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An Johann Kaspar Lavater

[Frankfurt, Ende September 1775.]

Zimmermann ist fort, und ich bin biss zehn im Bett liegen blieben um einen Catharr auszubrüten, mehr aber um die Empfindung häuslicher Innigkeit wieder in mir zu beleben, die das gottlose Geschwarmme[sic!] der Tage her ganz zerflittert hatte. Vater und Mutter sind vors Bett gekommen, es ward vertraulicher diskurirt, ich hab meinen Thee getrunken und so ists besser. Ich hab wieder ein Wohngefühl in meinen vier Wänden wie lange es währt.

Zimmermann und ich waren trefflich zusammen. Du stellst dir vor, und hätte vielerley zu sagen, wenn du nicht iedermann meine Briefe wiesest. Es kan wohl deine Art seyn, auch unterhaltend für andre, aber ich kann nicht leiden, dass meine Briefe einem Menschen das offenbaaren, dem ich den zehenten Theil davon nicht mündlich sagen würde.

Sein Betragen gegen dich, bleibt besser unentschuldigt, es ist besser dass einem so was unerklärlich bleibt. Ich hab ihn sehr drüber gepeinigt, ob er gleich mit einer sehr wizzigen Captatio benevolentiae die Geschichte anfing. – Seine Tochter ist so in sich, nicht verriegelt nur zurückgetreten ist sie, und hat die Thüre leis angelehnt. Eh würde sie ein leise lispelnder Liebhaber als ein pochender Vater öffnen. – Es that ihm [296] sehr weh dich so geängstet zu haben, und du guter es wird dir nicht das lezte mal so gegangen seyn.

C'est le sort d'un amour extreme
De faire toujours des ingrats.

Mir wird ie länger ie mehr das Treiben der Welt und der Herzen unbegreifflich. Einzelne Züge die sich überall gleichen, und doch nie dran zu dencken daß der größte menschliche Kopf ein Ganzes der Menschenwirtschafft übersehen werde.

Schliesse wegen der Phisiognomik II. Theil. Ich bitte! bitte! Es wird warlich sonst nichts. Neujahr ist gleich da! Besonders das erste Sokratische Capitel bald.

Gab gestern ein bissgen über die vier Wahnsinnigen und Brutus geklimpert. Bruder Bruder wie schweer ists das todte Kupfer zu beleben, wo der Charackter durch mißverstandne Striche nur durchschimmert und man immer schwanckt warum das was bedeutet und doch nichts bedeutet. Beym Leben wie anders! Schliese nur und schicke bald, denn es giebt der Zerstreuungen die Menge. Der Herzog von Weimar ist hier, wird nun bald Louisen davon tragen. Könntest mir nicht einen Storchschnabel schicken. Grüs Bäben, sie soll mir doch was über sich und dich schreiben! Ich bin schon seit 14 Tagen ganz im Schauen der grosen Welt! – – –

Ist die Tafel raphaelischer Köpfe numerirt wie die Hogarth'sche?

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1775. An Johann Kaspar Lavater. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-97B3-B