Die beiden Schwestern

Es waren mal zwei Schwestern,
ich weiß es noch wie gestern.
Die eine namens Adelheid
war faul und voller Eitelkeit.
Die andre die hieß Käthchen
und war ein gutes Mädchen.
Sie quält sich ab von früh bis spät,
wenn Adelheid spazierengeht.
Die Adelheid trank roten Wein,
dem Käthchen schenkt sie Wasser ein.

[395]
Einst war dem Käthchen anbefohlen,
im Walde dürres Holz zu holen.
Da saß an einem Wasser
ein Frosch, ein grüner, nasser;
der quackte ganz unsäglich,
gottsjämmerlich und kläglich:
»Erbarme dich, erbarme dich,
ach, küsse und umarme mich!«

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Das Käthchen denkt:
»Ich will's nur tun,
sonst kann der arme
Frosch nicht ruhn!«
Der erste Kuß
schmeckt recht abscheulich.
Der gräsiggrüne Frosch
wird bläulich.

[397]
Der zweite schmeckt schon
etwas besser;
der Frosch wird bunt
und immer größer.

[398]
Beim dritten gibt es ein Getöse,
als ob man die Kanonen löse.
Ein hohes Schloß
steigt aus dem Moor,
ein schöner Prinz
steht vor dem Tor.
Er spricht:
»Lieb Käthchen, du allein
sollst meine
Herzprinzessin sein!«

Nun ist das Käthchen hochbeglückt,
kriegt Kleider schön mit Gold gestickt
und trinkt mit ihrem Prinzgemahl
aus einem goldenen Pokal.
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Indessen ist die Adelheid
in ihrem neusten Sonntagskleid
herumspaziert an einem Weiher,
da saß ein Knabe mit der Leier.
Die Leier klang, der Knabe sang:
»Ich liebe dich, bin treu gesinnt;
komm, küsse mich, du hübsches Kind!«

[400]
Kaum küßt sie ihn,
so wird er grün,
so wird er struppig,
eiskalt und schuppig.

[401]
Und ist, o Schreck!
der alte, kalte Wasserneck.

[402]
»Ha!« – lacht er – »diese hätten wir!!«
Und fährt bis auf den Grund mit ihr.

[403]
Da sitzt sie nun bei Wasserratzen,
muß Wassernickels Glatze kratzen,
trägt einen Rock von rauhen Binsen,
kriegt jeden Mittag Wasserlinsen;
und wenn sie etwas trinken muß,
ist Wasser da im Überfluß.

[404]

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Busch, Wilhelm. Die beiden Schwestern. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-2487-0