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[1r]

Ew. Wohlgeboren
sende hiebey ein
Briefchen für Boisseree, welches Sie
ihm, je nachdem die Umstände sind,
entweder nachschicken oder aufbewahren.
Es freut mich gar sehr daß er Sie
gesehen hat, denn das Wiedersehen von
Freunden giebt neue Kräfte. Möchte
mir es doch auch gelingen Sie bald zu
besuchen, doch habe leider Ursache daran
zu zweifeln: eine Woche geht nach der
andern hin und ich sehe der mancherley
Beschäftigungen kein Ende.

[1v]

Wenn Sie mir den dicklichen Peter
Vischer
und die Kalkspäthe senden,
so werden Sie mich erfreuen.

Die Spiegel sind immer aufgestellt,
und ich bin nach meiner Weise bemüht,
mir die Elemente und Bedingungen
möglichst zu entwickeln und zu sim-
plificiren, vielleicht sende ich bald
einen kleinen Aufsatz und erbitte
mir Ihre Gedanken darüber.

Diese Phänomene dienen mir auch
auf noch andere Weise zur Unterhaltung.
Da nämlich der Apparat vor jedermanns
[2r] Augen steht, so laß ich einen jeden Be-
suchenden das Hokus-Pokus betrachten,
wobey denn freylich mit Betrübniß zu
bemerken ist, wie wenig Organ die
Menschen zu solchen Dingen haben.
Die Schriftgelehrten rezitiren bey
dieser Gelegenheit ihren alten Rosen-
kranz, die autodidacten machen
wunderliche Sprünge, die übrigen
fragen gleich woher und wohin und
es ist niemand der nicht glaubte, man
könne mit solchen Dingen gleich fertig
werden, sie wollen erklärt haben nur
um die Sache los zu seyn.

[2v]

Lesen Sie doch baldmöglichst ein
Büchlein: über das Sehn und die Farben
von A. Schopenhauer
und sagen mir
Ihre Gedanken darüber; ich hatte es schon
als (MSCt)Manuscript gelesen, konnte aber nicht
damit fertig werden. Es wird mir
immer schwerer1, mir die Differenzen der Mein-
ungen klar zu machen. Man muß sich
in den Kopf des andern versetzen und
dazu verliert sich die Biegsamkeit.

Jetzt leben Sie schönstens wohl mit den
lieben Ihren, gedenken mein und sagen
mir bald von Ihren Fortschritten
Goethe
schwerer]

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TextGrid Repository (2022). Goethe, Johann Wolfgang von. 11. Mai 1816. Goethe an Seebeck. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-3517-C