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An Marianne von Willemer

Ihrem neulich ausgesprochenen Wunsche, theuerste Freundin, kann ich leider nicht entgegen kommen, denn die Platte von jenen angenehmen Bildchen hat sich verloren, kein Abdruck ist mehr vorhanden; doch kann ich meine Bereitwilligkeit durch ein paar andere Aussichten mit Vergnügen beweisen, die freylich keinen freyen Fluß, keine bedeutende Stadt darzustellen hatten, vielmehr von Einfalt und Beschränkung das bescheidenste Zeugniß geben; vielleicht aber kann abgesonderte Ländlichkeit und gemäßigt-städtisches Wesen nicht besser ausgedruckt werden. Auch sehen Sie einige Reimzeilen von meiner Hand darunter geschrieben. Und so wird denn wohl dem guten Kinde, dem Sie jenes Christgeschenk zudachten, durch Gegenwärtiges zum neuen Jahr noch einige Freude.

Das Abscheiden unseres guten Riese mußte mir zu weiten Rückblicken Veranlassung geben; er war bis jetzt als mein ältester Freund stehen geblieben, bis er nun auch aus diesem Gänsespiel scheidet. Schön war es und völlig in seiner alten treuen Art, daß er sein Vermächtniß durch Ihre Hand gehen läßt; er [226] spricht dadurch rührend aus was Sie ihm waren und was Sie mir sind. Und so bleibe es auch fortan.

Eigentlich waren es uralte, redlich aufgehobene Briefe, deren Anblick nicht erfreulich seyn konnte; hier lagen mir eigenhändige Blätter vor Augen, welche nur allzudeutlich ausdrückten, in welchen sittlich kümmerlichen Beschränktheiten man die schönsten Jugendjahre verlebt hatte. Die Briefe von Leipzig waren durchaus ohne Trost; ich habe sie alle dem Feuer überliefert; zwey von Straßburg heb ich auf, in denen man endlich ein freyeres Umherblicken und Aufathmen des jungen Menschen gewahr wird. Freylich ist, bey heiterem innern Trieb und einem löblich geselligen Freysinn, noch keine Spur von woher? undwohin? von woaus? woein? deshalb auch einem solchen Wesen gar wundersame Prüfungen bevorstanden. Sie können selbst davon einiges Zeugniß abgeben, doch werden Sie ihm deshalb nicht feind geworden seyn.

Es verdrießt mich, daß ich dem Wunsche des Freundes nicht zuvor kam. Einleitung ist deshalb getroffen und ich darf erwarten, daß irgend eine Epoche zum Gelingen Gelegenheit gebe. Hiebey ein bildliches und reimliches Grüßlein zum neuen Jahr.


Wenn Phöbus Rosse sich zu schnell
In Dunst und Nebel stürzen,
Geselligkeit wird, blendend hell,
Die längste Nacht verkürzen.
[227] Und wenn sich wieder auf zum Licht
Die Horen eilig drängen,
So wird ein liebend Frohgesicht
Den längsten Tag verlängen.

treu gewidmet

Weimar d. 3. Januar 1828.

Goethe.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1828. An Marianne von Willemer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7AA0-E