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[1r]

Um mich kürzlich über ihre ge-
färbte Liniarzeichnung auszusprechen,
send ich sie zurück und füge eine
andere hinzu. Alles kommt dar-
auf an daß der Refraction
ein Hinderniss entgegen gesetzt
werde, damit an dessen Rande die
Farben erscheinen; bey dem Falle
mit unserm gewöhnlichen Prisma
kommt es darauf an, wo man
das Hinderniß anbringt. Auf
Ihrer Zeichnung ist m.n. die
Oeffnung des Fensterladens, das
Bild dieser Oeffnung langt also
auf dem Prisma A.B.C. in
o.p. an. Von diesem Bilde geht
aber nichts ungebrochen durch,
sondern es wird mit allen sei-
nen Rändern in die Höhe ge-
hoben, deswegen die Linie p.s.
statt der Linie p.r. und die Linie
o.t. statt o.q. für die Grund-
linien des in die Höhe gehobenen
Bildes anzusehen sind, denn we-
der durch die Brechung noch nach
der Brechung kann kein ge-
färbtes Licht nach r. und q. ge-
langen. Nun aber haben Sie
ganz recht daß gleich bey den
Punkten o. (u.)und p. die Farbener-
scheinung eintritt, nur müssen
die Farbensäume innerhalb
[1v] des Mittels viel schmäler und
über den Linien p.s. und o.t.
gemalt werden, die sich alsdann
bey Austritt abermals auf-
wärts brechen, und stärker
verbreitern, bis sie sich zum
Grünen übereinander schieben.
Es würde also ganz richtig
seyn, wenn Sie auf Ihrer
Zeichnung, die Farbensäume
über die horizontalen Linien
o.t. (u.)und p.s. schmal colorirten,
anstatt daß sie jetzt allzubreit
drunter stehen. Zeichnen und illu-
miniren Sie nur ein solches
Bild, so kann ich darüber
nochmals meine Gedanken sa-
gen. Ich habe diese innerhalb
des Mittels anfangende Farben-
erscheinung als ein Minimum
auf meinen Tafeln weggelas-
sen, weil es die Liniarzeichnung
sowohl als das illuminiren
sehr complizirt und beschwerlich
machte. Aus dem Vortrage
selbst aber geht es hervor
und ich lobe Sie daß Sie die-
sen Punct zur Sprache brin-
gen.

Nun aber füg ich eine andere
Zeichnung bey um die Sache
vollkommen ins Klare zu bringen.
[2r]
Gesetzt ein Prisma stünde in
freyer Luft der Sonne aus-
gesetzt, so würde die ganze
Lichtmasse ungehindert und farb-
los durchgehen, ausser etwa
bey den Randhindernissen
C. (u)und B. brächte man aber
ein Hinderniß, wie hier in
t. und s. hinter dem Prisma
an, so würden sogleich bey'm
Austritt die Farbensäume
erscheinen, ohne daß inner-
halb des Prismas die gering-
ste Farbe sich hervorgetan
hätte.

Beyde Phänomene No. 1. und
2. sind recht gut durchs gro-
ße Waßerprisma darzustellen
wo sich das Hinderniß unmittel-
bar aussen an den Glastafeln
entweder auf der Vorder- oder
Hinterseite anbringen läßt, da
man denn jedesmal unmittelbar
hinter demselben die Entsteh-
ung der Farbensäume schauen
und nachweisen kann.

Ich erinnere mich nicht genau,
kann auch gegenwärtig nicht
nachsehen, indessen müßte dies
Verhältniß in meiner Farben-
lehre deutlich ausgesprochen seyn.

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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 16. Mai 1822. Goethe an von Henning (Beilage). Z_1822-05-16_g.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-5500-1