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[42r]

Euer Excellenz

haben mich schon sehr erfreut, daß Sie Äusse-
rungen, die ich mich nicht enthalten konnte, über
das blinde Benehmen der Schule in dem Lichte,
das Sie, nachdem die Natur es dem Sinne, dem Geiste
angezündet haben, zu machen, - daß Sie diesen Äus-
serungen Ihren Beifall haben geben, und mir
{diß} durch Herrn Boisserée haben bezeugen lassen wollen.
Euer Excellenz fügen nun noch mehr hinzu, und
haben die Güte, nicht nur {diß} mir auch direct zu sagen,
sondern auch mich ungemein durch ein ganz neues
Geschenk zu erfreuen. Nachdem ich, wie wir übri-
gen Alle, obzwar noch kein grosser Hauffen, Ihnen
die richtige Erkenntniß der Natur des Lichts und
eines weiten Reichthums seiner Erscheinungen ver-
dankt haben, so gestehe ich nun, daß die Auflö-
sung des neuen Räthsels mich ordentlich ganz
überrascht hat; - eines Räthsels, das ich mehrere
[42v]Jahre in so vielen Gestalten einfacher und immer zu-
sammengesetzter vor Augen schweben, und wobey
ich vielmehr aus jeder zusammengesetztern, von der
Quelle sich weiter entfernenden Gestalt, die sich zu-
wege bringen ließ, eine vergebliche Hoffnung sei-
ner Lösung hatte schöpfen sehen; - aber Entfernung
von der Quelle kann das Übel des Durstes, statt es zu
heben, nur vergrössern. - Euer Excellenz wollen
Ihr Verhalten in der Verfolgung der Naturerschei-
nungen eine naive Weise nennen; ich glaube meiner
Facultät soviel nachgeben zu dürfen, daß ich die Ab-
straction
darin erkenne und bewundere, nach der Sie
an der einfachen Grundwahrheit festgehalten und
nun nur den Bedingungen, wie sie in der neuen {Ver-
wiklung}
, die aufgefunden worden, gestaltet sind, nach-
geforscht, und diese bald {entdekt} und einfach herausg[e-]
hoben haben. - Bey den ersten, Malusschen Erscheinun-
gen, des Verschwindens und Wiederhervortre-
tens des Lichts nach der verschiedenen Stellung der
Spiegel gegeneinander
, konnte ich mich nicht, wie keine[r]
sich erwehren, zu sehen, daß ganz allein die Stellung
[43r]das Licht schwäche und (resp.)respective verschwinden mache. Diß
einfache, gesehene Verhältnis haben aber Euer Excellenz
allein, nun zur Sache und damit zum Gedanken
erhoben und ständig gemacht. Damit haben Sie
ferner sogleich den Unterschied von Hellem und Dun-
keln gewonnen gehabt, und auf diese Weise für alles
Übrige, dem dieser [Unterschied] von dem Unterschiede
dessen, was in der ReflexionsEbene und was ausser
ihr vorgeht, herkommt, alles, was man braucht,
so einfach erhalten, daß das Befriedigende eben-
so jedem Unbefangenen einleuchtend seyn muß,
als es in Vergleich mit den vielfachen theils theore-
tischen Anstalten, der Polarisation, Viereckigkeit
der Strahlen etc. etc. zur Erklärung theils den
experimentativen, - zwar wohl, wie zu wünschen, nicht
verdrießlich, aber beynahe möcht ich sagen, lu-
stig ist.

Der erste Aufsatz in den gütigst übersandten Bogen
gibt uns über die Beschaffenheit der Bilder des so interessan-
ten Doppelspathphänomens, und daraus über die dabey vor-
[43v]kommenden Farbenerscheinungen das Wort, das uns gleichfalls
über die Bangigkeit vor den vielen immer neu hervorgehenden
Farbenspucken, wie dem des Meisterworts vergessenen
Famulus über den Geisterschwall, den er nicht mehr gewäl-
tigen konnte, hinweghilft. - Nach gegebenem Aufschluß
erwähnen Sie S. 24. daß das Kalkspathphänomen sich auch
mechanisch behandeln lasse. Mir hatte anfangs die
Malussche, so zu sagen, rhomboidalisirende, Entgegenstellung
der Spiegel (wenn sie sich kreutzen) die flüchtige Hoffnung
gegeben, daß sie etwa zu einer herausgekehrten Darstel-
lung jenes Phänomens verhelfen könnte. Philosophischer-
weise darf ich bequem bey dem Gedanken stehen bleiben,
daß das Brechungsphänomen der Verdopplung der Bilder in
der rhomboidalischen Natur des zugleich durchsichtigen und
insofern nur gemein brechenden Spathes seinen Grund habe,
und beyde Bestimmungen zusammen das auf einmal erscheinen
lassen, was im Malusschen Apparat als Spieglungsphäno-
men, aber nacheinander geschieht, durch die entgegengesetz[ten]
Stellungen der Spiegel. Euer Excellenz erwähnen der Spieg-
lung
in den feinen Lamellen des schönen Spathexemplars,
das Sie besitzen, wenn ich recht gefaßt habe, für die Neben-
bilder
, ausserdem daß das Epoptische den Durchgängen,
[44r]als existirenden Zerklüfftungen angehören wird. -
Ich glaube daher Sie auch noch recht zu fassen, wenn ich das
Hauptdoppelbild ganz der Brechung vindicire; - indem ich
auch nur dabey stehen bleibe, daß im ganz wasserklaren
Spath sich dasselbe zeigt, wie auch bey den entoptischen
Figuren (ein Name, den ich mich freue, daß Sie ihn, wie
ich ihn dem epoptischen nachgräcisirt habe, gelten lassen) in
der Sprödigkeit des Glases, die ich als Puncktualität sei-
ner Natur andeute, nicht die geringsten Ritzen und
Punkte sich erkennen lassen, (so wenig als z. B. im Zähen, Linien-
bündel (u. dergl.)und dergleichen) und in der Physik Poren und Atome eben
darum nicht gelten können, weil man sie nicht sieht;
(mit ihnen aber als Gedankendingen, was sie sind,
die Metaphysik schon fertig wird.) - Unter einer me-
chanischen, oder herausgekehrten Darstellung des Brechungs-
phänomens des Doppelspaths hätte ich mir also eine solche
Verbindung von parallelen und andern1 sich kreutzenden Spiegeln
vorgestellt, daß hier sich2 in der Spieglung das sogenannte3 ordinäre
Bild durch jene und zugleich ein extraordinäres durch
diese zeigen liesse, und der veränderte Winkel auch die
Abwechslung des Verstärkens des einen und des Schwächens
des andern, - auch des Verschwindens des einen4 (beym Kalkspath, wenn
[44v]ich mich noch recht erinnere, im Hauptschnitte)
sich ergeben könnte. - Den Zweifel abgerechnet, ob sich
eine solche Vorrichtung mechanisch zu Stande bringen
lasse, bliebe immer sowohl von der Weise der Bre-
chung der Sprung zur Weise der Spieglung, als auch
der Sprung von existirendem, mechanischem Unterschie-
denseyn zum einen Unterschiede, der nur in die innere
Natur der Sache eingeschlossen bliebe.

Aber ein noch stärkerer Sprung bietet sich itzt
mir dar, wenn ich sehe, daß ich Euer Excellenz kla-
res und schönes Bild, mit einem Einfalle, gleichsam
als einem ganz schattenhaften Nebenbilde, zu erwi-
dern scheinen kann. Ich darf aber bitten, denselben nur
dem Interesse zuzuschreiben, welches Ihre schöne Expo-
sition in mir erweckt hat, und welches zu sol-
chem Ergehen verleiten kann. Wollen Sie daher
einen solchen Herling1 unter den Früchten übersehen,
welche Ihre so folgereichen als einfachen Ansichten
schon getragen, und ohnehin andern nur eine ge-
ringe Nachlese gestatten können, und als die ein-
zige Erwiderung die mir so erfeuliche Bereiche-
rung ansehen, welche meine Erkenntnis durch die
[45r]berührten Aufsätze, so wie durch den mineralogischen
erlangt hat, der mir mit so vielem Vergnügen die An-
schauung zugleich in Erinnerung gebracht, die Eure Excel-
lenz lenz mir an der mitgebrachten Sammlung in Jena
zu geben vormals die Güte hatten. Ausser dem Ge-
nusse, der sich aus den mehrern ebenso tieffen als heitern
Zeilen ergibt, womit Sie als Vignetten den Anfang
dieser naturwissenschaftlichen Sammlung geschmückt ha-
ben, verspricht derselbe uns noch so vieles andere, theils
Neues, theils Erneuertes, welches, ob es gleich wenig
namentlich anerkannt worden ist, bereits so wirk-
sam durch seinen innewohnenden Geist in die ganze
Weise der Naturforschung eingegriffen hat.

Wenn Eure Excellenz meine neuen Bestrebungen Ihrer
Aufmerksamkeit würdigen wollen, so wünsche ich, daß
Sie meinen Hauptzweck nicht ganz verfehlt finden möchten,
mit festem Fusse fortzugehen, obgleich die Ausbreitung
dadurch sich sehr beschränkt, und allgemeinen Analogien,
phantastischen Combinationen, und dem blossen soge-
nannten Anschliessen zu entsagen; – eine Weise, welche die
bessere Grundlage der (philosoph.)philosophischen Tendenz in der Naturwissen-
schaft beynahe um allen Credit gebracht hat.

Mit hochachtungsvollster, unwandelbarer Verehrung
Euer Excellenz
ergebenster Diener
Prof. Hegel
Notes
1
Nach Adelung, Tl. 2, Sp. 1127, „in dem Weinbaue, solche Weinbeeren und Trauben, welche, weil sie zu spät geblühet haben, nicht die gehörige Reife oder Zeitigung erhalten, folglich sauer und herbe bleiben.“
andern]
sich]
sogenannte]
des einen]
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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 20. Juli 1817. Hegel an Goethe. Z_1817-07-20_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-35EF-9