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An Heinrich Wilhelm Ferdinand Wackenroder

Ew. Wohlgeboren

bin ich für verschiedene Sendungen und Mittheilungen einen aufrichtigen Dank schuldig geblieben, welchen ich nicht länger, und wäre es auch nur einigermaßen, auszudrücken zaudern darf.

Lassen Sie mich daher bey dem Letztern verweilen und bey der Pflanzen-Chemie mich aufhalten. Es interessirt mich höchlich, inwiefern es möglich sey, der organisch-chemischen Operation des Lebens beyzukommen, durch welche die Metamorphose der Pflanzen nach einem und demselben Gesetz auf die mannichfaltigste Weise bewirkt wird.

Daß die Steigerung, die wir bey Bildung der Pflanzen von Knoten gewahr werden, durch eine Sonderung und Mischung der von der Wurzel aufgesogenen Feuchtigkeiten, verbunden mit den aus der Atmosphäre einwirkenden Ingredienzen bewirkt wird, glauben wir mit Augen zusehen, indem eine immer vollkommnere Gestaltung sich zuletzt bis zu der neuen Fortpflanzung erhebt; dieß ist ein Factum, das wir anstauen, mit Augen sehen und doch kaum glauben können; denn wer wird die fünf bis sechs Fuß langen Stengelblätter des Heracleum speciosum als identisch mit den kleinen Blättchen der letzten Quirlblumen sich denken können? Und [209] wenn er sogar das Zusammenziehen jener und die Achsenstellung dieser nach und nach sich bekannt gemacht und ihre Folgen eingesehen hat, so müssen wir doch immer Einbildungskraft, Erinnerung, Urtheil, Vergleichung, alle Geisteskräfte beysammen haben, um das Unbegreifliche gewissermaßen in die Enge zu bringen.

Ich habe in meiner Darstellung der Metamorphose mich nur des Ausdrucks eines immer verfeinten Saftes bedient, als wenn hier nur von einem Mehr oder Weniger die Rede seyn könnte; allein mir scheint offenbar, daß die durch sie verändert wird und, wie die Pflanze sich gegen das Licht erhebt, sich die Differenz immer mehr ausweisen muß.

Da wir nun in Unterschreibung der greif- und wägbaren Elemente, so wie der gasartigen, durch die Chemiker immer weiter vorrücken, so bin ich geneigt zu glauben, es müsse sich eine Succession von Entwicklungen und Aneigungen noch bestimmter anzeigen lassen. Daher kam der Wunsch, dem Sie so freundlich entgegenarbeiten, die Luftart, wodurch die Schoten der Colutea arborescens sich aufblähen, näher bestimmt zu sehen.

Daß Sie sich immerfort mit dieser Aufgabe beschäftigten, ist mir von großem Werth; denn ob wir gleich gern der Natur ihre geheime Encheiresis, wodurch sie Leben schafft und fördert, zugeben und, wenn auch keine Mystiker, doch zuletzt ein Unerforschliches [210] eingestehen müssen, so kann der Mensch, wenn es ihm Ernst ist, doch nicht von dem Versuche abstehen, das Unerforschliche so in die Enge zu treiben, bis er sich dabey begnügen und sich willig überwunden geben mag.

Fahren Sie fort, mit allem dem was Sie interessirt mich bekannt zu machen, es schließt sich irgendwo an meine Betrachtungen an, und ich finde mich im hohen Alter sehr glücklich, daß ich das Neuste in den Wissenschaften nicht zu bestreiten nöthig habe, sondern durchaus mich erfreuen kann, in Wissen eine Lücke ausgefüllt und zugleich die lebendigen Ramificationen der Wissenschaft sich anastomosiren zu sehen.

Ergebenst

Weimar den 21. Januar 1832.

J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1832. An Heinrich Wilhelm Ferdinand Wackenroder. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7B73-C