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An Charlotte von Stein

[Ilmenau] v. 9. Sept. Heute hab ich mich leidend verhalten das macht nichts ganzes, also meine liebste ist mir's auch nicht wohl. Des Herzogs Gedärme richten sich noch nicht ein, er schont sich, und betrügt sich und schont sich nicht, und so vertrödelt man das Leben und die schönen Tage.

Heut früh haben wir alle Mörder, Diebe und Hehler vorführen lassen und sie alle gefragt und konfrontiert. Ich wollte anfangs nicht mit, denn ich fliehe das Unreine – es ist ein gros Studium der Menschheit und der Phisiognomick, wo man gern die Hand auf den Mund legt und Gott die Ehre giebt, dem allein ist die Krafft und der Verstand pp. in Ewigkeit Amen.

Ein Sohn der sich selbst und seinen Vater des Mords mit allen Umständen beschuldigt. Ein Vater der dem Sohn ins Gesicht alles wegläugnet. Ein Mann der im Elende der Hungersnoth seine Frau neben sich in der Scheune sterben sieht, und weil sie niemand begraben will sie selbst einscharren muss, dem dieser Jammer iezt noch aufgerechnet wird, als wenn er sie wohl könnte ermordet haben, weil andrer Anzeigen wegen er verdächtig ist. pp.

Hernach bin ich wieder auf die Berge gegangen, wir haben gegessen, mit Raubvögeln gespielt und [286] hab immer schreiben wollen, bald an Sie, bald an meinem Roman und bin immer nicht dazu gekommen. Doch wollt ich dass ein lang Gespräch mit dem Herzog für Sie aufgeschrieben wäre, bey Veranlassung der Delinquenten, über den Werth und Unwerth menschlicher Thaten. Abends sezte Stein sich zu mir und unterhielt mich hübsch von alten Geschichten, von der Hofmiseria, von Kindern und Frauen pp. Gute Nacht liebste. Dieser Tag dauert mich. Er hätte können besser angewendet werden, doch haben wir auch die Trümmern genuzt.

Stüzzerbach d. 10ten Abends. Es will mir hier nicht wohl werden, in vorigen Zeiten hat man so manch leidiges hier ausgestanden.

Heut wars in den Sternen geschrieben dass ich mich sollte in Ilmenau rasiren lassen, darüber ging das Pferd erst mit mir durch, und hernach versanck ich in ein Sumpffleck auf der Wiese. Früh hab ich einige Briefe des grosen Romans geschrieben. Es wäre doch gar hübsch wenn ich nur vier Wochen Ruh hätte um wenigstens Einen Theil zur Probe zu liefern.

Schmalkalden d. 11ten Nachts. Heut war ein schöner und fröhliger Tag wir sind von Stüzzerbach herüber geritten, unserm Fuhrwerck nur ist es in den Steinweegen elend gegangen. An allen Felsen ist geklopft worden, Stein entzückt sich über alle Ochsen wie wir über die Granite. Der Herzog ist ziemlich[287] passiv in beyden Liebhabereyen, dagegen hat ihm her Anblick sovieler Gewehre in der Fabrick wieder Lust gemacht. Ich habe ieden Augenblick des Tags genuzt, und mir noch zulezt eine Scene aus einem neuen Trauerspiel vorgesagt, die ich wohl wieder finden mögte. Gute Nacht Gold! Ich vermuthe Sie in Kochberg und da wird dieser Brief einen bösen Umweeg machen müssen.

Zilbach. d. 12. Nachts. Wieder einen Tag ohne eine augenblickliche unangenehme Empfindung. Theils hab ich gesehen, theils in mir gelebt, und nichts geredt, wenn ich nicht fragte. Wir sind im Stahlberge bey Schmalkalden gewesen und reichliche Betrachtungen haben wir gemacht. Sie müssen noch eine Erdfreundinn werden es ist gar zu schön, Sie haben Sich ia schon mir zu gefallen über mehreres gefreut.

Wir sind hier spät angekommen, weil Prinzen und Prinzessinnen niemals von einem Ort zur rechten Zeit wegkommen können, wie Stein bemerckte, als ihm die Zeit lang werden wollte, inzwischen dass Serenissimus Flinten und Pistolen probierte. Ich hingegen kriegte meinen Euripides hervor und würzte diese unschmackhaffte Viertelstunde.

Dann ist die grösste Gabe für die ich den Göttern dancke dass ich durch die Schnelligkeit und Manigfaltigkeit der Gedancken einen solchen heitern Tag in Millionen Theile spalten, und eine kleine Ewigkeit draus bilden kan.

[288] Gleich ienem angenehmen Mirza reis ich auf die berühmte Messe von Kabul, nichts ist zu gros oder zu klein wornach ich mich nicht umsehe, drum buhle, oder handle und wenn ich mein Geld ausgegeben habe mich in die Prinzess von Caschemire verliebe, und erst noch die Hauptreisen bevorstehn, durch Wüsten, Wälder Bergzinnen und von dannen in den Mond. Liebes Gold wenn ich zulezt aus meinem Traum erwache, find ich noch immer dass ich Sie lieb habe und mich nach Ihnen sehne. Heute wie wir in der Nacht gegen die erleuchteten Fenster ritten, dacht ich wenn sie doch nur unsre Wirthinn wäre. Hier ist ein böses Nest, und doch wenn ich ruhig mit Ihnen den Winter hier zubringen könnte dächt ich, ich mögts. Gute Nacht liebstes. Briefe von Ihnen krieg ich wohl so bald nicht zu sehen. Meine Blätter sind numerirt, und gleich beschnitten, und so solls fortgehn. Addio. Dieses geht über Eisenach.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1780. An Charlotte von Stein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-859F-E