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An W. von Rumohr

Die Gedichte, welche mir zugesendet worden, gehören, weil man sie doch vor allen Dingen einordnen muß, zu den gemüthlich didactisch lyrischen. Man kann von solchen verlangen, daß sie rein empfunden, gut gedacht und bequem ausgesprochen seyen. Alle diese Vorzüge besitzen die vorliegenden. Dagegen haben sie kein eigentlich poetisch Verdienst. Unaufhaltsame Natur, unüberwindliche Neigung, drängende Leidenschaft, Haupterfordernisse der wahren Poesie, welche sich im Großen wie im Kleinen, im Naiven wie im Pathetischen manifestiren können, zeigen sich nirgends. Demungeachtet kann der Verfasser, bey seinem Talent, [422] sich den Beyfall seiner Landsleute versprechen. Die Deutschen lieben das moralisch lyrische, diese subjectiven reflectirten Gesänge, die einen andern Jemand wieder licht ansprechen und an allgemeine Zustände des Gemüths, an Wünsche, Seynsuchten und fehlgeschlagene Hoffnungen erinnern.

Ich würde daher dem Verfasser rathen, seine Lieder durch diejenigen Blätter bekannt zu machen, welche sogleich ins Publicum gelangen; wie ich mir denn ein Paar davon für Herrn Cotta's Morgenblatt ausbitten würde. Dabey könnte er sich irgend einen wohlklingenden Namen wählen, durch den seine Gedichte vor andern ähnlich sich auszeichneten. Behagen sie einem Musiker, begleitet er sie mit gefälligen Melodien, so werden sie gesungen und bekannt und der Verfasser wird zuletzt veranlaßt, eine Sammlung derselben herauszugeben. Dieses ist's, was ich nach meiner besten Einsicht und mit aller Aufrichtigkeit dem mir bezeigten Vertrauen erwiedern konnte.

Vorstehendes war geschrieben, als sich der Verfasser selbst an mich wandte. Ich wüßte nur die Bemerkung hinzuzuthun, daß für unsere Literatur nichts wünschenswerther sey, als daß jeder, der eine Zeitlang gearbeitet hat, zum deutlichen Bewußtseyn dessen kommen möge, was er vermag, damit er sich nicht vergebens abmühe, und von sich nicht mehr oder doch nichts anders fordere, als was er leisten kann. Dadurch [423] entspringt eine billige und ungetrübte Freude an dem, was man hervorbringt, und ein reiner Genuß an dem Beyfall, den man erhält.

Weimar den 28. September 1807.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1807. An W. von Rumohr. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7E32-2