Der musikalische Infinitiv

Unter den Dingen, die S. J. aus allen Aufsätzen herausstrich, wenn er sie »ins Deutsche übersetzte«, war eines, das er inbrünstig haßte, und das er vernichtete, wo immer er es antraf. Das war der substantivierte Infinitiv. ›Das Musizieren‹ pflegte er immer in Sätze aufzulösen oder durch ein Substantiv zu ersetzen – und er hatte recht.

Es gibt nun eine Gattung von Menschen . . . also, Menschen ist übertrieben, die schwimmen und plätschern in substantivierten Infinitiven. Das sind die gebildeten Kunstschriftsteller, und zwar tun sie es allemal gern dann, wenn sie auf die Musik zu sprechen kommen. Da wimmelt es nur so von diesen falschen Hauptwörtern. »Es ist ein Blühen und Glühen in dieser Musik . . . «, und wenn der einfache Infinitiv nicht langt, dann backen sie sich einen: »Dieses Von-vorn-herein-alles-noch-einmal-denken« – ei, das ist schön! Von dem ›Wollen‹ wollen wir schon gar nicht sprechen; es sind die nationalen Politiker, die dieses dicke Wort dauernd anwenden, als gebe es nicht ›Wille‹, nicht ›Absicht‹, nicht ›Trieb‹ – es gibt nur noch ›das Wollen‹. Das klingt dann so: »Er darf nicht durch Verharren im Geworden-Sein das Sichentwickeln des Volkswerdens in falschem Wollen zu einem Steckenbleiben verführen wollen.« Wohl bekomms.

Auch die Tanzkritiker stelzen gern auf diesen Infinitiven einher, aber diese Menagerie hat ja von jeher eine besondere Sprache zur Rechtfertigung ihres So-Seins und Do-Seins gebraucht.

Mich dünkt, als sei es schon einmal besser mit der deutschen Sprache gewesen als heute, wo jeder Hitlerknabe das Wort deutsch im Maul führt. Zur Zeit lesen wir: nachgemachtes Beamtendeutsch; nachgemachtes gehobenes Deutsch, so, wie früher die Oberlehrer, wenn sie von den alten Germanen sprachen, einen Baß gehen ließen; nachgemachtes Philosophendeutsch solcher falscher Philosophen, die da im Gehirn Sülze haben, und der substantivierte Infinitiv ist eines der schlimmsten Kennzeichen dieser vertrackten Stile. Man kann ihn manchmal anwenden: nämlich dann, wenn eine Tätigkeit zu einem abstrakten Begriff werden soll. Eine Untersuchung über das Schreiben im sechsten Lebensjahr, das gibt es; das Wollen einer Partei aber gibt es nicht. Im übrigen sollte man sich bei alledem nicht auf Vater Hegel und Onkel Schelling beziehen, deren Deutsch keinem zur Nachahmung dienen kann. Ich sehe, wie ein Schüler den Finger hochhebt . . . Nein, [286] er will nicht hinaus, im Gegenteil. Er will uns klar machen, daß grade diese zum Hauptwort erhobenen Verbalformen wie keine andre Form es ermöglichten, uns durch ein Sich-mitten-Hinein-Stellen in die dynamische Statik des Die-Begriffe-in-ein-Wort-Verwandelns . . . Herr Schüler, ich möchte mal rausgehn.



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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Der musikalische Infinitiv. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5BDD-6