[899] 1111. Die gespenstige Gans.

(S. Seifart Bd. II. S. 58.)


Ein Nachtwächter in Hildesheim sah, als er eben bei der Andreaskirche die zwölfte Stunde ausgerufen hatte, auf der Kirchhofsmauer eine große, fette Gans sitzen. Da dachte er, »wenn du keinen Herrn hast, so will ich dein Herr sein!« nahm die Gans unter den Arm und trug sie nach seinem Hause. Unterwegs wurde die Gans aber immer schwerer und schwerer, so daß er sie kaum bis an seine Wohnung schleppen konnte. Er rief nun seiner Frau, welche mit ihm die schwere Gans in den Schweinestall brachte. Hierauf verriegelten sie die Thür und freuten sich nun beide auf den leckern Braten. Am andern Morgen stand auch der Nachtwächter ganz früh auf, wetzte sein Messer und ging vor den Schweinestall um die Gans zu schlachten. Aber wie erschrak er, als er statt der Gans ein altes, nacktes Weib darin fand, das ihn wie mit Katzenaugen grimmig ansah. »Toif! dö Dâkhexe!« ruft der Nachtwächter, als er sich von seinem Schrecken etwas erholt hatte, nahm eine Mistgabel und warf damit die Hexe über den Zaun. »Siehst Du«, sagte die Frau, »unrecht Gut gedeihet nicht!« – »Das ist wahr«, sagte der Mann und hat nie wieder eine Gans von der Kirchhofsmauer mitgenommen. Wenn er aber des Nachts dort eine sitzen sah, so schlug er ein Kreuz und machte, daß er fortkam.

Eine Tagelöhnerfrau, welche mit einer Tracht Holz aus dem Itzuwer-Holze kam, und sich verspätet hatte, sah auf der Neustädter Kirchhofmauer dicht an der großen Linde eine schöne fette Gans sitzen. »Halt«, dachte die Frau, »heute ist Markttag gewesen, gewiß hat eine Bauerfrau die Gans dort vergessen, die schmeckt dir auch gut!« Die Gans ließ sich ruhig greifen und auf die Kiepe setzen, unterwegs ward sie aber immer schwerer und schwerer, so daß sie die Frau nur mit Mühe und Noth zu Hause bringen konnte. Ihr Mann und ihre Kinder freuten sich über den schönen Fund und schlossen die Gans in den Stall ein. Nachts aber, als Alles schläft, erwacht die Frau durch ein Rascheln an ihrem Bette und eine Stimme sagt: »Bring mich wieder dahin, wo Du mich hergeholt hast!« Zitternd und bebend steht die Frau auf, nimmt die Gans in die Schürze, und trägt das Thier wieder auf den Kirchhof, nie war ihr eine Last bis dahin so schwer geworden und so brachte sie sie nur unter Seufzen und Stöhnen an ihren alten Platz. Kaum war aber die Gans wieder auf ihrem Platz, so sank die Frau ohnmächtig zusammen; nach acht Tagen war sie todt.

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TextGrid Repository (2012). Grässe, Johann Georg Theodor. Sagen. Sagenbuch des Preußischen Staats. Zweiter Band. Hannover. 1111. Die gespenstige Gans. 1111. Die gespenstige Gans. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-4830-0