1779, November.


Mit Johann Jacob Bodmer

Gestern den 20. [So!] November ein wenig nach 9 Uhr bracht Lavater Weimarn und Goethen mit noch einem Edelmann zu mir. Der Herzog sagte gleich, daß er käme, den Vertrauten Homers zu begrüßen. Goethe küßte mich, fragend, ob ich Goethen noch kennte. Beide sagten mir viel Fleurettes über meinen Homer. Goethe: er sei ihr Reisegefährte; er habe die Odyssee ex professo auf dem Lemanischen See gelesen, sich mit Ulysses auf die Beschwerden in den Alpen und der glaciers zu stärken. Auf den Alpen habe er den Homer den Alpinern vorgelesen. Er [am Rand: Herr von Wedel, des Herzogs Günstling] lasse sich laut vorlesen. Erst itzt habe man ihn, und wisse, was er sei. Leute von allen Ständen und jedem Alter können ihn verstehen. Man müsse griechisch können, Stolbergs Homer zu verstehn.

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Stolbergs Ilias und die Abschrift des Gedichtes von den Nibelungen lagen auf meinem Pult. Ich sagte, Goethe möchte mir Zeugniß geben, daß ich in Stolbergs Ilias studirte; ich könnte ihm doch nur per intervalla lesen, er schlüge mich zurücke. Der Graf müsse mir dieses verzeihn, wie ich ihm verzeihe, wenn mein Homer ihn, oder er selbst diesen hinter sich würfe. [57] Es sei natürlich, daß der meine ihn so wenig annehme [einnehme?] als der seine mich ..... Warum hat Klopstock sich nicht an Homer gemacht, der Mann war dafür nicht zu groß, der so klein war, für seine Zesianische Rechtschreibung in Enthusiasm zu kommen ..... Goethe sagte; Klopstock habe eine Buchdruckerei; er möchte durch seine chimärische Orthographie die schon gedruckten Bücher unnütze machen, damit er sagen könne, er drucke nur ungedruckte Bücher. Lavater sagte, Klopstock sollte die Pension von dem Markgrafen nicht mehr annehmen, nachdem er nicht in Karlsruhe leben wollte. Goethe mit einiger Wärme: er wäre so gewohnt genug, daß man Pensionen in der Entfernung nehme. Der Markgraf habe Klopstock mit Etiquette und mit Aufwartungsdiensten excedirt, daß es jedem braven Mann unausstehlich sein würde. Er verwunderte sich, da wir ihm sagten, daß Klopstock ein Verlangen habe, ein Bürger in Zürich zu werden ..... Dann bat ich den Herzog, daß er Veldigs Eneas, der in der Sachsen-Gothaischen Bibliothek liegt, vor dem Untergange retten möchte. Lavater schrieb es auf Goethens Tabletten ..... Ich klagte über die Barbarei der Abtei S. Gallen, und Goethe erzählte mit Wärme von einem Griechen, der gewußt habe, daß in einer Klosterbibliothek eine alte griechische membrana lag, die Bücher seien in einem Chaos gelegen, mit Noth haben die Mönche ihm erlaubt, sie zu erlesen, aufzustellen und zu katalogisiren. Und so habe er den Code aufgespürt. Als wir standen, [58] stellte Lavater Goethe vor mich und sagte, ich sollte die Augenbraunen, die Stirne, den Mund (alles in seinen Kunstwörtern) begucken, ob ich darin nicht einen bösen Menschen erblicke. Ich gab die Antwort: ich sehe da nichts Fürchterliches, ich hielt ihn doch für tapfer und ich freute mich, den tapfern Mann zum Freunde zu haben. Zuweilen geschähen mir Unfugen, die mir einen Beschützer nothwendig machten. Goethe solle mein Ritter sein. Der Herzog redete viel, ganz sanft und vertraulicher, als einer unsrer Zunftmeister, Goethe weniger und ernsthaft ..... Ich sagte zu Lavater, er würde sie doch auch zu Herrn Chorherr Geßner führen. Goethe fuhr auf: Zu Geßner! Lavater: nicht zu dem Poeten, zu dem Physikus. Von der »Noachide«, der »Kalliope« ward kein Wort gehört. Das verdroß mich ein wenig, doch machte es mir den Geschmack dieser Herren verdächtig. Ich habe ihnen auch gesagt, daß ich viel Tinte vergossen habe, doch nicht in der ersten Begierde nach großem Namen, mehr zur Beschäftigung; man habe in achtzig Jahren viele unbeschäftigte Stunden. Also hab ich meinen Lohn empfangen. Wenn meine Werke doch nützten oder belustigten hab ich keine hörnerne Fibern, daß es mir nicht Freude mache. Es war nicht weit von 11 Uhr, als sie von mir schieden. Sie gingen in der Fortification nach dem Wolfbache. Abends desselben Tages schickte ich Hrn. Lavater ihnen zu übergeben: Apollons »Argonautica« dem Herzog; die »literarischen Nachrichten« und »Evadnen« [59] und »Kreusa« Goethen. Auch erwähnte dieser nicht mit einer Silbe der politischen Dramen, die ich ihm im Sommer 1776 zugefertigt hatte.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1779. 1779, November. Mit Johann Jacob Bodmer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A0AD-5