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An Christian Gottfried Daniel Neesvon Esenbeck

Ew. Hochwohlgeboren

geneigte Sendungen sind immer so reichhaltig, daß ich mich jedesmal in Verlegenheit fühle, was ich wohl zu erwidern hätte; zuvörderst aber suche, was Sie mir mittheilen, bestmöglichst zu genießen und zu nutzen. Da haben Sie mich denn das letzte Mal in ziemliche Versuchung geführt; denn nur an Ihrer treuen Hand konnt ich ein paar Schritte gegen die Nachtseite wagen. Mit meinem besten Willen aber mußt ich bald wieder umkehren: denn ich bin nun einmal dazu nicht berufen. Wo das Auge sich schließt und das Gehirn seine Herrschaft aufgiebt, bin ich höchst erquickt, in einen natürlichen Schlaf zu fallen. Wenn ich bedenke, daß, in meinen lebhaftesten Jahren, Gaßner und Mesmer großes Aufsehen machten und lebhafte [124] Wirkung verbreiteten; daß ich Freund von Lavatern war, der auf dieses Naturwunder religiosen Werth legte; so kommt es mir manchmal gar seltsam vor, daß ich nicht angezogen ward, sondern mich gerade verhielt wie einer, der neben einem Flusse hergeht, ohne daß ihn die Luft zu baden ankäme. Es muß denn also doch naturgemäß gewesen seyn, denn sonst hätt es nicht bis in's Alter fortgedauert.

Da wir aber nun, bey hellem Sonnenschein, an der Tagseite, so manches Interesse zu theilen zu wissen, so wollen wir daselbst beharrlich wandeln, und es soll mich freuen, wenn Sie über den Eindruck der Blumen auf den Menschensinn Ihre Gefühle mittheilen wollen; und wenn dabey auch etwas Unaussprechliches zur Sprache käme, so wollen wir es so genau nicht nehmen. Muß doch der Dichter, wenn er bescheiden seyn will, bekennen, daß sein Zustand durchaus einen Wachschlaf darstelle, und im Grunde läugne ich nicht, daß mir gar manches traumartig vorkömmt.

So erscheint mir beynahe die öffentliche Billigung meiner älteren Arbeiten, zu denen die Welt verstummte, indem ich ihnen, da sie einen Theil meines Lebens verschlangen, im Stillen einen proportionirten Werth beylegen mußte. Deshalb würde ich um keinen Preis der Ehre entsagen, die Sie mir zudenken, bey Gelegenheit Ihres Handbuchs, mich mit Wohlwollen und Zustimmung zu nennen; mögen Sie aber eine [125] dringende Bitte vernehmen, so thäten Sie's, wo nicht wortlos, doch wortkarg. Mit dem mir übersendeten Blatte kann ich mich nicht ganz befreunden; ich wüßte selbst nicht zu sagen warum; die Sinnesarten aber sind so verschieden, daß man weder von sich noch von andern hinreichende Auskunft zu geben wüßte.

Unberührt kann ich nicht lassen, daß ich, genöthigt und also bald wider Willen, ein langes Glashaus, mit kalter und warmer Abtheilung, erbauen lasse; Gott gebe, daß da manches hervorsprieße, unser Empfindungsvermögen zu ergötzen.

Da ich selbst in diesem Garten wohne und der neuen Anstalt, nach meiner Weise, alle Sorgfalt widme, so bringen die wohlmeinenden Gärtner mir so mancherley Pflanzen, daß alle meine Fensterbretter besetzt sind. In diesen Tagen hat mich das Mesembryanthemum bicolor sehr angenehm überrascht. Bey trüben Tagen war es heraufgekommen, die Blüthe stand geschlossen und unscheinbar, bis sich der ersten kräftigen Morgensonne sämmtliche Strahlenkronen entgegenbreiteten, als wenn sie ihre Verwandtschaft mit dem himmlischen Gestirn recht zur Schau tragen wollten. Zu gleicher Zeit erhielt ich Ihnen werthen Brief und konnte also Ihren ausgesprochenen Gedanken nicht abhold seyn.

Ferner darf ich nicht vergessen, daß ich meine zur Monographie leitenden Versuche mit dem Bryophyllum [126] calycinum immer fortsetze; mein Sohn interessirt sich gleichfalls dafür und mehrere Freunde, denen ich Exemplare mitgetheilt. Sonderbar genug ist es, wie diese Pflanze sich unter veränderten Umständen augenblicklich modificirt und ihre Allpflanzenschaft durch Dulden und Nachgiebigkeit, so wie durch gelegentliches übermüthiges Vordringen auf das wundersamste zu Tag legt. Warum ich leidenschaftlich diesem Geschöpfe zugethan bin, versteht niemand besser als Sie.

Und nun zum Schluß: was sagen Sie von Henschels Werke über Sexualität der Pflanzen? Schelver hat mir längst diese Lehre vertraut und ich konnte ihr nicht abgeneigt seyn, denn sie ist doch im Grund eine natürliche Tochter der Metamorphose. Vertropfung und Verstäubung spielen in unserm Felde so große Rollen, daß ich mich nicht unterstände, sie dramatisch auftreten zu lassen; was mir Freunde zu genießen geben, empfang ich mit Dank.

treulichst

Jena den 23. Juli 1820.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1820. An Christian Gottfried Daniel Neesvon Esenbeck. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7BE6-C