Sagen vom Lichtenstein, von Förste und Dorste.

Nr. 204. Der Brunnen bei dem Lichtensteine und die erlöste Jungfer.

Nicht weit vom Lichtenstein ist ein Brunnen, an diesem hat jeden Mittag ein Schäfer gehütet und seine Schafe da getränket. Eines Mittages, als er auch da war, kam unter einem Stein eine große Schlange hervor und sah ihn freundlich an. Er war dabei zuerst ganz ängstlich, faßte sich aber, und ward zuletzt ganz vertraulich mit der Schlange. Diese ist gerade eine Stunde draußen geblieben. Den zweiten Mittag kam die Schlange wieder hervor, hatte sich aber vom Kopf an in einen halben Menschen verwandelt, und sprach zu dem Schäferknaben: er sollte sich morgen ein Herz fassen, und der Schlange, die morgen Mittag zum Vorscheine käme, einen Kuß geben, es würde auf ewig sein Glück sein.

Den andern Mittag kam die Schlange auch richtig unter [201] dem Steine hervor, kroch an dem Schäfer in die Höhe und wollte ihn küssen. Erst hatte der Schäfer einen Ekel vor ihr, drückte aber die Augen zu und gab ihr einen süßen Kuß. So wie das geschehen war, stand eine wunderschöne Prinzessin mit Leib und Seele vor ihm. Da hat der Schäfer seine Schafe im Stich gelassen, ist mit der Prinzessin nach dem Könige gereiset und hat sie da geheiratet.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Pröhle, Heinrich. 204. Der Brunnen bei dem Lichtensteine und die erlöste Jungfer. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-84B1-E