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Euer Hochwohlgeboren!
Hochverehrter Herr Geheime Ministerialrath!

Heute an meinem 63tn Geburtstage habe ich, nach langem Bedenken,
nach manchem geistigen und gemütlichen Kampf, die Briefe abgesendet,
die für den Rest meines Lebens mein Schicksal entscheiden sollen,
den einen an den Herrn Minister von Ladenberg mit dem Wunsche
meine Entlassung aus dem (könig.)königlichen Dienste bei (Sr)Seiner Majestät in Antrag
zu bringen, den anderen an den (H.)Herrn (Gr.)Grafen v Thun mit der Zusage
der Annahme der Professur in Prag.

Nach diesem wichtigen Schritte ist es mein Erstes, meinen hiesigen
ältesten Gönner und väterlichen Freund mit einigen tiefgefühlten
Worten anzusprechen. - Es ist denn jetzt 27 Jahre, daß ich das Glück
hatte in Berlin in Ihrer Nähe zu weilen und Ihrer freundlichen
Sorgfalt für mein künftiges Lebensglück theilhaftig zu sein.
Alle die Bilder jener Zeit sind tief in meinem Gemüthe eingeprägt,
und überall erscheint mir das Ihrige als mein schützender Genius.
Dieses Andenken könnte nur mit meinem Wesen vernichtet werden.

[326v]Dank! herzlichsten aufrichtigsten Dank! für alle Ihre Güte, Gunst und Nachsicht.

Ich trete jetzt in Verhältnisse ein in denen zu leben, und im nationalen Sinne
wirksam zu sein durch diese ganze Zeit mein geheimer Wunsch, und auch wiederholtes
Bestreben war. In Oesterreich hat sich vieles geändert, und hat den Anschein
noch ferner zum Bessern fortzuschreiten, was mir verspricht daß die Umstände
meinem Streben sich günstig gestalten. Meine Berufung ist zwar nicht mit glän-
zenden Bedingungen begleitet, woran ich größtentheils selbst schuld bin, da ich
keine höheren gestellt hatte: doch ist mir ein Manneswort gegeben, daß sich
dies bald, und zu meiner vollen Befriedigung ändern wird. Und endlich,
man muß wagen zu leben und zu handeln, und so lange man Kraft
fühlt, die Jahre nicht zählen.

Bei meinem Abgange, wo ich viel Liebes und Werthes verlasse,
kann es mir nicht gleichgültig sein, wer in meine hiesige Verlassenschaft
einziehe, und Euer Hochwohlgeboren werden mir erlauben, einen Mann
den ich nach vielem Bedenken meiner Wahl am würdigsten halte
zu gütiger Berücksichtigung als meinen Nachfolger in Vorschlag
zu bringen. Es ist Karl (Thod.)Theodor v Siebold Professor der Physiologie
und Zoologie an der Universität zu Freiburg im Breisgau.

Eine große Zahl Abhandlungen, theils selbständig, theils in verschiedenen
Zeitschriften über Zoologie, Entwicklungsgeschichte der Thiere und (microscop.)microscopische
Anatomie haben seinen Ruf gegründet, zudem ist er von einem sehr
liebenswürdigen Charakter, was bei vielen Universitätsverhältnissen
[327r]eine sehr erwünschte Sache ist. Uiberdies ist er, wie ich glaube ein Sohn
des verstorbenen berliner Professors von Siebold und wird sich gewiß
hier bald heimisch fühlen. Ich glaube es würde kein Fehlgriff sein
ihn an meine Stelle zu rufen.

Endlich kann ich nicht umhin, Euern Hochwohlgeboren die Anglegenheit
der physiologischen Institute dringend ans Herz zu legen.
Das Verhältniß der alten Anatomie und der neuen Physiologie
ist eine Principienfrage und wird gewiß im Fortschritte
der Zeiten ihre Erledigung finden. Doch ist schon der Anfang da,
und nicht die abstracte Zeit, wir in ihr sind die Leiter und Herren
der Ereignisse. Zur Anregung des hiesigen physiologischen
Instituts hat bei mir das Wort des verewigten Hegel
das meiste beigetragen, der, als ich bei ihm über mein
Mißverhältniß zur Anatomie Klage führte, mit fester
Stimme sprach: Sie müssen sich ein eigenes Institut
errichten lassen. So ist es auch geschehen, und
Euer Hochwohlgeboren haben gewiß den meisten Antheil
daran gehabt. Möchten Euer Hochwohlgeboren nun
zu seiner Entwicklung und höheren Vollendung das Möglichste beitragen.
[327v] Mit innigem Interesse werd ich auch in der Ferne an seinem Fortgange
mich erfreuen; und in meinem neuen Wirkungskreise nicht nachzubleiben
mich bestreben. Sie aber möge der Allmächtige noch recht lange
Ihren Angehörigen und Freunden, der Wissenschaft, der Schule
und dem Staate erhalten.

In tiefster Verehrung verbleibe ich
Euer Hochwohlgeboren
dankbar ergebener
Joh. Purkinje.
CC-BY-SA-4.0

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TextGrid Repository (2023). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 17. Dezember 1849. Purkinje an Schulze. Z_1849-12-17_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-D234-9