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An Christian Heinrich Schlosser

[Concept.]

[25. November 1814.]

Die Neigung, welche mir meine lieben Landsleute so freundlich zugewendet, und welche Sie, mein Theuerster, so liebevoll ausdrücken, kann ich treu und redlich erwidern, indem ich versichere, daß mir bey meinem dortigen Aufenthalt ein neues Licht fröhlicher Wirksamkeit aufgegangen, wovon ich für mich und andere glückliche Förderung hoffen darf.

[91] Der unselige Krieg und die fremde Herrschaft hatten alles verwirrt und zum Starren gebracht, die literarische Communikation stockte, mit ihrem Wesen und Unwesen. Aber auch in den Wissenschaften fanden sich innerliche Hindernisse, daß, bey der Art, wie ich sie allein treiben mag, ein redliches Bemühn blos in Hoffnung auf die Zukunft sich einigermaßen stärken konnte. Zugleich ward eine höhere ideelle Behandlung immer mehr von dem Wirklichen getrennt, durch ein Transcendiren, und Mystificiren, wo das Hohle vom Gehaltvollen nicht mehr zu unterscheiden ist, und jedes Urbild, das Gott der menschlichen Seele verliehen hat, sich in Traum und Nebel verschweben muß.

In unserer Gegend hatte der Krieg, die allgemeine Bewegung der Gemüther, und mancher andere ungünstige Umstand zusammengewirkt, und den schönsten Kreis, wovon Weimar und Jena die beyden Brennpuncte sind, wo nicht aufzulösen, doch seine Bewegungen zu hemmen, zu stören vermocht, und ich sah mich fast auf mich selbst zurückgedrängt. Diese Zeit benutzte ich um mich in mir selbst historisch zu bespiegeln, da ich mich denn sehr freue, daß die Resultate meiner drey Bändchen auch andern Gelegenheit geben mögen, auf sich selbst zurückzukehren.

Der erste Blick in jene vaterländische Gegend, nach so langer Abwesenheit, eröffnete mir eine freyere Laufbahn, denn ich fand eine nach so langem Druck wieder sich selbst gegebene Stadtfamilie (will ich es nennen, [92] um nicht Volk zu sagen,) wo sich soviel Eigenschaften, Fähigkeiten, so mancher Besitz und so redliches Streben hervorthun, daß man sich daran erbauen und wünschen muß in einem so schönen Elemente zu schweben und mitzuwirken.

Wie sehr mich also, nach diesem allen, glücklich macht, durch Sie, mein werthester Freund, und Ihre Vermittelung, mit jenem schönen Kreise auch abwesend in Verbindung zu bleiben, fortzuwirken und auf mich wirken zu lassen, werden Sie selbst ermessen. Könnte ich so glücklich seyn, mein Jahr zwischen der Vaterstadt und der hiesigen Gegend zu theilen, so würde es für mich und andere ersprießlich werden; weil es in einem Alter, wo man durch das, was in einem engen Kreis mislingt, gar leicht zur Unmuth und Hypochondrie verleitet wird, höchst erwünscht ist einer sich wechselweis auffordernden neuen Thätigkeit zu genießen, und durch sie verjüngt und zu früherer Thatkraft wiedergeboren zu werden. Lassen sie mich, in Voraussetzung dieser allgemeinen, aufrichtigen Versicherungen, nunmehr den reichen Gehalt Ihres Briefes einzeln in Betrachtung ziehen.

Das anorganische Reich betreffend, so kann für Sie nichts vortheilhafter seyn, als wenn Sie das Verhältniß zu Herrn Geheimerath Leonhard zu cultiviren suchen. Haben Sie sein oryktognostisches Kabinett gesehen und wiedergesehen, so bleibt Ihnen kein Mineral unbekannt. So ist auch seine Folge von [93] Gebirgsarten höchst bedeutend und ausgewählt. Setzen Sie hinzu, daß er sich gegenwärtig mit Leidenschaft auf die Kenntniß der Petrefacten wirft, daß er bey eröffneter Communication zwischen Ländern und Reichen seine Correspondenz überall hin verbreitet, daß Sie in seinem Comptoir, um billigen Preis, alles anschaffen können, was Ihnen und Ihren Freunden zum Unterricht oder zum Vergnügen nützlich wäre, so werden Sie Sich leicht überzeugen, daß vielleicht in ganz Deutschland sich keine so günstige Gelegenheit als in Ihrer nächsten Nähe darbieten möchte.

Überdieß hat er mineralogische Tabellen geschrieben, an die Sie Sich leicht gewöhnen werden, und ihm dadurch auch wieder näher kommen. Sein Taschenbuch unterrichtet Sie von dem Neusten, was in diesem Reiche entdeckt wird.

Sollte ich nun über die Art des Studiums etwas sagen; so würde ich Ihnen durchaus rathen das anorganische Reich, dem ich seine dynamischen Verdienste nicht absprechen will, anfangs rein atomistisch zu behandeln, nur zu sehen, und nicht zu denken. Die Eindrücke der Gestalten, der Farben, kurz aller äußerlichen Kennzeichen und was man Habitus nennt, sich wohl einzuprägen, wobey Sie denn, durch die eingeführte Methode selbst, auf den chemischen Inhalt zu merken hingedrängt werden.

Weimar den 23. Novbr. 1814.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1814. An Christian Heinrich Schlosser. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6EDD-9