Johann Wolfgang Goethe
[Rezensionen für die
»Frankfurter Gelehrten Anzeigen«]

[219] Moralische Erzählungen« und »Idyllen«
von Diderot und S. Geßner
Zürch 1772. 8°. 273 S.

Was beiden würdigen Männern Anlaß gegeben, in Gesellschaft aufzutreten, erklärt die zur Pränumeration auf die französische Ausgabe dieses Werks unsern Blättern angehängte Nachricht, so daß wir ohne weitere Vorrede zur Sache schreiten können.

[219] »Idyllen« von Geßner

»Die Schönheiten der Natur«, sagt der Verfasser in dem angehängten Brief an Fueßlin, »und die guten Nachahmungen derselben von jeder Art taten immer die größte Würkung auf mich; aber in Absicht auf Kunst war's nur ein dunkles Gefühl, das mit keiner Kenntnis verbunden war, und daher entstand, daß ich meine Empfindungen und die Eindrücke, welche die Schönheiten der Natur auf mich gemacht hatten, lieber auf eine andre und solche Art auszudrücken suchte, welche weniger mechanische Übung, aber die gleichen Talente, eben das Gefühl für das Schöne, eben die aufmerksame Bemerkung der Natur fordert.«

Geßner war also zum Landschaftmaler geboren, ein pis aller machte ihn zum Landschaftdichter, und auch nun, da er zu seiner Bestimmung durchgedrungen, da er einen ansehnlichen Rang unter den Künstlern erworben, genießt er in Gesellschaft der Gespielin seiner Jugend, der ländlichen Muse, manchen süßen Augenblick. Malender Dichter! dazu charakterisiert sich in angeführter Stelle Geßner selbst, und wer mit Lessingen der ganzen Gattung ungünstig wäre, würde hier wenig zu loben finden. Doch wir wollen hier nicht unbillig sein. Wir kennen die Empfindungen, die aus der bürgerlichen Gesellschaft in die Einsamkeit führen, aufs Land, wo wir dann nur zum Besuch sind, nur wie bei einer Visite die schöne Seite der Wohnung sehn, und ach! nur sehn – der geringste Anteil, den wir an einer Sache nehmen können!

Und so ist es Geßnern gegangen. Mit dem empfindlichsten Auge für die Schönheiten der Natur, das heißt für schöne Massen, Formen und Farben, hat er reizende Gegenden durchwandelt, in seiner Einbildungskraft zusammengesetzt, verschönert, und so standen paradiesische Landschaften vor seiner Seele. Ohne Figuren ist eine Landschaft tot, er schuf sich also Gestalten aus seiner schmachtenden Empfindung und erhöhten Phantasie, staffierte seine Gemälde damit, [220] und so wurden seine Idyllen. Und in diesem Geiste lese man sie! und man wird über seine Meisterschaft erstaunen. Wer einen Malerblick in die Welt hat, wird mit inniger Freude vor seinen Gegenden verweilen, ein herrliches Ganze steigt vor unsern Augen auf, und dann das Detail, wie bestimmt, Steine, Gräschen. Wir glauben, alles schon einmal gemalt gesehen zu haben, oder wir möchten's malen. Da sagt uns aber ein Feind poetischer Malerei: Was ist's? Der Vorhang hebt sich, wir sehen in ein Theater, das für uns, von der Seite zu beschauen, ebenso künstlich hintereinandergeschoben, so wohl beleuchtet ist, und wenn wir einige Minuten Zeit gehabt haben, Ah! zu sagen, dann treten Junggesellen und Jungfrauen herein und spielen ihr Spiel.

Wir zweifeln nicht, daß sich darauf antworten ließe; aber die Leute sind nicht zu bekehren, sie verlangen, daß alles von Empfindung ausgehn, alles in sie zurückkehren soll. Wenn wir als Maler Geßners Figuren betrachten, so sind es die edelsten, schönsten Formen; ihre Stellung so ausgedacht, so meisterhaft empfunden, ihr Stehen, Sitzen, Liegen, nach der Antike gewählt –

Was geht mich das an? sagt der Gegner! Im Gedicht ist mir nicht drum zu tun, wie die Leute aussehn, wie sie Hände und Füße stellen, sondern was sie tun, was sie empfinden. Nach der Antike mögen sie wohl studiert sein, wie Geßner seine Landschaft mehr nach seines Herrn Schwähervaters Kupferstichsammlung als nach der Natur ausgebildet zu haben scheint.

Ich will, fährt er fort, von dem Schattenwesen Geßnerischer Menschen nichts reden. Darüber ist lange gesagt, was zu sagen ist. Aber zeigt das nicht den größten Mangel dichterischer Empfindung, daß in keiner einzigen dieser Idyllen die handlenden Personen wahres Interesse an- und miteinander haben? Entweder ist es kalter erzählender Monolog oder, was ebenso schlimm ist, Erzählung, und ein Vertrauter, der seine paar Pfennige quer hinein dialogisiert, und wenn denn einmal zwei was zusammen empfinden,[221] empfindet's einer wie der andre, und da ist's vor wie nach.

Wer wird aber einzelnen Stellen wahres Dichtergefühl absprechen? Niemand. Einzelne Stellen sind vortrefflich, und die kleinen Gedichte machen jedes ein niedliches Ganze. Hingegen die größern; so trefflich das Detail sein mag, so wenig zu leugnen ist, daß es zu gewissen Zwecken wohl geordnet ist, so mißt ihr doch überall den Geist, der die Teile so verwebt, daß jeder ein wesentliches Stück vom Ganzen wird. Ebensowenig kann er Szene, Handlung und Empfindung verschmelzen. Gleich in der ersten tritt der Mond auf, und die ganze Idylle ist Sonnenschein. Der Sturm ist unerträglich daher. Voltaire kann zu Lausanne aus seinem Bette dem Sturm des Genfer Sees im Spiegel nicht ruhiger zugesehen haben, als die Leute auf dem Felsen, um die das Wetter wütet, sich vice versa detaillieren, was sie beide sehn. Das mag sein! In dieser Dichtungsart ist der Fehler unvermeidlich; dagegen zu wie viel Schönheiten gibt er Anlaß? Muß man dem Theater nicht auch manche Unwahrscheinlichkeit zugute halten? und dennoch interessiert es, rührt es. Und von der »Schweizer-Idylle« habt ihr kein Wort gesagt! Wie ich anfing, sie zu lesen, rief ich aus: O hätt er nichts als »Schweizer-Idyllen« gemacht! Dieser treuherzige Ton, diese muntre Wendung des Gesprächs, das Nationalinteresse! »Das hölzerne Bein« ist mir lieber als ein Dutzend elfenbeinerne Nymphenfüßchen. Warum muß sie sich nur so schäfermäßig enden? kann eine Handlung durch nichts rund werden als durch eine Hochzeit? Wie lebendig läßt sich an diesem kleinen Stücke fühlen, was Geßner uns sein könnte, wenn er nicht durch ein zu abstraktes und ekles Gefühl, physikalischer und moralischer Schönheit, wäre in das Land der Ideen geleitet worden, woher er uns nur halbes Interesse, Traumgenuß herüberzaubert.

(Von Diderots »Moralischen Erzählungen« nächstens.)

[222]

»Gedichte von einem polnischen Juden«
Mitau und Leipzig 1772. 8°. 96 S.

Zuvörderst müssen wir versichern, daß die Aufschrift dieser Bogen einen sehr vorteilhaften Eindruck auf uns gemacht hat. Da tritt, dachten wir, ein feuriger Geist, ein fühlbares Herz, bis zum selbständigen Alter unter einem fremden rauhen Himmel aufgewachsen, auf einmal in unsre Welt. Was für Empfindungen werden sich in ihm regen, was für Bemerkungen wird er machen, er, dem alles neu ist?

Auch nur das flache, bürgerliche, gesellige und gesellschaftliche Leben genommen, wieviel Dinge werden ihm auffallen, die durch Gewohnheit auf euch ihre Wirkung verloren haben? Da, wo ihr an Langerweile schmachtet, wird er Quellen von Vergnügen entdecken; er wird euch aus eurer wohlhergebrachten Gleichgültigkeit reißen, euch mit euern eignen Reichtümern bekannt machen, euch ihren Gebrauch lehren. Dagegen werden ihm hundert Sachen, die ihr so gut sein laßt, unerträglich sein. Genug, er wird finden, was er nicht sucht, und suchen, was er nicht findet. Denn, seine Gefühle, seine Gedanken in freien Liedern der Gesellschaft, Freunden, Mädchen mitteilen, wenn er nichts Neues sagt, wird alles eine neue Seite haben. Das hofften wir und griffen – in Wind.

In denen fast zu langen und zu eitlen Vorberichtsbriefen erscheint er in Selbstgefälligkeit, der seine Gedichte nicht entsprechen.

Es ist recht löblich, ein polnischer Jude sein, der Handelschaft entsagen, sich den Musen weihen, Deutsch lernen, Liederchen ründen; wenn man aber in allem zusammen nicht mehr leistet als ein christlicher etudiant en belles lettres auch, so ist es, deucht uns, übel getan, mit seiner Judenschaft ein Aufsehn zu machen.

Abstrahiert von allem, produziert sich hier wieder ein hübscher junger Mensch, gepudert und mit glattem Kinn und [223] grünem goldbesetzten Rock (siehe S. 11, 12), der die schönen Wissenschaften eine Zeitlang getrieben hat und unterm Treiben fand, wie artig und leicht das sei, Melodiechen nachzutrillern. Seine Mädchen sind die allgemeinsten Gestalten, wie man sie in Sozietät und auf der Promenade kennenlernt, sein Lebenslauf unter ihnen der Gang von tausenden; er ist an den lieben Geschöpfen so hingestrichen, hat sie einmal amüsiert, einmal ennuyiert, geküßt, wo er ein Mäulchen erwischen konnte. Über diese wichtige Erfahrungen am weiblichen Geschlecht ist er denn zum petit volage geworden, und nun, wenn er mehr Zurückhaltung bei einem Mädchen antrifft, beklagt er sich bitterlich, daß er nur den Handschuh ehrerbietig kosten, sie nicht beim Kopf nehmen und weidlich anschmatzen darf, und das alles so ohne Gefühl von weiblichem Wert, so ohne zu wissen, was er will.

Laß, o Genius unsers Vaterlands, bald einen Jüngling aufblühen, der, voller Jugendkraft und Munterkeit, zuerst für seinen Kreis der beste Gesellschafter wäre, das artigste Spiel angäbe, das freudigste Liedchen sänge, im Rundgesange den Chor belebte, dem die beste Tänzerin freudig die Hand reichte, den neusten mannigfaltigsten Reihen vorzutanzen, den zu fangen die Schöne, die Witzige, die Muntre alle ihre Reize ausstellten, dessen empfindendes Herz sich auch wohl fangen ließe, sich aber stolz im Augenblicke wieder losriß, wenn er aus dem dichtenden Traum erwachend fände, daß seine Göttin nur schön, nur witzig, nur munter sei; dessen Eitelkeit, durch den Gleichmut einer Zurückhaltenden beleidigt, sich der aufdrängte, sie durch erzwungne und erlogne Seufzer und Tränen und Sympathien, hunderterlei Aufmerksamkeiten des Tags, schmelzende Lieder und Musiken des Nachts, endlich auch eroberte und – auch wieder verließ, weil sie nur zurückhaltend war; der uns dann all seine Freuden und Siege und Niederlagen, all seine Torheiten und Resipiszenzen mit dem Mut eines unbezwungenen Herzens vorjauchzte, vorspottete; [224] des Flatterhaften würden wir uns freuen, dem gemeine, einzelne weibliche Vorzüge nicht genugtun.

Aber dann, o Genius! daß offenbar werde, nicht Fläche, Weichheit des Herzens sei an seiner Unbestimmtheit schuld; laß ihn ein Mädchen finden, seiner wert!

Wenn ihn heiligere Gefühle aus dem Geschwirre der Gesellschaft in die Einsamkeit leiten, laß ihn auf seiner Wallfahrt ein Mädchen entdecken, deren Seele, ganz Güte, zugleich mit einer Gestalt ganz Anmut, sich in stillem Familienkreis häuslicher tätiger Liebe glücklich entfaltet hat; die Liebling, Freundin, Beistand ihrer Mutter, die zweite Mutter ihres Hauses ist, deren stets liebwürkende Seele jedes Herz unwiderstehlich an sich reißt, zu der Dichter und Weise willig in die Schule gingen, mit Entzücken schauten eingeborne Tugend, mitgebornen Wohlstand und Grazie. – Ja, wenn sie in Stunden einsamer Ruhe fühlt, daß ihr bei all dem Liebeverbreiten noch etwas fehlt, ein Herz, das, jung und warm wie sie, mit ihr nach fernern, verhülltern Seligkeiten dieser Welt ahndete, in dessen belebender Gesellschaft sie nach all den goldnen Aussichten von ewigem Beisammensein, daurender Vereinigung, unsterblich webender Liebe fest angeschlossen hinstrebte.

Laß die beiden sich finden; beim ersten Nahen werden sie dunkel und mächtig ahnden, was jedes für einen Inbegriff von Glückseligkeit in dem andern ergreift, werden nimmer voneinander lassen. Und dann lall er ahndend und hoffend und genießend:

»Was doch keiner mit Worten ausspricht, keiner mit Tränen, und keiner mit dem verweilenden vollen Blick, und der Seele drin.«

Wahrheit wird in seinen Liedern sein, und lebendige Schönheit, nicht bunte Seifenblasenideale, wie sie in hundert deutschen Gesängen herumwallen.

Doch ob's solche Mädchen gibt? ob's solche Jünglinge geben kann? Es ist hier vom polnischen Juden die Rede, den wir fast verloren hätten, auch haben wir nichts von [225] seinen Oden gesagt. Was ist da viel zu sagen! durchgehends die Göttern und Menschen verhaßte Mittelmäßigkeit. Wir wünschen, daß er uns auf denen Wegen, wo wir unser Ideal suchen, einmal wieder und geistiger begegnen möge.

[226]

[227] [244]»Charakteristik
der vornehmsten europäischen Nationen«
Aus dem Englischen.
Leipzig 8°.
Erster Teil 16 Bogen. Zweiter Teil 14 Bogen

Das Werk ist aus dem »Britischen Museum«. Nun für ein Museum war das kein Stück! ins Hinterstübchen mit; in die Küche, da ist sein Platz, je mehr berauchert, desto besser! Charakter polierter Nationen! Werft die Münze in den Tiegel, wenn ihr ihren Gehalt wissen wollt; unter dem Gepräge findet ihr ihn in Ewigkeit nicht.

Sobald eine Nation poliert ist, sobald hat sie konventionelle Wege, zu denken, zu handlen, zu empfinden, sobald hört sie auf, Charakter zu haben. Die Masse individueller Empfindungen, ihre Gewalt, die Art der Vorstellung, die Wirksamkeit, die sich alle auf diese eigene Empfindungen beziehen, das sind die Züge der Charakteristik lebender Wesen. Und wieviel von alledem ist uns polierten Nationen noch eigen? Die Verhältnisse der Religion, die mit ihnen [244] auf das engste verbundenen bürgerlichen Beziehungen, der Druck der Gesetze, der noch größere Druck gesellschaftlicher Verbindungen und tausend andere Dinge lassen den polierten Menschen und die polierte Nation nie ein eigenes Geschöpf sein, betäuben den Wink der Natur und verwischen jeden Zug, aus dem ein charakteristisches Bild gemacht werden könnte.

Was heißt also nun Charakter einer polierten Nation? Was kann's anders heißen als Gemälde von Religion und burgerlicher Verfassung, in die eine Nation gestellt worden ist, Draperie, wovon man höchstens sagen kann, wie sie der Nation ansteht. Und hätte uns der Verfasser dieses Werkchens nur soviel gesagt, nur gezeigt, wie die polierte Nation denn unter allen diesen Lasten und Feßlen lebt; ob sie sie gedultig erträgt, wie Isaschar, oder ob sie dagegen anstrebt, sie bisweilen abwirft, bisweilen ihnen ausweicht oder gar andere Auswege sucht, wo sie noch freiere Schritte tun kann; ob noch hier und da unter der Politur der Naturstoff hervorblickt, ob der Stoff immer so biegsam war, daß er die Politur annehmen konnte, ob die Nation wenigstens eigene, ihrem Stoff gemäße Politur hat oder nicht und dergleichen. Vielleicht würde ein philosophischer Beobachter noch auf diese Art eine erträgliche Charakteristik zustande bringen. Aber der Verfasser reiste gemächlich seine große Tour durch England, Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland und die Niederlande, blickte in seinen Pufendorf, konversierte mit schönen Herrn und Damen und nahm sein Buch und schrieb. Zum Unglück ist in der ganzen Welt nichts schiefer als die schönen Herrn und Damen, und so wurden seine Gemälde gerade ebenso schief; den Engländer verteidigt er immer gegen die Franzosen, den Franzosen setzt er dem Engländer immer entgegen. Jener ist nur stark, dieser nur tändlend; der Italiener prächtig und feierlich, der Deutsche sauft und zählt Ahnen. Alles vom Hörensagen, Oberfläche, aus guten Gesellschaften abstrahiert – und das ist ihm Charakteristik! Wie so gar anders würden [245] oft seine Urteile ausgefallen sein, wenn er sich heruntergelassen hätte, den Mann in seine[r] Familie, den Bauern auf seinem Hof, die Mutter unter ihren Kindern, den Handwerksmann in seiner Werkstatt, den ehrlichen Burger bei seiner Kanne Wein und den Gelehrten und Kaufmann in seinem Kränzchen oder seinem Kaffeehaus zu sehen. Aber das fiel ihm nicht einmal ein, daß da Menschen wären, oder wenn's ihm einfiel, wie sollte er die Geduld, die Zeit, die Herablassung haben? Ihm war ganz Europa feines französisches Drama oder, was ziemlich auf eins hinauskommt, Marionettenspiel! Er guckte hinein und wieder heraus, und das war alles!

[246]

[247] [250]»Die Vorzüge des alten Adels«
Eine Erzählung aus dem Französischen.
Lemgo 1772. 8°. 80 S.

Eine Karikatur von einem alten Baron, der außer dem alten Adel kein Heil kennet, versagt seine Tochter einem neuen Edelmann. Die junge Baronessin ist nicht so bekümmert um die Ahnen und flieht mit ihrem Geliebten davon, und das mit so wenig adeliger Delikatesse, daß sie drei der ältesten Ahne[n]gemälde braucht, ein Regenloch zu verstopfen, das ihre Flucht hinderte. Eine standsmäßige Heurat des Sohnes mit einem scheelen buckligen Zweig eines der ältesten Häuser tröstet den Alten, und die Begeisterung des Weins weckt seine Zärtlichkeit gegen seine Tochter so sehr wieder auf, daß er ihr den Schandflecken vergibt, den sie seiner Familie angehängt hat. – Man kann einen alltäglichen Gegenstand der Satire nicht alltäglicher bearbeiten. Wird denn das Dichter- und Philosophenvolk nie begreifen, daß der Adel noch ganz allein dem Despotismus die Waage hält? Wir wünschten, daß der wahre Adel nur eine bessere, erleuchtetere Erziehung haben möchte, und dann wollten wir gerne den nach unserer Verfassung so nötigen Unterschied der Stände dulten. Ahnenstolz ist nicht ein Haar mehr lächerlich als Gelehrtenstolz, Kaufmannstolz, Burgerstolz und alle übertriebene [250] Parteilichkeit für Vorzüge des Glücks. Wer gelernt hat, Zufriedenheit auf der Stufe zu finden, wo er steht, der wird alle Stufen über und unter sich mit Gleichgültigkeit ansehn. Aber erst muß man aufhören, selbst Scapin zu sein, ehe man über den Arlequin spotten darf.

[251]

[22] »Die schönen Künste in ihrem Ursprung,
ihrer wahren Natur und besten Anwendung«
betrachtet von J. G. Sulzer.
Leipzig 1772. 8°. 85 S.

Sehr bequem ins Französische zu übersetzen, könnte auch wohl aus dem Französischen übersetzt sein. Herr Sulzer, der nach dem Zeugnis eines unsrer berühmten Männer ein ebenso großer Philosoph ist als irgendeiner aus dem Altertume, scheint in seiner Theorie nach Art der Alten mit einer exoterischen Lehre das arme Publikum abzuspeisen, und diese Bogen sind womöglich unbedeutender als alles andre.

»Die schönen Künste«, ein Artikel der »Allgemeinen Theorie«, tritt hier besonders ans Licht, um die Liebhaber und Kenner desto bälder in Stand zu setzen, vom Ganzen zu urteilen. Wir haben beim Lesen des großen Werks bisher schon manchen Zweifel gehabt; da wir nun aber gar die Grundsätze, worauf sie gebaut ist, den Leim, der die verworfnen Lexikonsglieder zusammenkleben soll, untersuchen, so finden wir uns in der Meinung nur zu sehr bestärkt: hier sei für niemanden nichts getan als für den Schüler, der Elementa sucht, und für den ganz leichten Dilettante nach der Mode.

Daß eine Theorie der Künste für Deutschland noch nicht gar in der Zeit sein möchte, haben wir schon ehmals unsre Gedanken gesagt. Wir bescheiden uns wohl, daß eine solche Meinung die Ausgabe eines solchen Buchs nicht hindern kann; nur warnen können und müssen wir unsre gute junge Freunde vor dergleichen Werken. Wer von den [22] Künsten nicht sinnliche Erfahrung hat, der lasse sie lieber. Warum sollte er sich damit beschäftigen? Weil es so Mode ist? Er bedenke, daß er sich durch alle Theorie den Weg zum wahren Genusse versperrt, denn ein schädlicheres Nichts als sie ist nicht erfunden worden.

»Die schönen Künste«, der Grundartikel Sulzerischer Theorie. Da sind sie denn, versteht sich, wieder alle beisammen, verwandt oder nicht. Was steht im Lexiko nicht alles hintereinander? Was läßt sich durch solche Philosophie nicht verbinden? Malerei und Tanzkunst, Beredsamkeit und Baukunst, Dichtkunst und Bildhauerei: alle aus einem Loche, durch das magische Licht eines philosophischen Lämpchens auf die weiße Wand gezaubert, tanzen sie im Wunderschein buntfarbig auf und nieder, und die verzückten Zuschauer frohlocken sich fast außer Atem.

Daß einer, der ziemlich schlecht räsonierte, sich einfallen ließ, gewisse Beschäftigungen und Freuden der Menschen, die bei ungenialischen, gezwungnen Nachahmern Arbeit und Mühseligkeit wurden, ließen sich unter die Rubrik Künste, schöne Künste klassifizieren, zum Behuf theoretischer Gaukelei, das ist denn der Bequemlichkeit wegen Leitfaden geblieben zur Philosophie darüber, da sie doch nicht verwandter sind als septem artes liberales der alten Pfaffenschulen.

Wir erstaunen, wie Herr S., wenn er auch nicht drüber nachgedacht hätte, in der Ausführung die große Unbequemlichkeit nicht fühlen mußte, daß, solange man in generalioribus sich aufhält, man nichts sagt und höchstens durch Deklamation den Mangel des Stoffes vor Unerfahrnen verbergen kann.

Er will das unbestimmte Principium: Nachahmung der Natur, verdrängen und gibt uns ein gleich unbedeutendes dafür: Die Verschönerung der Dinge. Er will nach hergebrachter Weise von Natur auf Kunst herüberschließen: »In der ganzen Schöpfung stimmt alles darin überein, daß das Aug und die andern Sinnen von allen Seiten her durch [23] angenehme Eindrücke gerührt werden.« Gehört denn, was unangenehme Eindrücke auf uns macht, nicht so gut in den Plan der Natur als ihr Lieblichstes? Sind die wütenden Stürme, Wasserfluten, Feuerregen, unterirdische Glut und Tod in allen Elementen nicht eben so wahre Zeugen ihres ewigen Lebens als die herrlich aufgehende Sonne über volle Weinberge und duftende Orangenhaine? Was würde Herr Sulzer zu der liebreichen Mutter Natur sagen, wenn sie ihm eine Metropolis, die er mit allen schönen Künsten, Handlangerinnen, erbaut und bevölkert hätte, in ihren Bauch hinunterschlänge?

Ebensowenig besteht die Folgerung: »Die Natur wollte durch die von allen Seiten auf uns zuströmenden Annehmlichkeiten unsre Gemüter überhaupt zu der Sanftmut und Empfindsamkeit bilden.« Überhaupt tut sie das nie, sie härtet vielmehr, Gott sei Dank, ihre echten Kinder gegen die Schmerzen und Übel ab, die sie ihnen unablässig bereitet, so daß wir den den glücklichsten Menschen nennen können, der der stärkste wäre, dem Übel zu entgegnen, es von sich zu weisen und ihm zum Trutz den Gang seines Willens zu gehen. Das ist nun einem großen Teil der Menschen zu beschwerlich, ja unmöglich; daher retirieren und retranchieren sich die meisten, sonderlich die Philosophen, deswegen sie denn auch überhaupt so adäquat disputieren.

Wie partikular und eingeschränkt ist folgendes, und wie viel soll es beweisen! »Vorzüglich hat diese zärtliche Mutter den vollen Reiz der Annehmlichkeit in die Gegenstände gelegt, die uns zur Glückseligkeit am nötigsten sind, besonders die selige Vereinigung, wodurch der Mensch eine Gattin findet.« Wir ehren die Schönheit von ganzem Herzen, sind für ihre Attraktion nie unfühlbar gewesen; allein sie hier zum primo mobili zu machen, kann nur der, der von den geheimnisvollen Kräften nichts ahndet, durch die jedes zuseinesgleichen gezogen wird, alles unter der Sonne sich paart und glücklich ist, [24] Wäre es nun also auch wahr, daß die Künste zu Verschönerung der Dinge um uns würken, so ist's doch falsch, daß sie es nach dem Beispiele der Natur tun.

Was wir von Natur sehn, ist Kraft, die Kraft verschlingt, nichts gegenwärtig, alles vorübergehend, tausend Keime zertreten, jeden Augenblick tausend geboren, groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön und häßlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte nebeneinander existierend. Und dieKunst ist gerade das Widerspiel; sie entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten. Schon das Tier durch seine Kunsttriebe scheidet, verwahrt sich; der Mensch durch alle Zustände befestigt sich gegen die Natur, ihre tausendfache Übel zu vermeiden und nur das Maß von Gutem zu genießen; bis es ihm endlich gelingt, die Zirkulation aller seiner wahr' und gemachten Bedürfnisse in einen Palast einzuschließen, sofern es möglich ist, alle zerstreute Schönheit und Glückseligkeit in seine gläserne Mauern zu bannen, wo er denn immer weicher und weicher wird, den Freuden des Körpers Freuden der Seele substituiert und seine Kräfte, von keiner Widerwärtigkeit zum Naturgebrauche aufgespannt, in Tugend, Wohltätigkeit, Empfindsamkeit zerfließen.

Herr S. geht nun seinen Gang, den wir ihm nicht folgen mögen; an einem großen Trupp Schüler kann's ihm so nicht fehlen; denn er setzt Milch vor und nicht starke Speise, redet viel von dem Wesen der Künste, Zweck, und preist ihre hohe Nutzbarkeit als Mittel zu Beförderung der menschlichen Glückseligkeit. Wer den Menschen nur einigermaßen kennt und Künste und Glückseligkeit, wird hier wenig hoffen, es werden ihm die vielen Könige einfallen, die mitten im Glanz ihrer Herrlichkeit der Ennui zu Tode fraß. Denn wenn es nur auf Kennerschaft angesehn ist, wenn der Mensch nicht mitwürkend genießt, müssen bald Hunger und Ekel, die zwei feindlichsten Triebe, sich vereinigen, den elenden Pococurante zu quälen.

[25] Hierauf läßt er sich ein auf eine Abbildung der Schicksale schöner Künste und ihres gegenwärtigen Zustandes, die denn mit recht schönen Farben hinimaginiert ist, so gut und nicht besser als die Geschichten der Menschheit, die wir so gewohnt worden sind in unsern Tagen, wo immer das Märchen der vier Weltalter sufficienter ist und im Ton der zum Roman umpragmatisierten Geschichte.

Nun kommt Herr S. auf unsere Zeiten und schilt, wie es einem Propheten geziemt, wacker auf sein Jahrhundert; leugnet zwar nicht, daß die schönen Künste mehr als zu viel Beförderer und Freunde gefunden haben, weil sie aber zum großen Zweck, zurmoralischen Besserung des Volks noch nicht gebraucht worden, haben die Großen nichts getan. Er träumt mit andern, eine weise Gesetzgebung würde zugleich Genies beleben und auf den wahren Zweck zu arbeiten anweisen können, und was dergleichen mehr ist.

Zuletzt wirft er die Frage auf, deren Beantwortung den Weg zur wahren Theorie eröffnen soll: »Wie ist es anzufangen, daß der dem Menschen angeborne Hang zur Sinnlichkeit zu Erhöhung seiner Sinnesart angewendet und in besondern Fällen als ein Mittel gebraucht werde, ihn unwiderstehlich zu seiner Pflicht zu reizen?« So halb und mißverstanden und in den Wind als der Wunsch Cicerons, die Tagend in körperlicher Schönheit seinem Sohne zuzuführen. Herr S. beantwortet auch die Frage nicht, sondern deutet nur, worauf es hier ankomme, und wir machen das Büchlein zu. Ihm mag sein Publikum von Schülern und Kennerchens getreu bleiben, wir wissen, daß alle wahre Künstler und Liebhaber auf unsrer Seite sind, die so über den Philosophen lachen werden, wie sie sich bisher über die Gelehrten beschwert haben. Und zu diesen noch ein paar Worte, auf einige Künste eingeschränkt, das auf so viele gelten mag als kann.

Wenn irgendeine spekulative Bemühung den Künsten nützen soll, so muß sie den Künstler grade angehen, seinem natürlichen Feuer Luft machen, daß es um sich greife und [26] sich tätig erweise. Denn um den Künstler allein ist's zu tun, daß der keine Seligkeit des Lebens fühlt als in seiner Kunst, daß, in sein Instrument versunken, er mit allen seinen Empfindungen und Kräften da lebt. Am gaffenden Publikum, ob das, wenn's ausgegafft hat, sich Rechenschaft geben kann, warum's gaffte oder nicht, was liegt an dem?

Wer also schriftlich, mündlich oder im Beispiel, immer einer besser als der andre, den sogenannten Liebhaber, das einzige wahre Publikum des Künstlers, immer näher und näher zum Künstlergeist aufheben könnte, daß die Seele mit einflösse ins Instrument, der hätte mehr getan als alle psychologische Theoristen. Die Herren sind so hoch droben im Empyreum transzendenter Tugend-Schöne, daß sie sich um Kleinigkeiten hienieden nichts kümmern, auf die alles ankommt. Wer von uns Erdensöhnen hingegen sieht nicht mit Erbarmen, wie viel gute Seelen z.B. in der Musik an ängstlicher mechanischer Ausübung hangenbleiben, drunter erliegen.

Gott erhalt unsre Sinnen, und bewahr uns vor der Theorie der Sinnlichkeit, und gebe jedem Anfänger einen rechten Meister! Weil denn die nun nicht überall und immer zu haben sind und es doch auch geschrieben sein soll, so gebe uns Künstler und Liebhaber ein περι έαυτον seiner Bemühungen, der Schwürigkeiten, die ihn am meisten aufgehalten, der Kräfte, mit denen er überwunden, des Zufalls, der ihm geholfen, des Geists, der in gewissen Augenblicken über ihn gekommen und ihn auf sein Leben erleuchtet, bis er zuletzt, immer zunehmend, sich zum mächtigen Besitz hinaufgeschwungen und als König und Überwinder die benachbarten Künste, ja die ganze Natur zum Tribute genötigt.

So würden wir nach und nach vom mechanischen zum intellektuellen, vom Farbenreiben und Saitenaufziehen zum wahren Einfluß der Künste auf Herz und Sinn eine lebendige Theorie versammeln, würden dem Liebhaber Freude und Mut machen und vielleicht dem Genie etwas nutzen.

[27]

Notes
Erstdruck in: Frankfurter Gelehrte Anzeigen, Jg. 1772.
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TextGrid Repository (2012). Goethe, Johann Wolfgang von. [Rezensionen für die »Frankfurter Gelehrten Anzeigen«]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-63F3-9