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Ewr Wohlgeborn
nehme ich mir die Freiheit einen
Antrag zu machen, zu welchem mir Ihre schätzbare u. verdienst-
liche Sammlung der Scriptores ophthalmologici minores den Anlass
giebt. Ihnen wird vielleicht meine Abhandlung "über das Sehn
und die Farben"
(Leipz: 1816, bei Hartknoch, 88 S. 8vo) bekannt seyn.
Obgleich die Münchner Akademie, in ihrer Darstellung der Fortschritte
der Physiologie seit Haller, 1824
, wegen derselben, mich unter
den Beförderern der Physiologie der Sinne genannt hat, und
Ficinus, anerkennend dass meine Theorie der Farbe die allein
wahre ist, sie seinem Artikel "Farbe" in Pierer's Real-
Lexikon der Physiologie zum Grunde gelegt hat; so ist sie doch
im Ganzen zu wenig berücksichtigt worden, ist nicht durchgedrungen,
u. ich kann sagen, dass mir keine Gerechtigkeit widerfahren
ist. Da ich von der Wahrheit u. Wichtigkeit der in jener
Abhandlung dargelegten physiologischen Farbentheorie, noch
jetzt, nach einer Bedenkzeit von 13 Jahren, auf das
festeste und vollkommenste bin; wäre mir eine
Gelegenheit, sie dem Auslande zugänglich zu machen, in
Hoffnung dort gerechtere Würdigung zu finden, und in jedem

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Fall sie durch Einverleibung in eine grössere Sammlung vor dem
Untergange sicher zu stellen, höchst willkommen. Deshalb
erbiete ich mich, jene Abhandlung in das Lateinische zu übersetzen,
wobei ich sie zugleich wesentlich verbessern, einiges minder Noth-
wendige weglassen u. dafür Wesentlicheres einschalten würde;
wenn nämlich Ewr Wohlgeb: mir versprechen wollen, solche
Uebersetzung in den nächsten oder wenigstens folgenden Band
Ihrer Sammlung aufzunehmen, wo sie wohl nicht mehr als
50 Seiten füllen würde. Dabei hoffe ich, dass Ewr Wohlgeb:
mir für die Arbeit des Uebersetzens das dieser angemessene
Honorar zugestehen werden. Sollten sie eine bedeutende
Abkürzung der Abhdlg[.] verlangen; so würde ich, wenn gleich
ungern, mich dazu verstehn: alsdann müsste von der
Einleitung u. dem 1stn Kap: der grösste Theil wegfallen; da
die Hauptsache im 2tn Kap: liegt. - Inzwischen ist grade
jenes 1ste Kap: eine sehr nöthige Ergänzung zu Tourtual's
Abhandlg[.] in Ihrer Sammlung, da dieser, indem er doch de
mentis in visu efficacia schreibt, seltsamer Weise, mit den
Grundlehren des grössten Philosophen seiner Zeit u.
Nation, also Kant's, völlig unbekannt ist, u. noch ganz
naiv von Locke's und Condillac's Schule ausgeht; ein Standpunkt
in der Betrachtung des Erkenntnissvermögens, der sich zu dem
auf welchen Kant uns gestellt hat, verhält wie die 4 Species
zur Analysis. Dabei wird er jedoch aus Unwissenheit
originell. Nämlich, d1 nachdem er §§ 20-27 sehr gut

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gezeigt hat, dass die Anschauung nicht sensuell sein kann, wie sie
nach Locke und Condillac müsste, weil nämlich weder in der Empfindung
des Tastens, noch in der der vom Lichte afficirten Retina, der Stoff
zu einer Anschauung des Raums u. der Objekte in ihm irgend
zu finden sei, geräth er, § 28, ganz aus eigenen Mitteln auf die
Vermuthung, dass die Anschauung des Raums u. der Objekte in ihm
auf einer besondern angebornen Fähigkeit des Geistes beruhe: das
ist eben Kants Lehre von den im Geiste a priori vorhandenen
Formen der Anschauung, Zeit, Raum, Kausalität. Diese
Lehre gar nicht kennend kompensirt er nun brav seine
philosophische Unwissenheit durch Scharfsinn, u. giebt durch seine
Darstellung einen apagogischen u. negativen Beweis für die
Wahrheit der Kantischen Lehre von der Idealität des Raums:
allein die wahre Anwendung dieser Lehre, wie auch der vom Verstande,
auf das Sehn enthält das erste Kap: meiner Abhdlg: weshalb
also diese eine sehr nöthige Ergänzung der Tourtual'schen ist.

Vielleicht sind Ewr Wohlgeb: ein Gegner der Göthischen
Farbenlehre. Doch hoffe ich, dass Ihnen als Herausgebern [!]
das audiatur & altera pars heilig seyn wird. Auch bliebe
Ihnen eine Protestation für Ihre Person ja unverwehrt.

In jedem Fall bitte ich, ehe Sie sich entscheiden, meiner
Abhandlung jetzt von Neuem Ihre Aufmerksamkeit zu schenken,
u. sehe dann Ihrer geneigten Antwort entgegen, mit besonderer
Hochachtung verharrend

Ewr Wohlgeborn
ergebener Diener
Arthur Schopenhauer.

Dr. ph. leg: ad Univers: Berol:
Behrenstr. No 70. Berlin,
d. 14 März
1829
.
[2v]
Sr Wohlgeborn
des
Herrn Professor Justus Radius.
frei
Leipzig.
d]
CC-BY-NC-SA-4.0

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 14. März 1829. Schopenhauer an Radius. Z_1829-03-14_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-5CE7-6