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An Christoph Ludwig Friedrich Schultz

Ihr Werthestes, verehrter Freund, geschlossen am 17. Juni, trifft mich gerade in einem operosen Momente, wo ich an auswärtige Naturfreunde gar manches expedire, und da geht mir der, wie ich hoffe, glückliche Gedanke bey, Ihnen das allenfalls Willkommenste mundiren zu lassen, auch einiges davon unmittelbar an Sie zu richten. Sie sind zur Vielseitigkeit so geeignet als geneigt, und einiges weckt Sie gewiß zu erneuerten Theilnahme.

Unser Freund Hirt erfährt nun, was Napoleon erfahren mußte: »Wer den Menschen allzu unbequem wird, hat zu erwarten, daß sie sich doch zuletzt zusammenthun und ihn beseitigen.« Dabey glaubt denn doch ein solcher mit festem Gefühl, man thue ihm durchaus Unrecht.

Ich hoffe, meine Wanderjahre sind nun in Ihren Händen und haben Ihnen mancherlei zu denken gegeben; verschmähen Sie nicht einiges mitzutheilen. Unser Leben gleicht denn doch zuletzt den sibyllinischen [310] Büchern; es wird immer kostbarer, je weniger davon übrig bleibt.

Die wunderliche verworrene Mannichfaltigkeit beykommender Blätter verzeihen Sie; sie sind eine treue Abbildung meiner noch wunderlichern Zustände.

und so fortan!

Weimar den 19. Juni 1829.

G.


Mit der Metamorphose der Pflanzen ist es wunderlich gegangen; diese Idee, wie man sie wohl nennen darf, wirkt nun schon, im Stillen und Halbverborgenen, durch Deutschland seit beynahe funfzig Jahren, und die Franzosen glauben, erst neuerlich a posteriori, wie man's heißt, darauf gekommen zu seyn. Genau genommen so haben sie solche eigentlich nur genutzt, sie ist in ihren Vorträgen wohl enthalten, aber nicht lebendig, welches mir zu wichtigen Betrachtungen Anlaß gegeben hat. Kann ich mich umständlicher und genauer hierüber erklären, so theile solches mit.

Was meiner Farbenlehre eigentlich ermangelte, war, daß nicht ein Mann wie Chladni sie ersonnen oder sich ihrer bemächtigt hat; es mußte einer mit einem compendiosen Apparat Deutschland bereisen, durch das Hokus Pokus der Versuche die Aufmerksamkeit erregen, einen methodischen Zusammenhang merken lassen und das Practische unmittelbar mittheilen, das Theoretische [311] einschwärzen, den Professor der Physik überlassen, ihrer verworrenen Bornirtheit gemäß sich zu betragen, nach ihrer Weise die Sache zu läugnen und sich ihrer heimlich zu bedienen, und was dergleichen mehr ist. Auf solche Weise wäre die Sache lebendig geworden, irgend ein paar gute Köpfe hätten sich derselben bemächtigt und sie durchgeführt.

Überhaupt aber ist es das Schlimmste, daß jeder auf seinem eignen Weg in die Sache gekommen seyn will; niemand begreift, daß es irgendwo eine bequeme, vielleicht einzige Stelle gibt, wo auf dieser Insel zu landen sey (die Franzosen brauchen hier das hübsche Wort aborder une question). Auch hierüber wäre ein furchtbarer Lebenspunct von Betrachtungen zu entwickeln, wozu jetzo weder Fassung, noch Zeit, noch Sprache zu finden ist. Überlassen Sie sich solchen Gedanken im freyen Garten zu schöner Stunde und dabey dem Andenken an mich.

Die kaiserliche Akademie der Wissenschaften zu Petersburg hat am 29. December 1826, als bey ihrer hundertjährigen Stiftungsfeyer, eine bedeutende physikalische Aufgabe, mit ausgesetztem anständigen Preise, den Naturforschern vorgelegt.

Nachdem ich das Programm gelesen, welches mir, als neuernannten Ehrenmitgliede, alsobald zukam, erklärte ich klar und unumwunden meiner Umgebung:[312] die Akademie wird keine Auflösung erhalten und hätte sie eigentlich nicht erwarten sollen. Sie verlangt: die verschiedenen Hypothesen, die man über die dem Licht, wie man glaubt, abgewonnenen Eigenheiten und Eigenschaften nach und nach ausgesprochen, abschließlich vereinigt, versöhnt, subordinirt, unter Einen Hut gebracht zu sehen. Niemand wurde gewahr, daß sie alle miteinander mit Farbenerscheinungen verknüpft sind, man dachte nicht, daß die Phänomene, worauf jene Hypothesen gegründet sind, nochmals müßten revidirt werden, ihre Reinheit, Congruität, Einfachheit und Mannichfaltigkeit, Ursprüngliches und Abgeleitetes erst noch müßte untersucht werden.

Obige meine Weissagung ist eingetroffen; die Akademie erklärte am 29. December 1828: sie habe in diesen zwey Jahren kein einziges Mémoire erhalten, prorogirt jedoch den Termin bis in den September d. J., wo gewiß auch keine Beantwortung eingehen kann und wird.

Ihre Ahnung, mein Theuerster, von Dissemination des Interesses an diesen Erscheinungen hat sich aber auch schon vorläufig erfüllt, indem ich vom Rande des Continents, aus Ostfriesland, von Jever, Nachricht einer Freundes-Versammlung erhielt, die in Berlin [313] die erste Anregung gewann und diese Angelegenheit nunmehr mit Neigung zu behandeln fortsetzt; aber auch dorthin ferner zu wirken wird mir leider unmöglich.

Das alles, woran ich hier sprach, findet sich in ein Fascikelchen zusammen, welches ich nächtens sende; es gibt Ihnen gewiß zu den wichtigsten Betrachtungen Anlaß. Könnte man einen solchen Chladni dorthin senden, so würde er eine gar seine löbliche Kirche stiften. Wie er in Petersburg würde aufgenommen werden, weiß ich nicht.

Uns andern ist es immer ein Wunder, wie man sich mit bloßen Worten und Truggespinnsten in der mathematisch-physikalischen Welt beschäftigt. Decomposition und Polarisation des Lichts nebeneinander zu denken, finden die Herren keine Schwierigkeit. Nun hat Frauenhofer noch einiges Absurde hinzugethan, woran man glaubt, darauf hält, und was doch, wie man es wirklich versucht, zu nichte wird. Mir ist genug, daß Frauenhofer ein vorzüglicher praktischer Mann war; daraus folgt aber nicht, daß er ein theoretischer Geist gewesen sey.

Er durfte sich mit der herrschenden Kirche nicht entzweyen und hat, genau besehen, eigentlich nur noch ein Ohr in die schon genugsam zerknitterten Karte geschickt, die demohngeachtet gegen reines Beobachten und geregelten Denksinn verlieren muß.

[314] Nicht allein farbige Lichter, sondern sogar eine Unzahl schwarzer Striche soll das reine Licht enthalten. Kluge deutsche Naturforscher sehen schon den Ungrund der ganzen Sache deutlich ein, daß nämlich alles auf eine mikroskopische Beschauung der paroptischen Linien, im Zusammenhange mit dem Farbenspectrum, hinausläuft. Niemand hat es noch laut gesagt, niemand hat noch öffentlich dargethan, daß die höchst complicirte Vorrichtung zu dem Zweck: die Differenz der Gläser in Absicht auf Brechung und Farbenerscheinung zu finden, keineswegs tauglich ist. Ich habe den Versuch selbst mit aller gehörigen Vorsicht anstellen lassen, habe in dem verlängerten Farbenspectrum die schwarzen Striche gesehen und bin dadurch von dem oben Gesagten nur noch mehr überzeugt worden. Der freye Geist, der jetzt aufträte, das wahrhafte Erkannte sogleich praktisch benutzte, müßte Wunder thun.

Von meteorologischen Betrachtungen hätten Folgendes zu melden. Ich habe vergangenen Sommer, auf den Dornburger freyen Höhen, täglich und stündlich den atmosphärischen Phänomenen meine Aufmerksamkeit gewidmet. Wie ich mir selbst davon im Stillen Rechenschaft gebe, läßt sich nicht sogleich folgerecht aussprechen.

Der größte Gewinn unsrer meteorologischen Anstalten war mir die Anerkennung des entschieden[315] gleichförmigen Ganges der Barometer in Bezug auf ihre Höhenstellung über dem Meere. Ebendasselbe sagt die Vergleichung aller von mir sorgfältig gesammelten auswärtigen Beobachtungen. Ich finde mich im Stande, diese Gleichförmigkeit von Dublin bis Charkow nachzuweisen, und bin davon so überzeugt, daß ich unsre Beobachter darnach controllire und Tag und Stunde zu wissen glaube, wo nicht genau beobachtet worden; deshalb mir denn auch die von den Ihrigen angegebenen Abweichungen verdächtig sind. Hiebey dient denn freylich zu freyeren Übersicht die graphische Darstellung.

Ich kann ein sehr hübsches Beyspiel anführen: ein Beobachter hatte einen unverhältnißmäßig tiefen Barometerstand als ein anderer angegeben; es fand sich bey genauerer Untersuchung, daß der erste die ganze Nacht durch beobachtet hatte, der andere nur bis 10 Uhr. Der tiefste Stand war Morgens um 3 Uhr, und früh, wo der zweyte wieder zu beobachten anfing, war das Quecksilber schon wieder um ein Gutes gestiegen.

Man spricht daher schon von vielen Seiten ganz richtig aus, daß eine allgemeine und nicht eine besondere Ursache zum Grunde liege, und ich setze hinzu, es ist keine äußere, sondern eine innere. Die Erde verändert ihre Anziehung, dadurch wird die Atmosphäre leichter oder schwerer, das Quecksilber steigt oder fällt von mehrerm oder minderm Drucke. Ich [316] wieder hole dieses längst gedruckte Glaubens- und Überzeugungs-Bekenntniß, zu dem man wohl einladen, aber nicht nöthigen kann.

Die Winde stehen hierzu durchaus in Bezug, Nord und Ost gehören dem steigenden, West und Süd dem sinkenden Barometer an; jene zehren die Feuchtigkeit in der Atmosphäre schneller oder langsamer auf, diese begünstigen die Wassererzeugung so wie den Niedergang der Gewässer. Leider überwiegt schon seit einigen Jahren das Letztere, und wir erleben grausenhafte Wasserbildung, die wir zunächst immer noch zu befürchten haben.

Indem Vorstehendes abgesendet werden soll, erfüllt sich bey uns, und leider in einem weiten Umkreise, jene Weissagung.

Am 28. Juni war ein drohendes Wetter schon gegen 1 Uhr von Süden heraufgestiegen; es zog sich nach Westen, rückte aber sachte, doch unaufhaltsam auf uns heran, es entlud sich sodann mit heftigem Regen und Schloßen, wobey Fenster und Pflanzen übel fuhren, und dauerte, nachdem es mit anhaltenden Blitzen und Donnern wohl eine Stunde fern umhergezogen, wohl noch einige Stunden immer fort, doch weniger wetterleuchtend und donnernd, den ganzen Himmel überziehend, bis gegen 7 Uhr. Die heftigsten Schläge waren nicht in der Nähe niedergegangen.

[317] Es war nach einigen Tagen hohen Barometerstandes und großer Hitze das Quecksilber sehr tief gesunken, den 27. füllte sich die Atmosphäre, und brach den folgenden Tag das Unheil gewaltig los. Den 29. bey gleichem Barometerstande der Himmel gewitterhaft bedeckt und das Weitere zu erwarten.


Nachschrift.

Soviel für dießmal; geben Sie diesen Mittheilungen Beyfall, so erfolgt von Zeit zu Zeit mehr dergleichen. Schließlich aber darf ich nicht unbemerkt lassen, daß ich auf Ihre Anregung die Briefe 349 und 359 wieder gelesen; fürwahr hier ist die Axe, um die sich der Correspondenten uneinige Einigkeit bewegt. Ruf ich mir jenen Gegenstand zurück, so war er wahrlich ein Object, an dem man fast ein halbes Jahrhundert abspinnen konnte, und es thut mir leid, daß er mich damals davon abwendete. Es ist ein eignes Ding! Der Dichter weiß allein, was in einem Gegenstande liegt, der ihm seines Antheils werth erscheint.

treu angehörig

Weimar den 29. Juni 1829.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1829. An Christoph Ludwig Friedrich Schultz. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8AB1-9