[72]
Ew. Hochwohlgeboren

erlauben, daß ich dießmal punctweise so kurz als möglich antworte; meine bevorstehende Reise nach Marienbad nöthigt mich, manches eiligst zu beseitigen.

  • 1) Sehr angenehm ist mir zu hören, daß der Apparat glücklich angekommen und Sie sogleich bey günstiger Witterung damit zu versuchen angefangen.
  • 2) Sende einen Nachtrag und wünsche, daß er bey Ihrem Vorhaben nützlich seyn möge.
  • 3) Der richtige Weg, den Sie so ernstlich verfolgen, freut mich im Innersten; alles, was Sie in Ihrem Briefe1 abermals sagen, hat meine vollkommene Beystimmung.
  • 4) Geben Sie ja genau acht, wenn Sie die Versuche vermannichfaltigen; Sie entdecken gewiß neue Bezüge, und es kommt alles darauf an daß wir diese gewahr werden. Das wünschen und wollen wir zu Gründung eines wahrhaften Wissens.
  • 5) Eben so, wie Sie weiter vorschreiten, wäre es auch möglich, daß Sie an meiner Arbeit einiges zu berichtigen fänden.
  • 6) Ich bitte sogar auf Druckfehler acht zu haben.
  • 7) Wie ich Sie denn ersuche, das Geschichtliche immer vollständiger zu machen.
  • [73]8) Ich bereite eine neue Ausgabe meiner , Schriften und literarischen Nachlasses vor, dieses selbst oder allein leisten zu wollen wäre Verwegenheit. Für den ästhetischen und artistischen Theil interessiren sich ältere Freunde; wollten Sie den chromatischen und vielleicht den ganzen physischen übernehmen, so übersendete meine sämmtlichen Papiere und wir könnten noch, so lang wir auf einer Erde zusammen sind, uns darüber vollkommen verständigen.
  • 9) Dies würde gegen Michael geschehen können, da Sie denn nach abgehaltenen Vorlesungen sich schon des ganzen Feldes Meister gemacht hätten. Alsdann würde Ihr Geschäft seyn, den dritten Theil der Farbenlehre zu redigiren und mit eigenen Erfahrungen, Einsichten und Überzeugungen an's Ganze anzuschließen und dadurch Ihren Beruf zu solchem Geschäft vollkommen zu legitimiren.
  • 10) Und so billige ich vorerst denn auch sehr, daß Sie der Lockung der Frauenzimmer widerstehen und erst in männlichen Geistern diese Ansicht zu erwecken suchen. Die Mehrheit der Welten war lange anerkannt, eh' Fontenelle durch eine hochgebildete Gesellschaft genöthigt wurde sie galant vorzutragen. Auch hier würde man die Methode umkehren und von Seiten des Geschmacks beginnen. Steht doch einer Blondine Blaßgelb und Veilchenblau ganz gut; warum schmückt sich die Jugend so gern mit Rosenfarb und Meergrün? Eine tüchtige Brünette hat Himmelblau und Orange [74]nicht zu fürchten, doch wird immer ein gewisses Zartgefühl diese Gegensätze nicht in ihrer elementaren Entschiedenheit, sondern in einem gewissen ausweichenden Schwanken sich anzueignen suchen. Muster-Charten von ältern und neuern Kleiderstoffen erweisen hier gute Dienste. Verzeihung dem Voreilen! Doch ist alles gut zu bedenken und vorzudenken, denn die Stunde rennt.
  • 11) Auch leg ich noch ein paar Abdrücke meiner Tabelle2 bey. Bemerken Sie sorgfältig, was daran gefordert und gefördert werden könnte: denn ob ich gleich überzeugt bin, daß ich die Farbenlehre wohl gegründet habe, so ist doch das Aufbauen und Nutzbarmachen gränzenlos.
  • 12) Ihr Vorsatz, unter dem didaktischen Vortrag nicht polemisch zu werden, ist sehr zu billigen. Ich habe, wie Sie gewiß bemerken, meinen didaktischen Vortrag polemisch gestellt. Die sämtlichen Paragraphen von 197 bis 282 gehen darauf hinaus, das erste Newtonische Experiment der Optik zu entwickeln, damit man die Nichtigkeit der daraus gezogenen Folgen ohne Controvers gewahr werde.
  • 13) Ferner empfehle die Vorrichtung von §. 284. Ich wollte sie mitschicken, kann sie aber nicht finden, da mein Apparat zwischen hier und Jena getheilt ist.
  • 14) In diesen Tagen empfehle zur Mittagszeit die Beobachtung des weißen Kreuzes um den ganzen Himmel; zugleich auch den Kreis um die Sonne, wo [75]das schwarze Kreuz unvermuthet eintritt. Ich bin geneigt, hier dieselbe Cirkelgränze zu sehen, welche die nächsten Halos um die Sonne hervorbringt. 3

  • Neulich am hohen Mittag, bey sehr dunstiger Atmosphäre, stand die Sonne im Centrum eines dunklen Diskus, der sich nach außen mit einer gelbrothen Einfassung endigte. Mit Hülfe eines wohlwollenden Astronomen kommen sie der Sache gewiß näher.
  • 15) Müßte sich denn doch ein junger geistreicher Geometer im antiken Sinne, an uns anschließen; sollte denn das eigentliche Anschauen aus diesen Studien ganz verbannt seyn?
  • 16) Ich widme Ihrer Anstalt die einzige mir noch übrige sehr getrübte Glastafel. Sonne und das Erhellteste erscheinen blutroth. Wenn Sie solche in vier Täfelchen schneiden und stufenweise schleifen lassen, so erhalten Sie einen schönen Apparat zur Hauptdarstellung.
  • 17) Auch fand sich noch ein Exemplar der optischen Beyträge mit den Charten. Ein ernstes Lächeln wird Sie überraschen, wenn Sie sehen, wie ich in der Dämmerung meine Schritte dem lichten Horizont zurichtete, wo ich voraussah, daß die Sonne aufgehen müßte.
  • 18) Die beygehenden Exemplare bitte mit den schönsten Grüßen und Empfehlungen auszutheilen.
  • [76]19) Gedenken Sie mein, aus dem chamäleontischen Glase mit Freund und Freundin ergötzlichen Trank schlürfend.
  • 20) Versäumen Sie nicht, mir nach Böhmen zu schreiben, und addressiren den Brief nach Eger an Herrn Polizeyrath Grüner.
 treulich theilnehmend
J. W. v. Goethe
.
Notes
2
Vgl. Goethe_1822, Zu Seite 241.
3
Der erste Bogen der verschollenen Ausfertigung endete mit „her-“ und ging, wohl versehentlich, bereits am 13. Juni ab; vgl. WA IV, 36, 352 (zu Brief Nr. 66).
CC-BY-SA-4.0

Editionstext kann unter der Lizenz „Creative Commons Attribution Share Alike 4.0 International“ genutzt werden.


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2023). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 13./15. Juni 1822. Goethe an von Henning (Konzept). Z_1822-06-15_c.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-C406-D