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An Kaspar von Sternberg

Seit dem beruhigenden Schreiben vom 22. Januar hatten Frau v. Löw von Zeit zu Zeit Nachricht von dem bessern Befinden des verehrten Freundes gegeben; nun aber wird es doch Bedürfniß, zu erfahren, wie er die erste Hälfte des Winters zugebracht und wie er in die zweyte hineintritt, welche sich frostig genug andeutet? Wir hatten 21° bei mittlerm Barometerstand, den 22. Januar.

Ich habe diese Zeit her nicht aufgehört, mich mit Beobachtung jener wunderbaren Pflanze zu beschäftigen, seitdem ein bezeichnender Name, Abbildung und kunstgemäße Beschreibung sie noch werther gemacht hat. Nachkommendes möge davon ein Zeugniß geben. Doch muß ich hier noch des Allgemein-Merkwürdigen gedenken, daß vielleicht keine prolifikere zu finden ist, welche gleichzeitig und in so kurzer Zeit so eine unendliche Menge von Blättern, Augen, Zweigen, Blumen und zugleich Wurzeln entwickelt. Denkt man nun, daß in ihrem Geburtslande die Blüthenzahl[143] sich vermehren und die Samen alle reif werden, so reicht keine Einbildungskraft hin, eine so häufige eilige Fortpflanzung zu verfolgen. Zwar hat der Mohn von jeher sich erhoben als eigen lebensreich und fruchtbar:

foecundum super omne germen me Deus fecit.

Dieß mag denn von der Samenkapsel gelten; dafür wächst er aber auch langsam und einzeln in die Höhe. Man wird meine hartnäckige Aufmerksamkeit auf einen so beschränkten Gegenstand belächeln; es ist aber nun meine Eigenschaft, mich monographisch zu beschäftigen, und von so einem Puncte aus mich gleichsam wie von einer Warte rings umher umzusehen.

In das Ganze ward ich wieder gezogen durch meinen Aufenthalt in Dornburg, inmitten von blumig-bunten Terrassen und sogar von Weinbergen, welche damals mehr versprachen, als sie hielten.

Hofrath Soret übersetzt meine Metamorphose der Pflanzen in's Französische; vielleicht lassen wir sie im Laufe des Jahres mit einigen Zusätzen abdrucken. Ich erinnere mich nicht, ob ich hievon früher schon Nachricht gegeben. Was sagte der würdige und erfahrne Freund von der Vermuthung des Franzosen? sur les modifications successives de l'atmosphère. Für mich ist es eine von den läßlichen Hypothesen, welche man immer eine Zeitlang kann gelten lassen, da sie doch eine Art von Fußpfad in die schwer zugängliche Vorzeit eröffnet.

[144] In diesem Augenblicke kommt das unter dem 22. Januar abgesendete Paquet mit angenehmem Inhalt und erwünschtem Schreiben. Höchst erfreut über die darin gegebene Aussicht und Hoffnung sage dießmal nichts weiter, um sogleich dagegen eine Sendung von meiner Seite anzukündigen, welche fertig daliegt, um morgen, Sonntag den 1. Februar, ungesäumt abgehen zu können. Indem ich den Inhalt bestens empfehle, füge noch soviel hinzu: daß mir in dem Augenblick die auf Ostern versprochene Lieferung viel zu schaffen macht. Das Wesentliche liegt glücklicherweise vor, nur fordert die Art und Weise solches zu geben noch mancherlei Betrachtung. Sobald ich dieß Geschäft beseitigt habe, melde ich noch manches und nehme mir die Freyheit über einiges anzufragen.

Weimar am festlichen

treu angehörig

dreyßigsten Januar 1829.

J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1829. An Kaspar von Sternberg. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9207-8