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An Carl Friedrich Zelter

Nehmen Sie heute mit Nachstehendem vorlieb und lassen sich meine genetische Entwicklungen gefallen. Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen wenn[265] sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen.

Ich lege einige Abdrücke von dem großen Siegel bey. Es läßt sich manches dabey erinnern; doch wünsche ich daß es Ihnen zu Ihrem Zweck nicht mißfällig seyn möge.

Schon habe ich eine über Erwartung gute Zeichnung: Ulyß und Polyphem, als Lösung der dießjährigen schweren Preisaufgabe erhalten. Es ist erfreulich wie der ächte Kunstsinn so leise in Deutschland herumschleicht. NB. Es ist von einem jungen Künstler der bey uns noch nicht concurrirt hat.

Hierbey ein Brief des Jenaischen Advocaten in den Fichtischen Angelegenheiten. Der Handel wegen des Hauses hat, wie ich höre, indessen eine günstige Wendung genommen.

Wie steht es um die Musik des zweyten Theils der Zauberflöte? und so nur noch ein herzliches Lebewohl.

W. d. 4. Aug. 1803.

G.

[Beilage.]

Wie sich nun die griechische Tragödie aus dem lyrischen loswand, so haben wir noch in unsern Tagen ein merkwürdiges Beyspiel, wie sich das Drama aus dem historischen, oder vielmehr epischen, loszuwinden trachtete. Wir finden es in der Art mit welcher, in der Charwoche, in katholischen Kirchen, [266] die Leidensgeschichte abgesungen wird. Drey einzelne Menschen, wovon einer den Evangelisten, der andere Christum, der dritte die übrigen Zwischenredner vorstellt, und der Chor (turba) stellen das Ganze dar, wie Ihnen genugsam bekannt seyn wird. Zur schnellern Übersicht will ich ein Stückchen hersetzen.

Evang. Da sprach Pilatus zu ihm:

Interlocutor. So bist du dennoch ein König?

Evang. Jesus antwortete:

Christus. Du sagests! ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt kommen, daß ich die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.

Evang. Spricht Pilatus zu ihm:

Interlocutor. Was ist Wahrheit?

Evang. Und da er das gesagt, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen:

Interlocutor. Ich finde keine Schuld an ihm. Ihr habt aber eine Gewohnheit daß ich euch einen auf Ostern losgebe, wollt ihr nun daß ich euch der Juden König losgebe?

Evang. Da schrieen sie wieder allesamt und sprachen:

turba. Nicht diesen, sondern Barrabam!

Evang. Barrabas aber war ein Mörder.

Verweisen Sie nun die Function des Evangelisten blos auf den Anfang hin, so daß er eine allgemeine historische Einleitung, als Prologus, spreche, und [267] machen, durch Kommen und Gehen, Bewegen und Handeln der Personen, die von ihm gegenwärtig emanirenden Zwischenbestimmungen unnütz; so haben Sie schon ein Drama recht gut eingeleitet.

Man hat, wie ich mich erinnere, in Passionsoratorien schon diesen Weg eingeschlagen; doch ließe sich wohl, wenn man recht von Grund und Haus aus zu Werke ginge, noch etwas neues und bedeutendes hervorbringen.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1803. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9265-5