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An Carl Ludwig Woltmann

Weimar, den 31. März 1815.

Die letzten Blätter unserer Literaturzeitung will ich nicht lange vor mir sehen, ohne dem Verfasser des darin enthaltenen Aufsatzes aufrichtig zu danken, daß er sich mir zu erkennen gegeben. Ich behandle gewöhnlich solche Zeitschriften wie Maskenbälle, wo uns ein Vermummter manchmal anspricht, dem wir wohl abmerken, daß ihm unsere Zustände nicht unbekannt sind, ohne daß wir gerade, wer er sey, entziffern könnten; und in solchem Falle ist dann eine Enthüllung sehr angenehm.

Ich pflege öfters zu wiederholen, daß der Deutsche wohl zu berichtigen wisse, nicht zu suppliren, zu ergänzen. Dieß ist aber bey Ihnen gerade das Gegentheil. Sie lassen Werth oder Unwerth auf sich beruhen, und wissen durch Wünsche, ja durch klare [241] Andeutung zu zeigen, wie einer Arbeit noch mehr Fülle zu geben wäre.

So ist es auch das Rechte; denn niemand sollte über etwas urtheilen, wenn er nicht zugleich bewiese, daß er es selbst machen könne.

Der Historiker, wenn ihm ein Werk seines Faches vorgelegt wird, ist sogleich im Stande, den Stoff von der Form zu scheiden, und deswegen in dem Falle, beyde genauer zu würdigen. Die Behandlung wird von ihm eingesehen; er begreift, was daran natürlich und der Sache gemäß, oder was poetisch, rhetorisch, diplomatisch wäre, und wie man die Mittel alle nennen mag, durch die man ein Vergangenes mehr um des Ganzen, als seiner Theile willen festhalten und überliefern möchte. Nur auf diese Weise kann der höheren Kritik vorgearbeitet werden, welche dann Anachronismen, Prolepsen und dergleichen wohl ermitteln und herausfinden wird, wenn sie nur den echten lydischen, schwarzen, festen und doch sammetartigen Stein mit Aufmerksamkeit anwenden will.

Zu dem allen aber gehört die Treue eines Wardeins, dem seine Pflicht gegen das große Publicum angelegen ist. Leider ist in unseren Tagen mehr als je der Fall, daß jede Art Scheidemünze, eben weil sie cursirt, zugleich als herrliches Metall herausgestrichen wird.

Im Bereiche der Wissenschaft, wo ich leider auch einige Besitzung habe, die ich nicht aufgeben kann,[242] sieht es eben so schlimm, beynahe schlecht aus. Es fehlt nicht an Retardationen, Präoccupationen, stillschweigenden Nachschleichen hinter dem rechten, ohne es bekennen zu wollen, Reticenzen aller Art, und wie das Otterngezücht alle heißen mag, wodurch Faulheit, Dünkel und Mißwollen ihre Tageszwecke erreichen.

Bey dem gewaltsamen Fortrollen der Welt sind sie ganz ruhig über alles, was sie in zehn Jahren sagen werden und sagen müssen. Diese Niederträchtigkeiten sind in Frankreich, England, Deutschland zu Hause, wie ich von meinen Freunden vernehme, welche der neuen wissenschaftlichen Literatur folgen und eine weitläufige Correspondenz führen.

Vorstehendes Fremde und Häßliche würde ich nicht ausgesprochen haben, wenn ich nicht die schöne Bemerkung, die ich Ihnen schuldig bin, zu rühmen und zu preisen hätte, die nämlich, wo Sie sagen, daß auch in Deutschland ein entschiedenes, redliches, fleißiges und beharrliches Talent nicht durchdringen werde, wenn der Froschlaich unserer Literatur sich eben so anastomosirt und organisirt zeigen würde, wie das französische Wesen zu Voltaires Zeiten. Glücklicher oder unglücklicher Weise kann in Deutschland keine Einheit der Urtheile statt finden; und die Spaltungen werden in's Unendliche gehen, sobald nur noch mehr von den älteren Autoren, deren Daseyn auf eine mannigfache Weise gegründet ist, das Zeitliche gesegnen werden [243] Mit den Wissenschaften ist es eine ganz eigne Sache. Diese ruhen auf ungeheuren Grundpfeilern und behaupten ihre Wohnung in einem Pallaste, welchen Baco selbst nicht prächtig genug beschrieben hat. Besucht man sie aber –

(Die Fortsetzung folgt.)


Nachschrift.

Beyliegendem werden Sie, mein trefflicher Freund, wahrscheinlich gleich einen Geist ansehen, welcher mit rheumatischen Nebeln umhüllt ist. Ich will es aber doch abschicken, damit mein Nichtschreiben nicht für Nachlässigkeit gehalten werde. Sobald ich mich wieder freyer fühle, hoffe manches mittheilen zu können. Ihre Sendung erwarte ich mit Verlangen. Erhalten Sie mir ein geneigtes Andenken.

Goethe.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1815. An Carl Ludwig Woltmann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7194-E