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An Christoph Ludwig Friedrich Schultz

Nachstehendes sollte, mein Theuerster, nebst verschiedenen anderen Puncten, nach Verlauf einiger Zeit zu Ihnen wandern, inliegender Brief jedoch veranlaßt mich, auch dieses Blatt sogleich mitzuschicken.

Wie viel ich Ihnen für Ihr Kommen und Mittheilen, Handeln, Leiten und Lenken schuldig geworden, wissen Sie selbst, und ich deute deshalb nur dahin. Von den schätzbarsten Wirkungen ist eine solche Zusammenkunft; ich wollte schon jetzt im Einzelnen angeben, was Ihre Gegenwart in und an mir gefördert und was dadurch über die Maaßen beschleunigt worden. Nehmen Sie jedoch nur im Allgemeinen einen freudigen Dank, empfehlen Sie mich den lieben Ihrigen und den drey werthen thätigen Kunst-Genossen. Mögen Sie unsern lieben Plastikern sagen: daß Kaufmann seinen Auftrag glücklich vollendet, und die Kisten, auf's sorgfältigste gepackt, heute abgegangen sind.

Aus einer billigen Freundlichkeit und aus Furcht, allzu menschen- und ehrenscheu auszusehn, habe ich mich entschlossen, morgen hier zu bleiben und der Feier meines Geburtstags persönlich beyzuwohnen, was ich sonst so sorgfältig vermied. Ihrem Besuch gebe ich die Schuld dieser Sinnesänderung; Ihre Theilnahme und die Thätigkeit der jungen Männer [173] hat mich in's Leben wie zurückgerissen. Das nächste Stück von Kunst und Alterthum folgt balde; sobald die entoptischen Blätter abgedruckt sind erhalten Sie solche. Denken Sie ja darauf, wie wir jungen Leuten das alles theoretisch überliefern und praktisch in die Hände geben. Sehen Sie nur den Greuel an, wie Ihr Professor Fischer die Farbenlehre vorträgt.

Nicht weiter! damit die Post nicht versäumt werde.

treulichst

Jena den 27. August 1820.

Goethe.


Gar mancherley Einzelnheiten zur Farbenlehre hatten sich in diesen Jahren bey mir gehäuft und ich dachte, in meinem Überhinsinne, sie am Schlusse des neuesten Heftes noch eilig abdrucken zu lassen. Nun sehe ich aber, daß wir viel weiter sind, als wir selbst gedacht: denn die Darstellung der entoptischen Farben, wie sie nun abgeschlossen vor mir liegt, giebt unserm Wesen einen ganz neuen Halt; ich sistire den Druck und gedenke, zwar kein explicites, aber ein implicites Ganze zusammenzustellen; was man in unserer ästhetischen Literatur vor einigen Jahren ein organisches Fragment nannte.

Hiezu aber bedürfte ich dringend Ihres Beystandes. Könnten Sie die Hauptmomente dessen, was Sie für physiologe Farben gethan, uns darstellen? könnten Sie mir einen anschaulichen Begriff von Comparetti's und des Purkinje Verdiensten kürzlich geben; so würde [174] ich's mit Freuden einfügen; ich selbst muß Verzicht thun, dergleichen zu durchbringen und, wenn ich's gewonnen hätte, darzustellen.

Höchst merkwürdig ist in Professor Fischers Lehrbuch der mechanischen Naturlehre die wunderlich angeschobene Farbenlehre; ich konnte noch nicht die Sache näher ansehen; es ist aber für uns ein lustiger Einblick, wie die Herrn einen ganz verständigen Rückzug anlegen. Die Franzosen, wenn sie flüchteten, nannten das ein mouvement rétrograde. Des Herrn Akademikers Rückschritt ist so tanzmeisterlich, daß man wirklich seine Gewandtheit bewundert. Die physiologen Farben schließen nicht allein das Capitel, sondern das ganze Buch, und so steht das wieder auf dem Kopfe, was wir seit so vielen Jahren auf die Füße zu stellen suchten.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1820. An Christoph Ludwig Friedrich Schultz. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6E63-8