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Physiologische Farben;
Uebergang.

[67r]

Durch Vertrauen auf eigene
Kräfte gar oft irre geführt mußte
ich mir im Fortschreiten denfortschreitenden1 Le-
ben zur Pflicht machen, bey jeder
Unternehmung, 2sorgfäl-
tiger als erst, zu prüfen, was
meiner Natur gemässgemäß3 und
wo ich einzugreifen berech-
tigt sey. Ich lernte nun das
für mich Erreichbare in gera-
der Linie verfolgen, das
Verwandte, nächst zur Seite
Liegende, andern nach ihrer
Weise zu behandeln über-
lassend4, an ihrem Gelingen
mich meines Theils belehrend
und erfreuend.

Die Natur hatte mich
zum Poeten gewollt und als
ein solcher trat ich oft mehr
als billig in die Tiefen des
ethischen Subjects zurück, wovon
meine Arbeiten genugsames
Zeugniß ablegen.

Zur Naturforschung ge-
trieben erkannte ich wohl, dass
man sich selbst, in soferneinsoferne5
zu diesem Geschäft Verstand
[67v]und Vernunft unerläßlich
nöthig sind, prüfen, kennen
und ausbilden müsse, und ich
liesließ6 es daran nach bestem Ver-
mögen nicht ermangeln. Als
ich zur Farbenlehre schritt,
durfte ich mir nicht verläug-
nen daß die Chromatik erst
im Auge gegründet werden
müßemüsse7; aber es war mir
unmöglich in mein eigenes
organisches Subject tiefer zu-
rückzugehen, so wie ich nach der
objectiven Seite zu gar wohl er-
kannte: daß auf Licht, Schatten
und ein Drittes alles ankomme,
aber doch nicht wagte mich in
jene Fernen abstrakt zu ver-
lieren, in solche Tiefen mich
forschend zu versenken. Ich
nahm also, von der innernsubjecktiven8
Seite, das Auge wie es mir
diente für bekannt an,
suchte jedoch das physiologe
Sehen und die daraus sich ent-
wickelnden Haupterscheinungen
zu kennen, zu ordnen, mitzu-
theilen, einer ächten Farben-
lehre den Eingang hiedurch er-
öffnend.

[68r]

Nach Außen zog ich mir keine
Gränzen und ging getrost meine
Wege vorwärts, höchst aufmerk-
sam jedoch auf das was andere
Hier und dort schon geleistet
und im Fortschritte der Zeit
wahrscheinlich leisten würden.

Herr Staatsrath Schulz
in Berlin, zart und auf-
merksam sich selbst betrach-
tend, wendete sein Beschauen
rückwärts in die innern Tie-
fen in die ich mich nicht wagen
durfte; da nun seine Behand-
lung völlig mit meinen Wün-
schen übereintraf, mußte
mir dessen Bemühen höchlich zu
statten kommen. Sein Aufsatz
über physiologe Farben
in dem Schweiggerischen
Journal (B.)Band XVI. S. 121. ward
mit verdienter Aufmerk-
samkeit aufgenommen.
Der Entwurf einer Fort-
setzung liegt handschrift-
lich bey mir, sollte jedoch
[68v]vor seinem öffentlichen Er-
scheinen nochmals überdacht
und durchgearbeitet werden.
Einige Jahre sind indeß
verstrichen und ich finde
immer wünschens werther,
daß der verehrte Mann
sich zu Rundung und Ab-
schluß anschicken möge, da
im subjectiven Felde ein
Beobachter den andern gar
wohl benutzen, aber nicht
an seine Stelle rücken, frem-
de Arbeiten nicht redigiren
kann.

__________________

Wichtiges aber ward uns
neuerlich von anderer Seite
geboten. Herr Professor
Purkinje, in Prag, hat eine
Schrift herausgegeben: "Zur
Kenntniss des Sehens in
subjectiver Hinsicht; Prag
1819." Wir halten diese
Arbeit von großem Werth
und konnten, indem sie uns
soviel zu denken gab,
[69r]dem Triebe nicht widerstehen
sie auszuziehen und was eigene
Erfahrung was Nachdenken
verlieh sogleich mit anzuschlie-
ßen. Alle und jede Männer
eigentlich9vom Fach werden10, wenn
ihnen das Werk nicht schon
zur Hand gekommen seyn
sollte, hierdurch angeregt
seyn es zu lesen und zu stu-
diren, andere begnügen
sich allenfalls mit diesem
Auszug und finden sich wohl
veranlaßt dasjenige was
sie selbst erfahren sich ord-
nungsgemäß zu vergegen-
wärtigen, und in sofern sie
es bedeutend findenfür bedeutend halten11, zur
allgemeinen Aufklärung
freundlich mitzutheilen.

Fortschreiten denfortschreitenden]
]
gemässgemäß]
d]
in soferneinsoferne]
liesließ]
müßemüsse]
innernsubjecktiven]
eigentlich]
werden]
bedeutend findenfür bedeutend halten]
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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. M 74 (1820): Physiologische Farben; Uebergang. M_074_1820.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-338A-C