46/189.

An Carl Friedrich Zelter

Durch dein liebes Schreiben, mein Theuerster, erfahr ich daß Händel seinen Samson auf Veranlassung der Miltonischen Tragödie geschrieben hat. Wie er [197] jedoch jenes herrliche Dichterwerk behandelte, wie er es epitomirte, wär ich neugierig zu wissen. Jenen Miltonischen Samson hab ich, im vergangenen Sommer, mit einem bey uns verweilenden englischen Literaturfreunde gelesen und nicht genugsam bewundern können. Ich wüßte kein Werk anzuführen welches den Sinn und die Weise der alten griechischen Tragödie so annähernd ausdrückte und, sowohl in Anlage als Ausführung, eine gleiche Anerkennung verdiente. Wahrscheinlich hat Händel damit wie mit der Bibel verfahren und, dramatisch folgerecht, das Ausdruckvollste, Entscheidendste und zugleich Singbarste des Decurses herausgenommen; wie und was geschehen wünscht ich zu vernehmen. Ist zu Eurem Vortrag ein Büchelchen gedruckt, so theil es mit, oder gib sonst eine Anleitung wie ich zu meinem Zwecke gelangen könne.

Nun aber vertraue mir ein öffentliches Geheimniß: wie die drey Professoren Eurer Universität heißen, die zur katholischen Religion übergetreten sind oder übertreten werden? Ein Artikel in der Allgemeinen Zeitung, datirt von Berlin, gesteht die Sache, versichert aber sie gelte dort für ganz unbedeutend. Hierüber will ich nicht glossiren, sondern nur meine Bitte wiederholen.

Du meldest einmal von einem Menzel, der nicht auf das freundlichste meiner in seinen Schriften gedacht haben solle; ich wußte bisher weiter nichts von ihm, denn ich hätte viel zu thun wenn ich mich darum [198] bekümmern wollte, wie die Leute mich und meine Arbeiten betrachten. Nun aber werde ich von außen her belehrt, wie es eigentlich mit diesem Criticus sich verhält: Le Globe vom 7. November macht mich hierüber deutlich, und es ist anmuthig zu sehen wie sich nach und nach das Reich der Literatur erweitert hat. Wegen eines unsrer eignen Landsleute und Anfechter braucht man sich nicht mehr zu rühren, die Nachbarn nehmen uns in Schutz.

Vorstehendes hat einige Zeit gelegen, nun will ich zum Schlusse des Jahres beyfügen was mich seit einiger Zeit gelegentlich beschäftigt. Wenn man mit sich selbst einig ist, ist man es auch mit andern. Ich habe bemerkt daß ich den Gedanken für wahr halte der für mich fruchtbar ist, sich an mein übriges Denken anschließt und zugleich mich fördert; nun ist es nicht allein möglich sondern natürlich daß sich ein solcher Gedanke dem Sinne des andern nicht anschließe, ihn nicht fördere, wohl gar hindere, uns so wird er ihn für falsch halten. Ist man hievon recht gründlich überzeugt, so wird man nie controvertiren.

Daß ich Myrons Kuh auf den Münzen von Dyrrachium zu entdecken glaubte hat mich besonders gefördert und nutzt mir noch. Leipziger und Göttinger wollten nichts davon wissen, das thut mir nichts, denn ich habe meinen Vortheil davon. Eine Stelle in des Aristoteles Poetik legte ich aus als Bezug auf [199] den Poeten und die Composition. Herr v. Raumer, in einer verdienstlichen Abhandlung die er mir mittheilt, beharrt bey dem einmal angenommenen Sinne, indem er diese Worte als von der Wirkung auf's Publicum zu verstehen deutet und daraus auch ganz gute und annehmbare Folgen entwickelt. Ich aber muß bey meiner Überzeugung bleiben, weil ich die Folgen die mir daraus geworden nicht entbehren kann. Für mich erklärt sich sehr vieles aus dieser Art die Sache anzusehen; ein jeder der bey seiner Meynung beharrt versichert uns nur daß er sie nicht entbehren könne. Aller dialektische Selbstbetrug wird uns dadurch deutlich. Möge dir diese Betrachtung nicht allzu abstrus vorkommen! Der ich auf alle Fälle eine freundliche liebevolle Aufnahme den treusten Wünschen zum neuen Jahr hoffen darf, und so auf die 365 Tage hin, so viel uns derer gegönnt seyn mögen.

Sylvester-Abend 1829.

Goethe. [200]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1829. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-838F-2