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An Sulpiz Boisserée

[Jena, 1. November 1821.]

Der gemeldete russische Freund folgte den heiligen drey Königen auf dem Fuße nach; leider konnte er nicht o lange wie diese bey mir verweilen. Als er in Weimar ankam, war ich noch in Jena und unsere wohlwollende Erbgroßherzogin befriedigte seinen Wunsch, mich zu sehen, indem sie ihn mit einer vierspännigen Chaise herüber sendete; er kam mit dem russischen Geschäftsträger, Herrn v. Struve, bey mir an, eben da es Nacht werden wollte, unangemeldet, wo ich mit ganz andern Dingen beschäftigt war. Nun faßt ich mich bald, Ihrer Empfehlung eingedenk, allein es geht doch immer eine Zeit hin, bis man sich nur gewahr wird, und so kann ich sagen, war mir der Abschied von ihm schmerzlich; noch einer Stunde fuhren sie wieder fort, und nach ihrem Abscheiden kam mir ein, was ich hätte fragen und sagen sollen. Ich denke, ihm ein gutes Wort zu schreiben und einiges [174] zu senden, auch die Einleitung zu treffen, daß wir manchmal von einander hören, welches bey unseren Bezügen gar leicht ist.

Daß Ihrer und Ihres köstlichen Besitzes gar vielfach gedacht worden, ist vorauszusetzen; wär ich in Weimar gewesen, so hätt ich den heiligen Cristoph, nach dem ich sehr verlange, schon mit Augen gesehen.

Die heiligen drey Könige, Legende und Text, sind wirklich allerliebst, vielleicht verführt mich eine alte Neigung, doch ich dächte, es müßte vielseitig gefallen. Gelingt es mir, so sag ich bey dieser Gelegenheit in Kunst und Alterthum etwas über Legende und das Menschen-Bedürfniß, einzelne laconische Traditionen auszuwickeln, auszuspinnen, auszuweben, auszumahlen. Dann aber hat das Büchlein noch eine bedeutende Seite, es erinnert an die Reisen des Johann v. Mandeville, der von 1332 bis 1366 Süden und Osten bereis'te. Wie bey unserem Freunde ist auch das Gesehene und Gehörte, das Erfahrne und das Gefabelte behaglich durch einander gearbeitet, und wenn man auch nichts weiter daraus gewänne als den Begriff von Dunkelheit und Irrthümer jenes Zustandes, so wäre das schon genug. Nun erfährt man aber auch bey genauster aufmerksamster Sonderung sehr viel Wahres über Localität, Natur-, Welt- und Kirchengeschichte.

Noch bin ich in Jena, der October schloß mit herrlichen Tagen nach so großer Ungunst vergangener Monate. Mit meinem Befinden kann ich zufrieden [175] seyn, nur daß ich mir ein für allemal sagen muß, die stricteste Observanz von Diät sey nöthig, mich im Gleichgewicht zu erhalten; leichtsinnige oder nothwendige Übertretung unterbricht mir eine Reihe von köstlichen Tagen.

Und nun wird es ihnen gewiß erfreulich seyn, wenn ich vermerke, daß der herrliche Blatt-Codex, den Sie mir einst unter so guten Auspicien in der schönsten Zeit bereiteten und verehrten, jetzt erst in seine Rechte tritt und sich zu erwünschtem Gebrauche darbietet.

Freund Riemer, auf einem hohen Grade von Ausbildung noch immer wie sonst zärtlich und treulich gesinnt, macht mir zur Pflicht, alles, was ich seit mehreren Jahren zu Ehren der hohen natura naturans gedichtet, auf Blätter zusammenschreiben zu lassen, damit man sehe, was gewonnen worden und was noch zu thun sey; da macht sich denn wirklich eine ganz eigene Sammlung zusammen, wie ich mir sie nicht hätte denken können. Dieß wird nun alles schön geschrieben Ihrem Geschenk einverleibt, dem herrlichen vergoldeten Umschlag anvertraut, den ich von Zeit zu Zeit mit Betrübniß ansah, als wenn das klare weiße Papier unbeschrieben bleiben würde. Nun ist aber schon ein Anfang zum ausfüllen gemacht, und da wir dieß erlebt, so wollen wir das Weitere hoffen.

treulichst

Weimar den 18. November 1821.

G. [176]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1821. An Sulpiz Boisserée. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9CBB-F