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An Friedrich Jacob Soret

Die Anfrage wegen einer Büste der ehemaligen Frau v. Berlepsch kann ich nur zweifelnd beantworten; ich wollte darauf schwören, sie hier gesehen, ja in meinem Hause gehabt zu haben. Nun findet sie sich aber, nach dem genauesten Forschen, weder bey mir noch auf Großherzoglicher Bibliothek; ich lasse aber nachspüren, wo sie sich etwa untergethan hat, und sobald sie sich fände, soll sie geformt und abgegossen werden. Gar sehr, mein Theuerster, wollte ich Sie gebeten haben, Ihre freundlichen Mittheilungen fortzusetzen, ein kurzgefaßtes Tagebuch würde mich beruhigen.

Übrigens befinde ich mich in einem wunderlichen Geisteszustande, der keine anhaltende Aufmerksamkeit erlaubt; deswegen ich manches Einzelne wegarbeite, was doch gethan seyn muß; auch mache ich Ordnung in verschiedenen Dingen die durch einander liegen, um gewahr zu werden, daß noch einiges in der Welt ist, wofür man sich interessiren könnte. Die Öde jedoch ist schrecklich in die man nach einem solchen Verluste gesetzt ist.

[145] Schon seit acht Tagen beschäftigte mich Herrn De Candolle's Organographie végétale, ein merkwürdiges, gerade zu unsern Zwecken nützliches und nothwendiges Werk: man belehrt sich, wie weit die Erfahrung gelangt ist, inwiefern man das Wissen zusammengebracht hat und es wissenschaftlich aufzustellen bemüht ist. Hier tritt nun der Mensch methodisirend Individuum mit den Gleichgesinnten.

Da macht es sich denn dießmal gar hübsch: Herr De Candolle, welcher vom Besondern in's Allgemeine geht, behandelt uns andere, die wir vom Allgemeinen in's Besondere trachten, nicht unfreundlich, und gar viele der beiderseitigen Enuntiationen, wie sie sich begegnen, sind gleichlautend; an wenig Stellen erscheint ein Widerstreit, welcher keiner Auflösung bedarf; es sind nur zwey verschiedene Sprachen, und man versteht sich wohl.

Wenn wir, mein Bester, zu unsern Vorsätzen Athem gewinnen, so wird uns dieses Werk von größtem Nutzen seyn, und gerade jetzt kommt es mir sehr zu statten; ich mag es aufschlagen wo ich will, so erinnert es mich an die alte, befreundete, ewig bildende und umbildende Natur, woher wir das Leben empfingen und wohin wir es wieder zurückgeben.

So weit war ich gestern, als Ihr lieber Brief bey mir anlangte, begleitet von einem andern des [146] guten Hofrath Vogel. Bey näherer Betrachtung jedoch verschwindet meine Hoffnung, in Wilhelmsthal aufzuwarten; ich bin ja gefesselt durch die Gegenwart des Hofmahler Stieler. Seine Arbeit, durch die traurigen Ereignisse unterbrochen, muß nun fortgesetzt werden und es ist nicht abzusehen, wann er endigen wird. Er denkt noch eine Hand in dem Bilde anzubringen; seine Geschicklichkeit und Sorgfalt sind gleich groß. Und so mag es denn für ein Geschick anzusehen seyn, daß durch diese Nöthigung alle Wahl abgeschnitten und ausgeschlossen bleibt.

Daß meine Gedanken in Wilhelmsthal gegenwärtig und um Ihro Königliche Hoheit die Frau Großherzogin beschäftigt sind, werden Sie gewiß mitempfinden. Empfehlen Sie mich auf's andringlichste und lassen Sie mich nicht ohne beruhigende Nachricht.

treu ergeben

Weimar den 21. Juni 1828.

J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1828. An Friedrich Jacob Soret. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6B6A-3