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Seiner Hochwohlgeborner Herr

Werden Sie sich meiner noch erinnern, wenn ich nach nicht weniger als 5 Jahren mich Ihnen nahe, um aus dem Kreise Ihrer vielfältigen Berufsarbeiten Ihre Aufmerksamkeit auf Augenblicke zu fesseln? Zu jener Zeit haben Sie es nicht unter Ihrer Würde geachtet, mein Lehrer zu seyn. Ich weiss nicht, ob der Antheil, den Sie damals an einem unentwickelten Keime genommen, Spuren meiner Persönlichkeit in Ihrem Gedächtnisse mir erhalten hat. Ich weiss nicht, ob jener Eindruck stark genug war, um mir bey dem, was ich Ihnen zu sagen die Ehre haben werde, zu Hülfe zu kommen. Ich glaube einmal Ihre Zuneigung und Ihr Wohlwollen besessen zu haben. Die Energie, mit welcher Sie auf eine Schaar von Jünglingen, deren Bildung auf das Unverzeihlichste vernachlässigt worden war, einwirkten, ist für mich von dem entschiedensten Einflusse gewesen. Sie zählten mich nicht unter diejenigen, welche Sie die Dunkeln nannten, und deren Namen Ihnen so leicht vergesslich war. Ich bin so glücklich gewesen, des Einflusses, den eine zweckmässige Organisation der {2} Rheinischen Gymnasien bot, mich zu einer Zeit zu erfreuen, wo ich die Folgen der Vernachlässigung früherer Lehrer durch gesteigerte Anstrengung zu tilgen im Stande war. Ihre ganze Erscheinung hat die schlummernden oder eingeschläferten Kräfte zum Bewusstseyn und zum Leben aufgeboten. Sie sind Zeuge meiner Bemühungen gewesen, aufmunternder lebendiger Zeuge. Sie haben meiner ganzen späteren geistigen Entwickelung einen mächtigen Impuls gegeben.

Ich bin nun am Schlusse einer zweyten Bildungsperiode. Ich habe seitdem in der Natur, dem classischsten aller Bücher lesen gelernt; ich wühle in den Schriften von Männern, die zwar grösstentheils niederer Art sind, als die, deren Geist Sie uns aufzuschliessen suchten, die aber mit jenen Griechen, zu denen Bedürfniss mich oft zurückführt, die Einfalt und Gesundheit einer heiteren Lebensanschauung, nicht selten auch Ihre Tiefe theilen.

Inmitten der Naturwissenschaften erkannte ich mich in dem mir angewiesenen Elemente. Keine Lücke in mir blieb unausgefüllt, jede Kraft, jede Thätigkeit hatte ihr naturgemässes Object. Erst nun ward mir eine Stelle im Leben klar, werth und wichtig. Die Dämmerung war geschlossen; es begann zu tagen. Die Sprachbildung, [23]die mathematischen Kenntnisse, in deren Weihe ich zum Theil durch Ihre unmittelbare Einwirkung, zum Theil durch Ihre mittelbare Veranlassung eingeführt worden, waren hinterlegte Güter, die ich nach Willen zu anderem Dienste aufrufen konnte. Ich hatte bald eine zu deutliche Einsicht in die mir bevorstehenden Verhältnisse, um zu glauben, das besondere Studium der Medicin dürfe mir überflüssig seyn, um ein gründlicher Naturforscher auf der gesunden Seite des Lebens zu werden. Ich hielt es für wesentlich nothwendig, in der Medicin zu graduiren. Ich glaubte diese Berührung {3} um so nothwendiger, je mehr sich der Naturforscher dem thierischen Factor der Lebensleiter nähert. Ich stand auf dem Puncte das ins Leben [zu] tragen, was ich in mich aufgenommen. Man hat mich vielseitig aufgefordert und es ist mein sehnlichster Wunsch diesen Schritt aufzuhalten und einer freyen Thätigkeit auf die mir gewohnte Weise größere Dauer zu leihen. Mein junges Alter macht mir überdies jenes zur Pflicht. So ist es mein fester Wille und Entschluss, mich ganz und auf immer dem academischen Leben zu weihen. Ich halte mich keineswegs zu diesem Zwecke so vorbereitet, wie ich es wünschen muss; eben so wenig kann ich mit meinen bisherigen Leistungen befriedigt seyn. Der ausserordentliche (Königl.)Königliche Regierungsbevollmächtigte und Curator der Rheinuniversität Herr Geheimrath Rhefues, dessen besonderen Wohlwollens ich mich bisher in nicht geringem Masse zu erfreuen hatte, hat dem Hohen Ministerium der Geistl[ichen] Unt[errichts-] und Med[icinal] Angelegenheiten den Antrag gemacht, meinen beabsichtigten Aufenthalt in Paris in Beziehung auf die engverschlungenen Doctrinen der vergleichenden Anatomie, Zoologie und Physiologie, nebenbey auf practische Medicin und Chirurgie gnädigst zu unterstützen. Auch haben seine Excellenz der Staatsminister und Oberpräsident des Grossherzogth[ums] Niederrhein Freiherr von Ingersleben auf Veranlassung mehrerer Glieder des Medicinalcollegium in Coblenz, die an meinen Fortschritten lebhaften Antheil genommen, diesen Antrag eigens unterstützt. Das Verhältniss in das mich ein glücklicher Zufall früher zu (Ew.)Euer Hochwohlgeboren versetzt, ist zu heilig, als dass es mir nicht zur Pflicht machen sollte, an einer Sache, zu deren Beförderung Ihr Einfluss von der grössten Wichtigkeit ist, ihr Wohlwollen in Anspruch zu nehmen. Diese Aufgabe ist für mich um so einladender, als mir dadurch Hoffnung wird, eine {4} frühere Berührung, aus der Sie zu grössern Arbeiten abgerufen worden, würdiger zu erneuern und zu befestigen. Schon vor anderthalb Jahren verwandte sich Herr Geheimrath Rhefues bey dem Hohen Ministerium um Unterstützung meines Aufenthaltes auf der Universität in Berlin. Die mir gewordene aufmunternde höchstgnädige Antwort kann nicht ohne Ihre Mitwirkung seyn. Sie ist mir ein Beweis, dass (Ew.)Euer Hochwohlgeboren Ihren ehemaligen Schüler nicht vergessen hatten.

Wie sehr man Sie in Ihrem Einflusse auf einen Kreis Ihnen im Grunde fremder Jünglinge früher verkannte, wie wenig vielleicht auch wir fähig waren, diesen Einfluss nach seinem gerechten Mass und Werthe zu würdigen; wie sehr Ihre dringen-[24]den Anforderungen mit dem trägen Gange der Entwickelung einer verwahrlosten Jugend im Widerspruch standen, so bedurfte es doch nur dieses Reizes, um auch in mir die Indignation mit dem bisherigen Zustande rege zu machen. Mit dieser war für ein Individuum, das Kraft genug fühlte, dem ergangenen Rufe froh nachzukommen, viel gewonnen. Ich habe es nicht zu spät erkannt, wie wohlthätig gerade Sie zu uns geführt wurden, gerade Sie zu jener bestimmten Zeit. Ich freue mich Gelegenheit gewonnen zu haben, Ihnen den lebhaftesten Dank auszusprechen. Erlauben Sie mir, dass ich Sie in der Entwickelung meines Geistes einen Hebel erster Grösse nenne. Auch Ihnen darf ich meine Erstlinge in den Naturwissenschaften widmen. Betrachten (Ew.)Euer Hochwohlgeboren die beyliegenden Exemplare als Beweis als Pfand dieser Anerkennung. Ich bin weit entfernt, dass diese Schriften mir ein Recht zu meiner Anforderung und Absicht geben. Ich kann jezt nur Pflichten haben. Ich habe nur Rechte, insofern man nachsichtig {5} genug gegen treue Ausübung der Pflicht mir jene einräumt.

Wie jene Schriften entstanden sind, wird Ihnen aus ihnen selbst klar seyn. In der Preisschrift habe ich zu zeigen gesucht, wie ich über physiologische Gegenstände experimentire, und durch den Versuch dargethan, wie wenig Gewicht auf ein wahrscheinliches Räsonnement aus selbst nur wahrscheinlichen Gründen ohne Basis einer genauen Anschauung des Einzelnen und Besonderen zu legen sey. In der Inauguraldissertation habe ich zu zeigen mich bemüht, auf welche Art ich beobachte und wie ich die eigne Entdeckung mit dem vorhandenen Gemeingute verbinde. Die in der letztern niedergelegten Beobachtungen sind in einer Gesellschaft von Professoren und Studierenden (diesen meist jungen Ärzten) für Beförderung der Naturstudien unter dem Vorsitz meines hochverehrten Lehrers Nees von Esenbeck veranlasst. Gewiss sind (Ew.)Euer Hochwohlgeboren von diesem für wissenschaftliches Leben auf der Rheinuniversität wichtigen Institute unterrichtet, indem es bisher nur unter den Augen des hohen Ministeriums bestand. Ich bin Ihnen schuldig, wenn ich Sie um Beförderung des von Geheimrath Rhefues ausgehenden Antrags bitte, Sie auch mit dem Gange meiner allgemein wissenschaftlichen Bildung bekannt zu machen. Ich handle im Gefühle der Pflicht, wenn ich dabey auf ein ermüdendes Detail eingehe. Ich wünsche, dass Sie diese Darstellung mit derjenigen Aufopferung und Verläugnung lesen mögen, mit welcher Sie einmal die unvollkommenen Schularbeiten des Jünglings durchgesehen haben. Schüler der Natur geworden und in diesem Gebiete zur treuesten Hingabe aufgefordert, bin ich dem besondern Studium der Philologie einigermassen entfremdet. Allein das Studium des Aristoteles namentlich in naturwissenschaftlicher Beziehung hielt mich in dauernder Berührung mit einem mir unter so glücklichem Einfluß {6} vorzüglich lieb gewordenen Bedürfniss allgemeiner und besonderer Bildung. Ich kann es nur mit der grössten Dankbarkeit anerkennen, wie viel ich den interpretierenden und geschichtlichen Vorträgen über den Aristoteles und im Allgemeinen [25]über die alte Philosophie, überdies dem genaueren Umgange mit diesem Manne verschulde. Für das Studium der Philosophie entbehre ich sehr ungern eine Sphäre wie Berlin. Ich habe durch Privatstudien der Schriften des Kant, Fichte und Schelling nach besten Kräften zu ersetzen gesucht, was freylich nur das Bedürfniss nach den Vorträgen eines Mannes wie Hegel nur steigern musste. Ebenso ungern entbehrte ich des Einflusses, den Rudolphi, Link, Lichtenstein auf mich hätten üben können, abgesehen von den Doctrinen der practischen Medicin, obgleich ich mit diesen Männern heimlich durch ihre Schriften befreundet bin. Das Element in dem ich mich bewegen musste, machte mir das Studium der neuern Sprachen, namentlich der mir früher ganz fremden Englischen und Italiänischen Sprache zur unerlässlichen Aufgabe. Ich bin darin durch einen besondern Umstand begünstigt worden. Ich habe unter Verhältnissen gelebt, die mich nöthigten, zur Sicherung meiner Existenz die Nächte oft mit Übersetzungen mich abzumühen, um am Tage sorgenfrey meinen Studien leben zu können. Eine Frucht dieser Lucubrationen ist die sonst mit Liebe unternommene und ausgeführte Übersetzung von Hamilton Observations on the utility and administration of purgative medicines. Dieser Umstand gab mir zur Bestreitung meiner Promotion einen nicht unbedeutenden Beytrag.

Am Ende einer viertehalbjährigen academischen Laufbahn glaube ich mich zu jenem Schritte genugsam vorbereitet, in dem mich Gott und die Menschen unterstützen mögen. Noch während ich (Ew.)Euer Hochwohlgeboren zu schreiben begriffen bin, erhalte ich durch Hr. Geheimrath die sehr aufmunternde Nachricht, daß es dem Hohen Ministerio gefallen {7} habe, den von derselben Behörde ausgehenden Antrag wegen Bestreitung der Kosten meiner Inauguraldissertation zu gewähren. Diese höchstgnädige Anerkennung steigert meine Hoffnungen und zugleich meine Wünsche. Ich habe mich in meiner Vorstellung an den Geheimrath Rhefues über meinen durchzuführenden bestimmten Lebensplan ausführlich, wie es mir nöthig schien, ausgesprochen. Ich habe dort die Motive angegeben, die mich zu dem Einen und dem Andern bestimmen. Ich bin dort jeder nöthigen Anfrage zuvorgekommen. Diese Vorstellung wird auch Ihnen zu Gesichte kommen. Selbst wenn ich Aussicht gehabt hätte, meinen Plan aus eignen Mitteln auszuführen, würde ich doch nicht versäumt haben, um die Aufmunterung der hohen Staatsbehörde zu werben. Diese würde nur dazu beygetragen haben, meinen Absichten einen sichern Grund und gerechten Rückhalt zu geben. Aus demselben Grunde muss ich jedem Mittel, das, wenn es auch an sich unschuldig, die Wissenschaft zum Gewerbe erniedrigt, ausweichen. Ich weiss nicht durch wessen Veranlassung oder durch wessen Schuld mir vor einiger Zeit der Antrag gemacht wurde, in einer ruchbaren gerichtlichen Sache eine nüchterne Prüfung der medicinisch-gerichtlichen Arbeiten zu unternehmen. So groß die Versprechungen und gehäuft die Aufforderungen waren, so sehr sich diese mit den Anforderungen des Gewissens im Einklang [26]standen, ohne welches ich eine solche Anmuthung als Beleidigung hätte ansehen müssen, so sehr ich überzeugt bin, dass einer ernstern Prüfung der Sache von jener besondern Seite noch Vieles vorbehalten seyn dürfte, so sehr musste ich es als Misbrauch meiner schwachen Kraft ansehen, einem solchen Antrage willig zu seyn, wenn ich es auch hätte über mich gewinnen können, andre mir unverletzliche Rücksichten zu tilgen. Mir fiel dabey ein, was einst der alte Schneider dem jungen Pashow erwiederte, als dieser den Veteranen besuchte und seinen Namen gab: Sind Sie der junge Mann, der um in der literarischen Welt sich anzukündigen, auf den schmutzigsten aller Schriftsteller verfallen ist. Ich will lieber, wenn {8} ich es nöthig hätte, auch für meine physische Existenz zu arbeiten, mit Treue und Redlichkeit übersetzen, als einer Arbeit mich unterziehen, die nicht auf dem Gefühle des Berufs ruht, die nicht aus innerem selbstigem Drang mir Bedürfniß geworden. Wenn ich (Ew.)Euer Hochwohlgeboren mit dieser kindlichen Weitläuftigkeit hinhalte, so thue ich dies nur, weil ich glaube, es Ihnen schuldig zu seyn, weil ich mich gerne überreden möchte, dass mein früheres Verhältniss zu Ihnen mir eine freye ungefärbte Darstellung erlaube. Es ist mir ungemein erfreulich gerade jezt zum zweitenmale Ihrem Einflusse zugeführt zu werden. Wollen Sie, geliebter Lehrer, gestatten Sie mir diese Anrede, ich fühle mich im Besitze grösserer Rechte bey diesem Namen, wollen Sie noch mehr für Ihren ehmaligen Schüler thun, der es sich zur Aufgabe gemacht, die Hoffnungen, die man von ihm gehegt hat, und die bey ihm selbstgestellte Forderungen sind, aufrecht zu erhalten? Ihre Stellung macht Ihnen das in vorzüglichem Grade möglich. Zeigen Sie mir den Weg zu einem Ziele, wo ich durch freye Thätigkeit den schönsten und zugleich reinsten Dank für so viele mir gewordene höhere Aufmunterung niederlegen kann. Für jetzt kann ich nur wollen, dass mein Streben immer nur zugleich diese Gesinnungen beurkunde.

Wohlan denn, so habe ich Aussicht, dass diese Gesinnungen unausgesetzt sind, weil es mein Streben ist.

(Ew.)Euer Hochwohlgeboren
ganz ergebenster
J. Müller
Doctor der Medicin aus Coblenz
CC-BY-SA-4.0

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TextGrid Repository (2023). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 18. Februar 1823. Johannes Müller an Schulze. Z_1823-02-18_l.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-C676-D