45/248.

An Carl Friedrich von Reinhard

[Concept.]

Allerdings habe ich Ihren ländlichen Aufenthalt, verehrtester Freund, herzlich zu segnen, daß er Ihnen so viel Muße gewährte, so viel Sammlung erlaubte, Ihren wichtigen Lebensgang sich wieder vorüberziehen zu lassen und nieder zu schreiben. Dabey erkenn ich mich denn wahrhaft gerührt, daß Sie diese bedeutenden Erinnerungen unmittelbar an mich richten und mich zum Vertrauten so kostbarer Vergangenheiten erwählen wollten.

Auch mir ward hierüber sogleich theil's Memoiren Sie dazu aufregen konnten und mußten, und es würde köstlich seyn, wenn dasjenige, was in Ihrem geneigten Schreiben als Inhalt einiger Bände aufgeführt ist, auch zu unsrer bessern Erkenntniß ausgeführt und dargelegt [292] würde. Denn eigentlich gedeiht doch das Wunderwürdige der Geschichte den Mitlebenden sowie den Nachkommen alsdann erst heilsam und ersprießlich, wenn man sie erkennen läßt, wie das Merkwürdigste und Größte von bedeutenden Menschen unter den sonderbarsten Zuständen und Zufälligkeiten geleistet worden. Was in solchen Zeiten Tag für Tag geschieht, ist doch nicht alltäglich.

Seit einiger Zeit bin ich in das Lesen französischer Bücher gewissermaßen ausschließlich versenkt worden; die acht Bände der Revue française, die mir erst jetzt zur Hand gekommen, nachzuholen, ist keine geringe Aufgabe wegen der Mannichfaltigkeit und großen Bedeutung der mitgetheilten Artikel. Die Verfasser nehmen ein herausgekommenes Buch gleichsam nur zum Text, zum Anlaß, wobey sie ihre wohlgegründeten Meynungen und aufrichtigen Gesinnungen an den Tag legen. Die Anerkennung aller Verdienste steht dem liberalen Manne so gar wohl, und zwar eine Anerkennung, wie wir sie hier finden, welche uns sogleich Beweise gibt eines freyen Überblicks über die verschiedensten Angelegenheiten, von einem höheren Standpuncte aus, der doch eigentlich nur zur Unparteilichkeit berechtigt.

Es ist wirklich wundersam, wie hoch sich der Franzose geschwungen hat, seitdem er aufhörte, beschränkt und ausschließend zu seyn. Wie gut kennt er seine Deutschen, seine Engländer, besser als die [293] Nationen sich selbst; wie bestimmt schildert er in diesen die eigennützigen Weltmenschen, in jenen die gutmühigen Privatleute. Auch der Globe, wenn schon seine special-politische Tendenz uns eine etwas unbehaglichere Stimmung gibt, bleibt mir gleichfalls lieb und werth. Man braucht ja mit vorzüglichen Menschen nicht durchaus einig zu seyn, um Neigung und Bewunderung für sie zu empfinden.

Ferner war es denn doch ein erfreuliches Zusammentreffen, daß Ihr inhaltschwerer Brief mich so eben über der Beschäftigung traf, den Reichthum nordischer Mineralien abschließlich zu ordnen und der Sammlung gemäß zu etiquettiren; jedes einzelne Exemplar war schon dorten sorgfältig bezeichnet, nun aber liegen sie alle gehörig beysammen, geordnet, in sechs neben einander gestellten und auf einmal übersehbaren Schubladen, und sollen nun, zu freudigem Antheil einheimisch und besuchender Naturforscher, in Schränke geschoben und für die Gegenwart sowohl, als für die Zukunft aufbewahrt werden.

Mit wenigem kehr ich noch zur französischen Literatur zurück. Victor Hugo ist [ein] entschiedenes poetisches Talent, nur geht er auf einem Wege, wo er den völligen reinen Gebrauch desselben wohl schwerlich finden wird. Andere vorzügliche Talente versuchen, wie er, auf dem romantischen Boden Fuß zu fassen, aber es schwärmen in dieser feuchten Region so viel Irrlichter, daß der bravste Wanderer in Gefahr [294] kommt, seinen Pfad zu verlieren; dabey findet man an hellem Tage die freye Landschaft, in die man sich eingelassen, so mannichfaltig anmuthig, daß man sie wohl zu durchwandern gereizt, aber sich da oder dort anzubauen nicht leicht bestimmt wird. Indessen sind die französischen Talente noch dran, etwas ganz Treffliches, Haltbares zu leisten. Vor allen Dingen müssen sie suchen im höheren Sinne das für's Theater Brauchbare hervorzubringen, wie es Casimir de la Vigne mit seinem Marino Faliero gelungen zu seyn scheint. Doch kommen in diesen Lagen so viel Betrachtungen zusammen, in die ich mich nicht einlassen darf; das Wunderlichste bleibt immer, daß die Nationen überhaupt gerne etwas Vortreffliches wünschten, und doch wohl, wenn es sich ganz rein darstellte, es kaum genießen könnten. Ein jedes Product muß wenigstens die Nationalcocarde aufstecken, um in den privilegirten Kreis gutwillig aufgenommen zu werden.

Sehr bewegt und wundersam wirkt freylich die Weltliteratur gegen einander; wenn ich nicht sehr irre, so ziehen die Franzosen in Um- und Übersicht die größten Vortheile davon; auch haben sie schon ein gewisses selbstbewußtes Vorgefühl, daß ihre Literatur, und zwar noch in einem höheren Sinne, denselben Einfluß auf Europa haben werde, den sie in der Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts sich erworben.

Weimar den 18. Juni 1829.

[295]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1829. An Carl Friedrich von Reinhard. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-795A-7