. Nach seinem Tode erhob sich noch ein hitziger Streit zwischen seiner zurückgelassenen Familie und unserm Dr. Rollett, der sich bei der Sektion des Verstorbenen der Hirnschale, in welcher die plattgedrückte Kugel noch stak, bemächtigt [329] hatte und sie im Interesse der Wissenschaft, wie er sich in seiner Antwort an die Behörde ausdrückte, in seinem Museum aufbewahren wollte. Was endlich entschieden und ob die Hirnschale zurückgegeben worden, weiß ich nicht.

Abermals aber fand ich hier bei des armen Raimunds Tode bestätigt, was ich oft im Laufe meines Lebens beobachtet hatte, daß nämlich, nicht eben allen, aber vielen Menschen am Ende ihres Lebens der Himmel gerade das Leiden, die Sorgen und Entbehrungen zusendet, vor denen sie sich von jeher am meisten gefürchtet hatten. Und ich fand die Bekräftigung einer Ansicht Fénélons in dieser Erfahrung, der sagt:

Souvent ce que nous offrons à Dieu n'est point ce qu'il veut le plus de nous. Ce qu'il veut le plus, c'est ce que nous voulons le moins lui donner, et que nous craignons qu'il ne nous demande. C'est cet Isaac, fils unique, bien aimé, qu'il veut qu'on immole sans compassion. – O wie oft habe ich diesen harten, aber wahren Ausspruch an vielen bewährt gefunden, denen Gottes Ratschluß gerade jenen Stand der Dinge oder jenes körperliche Leiden zusendet, das ihnen von jeher das Schwerste zu ertragen geschienen hatte. Es war eben cet Isaac ce fils bien aimé, der rücksichtslos geopfert werden mußte.

Kurländers letzte Stunden waren indes auch gekommen. Zwar hatte man ihm, wie oben gesagt worden, Hoffnung auf Besserung gemacht, ja, es war sogar eine Weile die Rede davon gewesen, daß er mit Bolza nach Baden kommen sollte; aber wahrscheinlich war dies nur zu seiner Beruhigung gesagt worden, oder es war eine plötzliche Verschlimmerung eingetreten – kurz, er starb am 6. September und hinterließ ein [330] Testament, in welchem er fast alle seine Freunde und Verwandten mit größern oder kleinern Andenken in Effekten oder in Geld bedachte, und so seiner Sitten Freundlichkeit dadurch bestätigte. Wirklich weiß ich wenig Menschen, die im Gewühl der großen Welt, unter lauter nichtigen Beschäftigungen, in Berührung mit so verschiedenartigen, meist hohlen, zerstreuungssüchtigen, überreichen, überstolzen, übermütigen Leuten, wie sie die haute volée und die Geldaristokratie häufig darbieten – (ohne daß ich diese Schilderung auf diese beiden Klassen ohne Ausnahme ausdehnen möchte, unter denen ich selbst viele Verehrungswerte kenne), so viel reinmenschliche Gefühle, so vielen Sinn für einfache Freuden, für Familienbande usw. bewahrt hätten, als unser unvergeßlicher Freund Kurländer. Trotz eines, in lauter Zerstreuungen hingebrachten Lebens war er davon nicht blasiert worden; jede neue Erscheinung, jede einfache Freude, sowie jede geräuschvolle Unterhaltung fand Anklang in seinem Herzen, er gab sich ihnen offen hin, und beobachtete nur mit einer Sorgfalt, von der ich nicht weiß, ob ich sie mehr seinem guten Herzen oder seiner Klugheit und Welterfahrung beimessen soll, jede Regel der Schicklichkeit, jede Rücksicht, jede Schonung gegen andere, so daß er ja niemals etwas tadelnd erwähnte, was in einem der vielen Häuser vorging, mit denen er in Beziehung stand, nie eine noch unverbürgte Neuigkeit verbreitete, keiner lieblosen Auslegung sein Gehör lieh und so bis an seinen Tod mitten im Gewühl der Welt das Kleinod seines bessern Ichs treu und fleckenlos erhielt. Uns allen, mit denen alte Freundschaft von Kindheit auf und später Verwandtschaftsbande ihn verbanden, bewahrte er diese Zuneigung bis an [331] seinen Tod, hinterließ Pichlern und meinen Enkeln ein kleines Legat in Geld, mir ein Etui mit Silberbestecken, und verordnete noch überdies, daß Herrn Korn, dem Hofschauspieler, einem vieljährigen Freund und Bekannten von uns allen, und mir jedem 500 fl. C.M. übergeben werden sollten, um Arme damit zu bedenken. Er dachte überhaupt sehr menschenfreundlich, und noch während seines Lebens waren viele Wohltaten von ihm durch meine Hände an verschämte Arme gelangt. So geschah es auch mit den 500 fl., aber es gab manche lächerliche und manche ärgerliche Auftritte, viel unbescheidenen Überlauf und manche Erfahrung tiefen Elends, bis diese Summe nach bestem Wissen und gehöriger Würdigung der Dürftigen verteilt war.

So war denn dieser Freund auch von uns geschieden, der durch mehr als 40 Jahre ein treuer Teilnehmer all unserer Leiden und Freuden gewesen war, von dem wir mit Sicherheit wußten, daß alles, was uns begegnete, antwortende Empfindungen in seiner treuen Brust wecken würde, der unsere kleinen häuslichen Feste froh mit uns beging, nie eines, und wenn es des kleinsten Kindes Geburtsfest war, versäumte, manche glänzende Einladung dahinten ließ, um nicht bei unserer häuslichen Freude zu fehlen, und sich durch kleine Geschenke, Aufmerksamkeiten und stets heitere Gefälligkeit Allen lieb und wert machte. Wer kann, wer soll uns einen solchen Freund ersetzen? – und zumal in höhern Jahren, wenn das Herz durch manche bittere Erfahrung scheu oder kalt gemacht, sich nur schwer an spätere Bekannte anzuschließen vermag.

Im November desselben Jahres befiel mich ein langes, und wenn auch nicht schmerzhaftes oder bedenkliches, [332] doch auf jeden Fall ein sehr unangenehmes Übelbefinden. Meine Nerven waren angegriffen; – Türkheim und Dr. Seeburger, unser nachbarlicher Arzt, zu dem wir immer zuerst unsere Zuflucht zu nehmen pflegten, weil der ältere Freund weiter entfernt von uns wohnte, gaben mir allerlei Arzneien, rieten mir, auszugehen, mich in der Luft zu bewegen; – es wollte nichts anschlagen, und wenn ich auch, einige Tage ausgenommen, die ich im Bette zubringen mußte, wohl nicht eigentlich krank war, fühlte ich doch, daß meine Gesundheit erschüttert worden, und allerlei störende Symptome und Empfindungen eingetreten waren. Eines Morgens, nachdem mir den Tag zuvor – zum erstenmal in meinem langen Leben – eine Blutentleerung, und zwar durch Egel, war gemacht worden, die auf meine Nerven beunruhigend und doch auch abspannend wirkte – erzählte mir B. Türkheim ohne alle Vorbereitung, daß in der vergangenen Nacht die alte Gräfin Chorinsky, die Witwe des Kammerpräsidenten, am Schlagfluß gestorben sei. Er wußte wohl nicht, und konnte es wahrscheinlich nicht wissen, daß wir Jugendfreundinnen, daß sie mir, obwohl unsere Lebensverhältnisse und Bahnen sehr divergierend gewesen, noch immer lieb und wert geblieben, wie ich sie denn wirklich noch den Sommer vorher, wo sie auf kurze Zeit zu Baden im Sauerhofe ge wohnt, oft gesehen und gesprochen hatte. Wie ein elektrischer Schlag, der uns auf einmal in allen Gelenken lähmend trifft, – so erschütterte mich diese Kunde von dem so wenig geahnten Tode meiner Jugendfreundin, die ich erst ein paar Wochen vorher gesund und wohl gesehen und heiter verlassen hatte. Vielleicht trug der krankhafte Zustand, in welchem ich mich damals befand, [333] viel bei, ein Ereignis, das mich jederzeit betrübt haben würde, jetzt so erschütternd zu machen. Ich fühlte, wie meine Kraft gebrochen war, ich wollte in die Stadt gehen, – denn Türkheim drang immer auf Bewegung in freier Luft, – aber auf die Freiung gelangt, mußte ich in einen Wagen steigen und nach Hause fahren, denn meine Füße trugen mich nicht mehr, und dieser Zustand von Schwäche und Reizbarkeit dauerte mit wechselndem Besser- und Schlimmerbefinden gegen drei Monate.

Sophiens Tod (so hieß Gräfin Chorinsky) hatte heftig, wie schon gesagt, auf mich gewirkt; – unsere Jugend, alle trüben und frohen Ereignisse in jener und den nachfolgenden Lebensperioden – traten wieder hell vor meine Phantasie. Ihres verstorbenen Gemahls Bild, dieses vortrefflichen, in jeder Beziehung achtungswürdigen Mannes, stellte sich mir lebhaft dar, mit ihm alle jene jugendlichen Verhältnisse zwischen ihm, meinem Manne und meinem Bruder, deren Freund und Bruder er gewesen –, und eine tiefe Wehmut ergriff mich. Ich dichtete eine Strophe, die so hieß:


So bist du tot – und bist dahin gegangen,

Wo schon so viele deiner Lieben sind;

Wo Eltern, Schwestern, Brüder dich empfangen,

Und manches teure heißbeweinte Kind.

Und der Gemahl, die Liebe deiner Jugend –


Weiter kam ich nicht, und selbst diese kleine Anstrengung wurde mir zu einer erschöpfenden Aufregung, so wie sie aus einer eben solchen Aufregung entstanden war.

Endlich beruhigte sich auch dieser Sturm wieder, und allmählich besserte sich mein krankhafter Zustand im ganzen, ich fühlte meine Kräfte wiederkehren; aber ebenso bestimmt fühlte ich auch, daß ich mich [334] nicht mehr wie vorher auf meine Gesundheit verlassen könne, daß ich mich vor manchem, was ich sonst getan, gewagt hatte, in acht nehmen, und manche Vorsichtsmaßregel, die ich sonst als überflüssig, trotz meiner Jahre, hatte betrachten können, jetzt und künftig noch mehr beobachten werde müssen. Mit einem Worte: die Jugend und selbst das kräftige Alter war von dem Schwesterlein fein geschieden, und das höhere Alter mit seinen Beobachtungen, diätetischen Vorschriften und unzureichenden Kräften, die jeden Augenblick uns einen Dienst versagen und an unsere hohen Jahre erinnern, war nun auch für mich gekommen. Noch aber mußte ich Gott danken, daß die Veränderung so gemach, ohne große Erschütterung geschehen, und mir für ein stilleres Leben und Walten genugsame Heiterkeit und mit ihr die Ruhe gelassen hatte, dem Lebensende, das sich nun allmählich immer mehr zu nähern schien, und auf das jeder Verlust eines befreundeten Wesens mich mahnend hinwies, mit Ergebenheit, wo nicht mit frohem Gefühl entgegen zu sehen. Wer war mir nicht schon aller vorangegangen? Wie viel treue, liebende, heißbeweinte, mich ganz verstehende Seelen waren schon dort versammelt, wohin ich nun auch bald zu gehen überzeugt war und wo diese auch mich liebreich empfangen sollten? Dies ist eine sehr natürliche Betrachtung, die sehr geeignet ist, uns das Weggehen aus dieser Welt zu versüßen und die doch von so wenigen beherzigt wird.

Das Jahr 1836 war nun mit allen seinen trüben und einigen heitern Stunden vorübergegangen. Es hatte aber, ich möchte sagen, als Bodensatz aller Sorgen, Bitterkeiten und Schmerzen, die es mir gebracht, noch eine gar trübe Spur in meinem Innern zurückgelassen, [335] die mein Gemüt auf eine, vielleicht noch drückendere Weise belästigte, da ich zu niemanden um Hilfe oder auch nur Beruhigung mich wenden konnte, und das Übel, so wie es in mir von sich selbst entstanden war, nun auch bloß innerlich und bloß auch von mir selbst geheilt werden konnte.

Schon in meinen frühern Jahren, als ich kaum zwanzig Jahre oder wenig darüber zählte, hatten, wie sich der Leser dieser Blätter vielleicht noch erinnert, die Schriften mehrerer Franzosen und einiger Deutschen in jener sehr irreligiösen Zeit, die man die aufgeklärte nannte, einen ebenso mächtigen als verderblichen Eindruck auf mein Gemüt gemacht. Mein Gefühl war aufs tiefste verletzt, als die Gegenstände meiner bisherigen, kindlich frommen Verehrung nach und nach unter dem kalten, zersetzenden Licht allzukühner Forschungen zu schwanken anfingen und mir zu entschwinden drohten. So gewiß es ist, daß die Religion Sache des Glaubens, folglich des Gemüts ist, so wenig sich auf diesem Felde mit Beweisen und mathematischen Sicherheiten streiten läßt, um so gefährlicher sind solche Gesinnungen, Bücher, Gespräche für junge Gemüter, die das Täuschende vom Wahren, das Flüchtighingespiegelte vom Bleibenden nicht zu unterscheiden, und die tiefe Wahrheit des Satzes, den ich irgendwo gelesen, nicht zu erkennen vermögen, »daß das Resultat und der Eindruck des großen Ganzen um uns her Glaube an Gott ist, und der Zweifel nur aus einem sublimierten Teilchen aufsteigt«. Es ist daher ein Unglück, daß solche Bücher geschrieben worden sind und noch geschrieben werden, und es ist Pflicht jedes Erziehers, wie ich glaube, die ihm anvertrauten jungen Seelen von diesem Gifte so fern als möglich zu halten, [336] bis ihr Verstand reif genug ist, um durch die Nebel einer blendenden Sophistik den echten Kern der Wahrheit dennoch zu erkennen und an ihm festzuhalten. Wie oft mußte und muß ich noch eines Epigramms von Pfeffel – wenn ich nicht irre – gedenken, das unter der Regierung Kaiser Josefs II. in einem Journale erschienen, und so lautete:


Hans Affe steckt' einst einen Wald

Von Zedern nachts in Brand,

Und freute sich ganz ungemein,

Als er's so helle fand!

Seht, Brüder, seht, was ich vermag,

Ich – ich verwandle Nacht in Tag!


Die Brüder kamen allzumal,

Bewunderten den Glanz,

Und alle fingen an zu schrein:

Hoch lebe Bruder Hans!

Hans Affe ist des Nachruhms wert,

Er hat die Gegend aufgeklärt!


Wie viele Zedernwälder frommen Glaubens, der Ruhe im Leben und des Trostes im Tode sind auf die ebengesagte Weise durch die sogenannte Aufklärung niedergebrannt worden! und derjenige, der sich einmal aus diesem Brand gerettet, wird doch, wie im Evangelium steht, immer wie einer sein, der dem Feuer mit Not entkommen ist. Jene freudige Zuversicht, jene Sicherheit des für Wahrhaltens, die keinen Zweifel zuläßt, die nur durch Lehre und Beispiel eingeflößt und mit steter Wachsamkeit in jungen Seelen erhalten wird, ist für ihn doch schon erschüttert. Sehr weise und zweckmäßig gibt Hufeland den Eltern, vorzüglich den Müttern, den Rat, die religiösen Gefühle, Begriffe und Lehren so fest in die Seelen der Kinder zu pflanzen, daß sie sie gleich angebornen Ideen nie mehr abschütteln oder sich rauben lassen können.

[337] Ich selbst sollte in späten Jahren noch einmal diese bittere Erfahrung machen. Es war im Winter 1836 bis 1837, als durch die vielen pantheistischen Ideen, welche so häufig in den Schriften unserer jetzigen Philosophen und selbst der Dichter unserer Zeit gelehrt werden, zwar mein Glaube an einen persönlichen und selbständigen Gott nicht erschüttert wurde, der, von der Natur verschieden, das Schicksal der Welt nach seinen unveränderlichen Gesetzen lenkt und mit väterlicher Liebe überwacht; aber über die Beschaffenheit unserer Seelen, über die Fortdauer der Persönlichkeit nach dem Tode stieg doch dann und wann ein beunruhigender Zweifel auf, den ich, unerfahren in den eigentlichen Tiefen der Philosophie und Metaphysik, nicht in jedem Moment aufzulösen, und die irrenden Gedanken in die rechte Bahn zu weisen vermochte. Vielleicht konnte ich es auch in jener Periode weniger, weil meine Nerven durch die Kränklichkeit, die mich nun schon drei Monate gefangen hielt, angegriffen und aufgeregt waren, so daß jedes strenge Denken mich ermüdete. So schlich denn die trübe Zeit hin, trüb durch krankhafte Gefühle, durch die Erinnerungen an so manchen schmerzlichen Verlust, den ich im verflossenen Jahr erlitten, und trüb durch die unfreundlichste Witterung des ganzen Jahres, da im Dezember und Jänner die strenge Kälte mich an jedem Ausgang hinderte.


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Ein Beichtvater ist nach meiner Ansicht für jedermann, der auf dem Wege des Heils weiterschreiten will, eine sehr wichtige Person, und zu wünschen wäre es, daß er – der Arzt der Seele – so wie der des Körpers [338] zu den nähern Bekannten, ja zu den Freunden des Hauses gehöre. Im alltäglichen Leben, bei gewöhnlichen Ereignissen, bei der Mahlzeit, bei angenehmen oder unangenehmen Vorfällen könnten diese beiden ihre Beobachtungen unvermerkt anstellen; um nicht erst dann, wenn ein moralisches oder physisches Übel ausbricht, im Beichtstuhl oder am Krankenbett davon unterrichtet werden zu müssen. Dann hätte der körperlich oder geistig Leidende nicht vonnöten, seine Krankheitsgeschichte zu erzählen und auf alle Symptome aufmerksam zu machen. Der Arzt hätte dann vielleicht schon längst den ersten Keim des Übels sich entfalten gesehen, ihm durch guten Rat entgegenzuwirken gesucht, und wenn dies nicht gefruchtet, sich doch imstand gesehen, das ausgebrochene Übel mit Kraft und vollkommener Kenntnis zu bekämpfen. Aber leider ist dieses wünschenswerte Verhältnis selten anzutreffen, und solcher geistiger wie leiblicher Ärzte, deren unfehlbare Diagnose, auf den ersten Blick die Natur des Übels und die Hilfsmittel dagegen erkennt, gibt es wenige. Mein unvergeßlicher P. Marcellian war ein solcher psychischer Arzt. Nach seinem Tode wählte ich dazu unsern damaligen Pfarrer P. Konstantin aus dem Minoritenorden, einen sehr frommen, sehr verständigen Mann, der auch meine Tochter getraut hatte, aber leider im Jahre 1831 als eines der ersten Opfer der Cholera gefallen war, und wenn er auch dem tiefgelehrten und gründlichen Menschenkenner Marcellian nicht gleich kam, verstand er es doch gut, meine geistigen Angelegenheiten zu leiten). Nach P. Konstantins Verlust versuchte ich es mit einigen sehr renomierten Beichtvätern in der Stadt, die man mir vorschlug. Aber teils die Entfernung derselben von meiner [339] Wohnung, die mir den nüchternen Besuch am Morgen beschwerlich machte, teils ihre Art, sich zu benehmen, sagten mir nicht zu, und so wählte ich endlich auf den Rat einer sehr verständigen Frau in unserer Nachbarschaft abermals einen Geistlichen aus unserer Pfarre, einen zwar noch ziemlich jungen, aber wohlunterrichteten, frommen Mann, dessen anständiges Betragen ihn sehr empfahl. Ihm hatte ich schon vor einiger Zeit die, von jenen pantheistischen Ansichten erregten, beunruhigenden Zweifel vertraut, er hatte mir recht verständige, aber allgemeine Ratschläge gegeben, weil er mich eben nicht so genau kannte, als ich es bei dem geistlichen Arzte für notwendig halte. Diese Ratschläge waren, wie gesagt, allgemein, daher für jeden Fall passend, aber für keinen einzelnen ganz auslangend, und so mußte ich meine innere Unruhe fort dulden, bis ich, nach dem Gebrauch, den ich seit der Lesung der Philothée von François de Sales angenommen hatte, alle Monate einmal, sofern es die Umstände gestatteten, zur Beicht und zum Tische des Herrn zu gehen, bei milder gewordener Witterung und gebesserter Gesundheit es vermöchte, dieser Gewohnheit zu folgen. Sobald dies geschehen konnte, führte ich es aus. Ich verrichtete meine Beichte mit aller möglichen Sammlung, empfing ebenso das heilige Abendmahl, und – (mag auch ein Spötter über dies Geständnis lächeln, ich weiß doch, daß wahrhaft fromme Seelen es glauben und sich daran erbauen werden) – und fühlte mich gleich darauf durch eine selige Ruhe erquickt. Nie – einzelne Augenblicke im Freien, in einer schönen Gegend zuweilen ausgenommen – hatte ich vor dieser Beichte eine so bestimmte Empfindung von der Gegenwart, der Nähe Gottes [340] gehabt, die mich wohltätig erhebend, selbst körperlich – möchte ich sagen – beseligend umfing. Dieses Gefühl kam mir von nun an, wenn ich still und gesammelt in meinem Zimmer beten konnte, oder auch einsam mich im Freien befand, oft wieder, und zuweilen dünkte es mich auch, in meinem Innern eine Stimme deutlich zu hören, deren Worte mir, je nachdem meine augenblickliche Lage war, Trost, Rat, Beruhigung, Kraft zusprachen. Natürlicherweise sprach ich mit niemanden davon, denn solche Erfahrungen werden in der Mitteilung leicht mißverstanden und dadurch entheiligt. Wenn aber der, der sie gemacht, schon längst in einer bessern Welt ist und seine Worte nicht so leicht mißdeutet werden können, möge er sie späteren Lesern zum Trost und Frommen hinterlassen.

Fénélon sagt über eine solche begnadigte Stimmung sehr schön, indem er vom Reiche Gottes in uns spricht:

Heureux qui a des yeux pour voir ce royaume. La chair et le sang n'en on point. La sagesse de l'homme animal est aveugle lá-dessus, et veut l'être. Ce que Dieu fait intérieurement lui est un songe. Pour voir les merveilles de ce royaume intérieure, il faut renaître, et pour renaître il faut mourir.

Bei meiner nächsten Beichte erzählte ich dem Geistlichen die erwünschte Veränderung, welche ohne mein Zutun durch Gottes Gnade sich seit der letzten Kommunion in mir entwickelt hatte. Er hörte mich mit Aufmerksamkeit und froher Teilnahme an, und gab mir eine Antwort, die mich tief im Innersten ergriff. »Unstreitig«, sagte er, »ist Ihnen wegen dieser Veränderung Glück zu wünschen. Solche Wirkungen der Gnade sind wohl zuweilen freies Geschenk der Gottheit, [341] zuweilen aber auch Vorbereitung und Befähigung, um ein kommendes großes Unglück besser zu ertragen.« Ich war tief bewegt. Die Möglichkeit, welche er in Aussicht stellte, erhob sich düster vor meinem Geiste, ich konnte nicht erraten, was es sein würde, das Gott über mich schicken wollte, und da ich mich des freien Gnadengeschenkes in demütigem Gefühl meiner vielen Schwächen nicht würdig glaubte, so war mir die andere Alternative – das kommende Unglück – das bei weitem wahrscheinlichere. Aber eben diese selig fromme Stimmung, die mich seit einigen Wochen beglückte, gab mir Unterwerfung, und in dieser Unterwerfung die Kraft, das, was Gott, mein liebender, mich segensvoll umgebender Vater schicken würde, geduldig zu erwarten und zu ertragen.

Von jetzt an sann ich oft über solche Gegenstände nach. Das Gebet und seine Erhörung, die sich oft in wunderbarer Schnelligkeit folgen, öfters aber durch lange Zeiten der Prüfung getrennt sind; die verschiedenen Stufen der religiösen Erkenntnisse bei verschiedenen Völkerschaften und in verschiedenen Zeitperioden; – die Allgemeinheit der Gotteserkenntnis bei den zahllosen und oft unbegreiflichen Nuancierungen dieser Begriffe unter den Völkern alter und neuer Zeit, wie Geschichte, Geographie und Reisebeschreibungen sie uns schildern, machten sehr oft den Vorwurf meines Nachdenkens und Grübelns aus. Besonders beschäftigte mich der Gedanke von der Allgegenwart Gottes, von seiner Bewußtnahme der unzähligen Bitten, Seufzer und Zumutungen, welche in jedem Augenblick, in allen den zahllosen Weltkörpern (denn es läßt sich seine Gegenwart und Fürsorge doch nicht mit vernünftiger Wahrscheinlichkeit auf unsern [342] kleinen Erdball, diesen Punkt im Unermeßlichen, einschränken) an ihn gerichtet werden. Wenn ich so dies alles durchdachte und allerlei Möglichkeiten aussann, blieb ich doch zuletzt mit dem Gefühle der höheren Wahrscheinlichkeit, Bibelgewißheit und passenden Auslegung bei der Idee stehen, daß unsere Gebete in dem Maße Erhörung verdienen und dieselbe auch erhalten würden, als unsere Gedanken und Empfindungen sich inniger und höher zu Gott erhöben, je mehr wir dem Ausspruch des Erlösers in seinen Abschiedsreden gemäß, wie das Rebschoß sein würden, das fest am Rebstock haftet, nur von ihm Leben und Nahrung empfängt, wenn es aber getrennt ist, verwelkt und stirbt. So müßten unsere Seelen mit Christo vereinigt sein, und in diese Stimmung unmittelbarer Nähe und festen Haftens an dem Erlöser müßten wir uns versetzen, wenn unser Gebet fruchtbringend sein, wenn es erhört zu werden hoffen dürfe.

Die Frucht dieses langen und aufrichtigen Forschens war ein Aufsatz, den – seit den sechs Jahren, als er geschrieben worden ist – niemand gesehen und gelesen hat, weil ich für ihn nirgends – am allerwenigsten in einem unserer, so vielen Frivolitäten gewidmeten Journale – einen passenden Platz wußte; von dem ich aber glaube, daß er mancher wahrhaft frommen und kindlichen Seele zum Troste dienen könne. Daher möge er, um so mehr, als diese Blätter aller Wahrscheinlichkeit nach erst nach meinem nicht mehr fernen Tode erscheinen werden, hier stehen:


Das Gebet und seine Erhörung.


Wie unter allen Völkern des Erdbodens, zu jeder Zeitperiode und bei jedem Kulturgrade (einige dumpf-und stumpfsinnige Menschenherden, die unglücklichen [343] Feuerländer vielleicht, aber auch nur vielleicht, ausgenommen) Spuren von religiösen Begriffen angetroffen worden sind, welche nur, eben nach dem Kulturstande, mehr oder minder entwickelt waren, so hat auch jedes Volk die Vorstellung von einem Verhältnis oder Zusammenhang mit dem, deutlicher oder undeutlicher gedachten göttlichen oder wenigstens übermenschlichen Wesen, das es verehrte, in sich getragen, und auf mannigfache Art angeschaut und ausgebildet. Daher die Spuren der Opfer bis in die dunkelste Ferne der alten Geschichte; die Opfer Kains und Abels, das Opfer Abrahams, Melchisedechs usw. – endlich die weitverbreiteten Opfer des Polytheismus auf dem ganzen, durch die Geschichte bekannten Erdenrunde, welche bald in Früchten oder anderen Erzeugnissen des Pflanzenreiches, bald und am häufigsten aus Tieren verschiedener Art bestanden, ja, nicht selten – selbst bei den Verehrern des einzigen Gottes, sich bis zu Menschenopfern verirrten, wovon eben das beschlossene, obgleich nicht vollzogene Opfer Abrahams ein Beleg ist, und anzeigt, daß die Idee, Menschen zu opfern, den Erzvätern nicht ganz fremd war, und sie wenigstens gewohnt sein mußten, Beispiele davon unter den umwohnenden Völkerschaften zu sehen.

Diese Opfer, was sollten sie anders, als – einerseits die Abhängigkeit und Nichtigkeit des Menschen im Verhältnis zu jenen unbegriffenen und mächtigen Wesen dartun – andererseits diese, durch einen sehr naheliegenden Anthropomorphismus gleich Königen, Fürsten, Gewaltigen der Erde dem Bittenden günstig stimmen und zur Erfüllung der Wünsche der Opfernden vermögen? Bei diesen Opferhandlungen wurden denn auch Bitten vorgetragen, und der Bittende mußte [344] in seinem Sinne überzeugt sein, daß die Gottheit ihn höre, und wahrscheinlich erhöre; daß sie gnädig auf sein Opfer blicke, kurz eine wirksame Notiz von ihm und seinem Tun nehme. Daß dies das Götzenbild, wenn eins auf dem Altar des Opfernden stand, an sich und aus sich nicht vermöge, – das hat wohl wenigstens die klügere Menge der Polytheisten eingesehen. Sie haben nicht bloß vernunftgemäß geschlossen, sondern wohl gewußt, daß jener Stein, jenes Stück Metall oder Holz, welches eine geschickte oder ungeschickte Hand zu einem Götzenbild geformt, nicht wirklich die mächtige Gottheit selbst, sondern nur eine Repräsentation derselben sei, eine Nachhilfe für des Menschen Erinnerung, um sich das unsichtbare Wesen leichter als gegenwärtig vorzustellen, um sich mit der demütigen Bitte an den sichtbaren Stellvertreter desselben zu wenden. Solche Verirrungen und Mißgriffe, wenn der, in seinen Hoffnungen getäuschte Bittsteller seinen Unmut an dem Bilde, als an einem der Gewährung mächtigen Wesen, auszulassen wagte, werden wohl zur selben Zeit mannigfach vorgefallen sein, und ereignen sich noch jetzt – leider nicht bei Götzendienern allein! – Aber sie können nicht zum Maßstabe der Erkenntnis und des Glaubens für den Polytheismus alter und neuer Zeit dienen. Vielmehr zeigt sich in allen Schriften, welche aus diesen Religionen hervorgegangen sind, sie mögen nun aus dem klassischen oder orientalischen Altertum stammen, daß die Menschen an selbstbestehende, mächtige, göttliche Wesen geglaubt, welche sie sich bald mehr, bald minder menschenähnlich gedacht, an Wesen, welche der Schönheitssinn der Griechen in verherrlichter Menschengestalt darstellte; die der Hindu in frommer Erhebung [345] zum Unbegreiflichen mit so vielen Köpfen, Armen und Attributen ausstattete, als sein grübelnder Geist von den Eigenschaften der Gottheit zu fassen und darzustellen vermochte, wobei freilich die Schönheit des Gebildes nicht in Betracht kam. Ebenso die übrigen Völker nach ihrer Art. – Nur der Israelit allein – das einzige Volk der alten Welt, bei dem die Vorsicht, die Vorstellung eines einzigen Gottes zu erwecken und diese in ihm festzuhalten und zu bewahren, beschlossen hatte – dieses Volk allein hatte keine Bilder, ja es wagte kaum den Namen seines höchsten Wesens auszusprechen; aber es erkannte allein unter allen, tief und innig, von Gott selbst belehrt, sein richtiges Verhältnis zu ihm: seine Abhängigkeit, aber auch den Schutz und die väterliche, wunderbare Leitung, welche es durch unmittelbare Offenbarungen oder durch die Belehrungen von Gott erweckter Männer erhalten.

Alle diese Völker nun in alter und neuer Zeit kommen mehr oder minder deutlich darin überein:

1. Daß ein mächtiges, wo nicht allmächtiges Wesen vorhanden sei, von welchem die Welt und die Menschen, die in ihr leben, hervorgebracht worden sind.

2. Daß dies noch immer in selbstbewußter Kraft an dieser seiner Schöpfung, an den Menschen und ihren Schicksalen teil nehme.

3. Daß man durch Bitten (Gebete) sich an dies Wesen wenden dürfe, müsse, um die Erfüllung seiner Wünsche zu erhalten, und auch wohl Gaben darbringen solle, um entweder das gütige sich geneigt zu machen oder das erzürnte zu versöhnen.

4. Daß dies höchste Wesen die Tugend belohne und das Laster bestrafe, zuweilen schon in diesem Leben, [346] sicher aber nach dem Tode in einem andern, das sich jede Religion auf eigne Weise gestaltete.

Demnach muß in jeder dieser Religionen auch der Begriff enthalten gewesen sein, oder sich in ihnen herausgebildet haben, daß das göttliche Wesen unsere Gebete hören könne und müsse, um sie zu erhören; daß, da diese Gebete meistens leise, wohl gar bloß innerlich ausgesprochen wurden, die Gottheit von dem, was in der Seele des Beters vorgeht, unterrichtet, daß sie folglich allwissend und allgegenwärtig sein müsse. Wenn gleich der krasse Anthropomorphismus der römischen und griechischen Götterlehre, indem er auf einer Seite dem Schönheitssinn schmeichelt, auf der andern die Götter zum Menschen herabzieht und ihnen die Schwächen und Vergehungen der Menschen zumutet, die Gottheit nur um Weniges über die Menschheit stellte, so haben doch auch Griechen und Römer ihre Gebete an, ihre Lobgesänge auf die Götter gehabt, mit denen sie dieselben bei festlichen Gelegenheiten feierten, und wovon sich in ihren Schriftstellern genug Überreste finden. Freilich stehen diese Lobgesänge, so viel dichterisches Verdienst sie auch besitzen, tief unter der erhabenen Poesie der Psalmen, – ebenso tief, als der Begriff, von ihren ehebrecherischen, diebischen, trunkenen Göttern unter dem Bilde steht, das Moses, die Propheten und Psalmisten von dem wahren Gott in sich trugen und dem Volke verkündeten.

Daß Griechen und Römer auch das stille, das Herzensgebet, kannten, verbürgt nebst vielen andern, die Stelle bei Seneca:

Sie vive cum hominibus, tamquam Deus videat, sic loquere cum Deo tamquam homines audiant; nämlich, [347] daß man nichts Unrechtes, andern oder sich Verderbliches von Gott erbitten solle.

Seneca hegt überhaupt sehr würdige, wenn auch für uns Christen, die Gott ihren Vater nennen dürfen und sollen, zu stolze, spröde Begriffe. Er sagt einmal, daß jenes Wesen, welches alles hervorgebracht hat, auch seiner Welt unveränderliche Gesetze gegeben hat, denen es selbst unterworfen ist.


Semel jussit, semper paret.


Ähnlicher Stellen trifft man genug bei andern römischen Schriftstellern, bei Cicero, Plinius, Livius usw. an. Alle beweisen, daß die gebildeteren, klügeren Alten an ein fortwährendes Verhältnis des Geschöpfs zum Schöpfer, und hauptsächlich daran geglaubt haben, daß die Gottheit von unsern Bedürfnissen Notiz nehme und durch Opfer und Gebete für unsere Wünsche günstig gestimmt werden könne.

Da nun die Allgemeinheit dieses Dafürhaltens: daß nämlich die Gottheit unsere Bitten jederzeit vernehme, wir mögen uns befinden, wo wir wollen, ja wir mögen unseren Gebeten Worte geben, oder sie nur in der Stille unsers Herzens, »wo der Geist«, wie Paulus sagt, »mit unaussprechlichen Seufzern für uns bittet 1«, bilden, so folgt, wie mich dünkt, notwendig daraus, daß unsere Seelen – auf welche Weise? bleibt uns verborgen – in einem stetigen und innigen Verhältnis zu dem höchsten, allmächtigen, allwissenden und allgegenwärtigen Wesen sind, und gleichsam im Zusammenhange mit ihm stehen. St. Paulus sagt in der Apostelgeschichte Kap. 17: In ihm leben, weben und sind wir, wir sind seines Geschlechts. Ebenso er streckt [348] sich diese Allgegenwart, Allwissenheit und Allerhaltung auf die ganze Natur, und wird passend durch solche Sprüche ausgedrückt: daß ohne Gottes Willen kein Sperling vom Dache fällt, daß die Haare unsers Hauptes gezählt sind, daß Gottes Odem alles erhält, und die Kreatur erschrickt und zu Staub wird, wenn er sein Angesicht abwendet, daß die Berge rauchen, wenn er sie anrührt, daß der junge Löwe seine Kost von Gott fordert usw. Am öftesten, am erhabensten und wahrsten ausgedrückt finden sich solche Begriffe in den Schriften des Volkes Gottes, welchem er auch die älteste Urkunde des Menschengeschlechts, wie sie Herder nennt, anvertraut hat. Aber auch in Profanschriftstellern und in heidnischen Religionsbüchern, wie z.B. im Zendavesta der Parsen sind solche schöne und erhabene Stellen zu finden. – Alles Beweise von den überall verbreiteten, von Gott selbst in die Geister der Menschen gelegten oder einst den ersten Geschlechtern geoffenbarten Wahrheiten.

Wir nähern uns, nach diesen vorausgeschickten Bemerkungen, Erfahrungen und geschichtlichen Notizen, die wohl niemand in Abrede stellen wird, dem eigentlichen Zielpunkte dieser Betrachtung, dem Gebete und seiner Erhörung. Wenn die Allgemeinheit des Gebetes und des Glaubens an seinen Erfolg erwiesen ist, so sucht der menschliche Geist, vermöge seines angebornen Hanges zur Erforschung der Wahrheit, dann auch die Weise wohl nicht zu ergründen, aber zu ahnen, auf welche er sich in den Augenblicken frommer Erhebung seinem Schöpfer wirklich nähern und hoffen kann, sein Gebet, wenn es würdig und den Ratschlüssen Gottes gemäß ist, erhört zu sehen. Hier fallen uns nun, wenn wir in dieser Richtung mit Aufrichtigkeit und [349] Ernst forschen, zuerst einige Bemerkungen in die Augen, an welchen wir vielleicht oft achtlos vorüber gegangen sind, die aber nach meiner Meinung sehr passende Hinweisungen auf diese Wahrheiten enthalten.

Wir finden nämlich zuerst in der jüdischen sowohl als in der auf sie gepflanzten christlichen Religion, als denjenigen, in welchen sich die reinsten Wahrheiten dieser Art geoffenbart haben, den Begriff der Liebe Gottes, sowohl seiner väterlichen für uns, als der kindlichen, die wir zu ihm haben sollen. Soweit mir die übrigen Religionen alter und neuer Zeit bekannt sind, findet sich diese Vorstellung vom höchsten Wesen in keiner von ihnen. Es ist die höchste Blüte der Offenbarungen Gottes, das herrlichste Vorrecht der Menschheit, und in ihm ist ihr Adel und ihre angeborne Würde aufs deutlichste und erhabendste ausgedrückt. Dasjenige Wesen, aus dem, durch das, in dem nicht nur wir Menschen, unser Erdball, sondern alle im ganzen Raum der Schöpfung zerstreuten Welten, alle Sonnensysteme mit ihren uns unbekannten Myriaden von Bewohnern ihren Ursprung und ihr Fortbestehen haben, dieses Wesen, welches allmächtig, allgegenwärtig, allwissend, ewig und unveränderlich ist, hat uns Würmern im Erdenstaube nicht bloß erlaubt, es hat uns befohlen, es zu lieben; es fordert unsere Liebe, es läßt sich Vater von uns nennen, und nennt sich in bezug auf uns selbst so.

Das erste Gebot, welches er im Dekalog den Menschen unmittelbar gab, enthält diesen Begriff: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus ganzem Gemüte, aus ganzem Herzen und aus allen deinen Kräften. Es ist hier nicht die Rede von einzelnen Erhebungen der Seele zu Gott. Nein! Unser ganzes Wesen, [350] all unsere Kräfte müssen, solange unser Dasein währt, ihm gehören, mit ihm sich einigen, in Liebe an ihm hangen, wir müssen eins mit ihm sein. Dasselbe und Ähnliches sagte der Erlöser seinen Jüngern in jener feierlichen Abschiedsstunde, wo er das letztemal vor seinem nahen Tode mit ihnen beisammen war: Ihr sollt eins sein mit mir, wie ich eins mit dem Vater bin. Er bedient sich des Gleichnisses von der Rebe und dem Schößling, der nur lebt, solange er an der Rebe haftet, aber verdorren muß, sobald er abgeschnitten wird. Er sagt ihnen später: Ich bin bei euch heute und alle Tage bis ans Ende der Welt. Er sagt ferner: Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.

Alles dies sind Andeutungen, und mehr als Andeutungen, es sind Aussprüche, welche uns klar sagen: daß zwischen der Gottheit und unsern Seelen ein bleibender, reeller, wirklicher Zusammenhang besteht, und daß Stellen, wie jene vom Rebschößling, nicht bloß auf die Pflicht, uns in unserer Handlungsweise nicht von Gottes Vorschriften zu entfernen, sondern als auf eine wesentliche Verbindung hindeutend, zu verstehen sind. Wie dieser Zusammenhang bestehe, können wir nicht erraten, nicht einmal vermuten, aber so viel können wir glauben, daß ein brünstiges, herzinniges Gebet uns der Gottheit in solchen Augenblicken näher bringe, daß wir uns gleichsam in ihren Bereich stellen, daß die sonst lockere Verbindung sich fester gestalte, und daß wir die Wirkungen derselben in unserm Innersten spüren. Dann fallen die Schlacken irdischer Begehrlichkeiten, Bedürfnisse und Leidenschaften von unsern gereinigten Seelen ab, und diese kehren für kurze Zeit in den Zustand ursprünglicher Einheit mit Gott zurück. Leider [351] sind diese Stimmungen ebenso kurz als selten; indessen sie sind da, und ihre Einwirkungen erstrecken sich, selbst wenn sie vorübergegangen sind und den Eindrücken des gewöhnlichen Lebens Platz gemacht haben, auf viele folgende Stunden, wo ein stiller Frieden, eine beglückende Heiterkeit in unsern Seelen herrscht. Wir fühlen uns dann eins mit dem höchsten Wesen, und der Heiland ist bei uns, unter uns, darauf können wir uns verlassen, weil er selbst es gesagt hat.

Sehr natürlich hat die Kirche darum bei den meisten ihrer Gebete eine Anrufung Gottes vor allen Bitten angeordnet, damit der Mensch durch eine lebhafte und anhaltende Erhebung des Gemütes sich gleichsam von der Erde entferne und in unmittelbarer Gegenwart Gottes fühle. So beginnt die Kirche viele Gebete mit der Formel: Herr! merk auf meine Hilfe, eile, Herr, mir beizustehen; so beginnt das erhabenste und zugleich einfachste aller Gebete mit den Worten: »Vater unser! der du bist in dem Himmel, geheiligt werde dein Name, zukomme uns dein Reich!« hierauf folgen erst die eigentlichen Bitten. Wir sollen uns nämlich die Gegenwart Gottes lebhaft vorstellen, ihn in unserer Nähe, uns hörend, auf uns merkend, denken; wir sollen diese Gedanken kräftig festhalten, dann werden wir fühlen, daß Gott um uns, bei uns, in uns ist, wie die heilige Theresia ihm im Innersten ihres Herzens eine Kapelle errichtete, in welcher sie ihn stets fand, wenn sie ihn suchte, ihm ihre Anliegen vortrug, und gewiß meistens erhört ward, weil dies erhabene, geläuterte Gemüt gewiß nur um wirklich Heilsames bat.

Vielleicht wird mancher Leser dieser Blätter diese Ansichten Mystizismus nennen. Ich selbst habe nur unbestimmte Begriffe von dem, was man so zu nennen [352] pflegt, und glaube, daß in dieser Unwissenheit die beste Verteidigung gegen jene Anschuldigung, wenn es eine sein soll, zu finden sei. Was ich deutlich, mit klarem Bewußtsein, und mit dem Vorbedacht, mich von keiner Illusion hinreißen zu lassen, erfahren und empfunden habe, muß doch wohl ein natürliches und gewöhnliches Ereignis sein, das aber nur deswegen selten angetroffen wird, weil es selten beachtet wird, weil die Menschen, wenn sie beten, großenteils zerstreut, ohne innere Sammlung, ohne lebhafte Empfindung von der Gegenwart Gottes sind. Und so sage ich, daß ein wahrer Beter das Bewußtsein dieser Gegenwart klar und unwidersprechlich haben, und sich dessen mit einer innerlichen Zufriedenheit, welche kein anderer irdischer Zustand zu geben vermag, erfreuen wird.

Gott ist überall, er ist um uns, er ist in allen Räumen der Erde, in allen Räumen der Gestirne; er hält und trägt jedes Leben, daß es nicht, wenn er sein Angesicht abwendet, wie der 104. Psalm sagt, in Staub zerfalle. Er ist in jedem geschaffenen Ding, und folglich auch in uns, und hier ist es eigentlich, wo wir seine Gegenwart am heiligsten und innigsten erfahren und spüren sollten. Wenn wir also zu ihm beten wollen, müssen wir, wie oben gesagt worden, unser Gemüt anregen, wir müssen uns Gottes Gegenwart lebhaft vorstellen, uns gleichsam in seiner Nähe fühlen, fühlen, daß wir mit ihm vereinigt, daß wir das Rebschoß sind, das noch an der Rebe selbst haftet. Dann werden wir andächtig beten, und dann dürfen wir auch hoffen, erhört zu werden, wenn wir, wie jener weise Heide sagt, so gebetet haben, daß uns die Menschen hören durften, nämlich ganz den Pflichten des Christentums gemäß.

[353] Was die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit einer solchen geheimnisvollen, aber von allen wahren Betern deutlich empfundenen Vereinigung der menschlichen Seele mit dem höchsten Wesen betrifft, so wird es in unsern Tagen, wo die wunderbaren Erscheinungen des Magnetismus uns An- und Aussichten in der Seelenerfahrungskunde eröffnet haben, die weit jenseits alles dessen liegen, was man noch vor 70, 80 Jahren für möglich hielt, und die doch wahrlich von zu vielen und zu glaubwürdigen Menschen bestätigt sind, um, wie manche es möchten, ganz ins Reich der Träume verwiesen zu werden, – es wird, sage ich, in unsern Tagen wohl nicht befremdend erscheinen, wenn ein alles umfassender Zusammenhang in der Geisterwelt angenommen wird; wenn wir es wagen, zu glauben, daß das höchste Wesen, dem wir und alle Geister ihren Ursprung danken, das selbst Geist, unbegreiflich, aber allmächtig, allwissend und allgegenwärtig ist, mit in diesen Zusammenhang gehöre, ja, daß dieser Zusammenhang eigentlich von ihm ausgehe und mittelst desselben alles umfaßt, was nur Schöpfung heißt. Er hat uns ja einen, nicht aus der Acht zu lassenden Wink darüber in dem Gebote gegeben, daß wir hier auf Erden für einander beten, die Seelen der Verstorbenen in unser Gebet einschließen und hoffen sollen, daß unsere vorangegangenen Mitbrüder ebenfalls vor Gottes Thron für uns beten, damit ein allgemeines geistiges Band die Gemeinschaft der Heiligen auf dieser Erde, im Himmel und unter der Erde umfasse. So laßt uns denn mit innerlicher Erhebung, mit frommem Glauben zu Gott dem Allgegenwärtigen beten, und sicher darauf rechnen, daß dies Gebet Erhörung finden werde – so, daß wir entweder den Gegenstand unserer Bitte erreichen[354] oder, falls dies Erreichen für jetzt nicht in den Plan der göttlichen Ratschlüsse passen sollte, doch sicher eine Erhebung, Beruhigung und Läuterung unsers Innern erfahren, welche uns zu bessern, folgsamern und folglich glücklichern Kindern Gottes machen wird.


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Das Neujahr 1837 war vorüber. Im vergangenen hatte ich, wie diese Blätter zeigen, viel Unangenehmes erlebt, werte Freunde durch den Tod verloren, und hätte sogar bald meinen innern Frieden durch unselige philosophische Spekulationen eingebüßt, wenn Gottes Gnade mich nicht gerettet hätte. Ich hatte also alle Ursache, mit trübem Blick auf dasselbe zurückzusehen, aber es sollte sich bald so gestalten, als ob das kommende Jahr noch viel Schlimmeres bringen würde – und so kam es denn auch!

Die Cholera hatte sich zwar aus unserm Umkreis entfernt, aber das zweite minder bösartige, aber nicht minder lästige Übel, das uns nun schon nebst der Cholera ein paarmal besucht hatte, die Grippe, zeigte sich wieder, und viele meiner Bekannten litten daran. Mich hatte es diesmal verschont, aber meine Tochter wurde davon befallen, und die Krankheit gestaltete sich so bedenklich, daß durch einige Tage der Arzt fürchtete, es könne in einen Typhus ausarten. Ich lasse jeden Menschen urteilen, wie mir bei diesem Ausspruch, der mein einziges Kind, die Mutter dreier unversorgter Waisen, in Lebensgefahr erklärte, zumute war! Ich sah das Unglück immer näher und näher heranschreiten, und mir blieben keine Waffen dagegen, als Ergebung und Standhaftigkeit. Die Vorsicht fügte es väterlich anders. Dr. Seeburger hatte richtig gesehen, [355] aber auch ein passendes Mittel gefunden. Durch eine Reaktion im Magen, mittelst Ipecacuanha, wurde dem Übel eine andere Richtung gegeben, es folgten Erbrechungen, und die Krankheit war gehoben. Zu unserer unaussprechlichen Freude besserte sich die Kranke schnell, nur warf auch diesmal, wie im Jahre 1825 zu Prag, der Krankheitsstoff sich auf den Fuß, erregte Geschwulst und Schmerzen und hinderte die Genesende noch längere Zeit im Gehen.

Doch auch diese furchtbare Periode ging vorüber, wir freuten uns der teuren erhaltenen Tochter, da erkrankte, nur damit die Kette von Unannehmlichkeiten und Sorgen, die seit einiger Zeit mein Leben beschwerte, nicht abreiße, eine mir sehr werte Freundin, Frau von Neumann, deren diese Blätter in Verbindung mit dem Zayschen Hause öfters Erwähnung gemacht haben, bedeutend an eben der unseligen Grippe. Marianne (so hieß Frau von Neumann) war seit mehreren Jahren Witwe und lebte in sehr knappen Umständen, die bei ihren hohen Jahren und zunehmender Kränklichkeit ihr Leben sehr unangenehm machten. Sie hatte ihren Gemahl, einen angesehenen Gardeoffizier, der ein sehr würdiger, aber in Rücksicht der Geistesbildung ihr durchaus nicht ebenbürtiger Mann war, nicht bloß treu und innig geliebt, sie hatte sich mit all ihrem Verstande und ihren ausgezeichneten Kenntnissen ihm willig untergeordnet; ein Betragen, das bei dieser Frau, deren Charakter von Natur eher heftig und bestimmt war, doppelt schätzbar erscheinen mußte. Sie war es auch, deren häusliches Verhältnis nebst dem meinigen der unglücklichen Luise Brachmann, als sie viele Jahre früher nach Wien gekommen und durch mich mit Mariannen bekannt geworden war, soviel Erstaunen [356] verursachte, daß man nämlich eine Schriftstellerin, eine Dichterin sein, und doch in einem sehr glücklichen häuslichen Verhältnisse mit einem sonst verehrungswürdigen, aber nicht eben dichterischen oder genialen Manne leben könne. Das hatte Luise Mühe zu glauben, und Pichler, den sie öfters sah und sprach, weil sie während ihres Aufenthaltes in Wien viel bei uns war, erschien ihr immer als etwas Wunderbares. Ich weiß aber nicht, ob das Wunderbare für sie darin lag, daß eine Dichterin sich recht wohl und glücklich an der Seite eines geistreichen, gebildeten Geschäftsmannes fühlen könne, oder daß der Geschäftsmann sich nicht als Gemahl einer Schriftstellerin höchst unglücklich finden müsse? Fast schien es mir, als wäre es diese letztere Ansicht, was dem herzensguten, aber verschrobenen Mädchen so unglaublich bei uns und somit auch bei Mariannen vorkam.

Diesen schätzbaren Mann hatte Marianne, wie gesagt, vor einigen Jahren verloren, und in ihrer beschränkten Lage, so ganz vereinsamt, kränklich, von der lebenslustigen und lebensvollen Welt durch diese Umstände, noch mehr aber durch den rasch fortschreitenden Gang des Zeitgeistes geschieden, kam sie sich selbst, wie sie es noch in einem recht hübschen Gedicht ausdrückte: wie ein abgeschiedener Geist vor, der entfremdet und verstummt die jetzige Welt anstaunt, in der er sich so wenig heimisch fühlt. Einigermaßen erkannte ich schon damals die Wahrheit dieser Anschauung, bald sollte ich durch einen gleichen Verlust die volle bittere Erkenntnis erhalten, daß man wie ein abgeschiedener Geist sich mitten unter Anderslebenden, Andersdenkenden, Andersfühlenden finden könne.

[357] In ihrer Krankheit, welche eine Folge der Grippe und sehr bedeutend war, besuchte ich Mariannen zuweilen, was aber durch die große Entfernung (sie wohnte in der Marokkanergasse neben dem Rennweg) mir sehr erschwert wurde. Einmal sprach sie sehr ernst, aber zugleich heiter und ruhig von ihrem wahrscheinlich nicht fernen Tode, und trug mir mancherlei auf, was sie in diesem Falle gern von mir getan wissen wollte; von Schriften, die ich übernehmen sollte usw. Auch erzählte sie mir mit ebensoviel Klarheit als Umständlichkeit, trotz ihres leidenden Zustandes, eine Anekdote aus ihrem frühern Leben, wo es ihr gelungen war, durch Geistesgegenwart, Klugheit und genaue Kenntnis der französischen Sprache, während der zweiten Invasion 1809 ihren Mann und seine Kameraden von dem strengen Spruche, als französische Kriegsgefangene betrachtet und daher nach Frankreich abgeführt zu werden, zu erretten. Die Erzählung war lang, Marianne war bedeutend dadurch angeregt, und ich trachtete, soviel ich vermochte, sie zu beruhigen.

Ihr körperliches Befinden schien mir nicht bedenklich, und ich verließ sie voll guter Hoffnung, sie nächstens außer dem Bette zu finden. Zu meinem großen Schrecken wurde ich 6–8 Tage darnach eines Morgens mit der Nachricht geweckt, daß Frau von Neumann plötzlich sehr schlecht geworden sei, und ich eilen müsse, wenn ich sie noch sehen wollte.

Ich war ungemein über diese Nachricht erschrocken, um so mehr, als ich, meinen Beobachtungen bei meinem letzten Besuche zufolge, sie bereits auf dem Wege der Besserung glaubte. Sogleich fuhr ich hinüber zu ihr, aber der erste Blick auf ihre ganz veränderten Züge zeigte mir, daß hier der letzte Augenblick nahe sei. – [358] Wirklich hatte ich, die ich schon öfters bei Sterbenden gewesen, eine solche bis zur Unkenntlichkeit gehende Veränderung der Physiognomie noch nie gesehen. Doch verbarg ich meine peinliche Überraschung, und da Marianne mit jener Seelenkraft, die sie schon in vielen Lagen ihres Lebens gezeigt, sich auch jetzt ermannte, und ruhig mit mir über ganz gleichgültige Dinge, wie z.B. über den Roman: Marco Visconti sprach, von dem sie behauptete, daß sowohl die Anstrengung, welche ihr die, ihr nicht ganz geläufige italienische Sprache als auch der ergreifende Inhalt verursacht, wohl schuld an der Verschlimmerung ihres Zustandes sein möchte, wagte ich es nicht, meine Besorgnisse zu äußern, weil ich sie, die mir mit ihrer Lage nicht ganz bekannt schien, nicht erschrecken wollte. Beim Fortgehen indessen schien es mir doch, als sagte der Druck ihrer Hand und ihr Blick: es ist ein Abschied fürs Leben! Und so war es auch; um 1 Uhr ungefähr verließ ich sie, um 8 Uhr abends war sie verschieden. Ihr sowohl als unserm guten Kurländer habe ich in kleinen Aufsätzen, welche im »Telegraphen«, wenn ich nicht irre, abgedruckt wurden, ein herzliches Lebewohl nachgerufen; – möchte ich sagen dürfen: Ein baldiges Wiedersehen! nicht mit ihnen allein, sondern mit so vielen, die ich früher und später so schmerzlich, so unersetzlich verloren!

Der Sommer dieses Jahres brachte unstetes, kühles Wetter, und erst gegen Anfang des Augusts wurde es warm, dann aber auch sehr heiß, und während dieser warmen Tage fand unsere Abreise nach Baden statt.


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Hier beginnt nun die traurigste Epoche meines Lebens, eine Zeit der Prüfung, des Leidens, wie sie[359] keine frühere Periode brachte und hoffentlich keine spätere bringen wird.

Pichler fühlte sich, sowie die Hitze eintrat und zu nahm, nicht so wohl, und hauptsächlich nicht so heiter und gleichmütig als sonst. Er wollte es nicht Wort haben, wenn man ihn darüber befragte. Er behauptete, gesund und ganz so wie sonst zu sein und wir, die ihn zunächst umgaben, fanden doch eine große Veränderung in seiner Laune, in seinem ganzen Benehmen. Dessen ungeachtet nahm er freundlich an allem teil, was uns anging, und beschäftigte sich, wie schon früher, sehr ernstlich, sehr angelegentlich mit seines Enkels Studien, der nun schon in die Gymnasialklassen eingetreten war, für den er mit unverdrossener Mühe Lehrer gesucht, die Studien überwacht, bei jeder Prüfung zugegen gewesen war und, besonders während der Ferien, den Knaben, der gute Fortschritte machte, mitunter selbst unterrichtet hatte. So geschah es auch dies Jahr, und Pichler hing, wie wir alle, mit großer Liebe an dem hoffnungsvollen Kinde, das damals zwölf Jahre alt war.

Sehr angenehm war uns allen die gleichzeitige Anwesenheit unsers vieljährigen, treuen und schätzbaren Freundes, des Regierungsrates von Perger, mit dem ich in meiner frühern Jugend schon bekannt gewesen, und der uns allen seit dieser Zeit, das heißt seit einem halben Jahrhundert, in Freud und Leid treu zur Seite gestanden hatte. Daß er und Pichler seit vielen Jahren Kollegen waren, verband uns noch fester, und so verbreitete denn Pergers fast jedes Jahr mit uns gleichzeitige Anwesenheit in Baden viel Angenehmes über diesen Aufenthalt. Seit ein paar Jahren traf es sich auch, daß ein anderer Jugendbekannter, Baron Jacquin,[360] Baden zu gleicher Zeit mit uns besuchte. Seit der Naturforschergesellschaft waren wir einander wieder genähert worden, und auch in dem unglücklichen Jahr 1837 waren die Jacquinschen in Baden und wohnten sehr nahe von uns im Sauerhofe, wir wieder in der Landschaft. Ich habe schon erwähnt, daß Pichlers Stimmung und Befinden uns verändert vorkam, obgleich sich eigentlich nichts namhaft machen ließ, was ihm fehlte. Er selbst schob es auf die damals sehr drückende Hitze, und wir hätten es alle gern geglaubt, wenn nicht die Veränderung gar zu auffallend gewesen wäre. Er, der sonst mit einer wahrhaft stoischen Gleichgültigkeit sein Ameublement, sein Bette, seine häuslichen Bedürfnisse und Umgebungen betrachtet hatte, fand jetzt auf einmal fast an allem etwas auszusetzen, bald war ihm sein Bette zu niedrig, bald ein Sessel zu hoch, eine Decke zu warm, ein Kleidungsstück zu kühl usw. Wir alle fühlten uns beunruhigt und geängstigt durch diese Reizbarkeit an dem sonst so ruhigen, ja, ich darf sagen, weisen Manne, der stets jedem Dinge, belebt oder unbelebt, seine richtige Stelle und Würdigung anzuweisen gewohnt war. So dauerte unsere Besorgnis einige Tage fort, solange nämlich die Hitze währte. Wie es aber in unserm Klima so oft geschieht, mit einem heftigen Wind trat plötzliche Kühle ein; wir gingen nach Tische in den Sauerhofgarten, weil es zu einem weiten Gang zu stürmisch war, und hier mag wohl der erste Grund zu der nachfolgenden Verkühlung gelegt worden sein. Bald darauf fühlte sich Pichler von Schmerzen im Unterleibe und den damit verbundenen Unbequemlichkeiten belästigt, aber noch war keine Rede von einem eigentlichen Kranksein. Wir gingen in den Mittagsstunden spazieren, und ich brachte, [361] so wie jedes Jahr, wenn Jacquin in unserer Nähe wohnte, zuweilen mit meinem Enkel, der große Freude an der Naturkunde hatte, einen Abend in diesem Kreise zu, wo mikroskopische Versuche usw. uns, und besonders den Knaben, sehr ergötzten, und unser alter Freund Perger, eben auch ein ehemaliger Schulkamerad von Baron Jacquin, dann auch nie fehlte.

Pichlers Zustand verschlimmerte sich nicht, wir hofften, es sollte glücklich vorübergehen, und ich nahm eine Einladung der Baronin Doblhof an, den Abend bei ihr in Weikersdorf zuzubringen. In der Mittagsstunde besuchte uns B. Jacquin, und hielt sich etwas länger auf, um mein Fernrohr von Plößl, das ich ihm zeigte, zu richten. Kaum war er fort, als Pichler, dessen Schweigsamkeit und gespannte Haltung mir schon während Jacquins Anwesenheit aufgefallen war, die erschreckende Kunde mitteilt, daß ihn sein altes Übel, jener furchtbare Krampf im Unterleibe, befallen habe. Das war also die Lösung aller dieser beunruhigenden Erscheinungen in Pichlers Befinden und Benehmen seit ungefähr vierzehn Tagen. Das alte, so sehr gefürchtete Übel hatte sich wieder eingestellt, nachdem es seit acht Jahren verschwunden und jede Gefahr beseitigt geschienen hatte! Vermutlich waren alle früheren Erscheinungen nur Vorbereitungen dazu gewesen, die wir leider nicht zu deuten und ihnen zuvorzukommen verstanden, sondern das Übel nur für eine gewöhnliche Erkältung gehalten hatten.

Es war am 30. August, einer Mittwoche; – ach, alles steht mir noch so hell und schmerzlich vor dem Geiste! Es versteht sich, daß Pichler sich sogleich zu Bette legte; warme Umschläge und alles, was früher für solche Fälle war verordnet worden, gebraucht, und [362] nach Dr. Habel geschickt wurde. Ängstlich harrten wir seines Ausspruchs, er lautete nicht so schlimm, als ich gefürchtet. Es war wohl ein Krampf eingetreten, aber er war nicht so heftig als sonst, und erregte deswegen auch keine so großen Besorgnisse. Vier bis fünf Tage währte das so, da erkrankte plötzlich der Sohn meiner Tochter, und zwar auf eine Art, die ernstliche Befürchtungen einflößte. Nun waren unsere Sorgen geteilt und mithin verdoppelt. Bei Pichler ging das Übel einen stillern Gang, bei August hingegen schien es sich mit jedem Tag zu steigern, und der gute Großvater, der den Knaben zärtlich liebte, der, wie schon gesagt worden, den regsten Anteil an seinen Studien, seiner Geistesentwicklung nahm, fühlte eine nachteilige Einwirkung von der Sorge für den geliebten Enkel in seinem eignen Leiden; obwohl wir ihm mit großer Vorsicht und nicht geringer Mühe den bedeutendsten Teil unserer Befürchtungen verbargen. Jetzt trat bei August ein heftiges Nasenbluten ein, und als ich eines Nachmittags von einem kleinen Spaziergang mit den beiden Mädchen, des Kranken Schwestern, zurückkam, fand ich diesen in seinen Gesichtszügen so verändert, so entstellt, möchte ich sagen, daß mich eine unsägliche Angst ergriff. Wirklich stieg die Gefahr auch mit jedem Tage. Dr. Habel verlangte, daß noch ein Arzt beigezogen würde, und da wir alles seiner Einsicht überließen, auf welche wir mit Recht großes Vertrauen setzten, so brachte er uns Herrn Dr. Wolff, Leibarzt des Erzherzogs Karl, der sich damals in Baden befand, und beide untersuchten nun die beiden Kranken, Pichler und den Knaben. Ihr Ausspruch lautete sehr entmutigend. Pichlers Zustand behaupteten sie nicht ergründen und daher nichts Entscheidendes vornehmen [363] zu können, weil er sich diesmal wie die früheren Male standhaft jeder chirurgischen Untersuchung, wobei Instrumente anzuwenden notwendig gewesen wäre, widersetzte, und dies durchaus nicht zugeben zu wollen erklärte. Beide Ärzte wußten daher nichts Bestimmtes zu verordnen, und nur Palliative konnten angewendet werden. Bei August war die Entscheidung noch angstvoller. – Dr. Wolff erklärte die Krankheit geradezu für ein Nervenfieber, und mir, nach so vielen Erfahrungen, welche ich seit Jahren gemacht, klang dieser Spruch wie ein Todesurteil.–Es war mir, als sei der hoffnungsvolle, liebenswürdige Knabe bereits verloren. Dr. Wolff sah meinen Schrecken, er suchte mich freundlich und teilnehmend zu beruhigen. Glauben Sie denn, daß wir kein Nervenfieber kurieren können? fragte er mich mit gütigem Ton. Ach, mir war eine solche Kur immer wie ein Glückswurf vorgekommen, nie aber wie ein Erfolg, auf den man mit einiger Wahrscheinlichkeit zählen konnte. Zugleich empfahlen uns die beiden Ärzte, den Knaben am folgenden Tage beichten und versehen zu lassen. Mit dieser Gewißheit, mit diesem tödlichen Bewußtsein im Herzen, mußten wir, die Tochter und ich, zum Vater zurückkehren, und ihm von dem, was die Ärzte ausgesprochen, was auf morgen beschlossen war, alles verhehlen, was ihn zu sehr beunruhigen konnte; denn beunruhigt war der liebende, seinen Kindern und besonders dem vielversprechenden Knaben anhängliche Vater und Großvater ohnedies durch das, was ihm bei einem innigen Zusammenleben in einer Haushaltung zu verbergen unmöglich war; und ich glaube nicht zu irren, wenn ich sage, daß die Sorge um dies geliebte Kind viel beitrug, Pichlers Krankheit zu vermehren und die Katastrophe zu beschleunigen.

[364] Nach Dr. Habels Wunsch, der sich in dieser traurigen Periode als ebenso geschickter Arzt wie als teilnehmender Freund erwies, wurde nach Wien zu Baron Türkheim und Dr. Seeburger geschickt, um ihre Meinung in diesem wichtigen Fall zu vernehmen. Der erste war von Wien abwesend, Dr. Seeburger kam den folgenden Tag abends nach Baden, nachdem morgens die heilige Zeremonie in größter Stille, damit der Großvater nichts davon erfahre, vollzogen worden war, wobei der Knabe mit großer Anstrengung, aber vollkommener Fassung seine Andacht zu unser aller Erbauung verrichtet hatte. Diese Fassung war umsomehr als eine Kraftäußerung seines Willens zu bewundern, da er vorher und darnach in Phantasien gelegen, und nachdem die Zeremonie vorüber war, geäußert hatte, daß er nun etwas Großes überstanden habe.

Dr. Seeburger untersuchte beide Kranke. Bei Pichler lautete sein Ausspruch ungewiß über den Stand der Krankheit wie der des Dr. Wolff. – So viel aber konnte ich wohl aus allem entnehmen, daß der Zustand höchst bedenklich sei, und ich von dieser Seite viel zu fürchten habe. Über August aber sprachen sich beim Weggehen beide Doktoren so entschieden ungünstig aus, daß Seeburger uns mit dem leidigen Trost verließ: Solange das Leben währt, bleibe ja noch immer Hoffnung. Beim Souper aber, das sie in demselben Hause, wo wir wohnten, bei Graf Csaky einnahmen, erklärten sie vor den Bedienten, durch die wir es nach einiger Zeit erfuhren, ganz unumwunden, daß der Knabe noch diese Nacht sterben werde.

Aber Gott, unser aller Vater, hatte unsern Schmerz gnädig angesehen und uns nicht ganz zu vernichten beschlossen. Auf eine Arznei, welche Habel verordnet [365] hatte, schlief August in der Nacht einige Zeit, am andern Tage brach der Friesel aus. Er wurde auf Habels Befehl, nicht ohne Anstrengung und unter treuer, eigenhändiger Mitwirkung seines gütigen Arztes, in ein laues Bad gebracht, dann warm zugedeckt ins Bette gelegt, mit dem Bedeuten, sich nicht zu regen, keinen Arm oder Fuß aus der Decke zu strecken; – und der zwölfjährige Knabe, der sich jetzt übrigens völlig bewußt war, gehorchte mit der Folgsamkeit eines Kindes und der Willenskraft eines Mannes. Auch erntete er, und durch ihn wir, die schöne Frucht dieser Anstrengung; denn sein Zustand fing an, sich, wiewohl langsam, zu bessern.

Aber noch war die Gefahr nicht beseitigt, und obwohl wir zu hoffen anfangen durften, hielt uns Dr. Habel immer noch mit zweifelhaften Äußerungen viele Tage in ängstlicher Ungewißheit.

Auch mein geliebter Pichler erfreute sich noch der bessern Nachrichten von dem teuern Enkel, aber in seinem eignen Zustande wollte durchaus keine günstigere Wendung eintreten. Er selbst bemerkte dies wohl, und sah, vielleicht klarer, als er aus Schonung für Frau und Tochter zu erkennen geben wollte, das Bedenkliche seiner Lage nur zu wohl ein. Denn sein Geist behielt durch diese ganze Zeit vollkommene Herrschaft über sein Krankheitsgefühl, und Lesen, Vorlesenhören, ja selbst Geschäftsarbeiten füllten die Stunden des Tages. Täglich bekam er ein Paket mit Kanzleischriften zum Bearbeiten oder Unterzeichnen, nebst Zeitungen aus Wien; Rottecks Geschichte las ich ihm vor, und wenn unser Freund Perger kam, arbeitete er oft mit ihm in seinen Kanzleiangelegenheiten. So ging es vom 11. an, an dem August gebeichtet hatte, bis [366] zum 16., einem Samstag, meinem letzten ganz glücklichen Tag auf dieser Erde, dem letzten einer einundvierzigjährigen Ehe! Gott hatte mich lange dies seltene Glück genießen lassen. – Ich darf wohl trauern, aber nicht murren, daß er es mir endlich entzog.

Pichler war den Tag über leidend, aber wenigstens nicht sichtbar schlimmer wie schon seit drei Wochen, und ganz klar und kräftig im Geiste. Abends, als ich allein bei ihm war, weiß Gott, welches Vorgefühl ihn aufgeregt haben mochte! rief er mich zu sich, und fing nun an mit dem liebevollsten Tone, aber auch mit einer so ruhigen Fassung von seinem möglich nahen Tode und den Anstalten und Maßregeln, welche für mich und die Kinder in diesem Falle nötig sein würden, zu sprechen, als beträfe es einen ganz fremden Menschen. Und je mehr ich den wahrhaft christlichen Weisen in dem Manne verehren mußte, der so mit seinem Weibe von dem eignen Tode sprach, je schmerzlicher und angstvoller preßte mir der Gedanke an den, möglich sehr nahen Verlust eines solchen Lebensgefährten das Herz zusammen. Doch faßte ich mich und bemühte mich, indem ich diese ganze Rede nur als eine im voraus zu nehmende, wohlüberlegte Maßregel für einen einst eintretenden Fall zu betrachten schien, ihm in diesem Sinn zu antworten, und ihn auch mit den Maßregeln bekannt zu machen, die ich selbst für meinen Todesfall bereits genommen. So sprachen wir ernst, aber ruhig über unser beiderseitig wahrscheinlich baldiges Lebensende, bis Freund Perger eintrat und ich den Herren den Tisch mit den Amtspapieren usw. zurechtrückte, worauf sie ihre Geschäftsarbeit gemeinschaftlich begannen.

Ich bin mit Vorbedacht etwas weitläufiger, als vielleicht gerade nötig war, um anschaulich zu machen:[367] erstens, welch ein herrliches Gemüt Pichler besaß, und dann, wie wenig ich darauf vorbereitet war, ihn, der wohl bedenklich, aber durchaus nicht lebensgefährlich krank schien, so schnell und plötzlich zu verlieren.

Unsere Wohnung in Baden war geräumig und hübsch, auch wohl mit Öfen und Vorfenstern versehen, wir waren also, selbst wenn die Krankheiten unserer Lieben uns tief in den Herbst hier halten sollten, von dieser Seite ohne Sorge. Aber wir wünschten die beiden Mädchen aus der Nähe des schwer und ansteckend kranken Bruders zu entfernen und hatten hierzu keinen Raum. – Da ergab sich aus dem Übel selbst die Abhilfe. Bei August wurden Umschläge von aromatischen Kräutern und Bisampulver für nötig erachtet. Alles dies, aber besonders der Bisam, verbreitete einen heftigen Geruch im Hause, und da der Bisamgeruch vielen Personen unleidlich, ja schädlich ist, so suchte ein Fräulein, das die Wohnung neben uns hatte, sich eine andere, und verließ das Haus. Wir bedauerten die Ungelegenheit, welche ihr dies verursachen mußte, von Herzen; machten ihr auch unsere besten Entschuldigungen, freuten uns aber sehr, durch diesen Zufall ein Zimmer für die Mädchen und eine Küche im ersten Stock zu erhalten, weil unsere bisherige im Erdgeschoß, und daher bei zwei gefährlich Kranken höchst unbequem zu benützen war. Wenn alles gesund ist, mag es in einem größern Haushalt sein Angenehmes mit sich bringen, die Küche etwas weiter von sich zu haben, in kleineren Familien aber, besonders bei Kranken, tritt die Unbequemlichkeit einer so gelegenen Küche gar sehr hervor, und wir hatten auch deshalb gleich im Anfang von Pichlers Kranksein eine Wärterin genommen, um die Dienstboten zu unterstützen.

[368] Schon seitdem die Wärterin angenommen war, schlief ich nicht mehr in Pichlers Zimmer, sondern dicht daneben im Tafelsaale, und an der andern Seite hatten jetzt die beiden Mädchen ihr Schlafgemach. Pichler brauchte jede Nacht drei- bis viermal fremde Hilfe, die sein Zustand unumgänglich nötig machte, und ich durfte seit meiner letzten Krankheit im vorhergegangenen Winter nicht nachts das Bett verlassen, wenn ich nicht völlig angekleidet war. Das machte nun meine Anwesenheit im Krankenzimmer überflüssig, ja hindernd, und Pichler fühlte sich erleichtert, wenn er sich bewußt war, seine alternde Lebensgefährtin nicht so oft im Schlafe stören zu müssen; zudem konnten wir uns auf die Wärterin vollkommen verlassen. Meine Nächte waren daher, bis auf die bangen Stunden, die meine Sorge für zwei geliebte Kranke mich wach erhielt, ziemlich ruhig.

In der Nacht jenes Samstags, an dem Pichler das unvergeßliche Gespräch mit mir geführt hatte, hörte ich ihn noch mit ganz natürlicher Stimme und klarer Besinnung mit seiner Wärterin und dem Bedienten sprechen und ihnen Befehle erteilen, weil er am nächsten Sonntag einen Besuch aus Wien erwartete. Dann schlief er wieder ein, und ich ebenfalls. – Um halb 7 Uhr morgens wurde heftig an meiner Türe gepocht, und ich hörte auch rufen. So schnell als möglich kleidete ich mich an, eilte in Pichlers Zimmer und fand ihn, ohne Bewußtsein, vom Schlage gerührt, sterbend.

Wozu soll ich meine Empfindungen, die furchtbare Erschütterung erwähnen oder beschreiben, die dieser Anblick mir verursachte? Wer Gefühl für Leiden solcher Art hat, wird mich auch ohne Schilderung begreifen [369] und es sich selbst sagen; wer dies Gefühl nicht in sich trägt, dem kann es nicht begreiflich gemacht werden.

Um Arzt und Geistlichen wurde augenblicklich geschickt. – Sie kamen zu spät. Er war verschieden, und der Gefährte meines ganzen Lebens hatte mich verlassen! Alles, was ich damals deutlich empfand, war der heiße Wunsch: Er möchte mich mit sich nehmen, er möchte mich nicht ohne ihn in dieser Welt zurücklassen!

Gott hatte es anders beschlossen. Ich durfte nicht mit ihm zugleich die Reise nach jenen Auen des Friedens antreten, ich sollte mich unter mannigfachen Sorgen, Trübseligkeiten und viel drückendern Lebensbedingungen, der Vater im Himmel weiß wie lange? hier auf Erden herumtreiben, wo mir zwar in meiner Tochter und ihren drei Kindern viele Freuden erblühen, wo ich aber doch Pichlers Liebe, seinen Schutz, seinen Rat, seine nie fehlende Teilnahme, seine höchstverständige, auf lange Erfahrung gestützte und von dem mildesten, menschenfreundlichsten Sinne geleitete Belehrung und Zurechtweisung fürder aufs schmerzlichste entbehren muß. Wohl kann ich seitdem den Vers auf mich anwenden, den ich späterhin auf einem Kupferstiche fand, wo eine Nonne, im Kreuzgang stehend, über einen Gottesacker in eine blühende Landschaft hinausblickend, sagt:


Alles knospt und treibt und blühet,

Aber meine Welt ist tot.


Diese Worte ergriffen mich tief, wie ich sie das erstemal las, und ich kann wohl sagen, daß ich sie seitdem im stillen zu meiner Devise gemacht. Und es war ja nicht Pichler allein, welcher aus meiner Welt geschieden [370] war. Die Leser dieser Blätter haben, besonders in den letzten Jahren, so viele schnell aufeinander folgende Todesfälle mir werter Personen in denselben aufgezeichnet gefunden, daß sie leicht zu der Überzeugung gelangt sein werden, meine Welt, d.i. die Menschen, die mit mir gelebt, die meine Jugend, mein reiferes Alter gesehen, die so manches ernste, so manches trübe, so manches heitere Ereignis mit mir erlebt, die einerlei oder wenigstens eine ähnliche Geistesrichtung und Geistesbildung mit mir gehabt, die folglich meine Ansichten teilten, und mir gleichgestimmt in Leid und Freud, im Urteil über Menschen und Dinge, im Geschmack an Literatur und Kunst usw. entgegenkamen, diese Menschen waren nicht mehr da. Eine neue Welt hatte sich, besonders seit 1830, um uns herum gestaltet, das kennt und fühlt jedermann, und der gewaltige Umschwung, den alle Lebensbedingungen genommen haben, wird in Rede und Schrift überall abgehandelt. Diese Umstaltungen dringen bis ins Innerste des Haushalts, wirken auf die Erziehung der Kinder, auf die Stellung der Eltern gegen diese, auf die Stellung der Herrschaft gegen das Gesinde, verändern den Tageslauf und die Stundeneinteilung, kurz, sehr betagte Menschen sollen gleichsam einen neuen Lebenslauf lernen. Wohl hat schon vor 2000 Jahren der römische Dichter den Alten als laudator temporis acti, se puero, censor, castigatorque minorum geschildert, und ich will gern zugestehen, daß meine Jahre einigen Teil an diesem Fremdfühlen in der jetzigen Welt haben mögen; aber ich weiß doch recht gut, daß weder mein Vater, der im Jahre 1798 mit 68 Jahren, noch meine Mutter, welche 1815 mit 75 Jahren starben, einen andern wesentlichen Unterschied in der Lebensweise, in der Denkart ihrer [371] Umgebungen gefunden haben, als den der notwendige Gegensatz der Jugend und des Alters hervorbringt. Meine Mutter führte bis an ihren Tod ein ziemlich gleichförmiges Leben und erlebte in dem Benehmen und den Gesinnungen der jüngern Welt nichts Befremdendes, nichts, was ihr sehr verschieden von ihrer eigenen Jugend vorkommen konnte. So war es nicht bei mir und bei allen jenen, welche mit mir tief in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hineinlebten, das die Welt in politischen, literarischen und soziellen Begriffen ganz verwandelt hat.

In bezug auf alle diese gewaltigen Veränderungen kann man es der, damals beinahe 70 jährigen Matrone wohl nicht verdenken, wenn sie nach dem Verlust des treuen, geliebten Lebensgefährten, mit dem sie 41 Jahre Hand in Hand gewandelt, sich mehr als sonst eine Witwe in früherer Zeit vereinsamt fühlte. Hierzu trat noch das Individuelle, Beschwerliche unserer häuslichen Lage. Nicht an meinem gewöhnlichen Wohnort, nicht imstande, mir alle Erleichterungen, Bedürfnisse, Auskünfte usw. zu verschaffen, welche bei einer solchen Katastrophe jeder Familie unumgänglich notwendig werden, mußten alle die vielen schmerzlichen und peinlichen Geschäfte mit viel größerer Mühe getan werden, und alle lasteten nun auf mir allein; denn meine Tochter durfte und wollte ich in diesen Tagen nicht mit neuen Sorgen und Kümmernissen beladen. Ihres Sohnes Krankheit hatte sich zwar ein wenig besser gestaltet, dennoch schwebte der Tod mit breiten Flügeln noch über des Kindes Haupte, und die Mutter war unentbehrlich an seinem Krankenlager. Sie schlief durch viele Nächte beinahe gar nicht. – Wenn sie in mein Zimmer kam, und einige Augenblicke ruhte, [372] fielen ihr die Augen beinahe gewaltsam zu, ihre Erschöpfung war sichtbar. Ich mußte noch für ihre Gesundheit zittern, und so konnte und wollte ich keine Hilfe von ihr erwarten. Alle die anstrengenden und innerlich aufregenden Besorgungen, wie sie bei geliebten Toten nötig sind, lagen daher mir allein ob. Wohl besuchte uns Fräul. Luise von Gärtner sogleich, und übernahm gütig die Anstalten für unsere Traueranzüge, B. Lago unterstützte mich bei manchen schriftlichen Abfassungen, am meisten aber leistete uns Freund Perger, der damals zu unserm Glücke in Baden war, und der nicht diesmal allein, sondern jederzeit, wenn es trüb am Horizonte unsers Hauses oder eines andern seiner Freunde aussah, sogleich erschien, und Trost, Rat, Hilfe brachte, sofern es in seiner Macht stand. Er besuchte uns, er stand uns mit Rat und Tat bei und suchte später so viel zu unserer Aufheiterung beizutragen, als er konnte und wir zu empfangen fähig waren. Ich konnte es diesem treuen Freunde, der seinem Kollegen leider nach einem halben Jahre in die Ewigkeit folgte, während seines Lebens nicht genug danken, was er bei frühern Gelegenheiten und namentlich in dieser schweren Periode für mich und die Meinen getan. Mein Dank und mein treues Andenken folgt ihm in jene bessere Welt.

Am 19. September war die Beerdigung. Mehrere Freunde und Freundinnen, vor allem viele Kollegen und durch Dienstverhältnisse Pichlern befreundete Männer kamen aus Wien dazu heraus. Der Leichenzug war feierlich und ansehnlich, und die Teilnahme, welche die Bewohner Badens dem Verstorbenen und auch uns zollten, bewies, daß sie sich dankbar des vielen Guten erinnerten, welches ihnen durch Pichlers Vermittlung [373] zugeflossen war; auch sagte eine unserer Bekannten, welche die Verdienste kannte, die der Verklärte sich um Baden erworben: er sei in seinem Lande gestorben.

Er war nun tot; seine Gestalt aus unserer Mitte, aus der Welt verschwunden. Nirgends konnten wir ihr mehr begegnen, sie nirgends finden als in unsern Herzen. Seine liebevolle Sorge für uns, sein Trost, sein verständiger Rat, die Beruhigung, die für mich darin lag, mit jeder Angelegenheit, jedem Geschäft zu ihm flüchten und einer redlichen verständigen Auskunft oder Belehrung aus seinem Munde sicher sein zu können; dieses so wohltätige Verhältnis hatte nun aufgehört, und wir fühlten uns sehr verlassen; um so mehr, als Augusts Zustand noch immer bedenklich blieb, und der Arzt durchaus die Gefahr noch nicht für beseitigt erklären wollte. Eine große Erleichterung war es uns in dieser Epoche, daß er den Mädchen den freien Zutritt zu ihrem kranken Bruder erlaubte, nachdem sie durch einige Wochen getrennt gewesen, und uns aus dieser Trennung manche Beschwerlichkeiten erwachsen waren. Aber nun trat eine neue Sorge ein. Die Mädchen wußten natürlicherweise um den Tod des Großvaters, dem Knaben war er aus begreiflichen Ursachen verborgen geblieben, und es kam nun darauf an, ihn in dieser für ihn heilsamen Unwissenheit zu lassen. Die Dienstboten waren verläßlich, wir konnten hoffen, daß sie das Geheimnis vor dem Knaben bewahren würden. Aber die Schwestern? Zwei Kinder von 10 und 6 Jahren, die eine Sache, welche sie so nahe betraf, welche sozusagen in ihr ganzes kindliches und häusliches Leben verwebt war, mit keinem Worte berühren, ja, wenn Bruder die Rede auf den Großpapa bringen würde, [374] sich in Wort und Tat so geschickt benehmen sollten, daß der Kranke keinen Verdacht schöpfen konnte? Das war eine schwierige Aufgabe, die uns mit großer Angst wegen des schädlichen Einflusses erfüllte, den ein unvorsichtiges Wort auf den noch sehr schwachen Kranken, der seinen Großvater herzlich liebte, haben könnte. Wir selbst beobachteten die Vorsicht, so oft wir ins Krankenzimmer traten, die Trauerkleider, welche wir außer dem Hause trugen, abzulegen.

Aber die guten, herzlieben Kinder waren von ihrer Mutter so verständig erzogen, und hatten selbst so viel Einsicht, daß es ihnen nicht schwer ward, Gewalt über ihre Zunge auszuüben, und während 4–5 Wochen, solange nämlich unser Aufenthalt in Baden Augusts wegen währte, der sich nur langsam erholte und dessen Krankheit allerlei wechselnde Symptome zeigte, mit keinem Blick, keinem Worte zu verraten, daß sein Großvater, um den er so oft fragte, und sich damit beschäftigte, wie denn der noch stets kranke und so große, schwere Papa in den Wagen und nach Wien geschafft werden würde? nicht mehr lebte. Wenn man bedenkt, wie schwer es oft Erwachsenen fällt, sich in solchen Fällen nie zu verraten, so muß man die Kinder bewundern, welchen die Liebe zum Bruder und der Gehorsam gegen die Mutter eine solche Herrschaft über sich selbst gab.

Nach und nach kehrten die wenigen Bekannten, welche den Aufenthalt in Baden noch mit uns teilten, nach Wien zurück, und es wurde immer stiller um uns. Nur unser treuer Perger hielt bei uns aus und besuchte uns täglich, brachte unter andern den Kindern die »Flinserln« von Seidl mit und veranlaßte sie, einiges davon auswendig zu lernen, was die Kinder allerliebst [375] rezitierten, so z.B. Fanny: den Laundler und alle drei zusammen eine Szene, wo zwei Bauern vor dem Amtmann erscheinen, und sich so albern benehmen, daß ihnen der Amtmann rät, beim nächsten Jahrmarkt sich Verstand zu kaufen. Auch hatte diese, die überhaupt Anlage zur Poesie zeigte, eine Art kleiner Komödie geschrieben, die Bezug auf ein unter ihnen gewöhnliches Spiel hatte, und die die beiden Mädchen ebenfalls mit Lebendigkeit und Sinn vortrugen. Das waren nun die einzigen lichten Punkte in unserer trüben Einsamkeit, außer einigen freundlichen Besuchen, die freilich im Oktober in dem menschenleer gewordenen Baden immer seltener wurden. Bald war die Gräfin Csaky, die ich vor einigen Jahren in Wien kennen gelernt und zuweilen besucht hatte, die einzige Bekannte, welche für uns in Baden existierte und diese Frau, mit der ich früher keinen genaueren Umgang hatte, erwies uns nun in unserer traurigen Lage manche Gefälligkeit, für die ich ihr ewig dankbar sein werde. Sie besuchte uns, sie setzte sich an Augusts Bette, brachte ihm Spielzeug, spielte mit ihm, versorgte ihn mit Backwerk, das sie für ihn von Wien kommen ließ, und zeigte dadurch, daß sie in ihrem schönen Herzen durch eignes Unglück (sie hatte von 4 oder 5 Kindern nur einen Sohn übrig behalten) mit dem anderer, wenn sie auch nicht unter ihre nächsten Freunde gehörten, Teilnahme zu fühlen gelernt habe. Auch Dr. Habel, unser Arzt, erwies sich dem guten und geistvollen Knaben gefällig. Er blieb oft lange an seinem Bette und unterhielt sich mit ihm über dessen Lieblingsfach, die Naturkunde.

Ganz besonders traurig, ja schaurig möchte ich sagen, war es meiner Tochter und mir abends in dem großen Tafelzimmer, einer Art Saal, wo wir sonst in behaglicher [376] Vereinigung mit den Unsrigen und einigen Freunden, nicht dies Jahr allein, sondern auch in früheren so oft gesessen und uns mit Plaudern, Spielen, Lesen unterhalten hatten. – Nun war das Haupt des Hauses tot, der einzige Sohn meiner Tochter kaum noch dem Schrecken des Todes entronnen; die Schwestern waren bei ihm, die Dienstleute ebenfalls dort oder anderwärts beschäftigt. Wenn wir beide Verlassene so in der Dämmerung das weite Gemach, das ein paar auf den Tisch gestellte Kerzen kaum zu erhellen vermochten, an den langen Herbstabenden durchschritten, o wie einsam, von aller Freude geschieden, dünkten wir uns! Es war eine sehr trübe, vielleicht die trübste Epoche meines langen Lebens.

Aber es geht auf dieser Erde alles vorüber, das Beste wie das Schlimmste. Nichts hat Halt, nichts Bestand. So waren einundvierzig glückliche Jahre, welchen es zwar an düstern Stunden, Tagen, Wochen nicht gefehlt, vorübergegangen, so hatten wir die Schreckenstage von Pichlers Tode und Augusts großer Gefahr überstanden, und so entschwanden denn auch die düstern Tage des Oktobermonats, und der Zeitpunkt, daß wir den Schauplatz so vieler Leidensszenen verlassen und nach Wien zurückkehren sollten, war mit Ende dieses Monats gekommen.

Erst in Wien, wohin ihn an der Seite seiner Mutter sein Arzt und unser gütiger Freund Dr. Habel begleitete, erfuhr der Knabe, daß sein Großvater bereits seit sechs Wochen tot war. Es erschütterte ihn sehr; – aber die mildernde Kraft, die selbst in der bloßen Vorstellung dieses längeren Zwischenraumes lag, die Schwäche, welche des kaum Hergestellten Empfindungen und Gedanken noch gleichsam mit einem [377] Schleier umhüllte, und endlich die jugendliche Beweglichkeit nahmen dem Eindruck, wie schmerzlich er auch war, seine schadenbringende Macht. Auch dieser gefürchtete Moment ging vorüber. August erholte sich allmählich; seine Jugendkraft, seine Gesundheit, seine geistige Tätigkeit erreichten nicht allein wieder den Grad, den sie vor der Krankheit hatten, sie entwickelten sich vermehrt, kräftiger, dauernder als zuvor. – Er ward vom Knaben zum hochaufschießenden, blühenden Jünglinge, der sich durch seine Tüchtigkeit die Liebe seiner Kameraden, das Wohlwollen seiner Lehrer, die Achtung aller erwirbt, die mit ihm genauer bekannt sind.

Er also und seine beiden Schwestern machten von nun an die einzige Freude und Erheiterung meines Lebens aus. Wir zogen uns von vielen frühern Bekanntschaften zurück, vermieteten, weil große Einschränkungen gebieterisch notwendig gemacht worden waren, die Hälfte unserer Wohnung, dankten von fünf Dienstboten drei ab, und suchten nun unserm vereinsamten Leben durch die Kinder Gehalt und Zufriedenheit zu geben.

Gedichtet im eigentlichen Sinne habe ich nichts mehr. Herausgegeben aber einen Band: Zerstreute Blätter, nämlich kleine Aufsätze, Betrachtungen, Bemerkungen über allerlei Vorfälle des Tages, bei dem Verlust teurer Freunde usw., welche längst geschrieben oder auch wohl hier und dort in Zeitschriften erschienen waren. Später wurde ich durch ein zufälliges Ereignis auf die Idee der Zeitbilder gebracht. Wir erhielten nämlich zum Ansehen für die Kinder verschiedene neuere und ältere Kupferstiche, und unter den letzteren die einst wohlbekannten Cris de Vienne – Darstellungen von Personen aus den untern Ständen,[378] welche allerlei auf den Gassen zum Verkauf ausrufen oder ihre Tätigkeit öffentlich feilbieten. Der Anblick dieser Gestalten, dieser Trachten rief mir die Erinnerungen meiner Jugend zurück. Ich sprach darüber mit Herrn von Graffen, dessen in diesen Blättern schon erwähnt wurde, und der sich gerade gegenwärtig befand. Er faßte den Gedanken auf, die Zeit, in der diese Blätter gezeichnet und herausgegeben wurden, im Gegensatze zu der jetzigen zu schildern. Er glaubte, ich könnte dies wohl unternehmen, da ich mich jener Perioden noch lebhaft erinnere. Dieser Vorschlag gefiel mir; aber nicht so wollte ich ihn ausführen, wie ihn wohl Herr von Graffen gemeint haben mochte, der eine Art von Memoiren dabei im Sinne hatte und vermutlich glaubte, ich sollte in eigner Person erzählen, wie es damals gewesen, wie es in meiner Eltern, in meiner Freunde Haus zugegangen usw. Das aber war den gegenwärtigen Blättern vorbehalten; ich zog es daher vor, eine Familiengeschichte zu fingieren, worin drei verschiedene Generationen nach und nach auftreten und als Repräsentanten der Sitten, Ansichten, Denk- und Handlungsweisen nicht bloß das Zeitalter der Kaiserin Maria Theresia, sondern auch die Periode von ihrem Tode bis zu Ende des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts und endlich unsere jetzige Welt charakterisieren sollten. Dichtung kann ich dieses Werk nicht nennen; es waren zusammengetragene Beobachtungen, Erinnerungen, Schilderungen wirklich erlebter Schicksale, persönlich gekannter Menschen. Die Zeiten und ihre Gestalt waren die Hauptsache, der Roman nur der Einkleidung wegen da, und es war mir stets unlieb, wenn, falls die Rede auf dies letzte Erzeugnis meiner Feder kam, davon als von einem Roman gesprochen [379] wurde. Aber Romane sind jetzt so entschieden die Lieblingslektüre aller halb- und ganzmüssigen Menschen, daß dieser Charakter an einem Unterhaltungsbuche zuerst aufgesucht und eifrig festgehalten wird. Er ist auch leichter zu erfassen, dahingegen das Tiefercharakteristische, das Gepräge, welches Begebenheiten, Ansichten, die Kulturstufe usw. einer Zeitperiode und den in derselben lebenden Men schen aufdrücken, von den meisten gar nicht beachtet und daher auch nicht gewürdigt wird. Die Erzählung, das, was geschieht, ist ihnen die Hauptsache.

Dies also ist und wird aller Wahrscheinlichkeit nach mein letztes Werk bleiben. Ich fühle sehr bestimmt die Abnahme geistiger Lebensfrische und geistiger Kraft. Mein Gedächtnis, so getreu in Aufbewahrung alter Erinnerungen aus meiner Jugend, ja aus meiner Kindheit, verläßt mich jetzt zuweilen in Beziehungen auf die jüngste Vergangenheit, und ich habe von hochbetagten Menschen öfters dieselbe Klage äußern gehört. Ein alter General, den ich kannte, nannte das sein junges und altes Gedächtnis – und während sich ihm das junge treu bewährte, wenn es sich um Szenen aus seinem Jünglings- und Mannesalter handelte, konnte er sich oft der Vorfälle der letzten Tage nicht entsinnen. Es ist also dieses eine sehr gewöhnliche Erscheinung, ebenso wie die Abnahme der Gesichtsschärfe und des feinen Gehörs, und gehört so häufig mit zu den Beschwerden der höhern Jahre, daß derjenige, der sich darüber beklagen wollte, die Antwort verdiente, die ein alter, aber noch sehr lebenslustiger Mann einem gab, der sich über die Unannehmlichkeiten des hohen Alters beklagte: »Wer nicht alt werden will, muß sich jung erschießen lassen.« In dieser Überzeugung ertrage [380] ich denn mit Gottes Hilfe, so geduldig als ich kann, die Abnahme meines Gehörs, die mich schon seit vielen Jahren von einer meiner liebsten Unterhaltungen, dem Genuß des Theaters, und sehr oft auch von aller Teilnahme am gesellschaftlichen Gespräch ausschließt, wenn dies nicht unmittelbar an mich gerichtet und mit lauter Stimme geführt wird. Gar manche Entbehrung, gar manche trübe Stunde sind die unausbleiblichen Folgen dieser Altersgebrechen, sind es um so mehr, als eben auch das Alter und die fortschreitende Abnahme der körperlichen Kräfte mich an so vielem hindert, was ich sonst und noch vor wenigen Jahren unternehmen konnte, wie an weiteren Spaziergängen, öfteren Besuchen meiner Bekannten in der Stadt usw. Dazu kommt noch die veränderte Richtung des geselligen Tones, der Tagesordnung und der Denk- und Lebensweise der jüngeren Generation überhaupt.

Vor Zeiten versammelte man sich gegen 7 Uhr abends, die Frauen saßen am runden Tisch mit ihren Handarbeiten, die Herren saßen dazwischen oder daneben, und ein allgemeines Gespräch, dem der Herren meist höhere Geistesbildung einen bedeutenden Inhalt gab, während die lebhafteren Gefühle der Frauen ihm Frische und Wechsel erteilten, vereinigte die ganze Gesellschaft. Sehr gebildete, ja gelehrte Männer verschmähten es nicht, in diesen Kreisen oft und gern zu erscheinen, und solcher Kreise gab es im höheren Mittelstande viele. Meine Wohnung z.B. in der Vorstadt, die seit mehr als vierzig Jahren dieselbe ist, schien, nicht bloß in früherer Zeit oder solange mir die hübsche Tochter noch im Hause lebte, sondern viel später, bis zur Julirevolution, welche in unser ganzes politisches [381] und soziales Leben einen gewaltigen Umschwung gebracht hat, nie so entlegen und schwer zu erreichen, wie man es jetzt findet und oft zur Entschuldigung des langen Wegbleibens sagt. Viele und bedeutende, einheimische sowohl als fremde gebildete Männer, Gelehrte, Künstler kamen oft zu mir, und ich traf diese und ihnen ähnliche auch in den Häusern meiner Freundinnen. Jetzt ist das alles anders geworden. Nicht bloß die elegante Welt, auch viele aus der gebildeten Mittelklasse haben eine veränderte Tagesordnung angenommen. Von 2 bis 6 Uhr nachmittags wird in den verschiedenen Familien verschiedentlich zu Mittag gegessen, und es gehört große Aufmerksamkeit dazu, um sich die Stunden, wo man in diesem oder jenem Hause zu Tische geht, wenn man Besuch dort machen will, zu merken. Eine Visitenrunde in mehreren Häusern, wie man sie sonst nach Tische oft zu machen pflegte, läßt sich nun kaum ausführen, weil man in dieser Familie eben zu Tische geht, in einer andern schon speist, in der dritten oder vierten die Damen noch an der Toilette findet, um sich zum Diner anzukleiden. Eine Folge dieses späten und ungleichen Tafelns ist dann auch die Gewohnheit, die Nachmittagsvisiten auf den eigentlichen Abend zu verschieben, auf jene Zeit zwischen 6–9 Uhr, welche sonst der Geselligkeit, einem ruhigen und heitern Beisammensein gewidmet war. Nun ist dies die Zeit des Kommens und Gehens, wo jede Stunde der Kreis aus andern Mitgliedern besteht, wo nur flüchtige Gespräche über die Tagesneuigkeiten, Witterung usw. mit jedem Ankommenden und daher sehr oft Wiederholungen stattfinden. Erst später, um die Stunde ungefähr, wo man sich sonst zurückzuziehen und nach Hause zu gehen gewohnt war, [382] tritt der bunte Schwarm vergnügungsmüder, von Theater, von zahllosen Besuchen, von unbedeutenden und ewig wechselnden Gesprächen übersättigter Gäste ein, und es ist nicht zu wundern, wenn dann die Unterhaltung gerade so schal, das ganze Benehmen gerade so frivol, ungenügend und seinen wenigen Gehalt von Äußerlichkeiten, von Gemälden, Statuetten oder andern Colifichets, die in den Zimmern zur Schau gestellt sind, entlehnend, ausfüllt, wie es gemeiniglich ist. Diese Gehaltlosigkeit ist es, welche den Namen Salon in der literarischen Welt so in Verruf gebracht hat, daß die geistreicheren Männer, die tüchtigeren Köpfe einen Ekel davor bekommen haben und lieber auf der Treppe umkehren, als einen solchen Salon betreten wollen. Hierzu kommt noch das stets mehr überhandnehmende Tabakrauchen, ohne welches der größte Teil der Männer jetzt nicht mehr leben und das er doch in Gegenwart der Frauen oder in dem unseligen Salon nicht verüben kann; sowie die zahllosen Kaffee- und Gasthäuser mit allen Raffinements des Luxus und Komforts versehen, welche diesen Tabakrauchern die angenehmsten Möglichkeiten darbieten, diesem Gelüst nachzuhängen und zugleich allen Rücksichten von Höflichkeit und Verbindlichkeit ledig zu sein, denn im Gast- und Kaffeehaus zehrt man für sein Geld und geniert sich wegen niemand. Ob die feinere Sitte, ob das Familienleben, ob Sparsamkeit und Ordnungsliebe dabei gewinnen? Das mögen gelehrte Herren, Statistiker, Pädagogen usw. entscheiden.

Genug! Für mich geht aus dem allen hervor, daß die jetzige Welt sich auf eine solche Art aus der vorigen entwickelt hat, daß sie nicht mehr für mich oder ich eigentlich nicht mehr für sie passe. Hinter ihrem[383] raschen Vorwärtseilen auf einer ganz neuen Bahn muß das langsame Alter zurückbleiben, und mit unangenehmer Überraschung gewahrt es nach dem Verlauf weniger Jahre den ungeheuern Abstand zwischen Einst und Jetzt, – wie alles ringsumher, vom Kleinsten bis zum Größten, sich anders, ja meist ganz entgegengesetzt gestaltet hat, so daß keine frühere Angewöhnung, keine Ansicht von Leben und Literatur, keine Vorliebe oder Ungunst, keine Geschmacksrichtung von ehemals mehr in der Gegenwart rechte Geltung finden kann, und die letzten 10 bis 12 Jahre hierin einen größeren Umschwung erzeugt haben, als sonst 50 oder 60 Jahre nicht bewirkten. Jeder, der jetzt sein 50. oder 60. Lebensjahr zurückgelegt hat, muß das einsehen und zugestehen. Wer redet jetzt noch von Wieland, Herder, Klopstock? was ist aus der hohen Verehrung geworden, die die gebildete Welt noch vor 20 Jahren für das klassische Altertum hatte? was aus dem kindlichen Vertrauen in die Aussprüche bewährter Autoritäten überhaupt, und was ersetzt die Beruhigung, die man einst daraus schöpfte? usw. Nein, es ist gewiß, das Vergangene, das, was vor 20 bis 30 und noch mehr, was vor 50 bis 60 Jahren in Literatur, Lebensweise, Ansicht, Gewohnheit usw. gegolten hatte, wird mit siegender Gewalt hinausgedrückt aus der Gegenwart, und eine neue Ära beginnt, deren Einfluß sich vom Kleinsten bis zum Größten fühlbar macht.

So weiche denn das Vergangene, und was dieser Vergangenheit angehört, dem Impuls, den die Jetztzeit mit so entschiedener Macht gibt, ziehe sich von der fremdgewordenen Welt zurück; – und wohl! den altgewordenen Personen, die, sowie ich, durch Gottes Güte ein schönes, beglückendes Asyl in ihrem Hause[384] durch Kinder und Kindeskinder finden. Nur hier hören die unangenehmen Berührungen der stiefgewordenen Welt auf, und selbst hier muß das Alter sich bescheiden und zugeben lernen, da auch die es zunächst Umringenden ebenfalls dem Neuen, dem Fortschreitenden angehören und angehören müssen.

Fußnoten

1 Paulus an die Römer. V. 26. Kap. 8.

[385] [387]Nachwort
[387][389]

Bis hierher reichen die autobiographischen »Denkwürdigkeiten« der Verfasserin; was zur Vervollständigung derselben über ihre letzten Lebensjahre noch hinzugefügt werden muß, läßt sich in wenige Worte zusammenfassen.

Vor allem verdient erwähnt zu werden, daß sie, trotz der Bürde ihrer Jahre, mit wahrer Aufopferung den größten Teil ihrer Zeit der Erziehung ihrer Enkel widmete, ja selbst noch ihnen in Sprachen, Geschichte, Musik usw. Unterricht erteilte; und – was noch mehr als dies alles wert war – durch ihr eigenes Beispiel als Muster strenger Pflichterfüllung in jeder Hinsicht vorleuchtete.

Natürlich nahm in so vorgerücktem Alter ihre literarische Produktivität ab; doch schrieb – außer diesen »Denkwürdigkeiten«, die großenteils erst nach dem Tode ihres Gatten niedergeschrieben wurden – und veröffentlichte sie noch selbst die, unter dem Titel: »Zeitbilder« erschienenen Wiener Sittengemälde, denen sie einige »kleine Aufsätze« beifügte (Wien 1839 – 1841, 2 Bände), und übergab noch kurz vor ihrem Tode eine »Neue Folge zerstreuter Blätter« (Wien 1843, I. Bd.) dem Drucke.

Auch nahm sie fortwährend an den neuen Erscheinungen in der Literatur den lebhaftesten Anteil, so daß z.B. Dr. Frankl, der sie vorzugsweise mit derlei Novitäten versah, über hundert Briefe von ihrer Hand besitzt, worin sie ihm ihre Ansichten und Urteile über die zugesandte Lektüre mitteilt 1.

[389] Freilich konnte sie, deren Bildung einer ganz anderen Richtung angehörte und die schon Mühe hatte, mit der sogenannten romantischen Schule sich zu verständigen, noch weniger in die moderne Denk- und Schreibweise sich finden und mit der, auch in der geistigen Welt wie mit Dampfkraft vorschreitenden Entwicklung, den Emanzipationstheorien, sozialen Umgestaltungen und den, alles wieder in Frage stellenden Spekulationen der jüngsten Philosophie und Dialektik sich befreunden. Mit dem Kontraste und dem Mißverständnis wuchsen natürlich auch ihre Mißstimmung und Abneigung gegen die umgestaltende Hast der Jetztwelt, und sie zog sich immer mehr in den engen Kreis ihrer nächsten Umgebung, ihrer Familie und einiger treu gebliebenen Freunde zurück.

Dazu kam noch eine immer mehr zunehmende Kränklichkeit. Ihre Kräfte sowie ihre Gesundheit sanken leider mit jedem Jahre mehr, und nach manchen ängstenden Unterleibsleiden stellten sich sogar apoplektische Anfälle ein. Zwar gelang es mehrmals, diese augenblickliche Gefahr abzuwenden; aber eine gänzliche Erschöpfung, welche die Ärzte Altersschwäche nannten, verhinderte ihre Erholung und machte ihrem Leben am 9. Juli 1843 zum Schmerz ihrer Angehörigen und ihrer Freunde ein Ende. Sie starb, wie sie gelebt, mit der Ergebung und dem Vertrauen eines frommen, gläubigen Gemütes.

Ein einfaches, aber von der dankbaren Liebe ihrer Hinterlassenen geweihtes Grabdenkmal bezeichnet die Stelle, wo ihre sterbliche Hülle auf dem »großen Währinger Kirchhofe« ruhet.

Was auch immer die unbestechliche Nachwelt für ein Endurteil über Karoline Pichler als Schriftstellerin [390] feststellen mag, das über ihren rein menschlichen Wert, wie es die ihr näherstehenden Zeitgenossen mit einstimmiger Anerkennung ausgesprochen haben, kann sie nur bestätigen.

Sie war im vollsten Sinne des Wortes ein deutsches Weib; einfach-natürlich, tiefgemütlich, klar und wahr und stets eingedenk, daß, wie die Bestimmung des Mannes in der Bildung und Entwicklung der gesellschaftlich-staatlichen Verhältnisse, die Lebensaufgabe des Weibes in der Erhaltung und Veredlung der Familienbande und der häuslich-geselligen Zustände besteht.

Kurz sie hatte – was den geistreich-blendenden, genial-überschwenglichen, den »großen begabten Naturen« unserer Tage nur oft zu sehr fehlt–Gesinnungsreinheit, Willenskraft und Charakterstärke.

Daher hat sie sich auch in diesen »Denkwürdigkeiten« nicht bloß in der sorgfältigen Toilette der Schriftstellerin oder in dem Salonkostüme der berühmten Frau, sondern auch in dem schmucklosen Hauskleide der Familienmutter, ja selbst im Buß-gewande der reuigen Christin zeigen wollen, und auch hier galt ihr, wie in ihrem ganzen Leben, dessen treues Spiegelbild diese »Denkwürdigkeiten« eben nur sein sollten, Wahrheit über alles.

Fred. Wolf.

Fußnoten

1 Einige davon hat er bereits in seinen »Sonntags-Blättern« bekannt gemacht.

Überblick meines Lebens (1819)
[391] [393]Überblick meines Lebens
(1819)
[393][395]

Hundertmal schon ist das Leben einer Wanderschaft, einer Pilgerfahrt verglichen, und dieser Vergleich mit poetischerem oder unpoetischerem Sinn ausgeführt worden. Ohne ihn in seine kleinen Teile zu verfolgen, möchte ich jetzt nur bei diesem einzigen Berührungspunkt stehen bleiben, daß der Mensch wie der Wanderer gern manchmal, bald aus Müdigkeit, bald aus Besonnenheit und stillem Vergnügen, auf seinem Wege inne halten, rückwärts blicken, die durchlaufene Bahn noch einmal in seinen Gedanken betrachten und überdenken mag, was er bisher erfahren, geleistet, gelitten, genossen, und wie es in und um ihn stehe, in dem Augenblick, wo die vergangene Zeit lebendig vor das Auge seines Geistes tritt, und er eine Art von Rekapitulation derselben zu halten im Begriffe steht.

Gar wohl scheint ein solcher vergleichender Überblick sich dann zu schicken, wenn eine bedeutende Zeitperiode eben abgelaufen und ein ernstes Stufenjahr erstiegen ist. So eines dünkt mich nun vor vielen das fünfzigste Lebensjahr zu sein, das ja auch in den Büchern Moses schon als Hall- oder Jubeljahr zu einem solchen Aufenthaltspunkte und zur Rückkehr aller Dinge in ihre alten Verhältnisse bestimmt war. Mit innigem Vergnügen blickt die Matrone zurück auf die Zeit, wo sie als Mädchen, als Jungfrau, als junges Weib durch Gottes Segen sich so manches Guten erfreut, feiert mit Wehmut die Erinnerung an so viele vorausgegangene oder entfernte Lieben, und dankt der Vorsicht auch für die trüben Stunden, welche das größtenteils [395] heitere Gemälde ihres Lebens mehr erhoben als verdunkelten.

Was sie als Mädchen, als Tochter, als Gattin und Mutter gewesen und erfahren, kann eigentlich nur für den nächsten Kreis ihrer Freunde und Angehörigen Wert haben; aber wie sich ihr Geist ausgebildet, wie sie das geworden, als was sie dem lesenden Publikum bekannt ist, könnte für die Welt doch einiges Interesse haben, und so mögen diese Blätter, die in etwas veränderter Gestalt vor ein paar Jahren geschrieben, und in einer größeren Sammlung von Lebensbeschreibungen deutscher Schriftstellerinnen (Morgenblatt im Februar 1821) zu erscheinen bestimmt waren, hier auch in der, wahrscheinlich letzten Ausgabe ihrer Schriften, einen geziemenden Platz finden.


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Der Mensch ist zur Geselligkeit geboren. Nur im Umgange und Verkehr mit andern Menschen kann er jenen Grad von Ausbildung erhalten, zu welchem ihn die Vorsicht bestimmt, und den zu erreichen, sie ihm nebst andern Fähigkeiten, welche ihn über das Tier erheben, auch das Organ der Sprache gegeben hat, worin vielleicht der Grund seiner hohen Perfektibilität liegt. Also nur unter Menschen und durch Menschen wird jeder, was er werden kann und soll, und es ist eine Betrachtung, die uns Erstaunen und Wehmut einflößen könnte, wenn wir bei scharfem Nachdenken über uns selbst, die Macht des guten oder bösen Beispiels, des Unterrichts, der geselligen Verhältnisse usw., beherzigen wollten, die von unserer ersten Kindheit an auf uns gewirkt, und das Wesen aus uns gemacht haben, welches wir nun zu unserer Beruhigung oder – Beschämung geworden sind.

[396] So hat sich auch an der Bildung meines Gemütes Erziehung, Beispiel, Umgang allmächtig erwiesen, und ich mag wohl sagen, daß ich den größten Teil dessen, was ich bin, die Richtung meines Geistes, was ich gelernt, geleistet, einer überaus sorgfältigen Erziehung, dem Beispiel verehrungswürdiger Eltern und dem Umgange mit schätzbaren, gebildeten Menschen verdanke, denen unser Haus von meiner zartesten Kindheit an zum Sammelplatz gedient hat.

Mein mütterlicher Großvater war Protestant und Offizier bei einem österreichischen Regiment, und hatte seine einzige Tochter, nach dem Verluste seiner Frau, mit beispielloser Geduld und Liebe bis in ihr fünftes Jahr erzogen. Er starb in Wien, wo sein Regiment sich damals befand, und das ganz verwaiste, im fremden Lande verlassene Kind kam durch eine sonderbare Fügung Gottes in die Hände der großen Kaiserin Maria Theresia, wurde von ihr angenommen und am Hofe katholisch und sorgfältig zu ihrem persönlichen Dienste erzogen. Diesen trat meine Mutter auch bereits in ihrem dreizehnten Jahre an und versah ihn mit großer Pünktlichkeit und Einsicht, sowohl als Vorleserin, als in Rücksicht des Putztisches, der ihrer Sorge größtenteils anvertraut war, zur Zufriedenheit ihrer erlauchten Gebieterin durch viele Jahre, bis mein Vater ihr seine Hand bot, der sich ihr weniger durch eine schimmernde Außenseite, als durch eine unendliche Herzensgüte, gründlichen Verstand und ausgebreitete Geschäftskenntnisse schätzens- und liebenswert machte. Diese Verbindung brachte auch ihn seiner Monarchin näher, seine Verdienste wurden von ihr erkannt, sie beehrte ihn mit ihrem vorzüglichen Vertrauen und erhob ihn zur Würde eines Hofrats und geheimen Referendarius, [397] welcher damals, vor mehr als vierzig Jahren, von bedeutendem Einflusse war.

Dieser Posten, sein eigenes Vermögen, seine Achtung für höhere Bildung, sein Geschmack an Musik und geselliger Unterhaltung, endlich meiner Mutter lebhafter, nach Kenntnissen dürstender Geist, sammelte bald gebildete Menschen aus allen Ständen und Verhältnissen um meine Eltern. Ihre Zirkel waren glänzend, Höhere und Gleiche, Einheimische und Fremde drängten sich um sie. Jeder fand nach seiner Art in vielfachen Bekanntschaften, in geselligen Unterhaltungen, im Zusammentreffen mit bedeutenden Menschen seine Rechnung. Die meisten einheimischen, viele fremde durchreisende Gelehrte, unter denen ich vorzüglich den Freiherrn von Nicolay aus Petersburg und den sehr liebenswürdigen Georg Forster – den Weltumsegler – nennen muß, weil diese meinen Eltern durch Freundschaft näher standen, besuchten unser Haus, wozu der Umstand später noch beitrug, daß mein Vater zweimal das Referat über das Schul- und Studienwesen führte, und daher in offizielle Berührungen mit mehreren Professoren und Literatoren kam.

Ich wurde im Herbste des Jahres 1769 geboren. Meine Kindheit und erste Jugend verfloß unter den gedachten Umgebungen, neben einem Bruder, der um drei Jahre jünger war als ich, nachdem drei andere Geschwister, vor und nach uns geboren, ins Grab gesunken waren. Fast die meisten berühmten Männer aus jener Periode des aufsprossenden Geistes in Österreich, geweckt durch den Funken, der aus Kaiser Josefs Genius in dasselbe fiel, kann ich als sehr fleißige Besucher oder wenigstens als bessere Bekannte unseres Hauses nennen. Sonnenfels, dem sein Vaterland unendlich mehr verpflichtet [398] ist, als es vielleicht erkennt, Denis, Abbate Metastasio, Mastalier, Haschka, Alxinger, Abbate Maffei, dessen mathematisches Genie größtenteils die österreichische Artillerie auf den bedeutenden Punkt erhoben hat, den sie jetzt behauptet, Freiherr von Jacquin Vater und Sohn die Professoren Well, Wolstein, Eckhel, Dr. Stoll, Ratschky, Leon, Blumauer, Hofstäter, die Freiherren von Sperges und van Swieten gehörten unter die öfteren oder seltneren Erscheinungen im Abendzirkel oder am Tische meiner Eltern. Heiteres geistreiches Gespräch, literarische und politische Neuigkeiten, alles, was im Gebiete der Künste, besonders der Musik, wozu mein Vater mich vorzüglich anhielt, die aber bei mir nie zur Liebhaberei wurde, Neues erschien, ward bei uns gezeigt, gelesen, oder doch besprochen. Und wenn wir gleich als Kinder und heranwachsende junge Leute, zur Bescheidenheit erzogen, uns nie einfallen ließen, mit zu reden, so hörten wir doch zu, wenn Kluge Kluges sprachen, und mancher Samen fiel in die jungen Gemüter.

Als mein Bruder beim Hofmeister Latein zu lernen anfing, hießen meine Eltern mich auch diese Stunden besuchen, und besonders suchte Herr Haschka, der damals in unserm Hause wohnte, mir Liebe für diese Sprache einzuflößen. Sie zog mich auch bald an, und ich fing an, ihre Schönheit und Kraft zu ahnen. Nun lasen Haschka und Alxinger die Klassiker mit sorgfältiger Wahl und belehrenden Bemerkungen mit mir, sie führten mich, da ich schon früher einige kindische Versuche im Dichten gemacht hatte, in die Grundsätze der schönen Wissenschaften ein, sie lehrten mich deutsche und ausländische Dichter begreifen, wie ich denn überhaupt diesen treuen Freunden meiner Eltern, [399] und Herrn von Leon, jetzt Kustos an der k.k. Bibliothek, den größten Teil meiner Anleitung zur Ästhetik verdanke. In der Religion, Geschichte und Naturgeschichte war der verstorbene Herr Bischof von Linz, Josef Gall, einer unserer verdientesten Geistlichen, noch als Katechet an der Normalschule mein Lehrer, und auch die übrigen Freunde, wie Doktor Stoll, Abbate Maffei, Professor Mastalier gaben sich gütig mit der heranwachsenden Tochter ihrer Freunde ab und pflanzten manchen Keim in den empfänglichen Grund meines Gemüts.

Unter allem, was ich zu lesen bekam, zog mich nichts so sehr an, als geistliche und Hirtengedichte. Geßners Idyllen, sein Tod Abels, Miltons verlornes Paradies, die Noachide und später die Messiade wirkten mit großer Gewalt auf mich. Die letzte habe ich seit meinem zwanzigsten Jahre fast alljährlich durchgelesen; denn von allen Schriftstellern aus der frühern Periode unserer Literatur haben Klopstock und Herder den tiefsten Eindruck auf mich gemacht, und, wenn ich so sagen darf, die Richtung meines Geistes bestimmt.

Mit Vergnügen erinnere ich mich aber noch jetzt, nach mehr als dreißig Jahren, lebhaft des Abends, wo zuerst bei uns eine Idylle von Vossens Louise, das Fest im Walde, in der ersten, aber vielleicht frischeren Jugendgestalt, wie sie dem Geiste des Verfassers entsproßt war, vorgelesen ward. Das war meine Welt; dies heitere, in sich selbst beruhende, still abgeschlossene, von Armut wie von Überfluß entfernte und durch religiösen Sinn geheiligte Leben einer frommen Familie auf dem Lande! Sophiens Reisen von Memel nach Sachsen (ein zu bald, über manchem weniger Guten vergessener Roman) bildete diese Ideen weiter in mir [400] aus und die Frau eines Landpfarrers, wie Pastor Groß in jenem Roman oder wie Arnold Ludwig Blum in der Louise, zu werden, war das Ideal menschlicher Glückseligkeit für mich, als ich vierzehn oder fünfzehn Jahr alt war, und scheint mir noch jetzt ein höchst wünschenswerter Zustand.

Unterdessen ging aber auch der Unterricht in ernsteren Gegenständen vorwärts. Nebst dem Latein lernte ich die lebenden Sprachen, Französisch, Italienisch und Englisch, um ihre besten Schriftsteller lesen und genießen zu können. Zur Belustigung und zur Übung eines trefflichen Gedächtnisses, das die Natur mir gegeben, lernte ich jeden Tag etwas auswendig, und noch jetzt könnte ich viele aus Gellerts Fabeln und geistlichen Liedern, sowie aus Bürgers und Stolbergs Romanzen hersagen, welche ich mit meinem Bruder, als ein ziemlich wildes Mädchen, dem es an weiblichen Spielgefährten gebrach, bald rezitierte, bald mimisch darstellte.

Aber die Jahre der Kindheit und ersten Jugend waren vorüber. Ich trat in die Welt und in den Kreis weiblicher Pflichten ein. Meine Mutter, die über der Bildung des Geistes die viel nötigere zur Häuslichkeit nicht vergessen hatte, hielt mich streng hierzu an, lehrte mich diese lieben und als die erste und wichtigste Bestimmung des Weibes betrachten, und bewahrte auf diese Weise meinen Charakter vor mancher falschen Richtung. Doch gönnte sie es mir gern, mich in Mußestunden mit Lesen, Dichten und Musik zu beschäftigen. Diese letztere wurde in unserm Hause, nach dem Wunsche meines Vaters, viel getrieben, der große Mozart, obwohl nicht mein Lehrmeister, schenkte mir manche Stunde, ich hatte oft Gelegenheit, ihn spielen zu hören [401] und mich nach seiner Anweisung zu vervollkommnen. Aber die größte Lust gewährte es mir, mich im Reiche der Phantasie zu ergehen, und Idyllen nach den Vorbildern, die ich vor mir hatte, erst im Geßnerschen, dann im Vossischen Ton zu versuchen. Mitunter dichtete ich auch Lieder, Balladen, übersetzte aus fremden Sprachen, und wurde endlich durch meine Liebe zu ländlicher Stille und meine Aufmerksamkeit auf die Pflanzenwelt und die Natur um mich her dahin geleitet, eine Art Verhältnis zwischen der physischen und moralischen Welt, und gemeinschaftliche Gesetze, die in beiden walteten, zu bemerken und in Betrachtungen auszudrücken. So entstanden die Gleichnisse, welche ich, aber bloß im Manuskript, meiner liebsten und ältesten Jugendfreundin, Fräulein Josefa von Ravenet, zueignete, mit der mich seit mehr als dreißig Jahren ein festes Band der Freundschaft, so wie eine völlig gleiche Gesinnung verbindet.

Mein Bruder, einer der besten Menschen, die ich je gekannt, ein warmer Freund alles Guten und Wahren, hatte sich um diese Zeit (in den Jahren 1791–1792) mit einigen Jünglingen seines Alters, mit denen er in Geschäfts- und geselligen Beziehungen stand, und wovon die meisten, welche nicht ein allzufrüher Tod, wie den guten Bruder selbst, hingerissen, jetzt bedeutende Staatsämter bekleiden, zu einer literarischen Gesellschaft verbunden, deren Zweck es war, sich für ihre künftige Bestimmung als Staatsbeamte und überhaupt zu veredelten Menschen auszubilden. Sie schrieben kleine Aufsätze über philosophische oder politische Gegenstände, lasen sie sich gegenseitig vor, beurteilten sie schriftlich, und verbanden so in ihren freundschaftlichen Zusammenkünften heitern Genuß mit wissenschaftlichen [402] Zwecken. Mich reizte diese Beschäftigung; ohne meinen Namen zu unterzeichnen, ohne persönlich in jenen Gesellschaften zu erscheinen, übergab ich meinem Bruder auch Aufsätze über jene aufgegebenen Gegenstände, die nicht außer meiner Sphäre lagen, und unterwarf mich der strengen Kritik der Mitglieder. Dieser Übung im richtigen Auffassen, Beleuchten und Entwickeln der Begriffe, in grammatikalischer Strenge der Sprache und zierlicher Reinheit des Stils verdanke ich einen großen Teil meiner schriftstellerischen Ausbildung; aber ich verdankte diesem Vereine edler, junger Männer noch mehr, die nähere Bekanntschaft mit meinem Gemahl. Auch er war einer der Jugendfreunde meines Bruders und ein Mitglied jener Gesellschaft. Ich lernte in seinen Aufsätzen seinen richtigen Verstand, sein feines Gefühl, seine tiefe Glut für alles Gute, für das Wohl seines Vaterlandes und der Menschheit kennen und schätzen. Unsere Herzen begegneten sich in mancher gleichen Empfindung, in mancher übereinstimmenden Ansicht auf eine überraschende Art in unsern Aufsätzen. Wir fingen an, uns zu lieben, meinen Eltern war diese werdende Neigung kein Geheimnis, sie sahen sie wachsen und segneten sie, und ich ward im Mai des Jahres 1796 sein glückliches, noch jetzt, nach mehr als zwanzig Jahren, von ihm zärtlich geliebtes Weib. Anderthalb Jahre darauf erfreute uns die Geburt eines wohlgebildeten Mädchens, die aber unser einziges Kind blieb. Einige Monate nach ihrer Erscheinung verehelichte sich mein Bruder mit einer meiner Jugendgespielinnen, und kurz darauf starb unser guter Vater, nachdem er mehrere Monate gekränkelt hatte, im Junius 1798. Nun blieben wir zwei jungen Paare bei meiner Mutter, und machten nur eine Haushaltung [403] aus, in einem bequemen Hause einer anmutigen Vorstadt, das in seinem geräumigen Garten und einer der ländlichen sich nähernden Lebensweise mir eine entfernte Verwirklichung meines Jugendwunsches bot, und das wir noch bewohnen, da meines Mannes Geschäfte, als Regierungsrat, ihm nicht erlauben, den Sommer ganz auf dem Lande zuzubringen.

Nicht im Äußern meiner Verhältnisse, aber in meinem Leben als Dichterin begann nach meiner Verheiratung eine neue Periode. Mein Mann hatte so viele Freude an meinen kleinen Versuchen, daß er mich überredete, die Gleichnisse, welche er unter meinen Papieren gefunden und mit Interesse gelesen hatte, zu überarbeiten und herauszugeben, weil er dafür hielt, daß dies Buch, besonders jungen Personen meines Geschlechtes, nützlich werden könnte. Ich erschrak vor diesem Gedanken. Außer einigen Kleinigkeiten hier und da in Almanachen war nie etwas von mir gedruckt erschienen, und diese hatten nur geringe Ansprüche gemacht. Nun aber sollte ich mit einer gewissen Anmaßung auftreten, ein eignes Bändchen unter meinem Namen erscheinen lassen, mich in die Reihe der Autoren stellen! Es schien mir unmöglich; und nur nach langer Prüfung, und nachdem ich das Manuskript dem Urteil einiger würdigen Gelehrten und vertrauten Freunde unterworfen und ihre aufmunternde Beistimmung erhalten hatte, erschien es zuerst im Jahre 1800. Es ward besser aufgenommen, als ich gedacht hatte. Klopstock selbst, mit welchem meine Mutter, so wie mit Lavater, früher in einem Briefwechsel gestanden, der nur ihrer schwachen Augen willen aufgegeben wurde, schrieb nach langer Unterbrechung über diese Gleichnisse einen sehr freundschaftlichen Brief an sie, und freute [404] sich dieser Erscheinung. Ebenso erhielt ich einige Jahre später vom Freiherrn von Nicolay sehr ehrenvolle Briefe und das Geschenk eines seiner Werke, da er sich mit Vergnügen bei Erscheinung meiner Arbeiten der Frau erinnerte, welche er während seiner Anwesenheit in Wien 1782 als Kind oft gesehen hatte.

Dieser günstige Erfolg erweckte in mir die Lust, mich an etwas anderem zu versuchen und einen kleinen Roman zu schreiben. Ein Traum (wie denn überhaupt viele meiner Erzählungen ihren Ursprung aus irgend einer kleinen Veranlassung, Anekdote – Traum – Bild – herleiten) gab mir die Jdee zum Olivier, der zuerst aus Scheu in einem Almanach unter fremdem Namen erschien und unter dieser Hülle in demselben Blatte arg mitgenommen wurde, in welchem er zwei Jahre darauf, als er mit meinem Namen einzeln abgedruckt wurde, viel Lob erhielt. Ich führe dies nur beiher an, um zu zeigen, was ich mit Grund von jeher von Rezensionen, wie sie gewöhnlich sind, hielt, und zu halten Ursache hatte, obwohl ich für meine Person mich nicht über diese Herren zu beklagen habe, die größtenteils sehr artig mit mir verfuhren.

Nach einem größeren Plan, aus heitern und trüben Erinnerungen meiner Jugend, aus manchen Charakterzügen und Gestalten, welche mir vorgekommen waren, mit jener Abänderung, welche die poetische Idealisierung zur Pflicht macht, entstand im Jahre 1803 Leonore. Ihr folgte, weil mein Mann es wünschte, und weil seine Freude an meinen Arbeiten mich, hauptsächlich dazu antrieb, bald ein Bändchen der Idyllen, die ich meistens lange vor meiner Verheiratung gedichtet. Bald darauf erschien Ruth, die ich in einem sehr angenehm zugebrachten Winter zugleich mit Herrn Karl [405] Streckfuß (bekannt durch frühere Werke, und jetzt durch seine meisterhafte Übersetzung des Ariost), der damals in unserm Kreise lebte und eine Zierde desselben war, und gleichsam zur Wette mit ihm dichtete.

Um diese Zeit, im Jahre 1804, verlor ich meinen edlen Bruder nach einer langen, sehr schmerzhaften Krankheit, nachdem auch ihm ein paar Jahre früher seine sehr geliebte Frau der Tod entrissen und die Wunden, welche jener Verlust schlug, nie ganz geheilt worden waren.

Der Name, welchen mir jene Arbeiten verschafften, und die Neigung meiner Mutter, welche auch die meinige war, gebildete Menschen um uns zu versammeln, hatten mittlerweile einen neuen Kreis sehr schätzbarer Männer um uns gezogen. Baron von Hormayr, Hofrat von Collin und sein Bruder, Regierungsrat von Ridler, Herr Direktor Vierthaler, Freiherr von Türkheim, Hofrat von Hammer, Direktor Füger, Herr Streckfuß, dessen ich schon erwähnte, und andere, sowohl hiesige, als fremde Gelehrte, oder sonst sehr gebildete Menschen schlossen sich bald durch gesellige, oder auch freundschaftliche Bande an uns. Baron von Hormayr führte mich in das, von mir bisher nicht genug beachtete Gebiet der Geschichte ein, er lehrte mich mein Vaterland mit ganz andern Blicken betrachten, er veranlaßte mich, sowie mehrere seiner Freunde, uns vorzüglich mit der Geschichte Österreichs zu beschäftigen und die Gegenstände unserer Arbeiten aus derselben zu wählen. So entstanden meine meisten Romanzen und manche Erzählungen, und so wurzelte auch die Liebe zu meinem Geburtslande, dessen schönste Epoche unter Maria Theresia und Josef II. mit der goldnen Zeit meiner Jugend zusammenfiel, und zu [406] dem Fürstenhause, dessen hohe, schöne Gestalten in ihrer herablassenden Milde mir aus früher Kindheit vorschwebten, wo ich mit meiner Mutter oft nach Hofe gekommen war, tief in meiner Seele.

Noch während der Lebzeit meines Bruders, und oft an seinem Schmerzenslager, um ihn zu zerstreuen, hatte ich Gibbons Geschichte vom Verfall des römischen Reiches gelesen, und war von den kalten Ansichten, den schneidenden Urteilen des sonst sehr geistreichen Verfassers über unsere christliche Religion tief verletzt worden. Der Wunsch, eine Geschichte zu erfinden, in welcher durch die Anordnung der Begebenheiten und die Richtung des ganzen die Wahrheit ans Licht gestellt würde, welche eine unparteiische Betrachtung der Geschichte uns lehrt, daß nämlich das Christentum höchst wohltätig und beglückend auf die Veredlung der Menschheit gewirkt hat, gab die Veranlassung zum Agathokles. Ich arbeitete über zwei Jahre daran und er erschien 1808.

Das folgende Jahr 1809 war zu stürmisch für mein Vaterland, und daher zu schmerzlich für mich, als daß es irgend etwas von Bedeutung hätte in mir hervorbringen sollen. Aber im Winter 1810, nachdem jene Unglücksstürme vertobt hatten und wir den traurigen Zustand unsers Vaterlandes mit Wehmut betrachten konnten, regte jene allgemeine elegische Stimmung auch mich an, und ich schrieb die Grafen von Hohenberg, deren Elemente aus der Geschichte, den Gegenden und Sagen Österreichs zusammengesetzt sind, und die die Ansichten jener Zeit und ihre düstern Schatten durch den Ton, der in ihnen herrscht, beurkunden.

Schon lange hatte mein Mann gewünscht, daß ich einmal etwas Dramatisches zu schreiben versuchen[407] sollte. Mir schien diese Form die schwierigste; dennoch überwand der Wunsch, ihm Freude zu machen, meine Furcht, und ich arbeitete fast ein Jahr lang an dem Trauerspiel Germanicus, dessen Fehler ich jetzt sehr wohl einsehe und weiß, was ihm gebricht, um theatralischen Wert zu haben. Mit der größten Vorsicht und unter dem strengsten Geheimnis wurde es der Direktion überreicht, und im Dezember 1812 im k.k. Burgtheater aufgeführt. Der zwar nicht rauschende, aber darum unparteiische Beifall, den es dennoch erhielt, munterte mich auf, auf dieser Bahn fortzuschreiten, und so begann ich im verhängnisvollen Sommer von 1813 das Trauerspiel: Heinrich von Hohenstauffen. O, wie viel heiße Tränen flossen dem Schicksal Deutschlands und meines Vaterlandes während der Beschäftigung mit den ersten vier Akten! Die Nachricht von dem Siege bei Kulm lichtete zuerst den gesunkenen Geist wieder auf, und ich endigte den fünften Akt im Vorgefühl des Triumphs. Diesem Stücke ward eine Ehre und Aufnahme, deren sich nicht leicht ein anderes erfreuen konnte; denn die Direktion war so gütig, es zur Benefizvorstellung für die in der Leipziger Schlacht verwundeten Krieger, drei Tage nach der Ankunft des Kuriers, während ganz Wien im Taumel der Freude schwamm und halb Europa in unsern Jubel einstimmte, mit großer Feierlichkeit aufführen zu lassen. Die vollständige Erleuchtung des Schauspielhauses, das Bild des Monarchen, welches während des Prologs auf dem Theater stand, die Anwesenheit des ganzen übrigen Hofes, das Lied: Gott erhalte den Kaiser, das unter dem ungestümsten Vivatrufen abgesungen wurde, alles stimmte die Gemüter im voraus günstig, das Stück wurde mit lautem Beifall [408] men, jede, einer Deutung fähige Stelle aufgefaßt, und so konnte ich wohl sagen: die mit Tränen säeten, werden mit Frohlocken ernten.

Eine günstige Verkettung der Umstände brachte mich auch in freundliche Verhältnisse mit den meisten und vorzüglichsten Schriftstellerinnen meines Vaterlandes. Frau von Bacsányi, mehr und früher unter ihrem Familiennamen Fräulein von Baumberg bekannt, war in meiner Jugend eine meiner liebsten Gefährtinnen; ihre nachmaligen Schicksale führten uns auseinander. Späterhin lernte ich Frau von Weissenthurn, Freiin Maria von Zay, Frau von Neumann und Fräulein Therese von Artner, in der literarischen Welt bekannt unter dem Namen Theone, kennen und achten, und mit der letzten verband mich eine wunderbare Übereinstimmung der Gemüter zu einer innigen Freundschaft. In allen diesen Frauen lebte jene Achtung für echte Weiblichkeit, Häuslichkeit und Ordnung, welche allein, nach meinem Gefühl, weiblicher Schriftstellerei ihren wahren Wert und den Freibrief gibt, unter welchem sie sich, ohne gerechten Tadel zu fürchten, der Welt zeigen darf.

Noch hatte bis zum Jahre 1815 der gütige Himmel meiner trefflichen Mutter das lange, ehrenvolle Leben in ziemlich heitern Schicksalen gefristet, bis sie, die die Stürme des Vaterlandes mitgetragen, auch seine Rettung und seinen erneuerten Glanz wieder gesehen. Sie starb im Jänner des obengenannten Jahres, bei übrigens vollkommener Gesundheit, und im Besitz aller ihrer reichen geistigen Kräfte, geachtet und verehrt von allen, die sie gekannt, ganz so, wie sie es oft gewünscht, an einem Schlagfluß, mitten in dem regen, freudigen Leben, welches der Kongreß zu Wien verbreitete, dessen mancherlei [409] Annehmlichkeiten durch interessante Bekanntschaften und lebhafte Geistesanregungen sie noch in ungestörter Heiterkeit genossen hatte.

Seitdem habe ich manche Erzählung, einige dramatische Arbeiten, und bei geselligen und öffentlichen Veranlassungen manches kleine Gedicht gemacht, und die Sammlung meiner Arbeiten ist in vierundzwanzig Bänden erschienen. Meine letzte größere Arbeit bis jetzt, und wahrscheinlich wohl für mein Leben, welches sich schon jenem Alter naht, wo man sich freiwillig ein Ziel stecken soll, um sich nicht selbst zu überleben, war der Roman in vier Bänden: Frauenwürde, in welchem ich manche Beobachtung und Erfahrung meines ziemlich langen Lebens ebenfalls mit Veränderungen niedergelegt habe, welche Klugheit und poetische Behandlung unerläßlich machten. Möchte er das Gute stiften, welches ich dabei beabsichtigt, und, indem ich ihn durch die zweite Hälfte des Mottos aus Schillers Braut von Messina: Der Übel größtes aber ist die Schuld, gleichsam zum Gegenstück des Agathokles bestimmt habe, auf dem die erste Hälfte jenes Spruches steht, – mir auch so viele Freude und Beruhigung, wie dieser gewähren, aus welchem manches leidende Gemüt, wie mir zu oft schriftlich und mündlich versichert worden ist, als daß ich es bloß für Schmeichelei halten sollte, Trost, manches zweifelnde Ruhe geschöpft hat, und manches gute Herz mir in der Ferne gewonnen ward!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Pichler, Karoline. Autobiographisches. Denkwürdigkeiten aus meinem Leben. Denkwürdigkeiten aus meinem Leben. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-74AE-A