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[25r]
Hochwohlgebohrener Herr
Hochverehrter Herr Geheimerrath
und Staatsminister!
 

(Ew.)Euer Excellenz verfehle ich nicht ehrerbietigst anzuzeigen, daß wenige Tage nach der
Ankunft Ihres hochgeneigten Schreibens vom 16ten v. M.1, auch das darin angekün-
digte Kistchen mit dem entoptischen und sonstigen chromatischen Apparat, vollkom-
men unversehrt, an mich gelangt ist. Obschon ich voraussetzen kann daß (Ew.)Euer Excel-
lenz selbst ermessen werden mit welcher Gesinnung ich diese höchst erwünschte Gabe
in Empfang genommen habe, so fühle ich mich doch gedrungen Hochdenselben noch aus-
drücklich meinen aufrichtigsten und lebhaftesten Dank für diesen neuen Beweis
gnädigen Wohlwollens abzustatten und damit die Versicherung zu verbinden daß
ich meinen guten Willen auch durch entsprechende Leistungen zu bethätigen fort-
während auf alle Weise bestrebt seyn werde. - Ich bin den größern Theil dieser Wo-
che hindurch in meinem nunmehr ziemlich vollständig eingerichteten Experimentier-
zimmer mit chromatischen Versuchen und Proben aller Art, vornämlich aber
solchen welche die entoptischen Erscheinungen betreffen, beschäftigt gewesen, wo-
bey mir denn der Apparat, dessen Gebrauch ich (Ew.)Euer Excellenz gnädiger Für-
sorge verdanke, auf das trefflichste zu statten gekommen ist. Nicht unerwähnt
darf ich es dabey lassen, welcher belehrenden und aufmunternden Theilnahme
ich mich bey diesem Geschäft von Seiten unsres verehrten Regierungs-
bevollmächtigten, Herrn Geheimen-Ober-Regierungsrath Schultz, ferner mei-
nes theuren Lehrers, des Herrn Professor Hegel und eben so des Doc-
tor Förster, meines lieben und treuen Genossen, zu erfreuen gehabt habe.
[25v] Die beyden letztern waren, von der Ankunft des mit Ungeduld erwarteten Kist-
chens von mir benachrichtigt, ohne Säumen herbey geeilt um das erfreuli-
che Geschäft des Auspackens mit mir zu theilen und wir haben hierauf,
wohlunterrichtet von dem worum es sich handelt, sogleich bey heiterem Abend-
himmel mit der schnell zusammengefügten Maschiene zu experimentieren be-
gonnen. Auch das nicht genug zu rühmende, kunstreich getrübte Trinkglas
ist denselben Abend noch auf die heiterste Weise eingeweiht worden:
nachdem nämlich die einbrechende Nacht dem auf dem halbabgeplatteten
und mit einer Galerie umgebenen Dach des Universitätsgebäudes fortgesetztes Experimentie-
ren im Freyen ein Ziel gesetzt hatte, so begab ich mich mit Freund
Förster nach dessen Wohnung, wo wir dann, während uns die auch (Ew.)Euer Ex-
cellenz nicht unbekannte junge Freundin, unsre frohe Stimmung theilend,
den bewunderten Becher credenzte, des hochverehrten, theuren
Meisters Gesundheit mit dankbarem Herzen ausgebracht haben. ­
Ich bin seitdem mehrfältig, zumahl von jungen Damen, darum an-
gegangen worden mich ausführlich darüber auszulassen, was es
mit der Farbenlehre, der (Ew.)Euer Excellenz, wie man wisse, ein so
anhaltendes Interesse gewidmet, doch eigentlich für eine Bewandtniß
habe; - indeß gedenke ich für jetzt wenigstens der Versuchung zu
widerstehen außer dem bereits um mich versammelten Auditorio
junger Studierender, denen sich auch einige ältere Naturfreunde
beygesellt haben, auch noch eine weibliche Zuhörerschaft um mich
zu versammeln, um nicht der Farbenlehre den1bey ernsthaften
Leuten den bedenklichen Ruf einer eleganten Wissenschaft zu-
zuziehen; späterhin, wenn die Sache sich erst etwas consolidiert
hat und ich mehr festen Fuß gefaßt habe, findet sich dann wohl
immer Gelegenheit der Wißbegierde der guten Kinder auf
eine heitere Weise Genüge zu leisten und die wahre Lehre, so
wie es früher bey den Franzosen mit der falschen geschehen, à
[26r] la portée des dames zu bringen. - Meine öffentlichen Vorlesungen an der Uni-
versität
habe ich am 21sten d. M., vor einer ansehnlichen Anzahl von Zuhörern be-
gonnen und zwar habe ich mich zunächst damit beschäftigt durch einige allgemei-
ne Erörterungen über das physikalische Studium, so viel als möglich die zu ei-
nem unbefangenen Auffassen der vorzutragenden Lehre erforderliche Stimmung
zu begründen. Vor allen Dingen schien es mir erforderlich jenes weit verbreitete
Vorurtheil, als sey die Farbenlehre etwas Mathematisches, vor das Forum des gesunden
Menschenverstandes zu ziehen und in seiner Nichtigkeit darzustellen. Ich habe mich bey die-
ser Erörterung, meinem dermaligen Vorhaben gemäß, alles eigentlich Philosophischen
nach Möglichkeit enthalten und mich einer einfachen, populären Argumentation ad ho-
minem
beflissen; wobey ich indeß bemerkt habe, daß während es einerseits al-
lerdings schwer ist, gründlich zu philosophieren, es doch auch2andererseits, zumahl für
einen Solchen der nicht an empirische Vorträge gewöhnt ist, keine ganz leichte Sache
ist auf das Philosophieren zu verzichten, ohne deshalb in ein schwankendes Hin- und
Herreden zu verfallen. Ich habe rücksichtlich der von den heutigen Physikern ein-
müthig gegen (Ew.)Euer Excellenz geltend gemachten Behauptung, daß der Inhalt der
newtonschen Optik etwas mathematisch Bewiesenes sey, unter Andern jene Stelle
in der Vorrede zur lateinischen {Ubersetzung} der Optik in Erinnerung gebracht, wor-
in zwischen den Funktionen der Mathematiker und der experimentierenden und aus
Experimenten folgernden Naturforscher ein sehr bestimmter Unterschied aufgestellt und
zu Newtons Ruhm behauptet wird, er habe in utroque philosophandi genere
(calculieren und experimentieren gilt ja3 den Engländern noch heut zu Tage für gleich-
bedeutend mit philosophieren und darum ist ihnen unser Freund the philosopher
par excellence
) bis dahin Unerhörtes geleistet, welcher Behauptung dann die
merkwürdige Erläuterung hinzugefügt ist, ein immenses Beyspiel des mathemati-
schen Philosophierens sey das Werk: philosophiae naturalis principia mathematica,
dagegen liefere die Optik ein exemplum posterioris philosophandi generis
indem in diesem Tractat die Phänomene des Lichts und der Farben clarissimis
experimentis, sine ulla omnino hypothesi
(!) auf das einleuchtendste bewiesen
[26v] und erklärt würden. - Demnächst habe ich mich veranlaßt gesehen dem von (Ew.)Euer
Excellenz aufgestellten Paradoxon, daß sich durch Erfahrungen und Versuche eigent-
lich nichts beweisen lasse, eine andre, für den mathematisch Gesinnten wohl nicht
minder paradoxe Behauptung hinzuzufügen, nämlich die, daß in der gesammten
Naturwissenschaft (so wenig wie auf dem ethischen Gebiete), selbst die Mechanik
und die eigentliche Optik nicht ausgenommen, kein einziges Gesetz, und überhaupt
gar nichts, als das Mathematische selbst, d. h. das abstract Quantitative, ma-
thematisch zu beweisen ist - wobey ich mich dann weiter dafür erklärt habe,
daß ich unter einem mathematisch Gesinnten einen Solchen verstehe der kei-
nen andern Unterschied als einen quantitativen und keine andre Bestimmt-
heit als eine räumliche oder numerische anerkennt, in welchem Sinne
allerdings, nicht nur zugestanden, sondern ausdrücklich behauptet werden muß,
daß Newton die Farbenlehre, zum großen Schaden für die Wissenschaft,
mit ächt mathematischem Geiste behandelt hat. - Doch ich enthalte mich (Ew.)Euer
Excellenz weiter mit Dingen zu unterhalten, die ich wesentlich erst von
Ihnen gelernt habe. - In der nächsten Woche werde ich den Anfang da-
mit machen, meinen Zuhörern die Farbenphänomene in der von (Ew.)Euer Ex-
cellenz genehmigten Ordnung, vorzuführen und ich gedenke dabey so zu
verfahren daß, wenn eine Reihe zusammengehöriger Versuche angestellt
und der Anschauung eingeprägt worden ist, ich dann immer wieder zur zu-
sammenhängenden Erläuterung zurückkehren werde um auf solche Weise
die theoretische Übersicht des Ganzen zu erhalten. - Für die mir gnädigst
mitgetheilte Erläuterung über den von mir zur Sprache gebrachten prisma-
tischen Fall, sage ich (Ew.)Euer Excellenz meinen unterthänigsten Dank, indem ich
vorläufig bemerke, daß ich mich überzeugt habe daß ich im Begriff war auf ei-
nen Abweg zu gerathen; übrigens muß ich mir, um dieses Schreiben nicht
länger aufzuhalten, die Erlaubniß erbitten, die verlangte fernere Zeichnung Hoch-
denselben etwas später vorzulegen, wobey dann sogleich eine andere, bereits
angefangene, colorierte Zeichnung und Beschreibung eines, wie es mir scheint,
sehr bedeutenden entoptischen Phänomens erfolgen soll, welches sich mir ge-
stern gezeigt hat, indem ich einen großen über 2 1/2 Zoll hohen, langsam
abgekühlten Glascubus zwischen die beyden Spiegel brachte und den klein-
sten entoptischen Cubus darauf hin und her bewegte. -

Ehrerbietigst verharre ich
(Ew.)Euer Excellenz  
ganz unterthäniger
Leopold von Henning.
den]
auch]
ja]
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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 2. Juni 1822. von Henning an Goethe. Z_1822-06-02_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-552D-0