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An den Großherzog Carl August

[Concept.]

[Carlsbad den 7. Mai 1820.]

Ew. Königliche Hoheit

nach verflossenen vierzehn Tagen wieder schuldigst und mit nicht ganz leeren Blättern aufzuwarten ist mir die angenehmste Pflicht.

Das heitere Wetter auf der ganzen achttägigen Reise war mir vielfach erwünscht, da zu so manchen andern Vortheilen sich auch noch der gesellte, daß ich, bey dem höchsten Barometerstande am 23. April Morgens 5 Uhr

28' 2'' 5'''

von Jena abreisend, so vom flachen Lande bis in's Gebirg und fernerhin, das Wolkenwesen und Treiben auf's genaueste zu beobachten Gelegenheit fand.

Da ich nun, täglich vor Sonnenaufgang aufstehend, zufällig immer gegen Morgen wohnte, sodann den ganzen Tag, unter freyem Himmel dahinfahrend, den Witterungsgang in seinem Verlauf, der Reihe nach, betrachten konnte, so habe ich, weil ein solcher Fall wohl selten wiederkehren möchte, alles sorgfältig von Stunde zu Stunde niedergeschrieben. Ich bereite einen kleinen Aufsatz darüber, mit bildlicher Darstellung, der dieser interessanten Lehre wohl zum Vorteil gereichen könnte, da sich am Ende dieselbigen Phänomene immer wiederholen und ihre Entwickelung aus einander allein den wahren Begriff geben kann.

[19] Das schöne Wetter verführte mich über Wunsiedel nach Alexandersbad zu gehen. Dort besah ich mir die titanischen Felsenverstürzungen, die vielleicht ohne Gleichen sind. Seit dreißig Jahren, daß ich sie nicht gesehen habe, hat man sie durch architektische Gärtnerkünste spazierbar und im Einzelnen betrachtlich gemacht. Das Andenken eurer Königin schwankt und schwebt wundersam dazwischen.

Dann besuchte ich Marienbad, eine neue bedeutende Anstalt, abhängig vom Stifte Töpel. Die Anlage des Orts ist erfreulich; bey allen dergleichen finden sich schon fixirte Zufälligkeiten, die unbequem sind; man hat aber zeitig eingegriffen. Architekt und Gärtner verstehen ihr Handwerk und sind gewohnt mit freyem Sinn zu arbeiten. Der letzte, sieht man wohl, hat Einbildungskraft und Praktik, er fragt nicht wie das Terrain aussieht, sondern wie es aussehen sollte: abtragen und auffüllen rührt ihn nicht, und ein solcher ist besonders in gegenwärtigem Falle nötig. Mir war es übrigens, als wäre ich in den nordamerikanischen Einsamkeiten, wo man Wälder aushaut, um in drey Jahren eine Stadt zu bauen. Die niedergeschlagene Fichte wird als Zulage verarbeitet, der zersplitterte Granitfels steigt als Mauer auf und verbindet sich mit den kaum erkalteten Ziegeln; zugleich arbeiten Tüncher, Stuccaturer und Mahler, von Prag und andern Orten, im Accord, gar fleißig und geschickt; sie wohnen in den Gebäuden die sie in Accord genommen und so geht alles unglaublich schnell. Ein Haus, das noch nicht unter Dach ist, soll im August schon zum Theil wohnbar seyn, ich mag wenigstens nicht hinein ziehen. Diese Eile jedoch und der Zudrang von Baulustigen (denn alle Baustellen nach einem regelmäßigen Plan sind schon vergeben) wird eigentlich dadurch belebt, daß ein Haus, sobald es fertig ist, im nächsten Sommer zehn Procent trägt; es kommt nun auf die Dauer an. Das Wasser läßt sich verschicken und geht auch schon stark nach Berlin.

Hier angelangt fing ich sogleich die Cur an, welche bis jetzt sehr vortheilhaft auf mich gewirkt hat.

Einen Frühling wie ich ihn draußen verlassen habe ich freylich hier nicht gefunden.

Die Kastanien sind am weitesten hervor, obgleich mit noch verschlossenen Blüthen, Buche und Vogelbeerbaum zeigen sich, besonders an sonnigen Stellen, die Linde ist am weitesten zurück, auch der Weißdorn zögert sich zu entfalten. Indessen sieht der abhängige Boden der Fichtenberge gar lustig aus. Anemone nemorosa zu Millionen belebt die tiefen Einsamkeiten, auch zieht sie sich auf abhängige sonnige Wiesenhügel, wo sie sich, in gleichfalls unzählbarer Gesellschaft der Schlüsselblumen, gar lieblich ausnimmt. Was aber dem Waldboden die wir bey uns in den Gewächshäusern kennen. Wer von Moosen ein Freund wäre fände sie hier in der größten Schönheit. Die Drosera ist mir auf dem Wege schon begegnet. Überhaupt merkt man, ohngeachtet der Gebirgshöhe, die Nähe des fünfzigsten Grades.

Das Wetter ist abwechselnd, Wolken und Atmosphäre liegen beständig mit einander in Streit. Gestern stürmte ein dichtes großflockiges Schneegestöber gegen Mittag wohl eine Stunde lang. Heute will die obere Luft Herr werden, die Sonne scheint, der Himmel ist blau und es lassen sich Schäfchen sehn. In der absoluten Einsamkeit habe sogleich vielfache Studien vorgenommen und lebe daher in selbstgewählter abwechselnder Gesellschaft.

Mit Brandes konnte ich mich bald befreunden, wozu die Einsamkeit freylich vieles beytrug. Ich fing mit der Wolkenlehre an, die er sehr einsichtig behandelt. Die Kupfer sind den englischen nachgestochen und geben leider kein lebendiges Anschauen mehr. Sodann hat mich der Aufsatz über den Höhenrauch, ingleichen über den Erdbrand in Island doppelt interessirt, indem er alte Erinnerungen weckte und jene Phänomene mir wieder frisch vor die Seele brachte.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1820. An den Großherzog Carl August. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7B7D-7