[]

Auch Einer

von denjenigen nemlich — — — kurz, man versteht mich.

Wer es darf, hebe den ersten Stein gegen ihn auf! Ich meinestheils gedenke es nicht zu thun.

Ich traf ihn auf dem Dampfboot, mit dem ich auf einer Schweizerreise über den Zuger See fuhr. In der bunt zusammengewürfelten Gesellschaft, die sich auf dem Verdeck umtrieb, hätte ich ihn schwerlich bemerkt, wenn nicht ein besonderer Umstand mein Auge auf ihn gelenkt hätte. Es befand sich unter den Passagieren ein junger Mensch, jeder Zoll ein Geschäftsreisender in Baumwolle, Cigarren oder Rothwein, der sich durch sein vorlautes und eitles Wesen lästig machte. Er schien gekommen, um über Alles zu spotten, was er sah und genoß; bald gieng es über den Mittagstisch her, von dem er kam, bald über die Einrichtung des Boots, bald über den Schweizerdialekt, den er mit den halb gestoßenen, halb verschwommenen Lauten []des eigenen Idioms unglücklich genug nachzuahmen suchte; die Berge waren ihm nicht hoch, der See war ihm nicht breit genug, er vergliech sie zu ihrem Schaden mit skandinavischen, irischen, amerikanischen, und die ganze Gesellschaft mußte hören, wie weit er in der Welt gewesen sei. Er spielte den Kunstkenner, sprach von Tinten, Lasuren, Clair-obscur, Konturen, versicherte übrigens, die „Schanga-Malachai“ sei mehr sein „Pangschang“, als die Landschaftmalerei. Dabei wandte er sich öfters an einen ernsten Mann, den ich schon an der Wirthstafel in Zug bemerkt, der mit uns das Dampfschiff bestiegen hatte und der dem Lästigen ein beharrliches Schweigen entgegenhielt. Durch diesen Kontrast wurde meine Aufmerksamkeit auf die Erscheinung des stillen Fremdlings hingezogen. Man konnte seine Züge nicht eben interessant nennen, aber es war jenes Etwas darin, das man nicht eben häufig findet und das Wenige zu bemerken pflegen, — jenes Etwas, wozu man sagen möchte: wieder einmal ein Mensch. Allerdings lag auch eine Art von Beschattung, etwas wie ein dunkler Flor darüber. Wenn sein Blick an den waldigen Ufern, am Rücken und steilen Gipfel des Rigi aufstieg, oder über die schimmernde Fläche des hellgrünen Sees hinlief, so meinte ich ihn öfters mit einem gewissen müden Ausdruck von seiner Bahn zurückkehren zu sehen, als wollte er sagen: das Alles könnte schön sein, wenn nur — Was dem Wenn in []seiner Seele folgte, war freilich aus dem Blicke nicht zu lesen. Der unbescheidene junge Mensch schien es auf den Schweigenden gemünzt zu haben und ließ einmal ziemlich hörbar etwas von catonischer Würde fallen, als derselbe einem erneuerten Versuch, ihn in's Gespräch zu ziehen, mit der gewohnten Stummheit begegnete und ihm etwas auffallend den Rücken kehrte. In Immensee stieg ich in den Postomnibus, der damals nach Küßnacht führte, ein Theil der Dampfbootgesellschaft fand sich hier wieder zusammen, darunter der Geschwätzige, der dem Stummen gegenüber zu sitzen kam. Als wir durch die hohle Gasse fuhren, ließ er einige frivole Witze los, deren Wiederholung dem Leser billig erlassen wird, machte sich hierauf an die Telltradition, spielte sich als historischen Kritiker auf, indem er einige unverdaute Brocken von „bloßer Sage“ vorbrachte, erklärte die Sage für eine pure Erfindung der schweizerischen Selbstgefälligkeit, kam von da auf die nächste politische Vergangenheit zu sprechen, spottete über die kriegerischen Rüstungen, die im Jahr 1856 die preußische Drohung hervorrief, und ergoß sich nun in einen Schwall von höhnischen und prahlerischen Reden, der mir solchen Widerwillen erregte, daß ich im Begriff war, den Schwätzer mit heftigem Wort anzulassen. Dieser aber wandte sich plötzlich an den stillen Mann gegenüber und fragte ihn frech: „Nun, was sagen Sie dazu?“ Ueber dessen Gesicht war schon []eine Zornröthe gefahren, die Augen funkelten, er erhob sich und mit mächtiger Stimme rief er: „Was ich dazu sage? Daß Sie nicht unter gebildete Menschen gehören, daß es gemein ist und Ekel erregt, ein ehrwürdiges Heldenbild, woran seit Jahrhunderten ein braves Volk hinaufschaut, mit Schmutz zu bespritzen; die verkehrte Politik eines an Macht überlegenen Staates um ein Nichts“ — hier, mitten im Zug, Schwung und kräftigen Schall seiner Rede überfiel ihn plötzlich ein krampfhafter Hustenreiz, die Stimme überschlug sich in lächerliche Fisteltöne, knirschend vor Aerger fuhr er in die Höhe, rieß den Wagenschlag auf, sprang hinaus, blieb am Tritt, hängen und fiel zu Boden in den dichten Staub des Weges. Die langsame Bewegung des Wagens aus einer Steigung des Wegs ließ unserem Geschäftsreisenden Zeit, den Kopf aus dem Fenster zu strecken und dem so peinlich unterbrochenen Gegner ein schallendes Hohngelächter nachzusenden, die Mitfahrenden, obwohl sichtbar theilnahmvoll für Letzteren gestimmt, konnten des Lachens sich doch auch nicht ganz erwehren, und ich selbst, im Stillen schnell sein Freund geworden, betroffen und stutzend und für ihn beschämt, konnte ein Zucken der Lachmuskel nicht unterdrücken. Der Gefallene aber hatte sich schnell aufgerafft, über und über mit Staub bedeckt stand er und rief uns mit vernehmlicher Stimme nach: „Amplificatio, Ignoranten, amplificatio!“ — []Der Kondukteur hatte inzwischen halten lassen, er winkte ihm, weiter zu fahren, dann sah ich ihn umkehren und in entgegengesetzter Richtung forteilen. Das Wort gab mir zu denken; der nächste Sinn war unschwer zu finden, allein es schien auf einen Zusammenhang sonderbarer Art, auf eine Klassifikation, auf ein System zu deuten, gab zu rathen, was für ein System das denn sein möchte, und von da weiter zu rathen über den ganzen Mann, der mir so würdig und ernst erschienen war, den jetzt ein lächerliches Mißgeschick ereilt, der dessen offenbar schon viel erlebt hatte und dem das Erlebte längst ein Anreiz zu seltsamem Denken geworden sein mußte. Völliges Licht über den Zuruf sollte mir freilich erst in sehr später Zeit werden.

Inzwischen gab sich der Ungezogene ganz dem Genusse seines unverdienten Triumphes hin, unter gellendem Gelächter machte er sich in frechen Reden lustig über den unglücklichen Gegner. „Wo mag er nun wohl stecken? Ob er nun wohl seine Rede als Monolog hält, schreibt und herausgibt?“ In diesem Tone ging es fort. Rasch hatte in mir über den augenblicklichen Lachreiz die Theilnahme den Sieg gewonnen, die Geduld gieng mir aus und ich fuhr den Menschen an: „Herr! nun ist es genug!“ Alsbald bekam ich Beistand von der Gesellschaft, ein Erster, Zweiter, Dritter stimmte ein, und als das Subjekt widerbellte, erklärte man ihm, daß es länger nicht im []Wagen geduldet werde. Da nun wenig Aussicht vorhanden war, daß der Bedrohte freiwillig dieser Einladung oder eigentlich Ausladung folgen werde, so stand offenbar Geringeres nicht bevor, als jener thätliche Akt, den man mit dem Ausdruck „an die Luft setzen“ zu bezeichnen pflegt. Unterdessen hatte der Kondukteur vom Bock aus, wo er neben dem Postknecht saß, längst unwillige Blicke durch das offene Wagenfenster hereingeworfen, er ließ plötzlich wieder halten, sprang vom Bock, öffnete den Wagen, rief dem Friedensstörer zu, seine Vorschrift befehle ihm, ungesittete Personen, welche die Fahrgesellschaft beleidigen, aus solcher auszuweisen; er habe auch über die Schweiz gespottet und sei „einen unverschamten Mansch“. Da nun der „Mansch“ nicht zweifeln konnte, daß der ehrsame Schirrmeister, wenn seinem Befehl nicht freiwillig Folge geleistet würde, in handgreiflichem Einwirken hinreichende Unterstützung bei der Gesellschaft fände, so blieb ihm keine Wahl, als weichen. Er stieg aus, der Kondukteur nahm, einige Worte vor sich hinmurmelnd, aus denen ich das minder gewählte „Lausbub“ herauszuhören glaubte, seinen Platz auf dem Bock wieder ein und bald waren wir in Küßnacht, wo ich das Dampfboot bestieg, um nach Luzern zu fahren und dort zu übernachten.

Der See funkelte im Feuer der Abendsonne, die Thürme der Stadt leuchteten in ihrem Golde, eine []Rosenwolke kränzte das Haupt des Pilatus. Ich vergaß das halb ärgerliche, halb lächerliche Abenteuer des Reisetags zugleich mit allen Dornen und Nesseln der menschlichen Lebensreise. Am andern Morgen fuhr ich mit dem Dampfer ab, der nach Flüelen führte; meine Absicht war, den herrlichen See in seiner Ausdehnung zu beschauen, dann weiter zu Fuß bis zur Teufelsbrücke oder bis Andermatt zu gehen, um ruhig die vielgepriesene wilde Schönheit des Gotthardpasses zu betrachten. Halb und halb gedachte ich, schon in Brunnen auszusteigen und auf der kürzlich vollendeten Axenstraße nach Flüelen zu wandern. Eine der Stationen des Dampfschiffes ist, wie Jeder weiß, der den See befahren oder seinen Bädeker studirt hat, Weggis am rechten Ufer. Ich stand am Geländer und sah zu, wie die Einen aus-, die Andern einstiegen. Da gewahrte ich unter den Letzteren meinen Mann, den Mann der Tragödie von gestern. Er sah heute ungleich heiterer aus; mit rüstigen Schritten betrat er das Verdeck und grüßte mich ganz unbefangen, als er mir von ungefähr in's Gesicht sah und den Mitreisenden vom vorigen Tag erkannte. Dieß ermuthigte mich, ihn zu fragen, woher er komme. „Vom Rigi herunter,“ war die Antwort. „Wie? in der kurzen Zeit?“ — „Will nicht viel heißen; gestern Abend hinauf, in der schönen Mondnacht herunter.“ — „Wie war's? Schön, nicht wahr? Es war ja ein prächtiger Abend.“ []— „Wohl, wohl! Nur viel Bildungsvolk oben! Werden die Berge bald vollends wegätzen. Fehlt ein Abschreckungs-Bädeker, daß es wieder einsam würde und stille Menschen ein vertrautes Wort mit der Natur reden könnten oder von ihr anhören. Wollte auch Morgens den Kerl nicht erleben, der in alter Schweizertracht den Kuhreigen bläst zum Sonnenaufgang, dann im Gasthof sein Trinkgeld einzieht; daher ab, fort, weg noch in der Nacht!“ Damit wandte er sich, flüchtig grüßend, von mir und hielt sich seitab wie Einer, der allein sein will. Er war nun wieder der trüb-ernste Mann und saß so versunken in sich wie gestern. Am Tisch auf dem Verdeck entspann sich ein lebhaftes Gespräch über eine Umgestaltung des Rütli, die damals im Plane war; es handelte sich darum, saubere Wege anzulegen, die drei Quellen in irgend einer Weise zu fassen, und die Meinungen giengen darüber auseinander, ob es passender sei, nur mit schonender Hand die gegebene Natur einigermaßen zu regeln oder bei Fassung der Quellen architektonische Kunstformen anzuwenden, und wenn dieß, in welchem Styl, klassisch, Renaissance, romanisch oder gothisch. Mein Mann wurde aufmerksam, blieb stehen und hörte mit sichtbarem Interesse dem wachsenden Eifer zu, womit die verschiednen Ansichten sich aussprachen, wobei Schweizer und Deutsche, Herren und Damen in bunter Mischung sich betheiligten. Er nahm Platz am Tische, ließ sich sogar ein Glas []Wein kommen, zündete eine Cigarre an und man konnte sehen, daß er sich anschickte, sich lebhaft in's Gespräch zu mischen. Einer der Herrn erklärte sich soeben für die Wahl klassischer Formen, für eine Säulenhalle. Jetzt begann der Ankömmling von Weggis: „Bitte, mein Herr, verzeihen Sie — Klassisch? ei, das wäre ja der reine“ — Der Herr fiel ihm in's Wort, diesem ein Zweiter, dem Zweiten eine Frau, es gab ein krauses Durcheinander von Stimmen; eine augenblickliche Pause schien wieder Luft zu gewähren, er setzte wieder an, das Wort wurde ihm wieder aus dem Munde geschnellt, so noch ein drittes Mal, dann fuhr er auf, mit einigen starken Schritten auf mich los, faßte mich ziemlich derb am Arm, zog mich hinweg und sagte: „Da haben wir wieder das Menschenvolk! Und darunter sind erst noch Schweizer, Republikaner! Selbstregierung bei Menschen, die nicht einmal warten können, bis ein Mitmensch ausgeredet hat? Reif für Tyrannenstock! Und Sie sind gewiß so klar, nicht zu meinen, ich sei bös um meinetwillen; ich empöre mich ganz gleich für Jeden, der plump unterbrochen wird. Durch alle Nationen, durch alle Stände geht die Unart! Wenn die Schwätzschüssel aufgesetzt ist: wie junge Hunde sind sie, die mit den Pfoten in den Milchnapf tappen! Wie könnten solche Wesen je einen vernünftigen Staat bilden! Blindes, wirres Pack die ganze Menschenheerde! Der Freiheit unwürdig!“ Während ich []ihn befremdet, nach einer Antwort suchend, ansah, schien sein Zorn schnell wieder dem stärkeren Interesse am Gegenstand des Gesprächs zu weichen. „Was sagen Sie zur Sache?“ fuhr er nach kurzer Pause fort. Ich gestand, nicht darüber nachgedacht, mir keine Ansicht gebildet zu haben. Dieß Wort versetzte ihn sichtbar in eine lehrhafte Stimmung. Mit dem Ausdruck und Ton, womit man zu gründlicher Behandlung eines Themas auszuholen pflegt, begann er: „Sie haben mir Zutrauen eingeflößt“ — Ich bewegte die Lippen zu einer Erwiderung, er schien zu merken, daß ich etwas von redlicher Theilnahme bei dem gestrigen Vorfall anzudeuten im Begriff war, und sagte kurz und scharf: „Lassen wir das,“ dann knüpfte er an seine vorigen Worte wieder an: „Die vorliegende Frage ist eigentlich ohne Belang; ich meine im Grund auch, man sollte das Rütli lassen wie es ist; da aber doch einmal Hand daran gelegt werden soll, so drängt sich die Stylfrage auf; ich beschäftige mich gern mit Kunstgeschichte, insbesondere Geschichte der Architektur; sie liegt noch ganz im Argen; man hat den Begriff des Wesens der historischen Hauptstyle noch nicht entdeckt, und wie will man einen neuen finden, wenn man solchen nicht aus dem rechten Grunde des Begriffes schöpft? Ich erlaube mir, Ihnen meine Idee vorzutragen; es macht eben Jeder gern Propaganda für seine Gedanken, seine Entdeckungen. Ich unterscheide []den rein katarrhalischen Baustyl: dieß ist der klassische; ferner den gemischt katarrhalischen oder den Katarrhund Frostbeulenstyl: dieß ist der gothische, mit einer Vorstufe, dem romanischen, mit dessen Ergründung und schärferer Begriffsbestimmung ich noch beschäftigt bin; der Renaissancestyl, wie er aus dem römischen hervorgegangen, gehört einerseits noch zur rein katarrhalischen Form — schon wegen seiner Vorliebe zu Hallen und Loggien —, enthält aber andererseits Keime, um aus ihm den Zukunftsstyl, den einzig richtigen, den absoluten Styl, das heißt den reinen Segensstyl zu entwickeln.“

Ich starrte den eifrig Vortragenden in großer Verblüffung an; ich mochte unbeschreiblich dumm aussehen. Er ließ sich nicht stören, sondern fuhr sehr ernst fort: „Sie erkennen doch, daß im klassischen, das heißt rein griechischen Styl Alles auf den Ausdruck des Satzes angelegt ist: hier, auf diesem windigen Peribolos, hier in diesen zugigen Säulenhallen, hier in diesem kühlen, lichtlosen oder (wenn der Tempel ein hypäthrischer ist) erst doppelt zugigen Heiligthum wirst du, mußt du — wenigstens gewiß, wenn du ein Nordländer bist — dich verkälten! — Glauben Sie mir, verehrter Herr, der Anblick solcher Räume in einem Gemälde kann allein schon gefährlich werden. Als ich in Paris zum ersten Mal die Hochzeit zu Cana von Paolo Veronese sah, als ich nur in Gedanken mit dieser glänzenden Gesellschaft []in der offenen, luftdurchzognen Halle verweilte, habe ich mir einen meiner bösesten Schnupfen geholt. Wo soll man die Stimmung herbringen, ein solches Gemälde froh zu betrachten, zu bewundern? — Was wir dagegen aus dem klassischen Baustyl allerdings entlehnen, wie das Entlehnte echt symbolisch weiterbilden sollen, darüber nachher, wenn ich in meiner Auseinandersetzung zum wahren Ideal- oder Segensstyl gelange. Um nun zum gemischt katarrhalischen oder Katarrh- und Frostbeulenstyl überzugehen — er ist für Nordländer geschaffen in einer Zeit der Rohheit, da man nicht wußte, daß das Geschlossene noch nicht genügt, so —“

Er hatte schon bei den letzten Sätzen begonnen, langsamer, unterbrochener, zerstreuter zu reden, die Stimme sank, die Züge verfinsterten sich und es fiel mir seltsam auf, daß er stark einwärts schielend auf seine Nasenspitze hernieder sah. Bei den letztgenannten Worten hielt er plötzlich inne und sagte in gedehntem, tiefem, dumpfem, eigentlich tragischem Tone vor sich hin, als wisse er nicht mehr, daß er im Gespräch mit einem Andern begriffen sei: „Sie glänzt.“

Er lief plötzlich weg, ließ mich ohne alle Entschuldigung stehen und wandte sich dem fast leeren Platz zweiter Klasse zu. Hier sah ich ihn heftig auf und ab gehen, dunkle Worte vor sich hinmurmelnd, von denen ich, behutsam mich nähernd, doch einmal deutlich den Satz heraushörte: „Den haben mir die Ungeheuer, die []Kellner auf Rigi-Kulm hingelaufen; — also jetzt zum alten und halbalten ein neuer!“ —

Ich konnte keinen Versuch machen, mit dem Manne noch einmal anzuknüpfen; Alles sah darnach aus, daß ich heftig abgewiesen würde. Was der gemischt katarrhalische Baustyl, was der reine Segensstyl sei, das sollte mir im Schooß des ewigen Dunkels verborgen bleiben, wenn nicht ein glücklicher Zufall mir noch zum Lichte verhalf. Ich stieg in Brunnen aus, um einen ruhigen Abend in dem freundlichen Dorfe zuzubringen, das in die Verengung des Sees so reizend sich einschmiegt, und entschloß mich nun gleichzeitig, den andern Tag bis Flüelen auf der neuen Axenstraße zu gehen, nahm ein Zimmer im nächsten Wirthshaus und suchte schnell wieder das Freie, um von der Landungsstätte den großen Blick aufwärts und abwärts über den See, über die wilden und doch am Fuße so anmuthig bekränzten Ufer zu gewinnen. Auf der Bank vor dem Hause saß mein Mann; ich hatte nicht bemerkt, daß er mit mir ausgestiegen war. Er schien alles Leid vergessen zu haben, denn er spielte wie ein Kind mit zwei jungen Hunden, deren Hanswurstpossen ihm sichtbar ein volles, ungetheiltes Vergnügen bereiteten. Ich blieb stehen und hatte meinen Spaß an dem Anblick. „Sind Sie auch ein Hundsfreund?“ fragte er ganz heiter; ich bejahte es, er ergieng sich in Bemerkungen über die Rasse der drolligen Gesellen, []die von mehr als gewöhnlicher Kennerschaft zeugten, er zeigte mir an beiden eine Reflexbewegung, von der er behauptete, sie komme fast ohne Ausnahme bei allen Hunden vor; er kratzte nämlich scharf an einer Stelle der Brust, worauf alsbald der eine Hinterfuß in ein heftiges, unwillkürliches Scharren gerieth; ich meinte, es sei dieß keine bloß physiologische Action, der Hund meine, scharren zu müssen, weil er durch das Kratzen gekitzelt werde; er bestritt es heftig als eine „seicht rationalistische“ Deutung, und ich bemerke gelegentlich, daß ich nach vielen seither gemachten Beobachtungen diesem Gelehrten Recht geben muß; wir plauderten dieß und das über den ehrlichen Gespielen, Diener, Wächter des Menschen, und mein Mitfreund des wackeren Geschlechts bedauerte schließlich lebhaft, daß er ein prächtiges Paar, einen großen Hatzrüd und einen Rattenfänger habe zu Haus lassen müssen; der erste sei „ganz ein Charakter, der zweite Charakter mit Frechheit und Humor“. Ich fragte, ob ich ihn nicht zu einem kleinen Spaziergang einladen dürfe, die Abendbeleuchtung sei so schön; er schüttelte lächelnd den Kopf und sah mit erklärendem Blick auf seine zwei Hunde. Ich gieng allein.

Später, beim Abendessen, sah ich den seltsamen Kauz nicht; als ich aber nachher im Vorbeigehen einen Blick in die allgemeine Wirthsstube warf, entdeckte ich ihn mitten unter breitschulterigen Bürgersleuten, größ []tentheils in Hemdärmeln; er lauschte mit glänzenden Augen den rauhen Rachentönen des lauten Gesprächs und den wiehernden Jodlern, die es unterbrachen, und das Durcheinander der Stimmen schien ihn dießmal durchaus nicht zu belästigen. Das Bild erschien mir so heiter naiv, daß ich fast bedauerte, nicht dasselbe Theil erwählt zu haben, denn ich war langweilig genug unter einigen steifen Theegesichtern in der „salle à manger“ gesessen, wozu ich das früher einfache Landwirthshaus emporgeschraubt finden mußte.

Ich konnte lang nicht einschlafen, hörte meinen Wandnachbar in sein Zimmer treten, sich auskleiden und zu Bett legen. Das Haus war so hörsam, daß selbst das Nagen einer Maus im Nebenzimmer meinem Ohre nicht entgieng. Den unbekannten Bewohner desselben hielt ich für längst eingeschlafen, als ich die Worte vernahm: „Ach, es fängt an.“ Es war die Stimme meines armen Verkälteten. Was denn auch wirklich anfieng, war ein scharfes Husten und häufiges starkes Räuspern und Spucken, das, von tiefen Seufzern unterbrochen, zu meiner eigenen Qual wohl eine Stunde dauerte, dann aber einem fürchterlichen Schnarchen Platz machte, das im ganzen Register einer Orgel sich hin und her bewegte, oft von stoßenden, plötzlich abschnappenden Tönen und bangen Pausen unterbrochen, worin der musikalische Schläfer nach Athem zu ringen schien. Ich hätte ernstlich für seine Lunge gefürchtet, []wenn nicht seine Gesichtsfarbe, gewölbte Brust, Energie der Bewegungen, wie ich sie während des Tags beobachtet hatte, eine ausdauernde Widerstandskraft verbürgt hätten. Endlich schlief ich doch selbst ein, freilich nur, um sehr früh geweckt zu werden und zwar durch ein Auf- und Abgehen meines Nachbars, das mit Geräuschen wechselte, aus denen ich auf ein ungeduldiges Suchen in Schubladen, auf Tischen, in allen Geräthen des Zimmers schließen mußte. Das Laufen, Stöbern wurde immer heftiger, ein Selbstgespräch, das diese wilden Bewegungen zuerst leis begleitete, wurde lauter und lauter und gieng dann in wüthende Ausrufungen, endlich in einen Hagel von Flüchen über, die in der That nicht christlich, vielmehr türkisch, ja heidnisch zu nennen waren und von einem wüthenden Stampfen und Wettern begleitet wurden. Ich hielt es nicht mehr aus, der Mensch schien mir rein toll geworden, ich kleidete mich flüchtig an, klopfte an seiner Thüre und trat, in meiner Aufregung die Form vernachlässigend, in's Zimmer, ohne auf das „Herein“ zu warten. Mit zornsprühenden Augen, hochroth im Gesicht, fuhr der Bewohner auf mich zu, er schien mich an der Kehle packen zu wollen; plötzlich aber faßte er sich, stand unbewegt vor mir, sah mich mit durchdringendem Blick an und sagte ruhig streng: „Mein Herr, Sie führt ein Bildungsbedürfniß hierherein.“ Das schlechte Gewissen, das ich über meine []Formverletzung hatte, machte mich wehrlos, ganz kleinlaut sagte ich: „Ja,“ und fragte nun, was er denn aber um's Himmels willen eigentlich habe. A. E. — so wollen wir meinen Reisebekannten von nun an der Kürze halber nennen — fiel jetzt wieder in seinen Wuthzustand und schrie mit Donnerlaut: „Meine Brille, meine Brille! Die Canaille hat sich ja wieder einmal verkrochen, — vom Schlüssel, dem kleinen Teufel, vorerst nicht zu reden!“

„Also Ihre Brille suchen Sie? Ist dieß Objekt es werth, in solche Wuth zu gerathen? Kennen Sie denn auch gar keine Geduld?“

Er wollte gegen mich auffahren, faßte sich aber auch dießmal wieder, sah mich an und sagte: „Schraubenschlüssel? Pfropfzieher?“

„Was soll das?“

„Nun, neulich träumte mir schrecklicherweise, ich habe eine Frau; ich lachte sie aus, daß sie die Zeitung unaufgeschnitten lese und jahrelang eine Schublade dulde, die nicht geht. Hierauf hielt sie mir eine Geduldpredigt und verlangte, ich solle zur Uebung dieser Tugend an meinem Rock statt Knopflöcher und Knöpfe Schrauben und Schraubenmüder tragen, die sich ja ganz elegant von blau angelaufenem Metall herstellen ließen, oder auch Pfröpfe, und ich könne jedesmal, wenn ich den Rock öffnen wolle, jene mit einem Schraubenschlüssel, diese mit einem Pfropfzieher aufmachen. — O was! ein Weib []ist fähig, über einen Schrank einen Teppich so zu legen, daß er über die oberste Schublade überhängt und so oft diese gezogen und geschlossen wird, sich einklemmt! Mein Herr, das Weib hat Zeit für den Kampf mit dem Racker Objekt, sie lebt in diesem Kampf, er ist ihr Element; ein Mann darf und soll keine Zeit hiefür haben, er braucht seine Geduld auf für das, was der Geduld werth ist. Ueber die Zumuthung, Beides zu verwenden gegen das Unwerthe, kann, darf, soll er wüthen! Sie können doch wissen, daß die elenden Objekte, diese Igel, diese Nickel, sich nie lieber einhaken, als wenn wir die höchste Eile haben, etwas fertig zu bringen, was nöthig und vernünftig ist! Elender Bettel, nichtswürdiger Knopf oder Knäuel eines Bändels, Lorgnettenschnur, die sich um meinen Westenknopf wickelt, just wenn es auf der Eisenbahn auf's Aeußerste eilt, einen klein gedruckten Fahrplan nachzusehen, ich hab' ja keine Zeit, keine Zeit für euch! Und wenn ich tausend Blutigel an die Ewigkeit setze, sie ziehen mir nicht eine Sekunde Zeit für euch heraus!“

„Was nützt aber die Wuth?“

„O, geistlos! Hat es Luther nichts genützt — falls von Nutzen die Rede sein soll —, wenn er den Teufel fortschalt? Wißt ihr denn nichts von Entlastung der armen Seele? Von der köstlichen Arznei, die im Fluchen liegt?“

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Der böse Geist kam mit neuer Gewalt über ihn, er schoß wüthend im Zimmer hin und her und ergoß eine Flut von Schimpfwörtern auf die arme Brille. Ich suchte inzwischen am Boden herum; ich hob ein paar Hemden weg, die blank, aber zerzaust umherlagen, und mein Blick fiel auf ein Mausloch in einem Bretterspalt; ich glaubte darin etwas schimmern zu sehen, strengte meine Augen an, die sich einer guten Sehkraft erfreuen, und die Entdeckung war gemacht; ich nahm den schwergeärgerten Mann leicht am Arm und deutete schweigend auf die Stelle. Er stierte hin, erkannte die vermißten Gläser und begann: „Sehen Sie recht hin! Bemerken Sie den Hohn, die teuflische Schadenfreude in diesem rein dämonischen Glasblick? Heraus mit dem ertappten Ungeheuer!“

Es war nicht leicht, die Brille aus dem Loch zu ziehen, die Mühe stand wirklich in Mißverhältniß zum Werthe des Gegenstands, endlich war es gelungen, er hielt sie in die Höhe, ließ sie von da fallen, rief mit feierlicher Stimme: „Todesurtheil! Supplicium!“ hob den Fuß und zertrat sie mit dem Absatz, daß das Glas in kleinen Splittern und Staub umherflog.

„Ja, jetzt haben Sie aber ja keine Brille,“ sagte ich nach einer Pause des Staunens.

„Wird sich finden, diese Teufelsbestie wenigstens hat ihre Strafe für jahrelange unbeschreibliche Bosheit. Kommen Sie, da, sehen Sie!“ Er zog seine Uhr []heraus; es war eines der ordinärsten, in der That gemeinsten Produkte der horologischen Industrie, ganz Zwiebel. „Statt dieses redlichen, treuen Wesens,“ fuhr er fort, „fungirte früher eine goldene Repetiruhr, die, ich kann es sagen, ihr Stück Geld gekostet hatte; sie vergalt dieses Opfer jahraus jahrein mit Tücken jeder Art, gieng nie recht, benützte arglistig jede Gelegenheit, zu fallen, sich zu verstecken, Gläser zerbrachen so viele, daß es mich bald an den Bettelstab gebracht hätte, endlich setzte sie sich mit dem Haken der goldenen Uhrenkette in Einverständniß, in Verschwörung. Mit den Haken, mein Herr, hat es nämlich eine eigene Bewandtniß. Das Tendenziöse, was im Objekt überhaupt liegt — darüber wäre Einiges zu sagen, mein Herr, aber das ist von langer Hand — das Tendenziöse spricht sich so offenkundig in der Galgenphysiognomie der Haken aus, daß man im Umgang mit diesen hämischen Gesichtern leicht unvorsichtig wird; man denkt: dich kenne ich ja, dich verräth deine griffige, vor sich selbst warnende Bildung, du wirst mich nicht überlisten; eben darüber wird man im Gegentheil fahrlässig. Ganz umgekehrt verhält es sich bei so manchen anderen Objekten. Wer sollte zum Beispiel einem simplen Knopf seine Verruchtheit ansehen? Aber ein solcher Racker hat mir neulich folgenden Possen gespielt. Ich ließ mich gegen alle meine Grundsätze zur Theilnahme an einem Hochzeitsschmaus verleiten; eine große silberne []Platte, bedeckt mit mehrerlei Zuspeisen, kam vor mich zu stehen; ich bemerkte nicht, daß sie sich etwas über den Tischrand heraus gegen meine Brust hergeschoben hatte; einer Dame, meiner Nachbarin, fällt die Gabel zu Boden, ich will sie aufheben, ein Knopf meines Rockes hatte sich mit teufelischer List unter den Rand der Platte gemacht, hebt sie, wie ich schnell aufstehe, jäh empor, der ganze Plunder, den sie trug, Saucen, Eingemachtes aller Art, zum Theil dunkelrothe Flüssigkeit, rollt, rumpelt, fließt, schießt über den Tisch, ich will noch retten, schmeiße eine Weinflasche um, sie strömt ihren Inhalt über das weiße Hochzeitkleid der Braut zu meiner Linken, trete der Nachbarin rechts heftig auf die Zehen, ein Anderer, der helfend eingreifen will, stößt eine Gemüseschüssel, ein Dritter sein Glas um — o, es war ein Hallo, ein ganzes Donnerwetter, kurz ein echt tragischer Fall: die zerbrechliche Welt alles Endlichen überhaupt schien in Scherben gehen zu wollen; mich ergreift die Stimmung des Erhabenen, ich fasse zunächst eine Champagnerflasche, trete an's Fenster, öffne es, schwinge sie empor, der Bräutigam fällt mir in den Arm, ich erzürne mich, es gibt bös Blut, die Braut war ohnedieß halb ohnmächtig, kurz, — ich mag nicht weiter erzählen, denn nun wurde die Sache komisch.“ —

„Ernst, wollen Sie sagen?“

Er staunte mich an wie einen Menschen, der alle []gesunden Begriffe verwirrt; ich verzichtete auf weiteres Eingehen und bat ihn, das Trauerspiel von Haken und Uhr zu vollenden.

„Ja, so, ja, also: der Haken schliech in einer Nacht über das Tischchen, worauf ich die Uhr achtsam gelegt, leise hinüber nach dem Bett, nestelte sich in eine Naht des Kissenüberzugs ein, das Kissen war mir überflüssig, ich hob es rasch und warf es an das Fußende des Bettes, die Uhr nun natürlich mit; in einem prächtigen Bogen schwang sie sich an die Wand und fiel mit zersplittertem Glase nieder. Es war genug. Ich zertrat sie feierlich wie diese Verbrecherin von Brille, der Kobold gab dabei einen Ton von sich, einen Pfiff wie eine verfolgte Maus, ich kann schwören, daß es ein Laut war, der nicht im Umfang der physikalischen Natur liegt. Nun, dann habe ich mir hier diese bescheidene Zeigerin der Zeit um niederträchtig geringes Geld gekauft; betrachten Sie die Gute: bemerken Sie den Ausdruck von Biederkeit in diesen schlichten Zügen; seit zwanzig Jahren dient sie mir — unberufen, unberufen! — treu und ehrlich, ja ich kann sagen, nicht Einen Verdruß hat sie mir bereitet. Die goldene Uhrenkette hat jetzt mein Bedienter, der Haken wurde zu schmachvollem Tod in der Kloake verdammt und ich trage meine redliche Zwiebel an dieser sanftgearteten seidenen Schnur; Johann, der muntre Seifensieder.“

A. E. war während dieser Darstellung, in deren []Breite er sich zu gefallen schien, ganz ruhig geworden und fuhr gelassen fort:

„Jetzt das Uebrige! Die übrige Geschichte dieser schwarzen Morgenstunde!

„Zuerst springen an drei Hemden die Knöpfchen ab, da ich sie anziehen will. Ja, ja, so ein Hemdknopf! Ein Bär stellt sich ehrlich zum Kampf; ich weiß, was ich zu thun, wie ich meine Waffe anzuwenden habe; einen hundertjährigen Eichbaum kann ich mit Kraft und Ausdauer umhauen; aber der Knirps! Ich soll Kraft anwenden, denn die Bestie will absolut nicht durch's Knopfloch, und ich soll sie zugleich ebenso sehr gar nicht anwenden, sondern ganz fein und leicht mit den Fingerspitzen arbeiten, und indem ich mich placke, schinde, abrackere, foltere, tödte, das Widersprechende zu leisten, — o lustig! springt die Schmachcanaille erst recht ab! Die Teufel nehmen Besitz vom Weibe, uns dieß Scheusliche zu bereiten. Ich habe es von glaubwürdigen, wahrheitliebenden und besonnenen Ehemännern: wegen der Hemdknöpfchen heirathet man und dann ist es erst recht nichts damit. — Weiter! — Nur im Vorbeigehen will ich anführen, daß mich zuerst beim Ankleiden ein höchst ränkesüchtiges Armloch gute fünf Minuten lang insultirt hat, — dabei blieb ich aber noch ganz ruhig — denn ich kann mich beherrschen, mein Herr! Nun aber sehen Sie diesen Schlüssel“ — er zog einen kleinen Schlüssel hervor, []der wohl zu seiner Reisetasche gehörte, — „und sodann diesen Leuchter!“ — er hielt mir den metallenen Leuchter umgekehrt vor's Auge, so daß ich in die Höhlung seines Fußes sah; — „was glauben, was denken, was sagen Sie?“

„Ja, was weiß denn ich?“

„Stark eine halbe Stunde lang habe ich heute Morgen diesen Schlüssel gesucht, — es war zum Rasendwerden, da finde ich ihn endlich, sehen Sie, so!“ Er legte den Schlüssel auf das Tischchen am Bett, stellte den Leuchter darauf; der Schlüssel fand just, wie ausgemessen, Platz unter dem Leuchterfuß.

„Wer kann nun daran denken, wer auf die Vermuthung kommen, wer so übermenschliche Vorsicht üben, solche Tücke des Objekts zu vermeiden! Und dazu lebe ich! An solches hündische Suchen muß ich meine arme, kostbare Zeit verschwenden! Suchen, suchen, und wieder suchen! Man sollte nicht sagen: so und so lang hat A. oder B. gelebt, nein: gesucht! — Und ich bin sehr, sehr pünktlich, glauben Sie mir das!“ —

Ja wohl ist das Leben ein Suchen, sagte ich mit einem Seufzer, der scheinen konnte den Mühen des Lebens zu gelten, während er in Wahrheit von der Langenweile ausgepreßt war, da die breite Beschäftigung mit dem Bagatell mich denn doch zu ermüden begann. Daher denn auch die flache Bemer []kung selbst, die nur um jeden Preis nach einem Inhalt abzulenken suchte.

Ich kam schlecht an. „So, mein Herr, symbolisch?“ sagte er. „Und das soll dann tiefer sein! Ah, Oh!“

„Nun, was denn?“

„Sehen Sie, mein Herr, suchen im bildlichen Sinn, darüber, daß das Leben so ein Suchen ist, darüber klage ich nicht, darüber sollen Sie nicht seufzen. Das Moralische versteht sich immer von selbst. Ein rechter Kerl sucht, strebt und beschwert sich nicht darüber, sondern ist glücklich in diesem Unglück der aufsteigenden und nie anlangenden Linie des Lebens. Das ist unser oberes Stockwerk. Aber die Zugabe, die Hundenoth gleichzeitig im untern Stockwerk des Lebens, — davon ist die Rede. Da ist also zum Beispiel das Suchen, das so toll, so nervös, so wahnsinnig macht. Man verfällt ja dabei immer in den Theismus. Der liebe Gott, der oben herunterschaut, der die Haare auf unserem Haupte zählt, der mich nun stundenlang meine Brille suchen sieht, — er sieht ja auch die Brille, weiß recht gut, wo sie liegt, — ist es zum Ertragen, nun denken zu müssen, wie er lachen muß? — Allgütiges Wesen! Meinen Sie, ein solches würde ferner den Katarrh zulassen? Leben — Suchen — Spucken! Da sagen die thörichten Menschen von einem Ausgedienten, von einem Erlösten, von dem sie meinen, er gehe als Geist um, er spucke! Dummes Zeug, aus []hat er gespuckt! O, wir sind geboren, zu suchen, Knoten aufzudröseln, die Welt mit Hühneraugen anzusehen, und ach! zu niesen, zu husten und zu spucken! Der Mensch mit seines Hauptes gewölbter Welt, mit dem strahlenden Auge, dem Geist, der in die Tiefen und Weiten blitzt, mit dem Fühlen, das mit Silberschwingen zum Himmel aufsteigt, mit der Phantasie, die ihres Feuers goldene Ströme ausgießt über Berg und Thal und sterblich Menschenbild zum Gott verklärt, mit dem Willen, dem blanken Schwert in der Hand, zu schlichten, zu richten, zu bezwingen, mit der frommen Geduld, zu pflanzen, zu pflegen, zu wachen, daß der Baum des Lebens wachse, gedeihe und Himmelsfrucht jeder sanften Bildung trage, der Mensch mit der Engelsgestalt des ewig Schönen im ahnenden, sehnenden Busen — ja, dieser Mensch verwandelt in einen schleimigen Mollusken, zur klebrigen Auster erniedrigt, ein Magazin, ein Schandschlauch für vergährenden Drüsensaft, eine Schnäuzmaschine, im Hals ein zackig Kratzeisen, ein Nest von Teufeln, die mit feinen Nadeln nächtelang am Kehlkopf kitzeln, die Augen trübe, das Hirn dumpf, stumpf, verstört, der Nerv giftig gereizt und dabei erst nicht als Kranker geltend, noch geschont — und da soll es einen Gott —!“

Hier gerieth mein Gottesleugner in ein Niesen und Husten so theilnahmwerther Art, daß ich eine Bemerkung, die mir auf der Zunge lag: der Ka []tarrh sei denn doch nicht der gewöhnliche Zustand des Menschen, gern unterdrückte; ich konnte freilich ohnedieß ahnen, daß ich schlecht damit gefahren wäre. Dagegen wollte ich mich doch nicht enthalten, als der Paroxismus zu Ende war, vorzubringen: „Aber was machen Sie denn, wenn Sie ernstlich, schwer krank sind?“

A. E. war inzwischen daran, sich reisefertig zu machen, wurde über einem Hinderniß, das sich an der Rückseite seiner Beinkleider zu befinden schien, noch einmal sichtlich aufgeregt, trat plötzlich hart vor mich, machte straff wie ein Soldat Rechtsumkehrt und schrie sehr laut und schroff: „Hier!“

Ganz verdutzt, als ich nun so breit seinen Rücken vor mir hatte, dachte ich, ob denn dieß der Anfang des versprochenen Bildungsunterrichts sein solle; er ließ mir ziemlich Zeit zur Betrachtung, bis der Aufschluß kam: „Sehen Sie die Lappen am Hüftgurt? sind fünfmal, sage fünfmal beim Schneider gewesen vor der Abreise; zuerst zu lang oder zu weit, dann wieder zu kurz oder zu eng, dann Beides noch einmal so — nun? wie steht's mit der Theologie?“

Ich verstand jetzt, daß ich sehen sollte, wie die Lappen einander zu nah angenäht waren, die Gürtung also nicht genug angezogen werden konnte; er war zufrieden, als ich mein Verständniß kund gab, und nun schien der Sturm ausgetobt zu haben. Meine vorige Bemerkung fiel ihm jetzt wieder ein.

[]

„Was haben Sie von recht Kranksein gesagt? Nun, das ist ja Geduld werth. Das Moralische versteht sich immer von selbst.“

Er hatte inzwischen seine Reisetasche gepackt, wobei er, wie ich bemerkte, sehr geschickt zu Werke gieng; es galt, viele Kleinigkeiten in kleinen Raum zusammenzufügen, und er brachte es ganz nett zu Stande; Ungeschicklichkeit, das sah ich, konnte nicht die Ursache des Kriegszustandes sein, in dem er mit dem Bagatell sich befand. Er sagte mir nun, er wolle seine Reise auf der Axenstraße am See zu Fuß fortsetzen. Leicht konnte er sich denken, daß ich wahrscheinlich ebendasselbe vorhabe; der Gedanke eines Zusammenwanderns lag, da wir denn doch schon Bekannte waren, nahe genug, aber es fiel ihm nicht ein, auch nur einen Wink zu geben, der entfernt einer Einladung gleichgesehen hätte. Ich dachte, er erwarte, daß ich mich ihm erst vorstelle, und begann: „Erlauben Sie, es ist doch wohl Zeit, daß ich mich Ihnen —“

Er unterbrach mich: „Bitte, danke, lieber nicht, — verzeihen Sie, es ist nicht Maske, nicht Geheimthuerei von mir, gewiß nicht, liebe aber, auf der Reise wenigstens, Alles klar, frei. Name und Stand macht Nebengedanken, führt auf Namen-Etymologie und dergleichen, wir sind eben Jeder ein Ich, eine Person oder, wie Fischart sagt, seelhaftes Lebwesen; wir befinden uns besser so.“

[]

Ich war nun schon im Zuge, dem wunderlichen Kauz nichts übel zu nehmen, und da, wie ich gestehe, meine Neugierde nach Namen und Stand eben auch nicht groß ist, so ließ ich mir's unschwer gefallen, daß ich auch nicht erfahren sollte, wen ich eigentlich vor mir habe. Ich reichte auf der Schwelle die Hand zum Abschied und A. E. wollte sie eben nehmen, als ihm einfiel, daß er doch erst frühstücken sollte; dieses Werk wenigstens noch gemeinsam zu verrichten, dagegen schien er denn doch nichts zu haben und so stieg ich mit ihm in die „salle à manger“ hinab.

Beim Eintreten bemerkte ich, daß er einen ängstlich suchenden Blick nach den vier Ecken des Saales, und zwar auf den Fußboden, warf; der Blick kehrte beruhigt zurück, als er in der vierten ein kleines Geräthe bemerkte, das hustenden Menschen erwünscht sein mag; mit höchst gemüthlichem Tone sagte er: „Der Saal ist doch ganz ordentlich möblirt,“ und von da schien eine erträglich gute Laune bei ihm einzutreten. Das Frühstück stand nach Art der Schweizer-Gasthöfe in diesen Frühstunden stets bereit und A. E. — nachdem er Honig und Butter heftig weggeschoben hatte — griff rüstig zu, ich deßgleichen. Wir waren allein im Saale, doch bald trat ein dritter Reisender ein. Es war ein Mann von gesetzten Jahren, er trug ein Staubhemd von ungebleichter Leinwand mit einem kleinen, über die Schultern hängenden Kragen und []auf dem Rücken einen nicht ungewichtigen Leinwandtornister, auf seiner Stirne lag ein bemerklicher Wanderschweiß, man sah, er hatte diesen Morgen schon einige Stunden zurückgelegt; er legte seine Last ab, stellte den soliden, bauschigen Regenschirm in eine Ecke, nicht ohne ihn mit einem Blick zu betrachten, der eine innere Zufriedenheit mit dem gediegenen und nützlichen Geräth aufdrückte, begab sich rasch an den Tisch, setzte sich an sein anderes Ende, rückte sich den Stuhl recht nahe, zog eine Brille hervor, besah sich, was aufgesetzt war, schien mit der Vollständigkeit der Dinge, die zu einem englischen Frühstück gehören, sehr einverstanden und begann mit dem vollen Ausdruck einer Seele, die sich bewußt ist, daß ihr Leib sein Frühstück redlich verdient habe, die genußverheißende Arbeit des Schneidens und Butterstreichens. Es war leicht zu ersehen, daß der Mann dem Gelehrtenstande angehören mußte, und seine etwas bleiche Gesichtsfarbe legte den Schluß nahe, daß er zu jener Gattung der Gebirgsreisenden gehören möge, die durch starke Fußmärsche in Ferien einzubringen suchen, was sie durch sitzende Lebensart das Jahr hindurch ihrem Organismus Leides zufügen müssen.

A. E., der inzwischen die Eßlust gestillt, schien zum Abmarsch keine besondere Eile zu haben, steckte sich gemächlich eine Cigarre an und begann zu mir: „Sie geben also zu, daß die Physik eigentlich Meta []physik ist, Lehre vom Geisterreich. Das heißt, ich vermuthe, daß Sie es zugeben, wiewohl ich es Ihnen philosophisch eigentlich noch nicht begründet habe, denn was Sie sicherlich bereits erkannt haben, das ist die allgemeine Tendenziosität, ja Animosität des Objekts, des sogenannten Körpers, was die bisherige Physik geistlos mit Namen wie: Gesetz der Schwere, Statik und dergleichen bezeichnet hat, während es vielmehr aus Einwohnung böser Geister herzuleiten ist.“

Der Fremde hatte inzwischen einen länglichen Brodlaib höchst kunstgerecht, wie man es wohl im „Kurmärker und die Picarde“ vom preußischen Landwehrmann verrichten sieht, der Länge nach entzweigeschnitten und war eben beschäftigt, die Butter schön und glatt wie mit einem Modellirholz aufzustreichen; er hielt bei diesen Worten einen Augenblick inne, warf unter den buschigen Brauen einen sonderbaren Blick nach uns herüber und fuhr dann nachdenklich in seinem plastischen Geschäfte fort, indem er öfters mit einem Ausdruck von Staunen und Ironie den Kopf hin und her wiegte. Es kam mir der Gedanke, ob A. E. auf ihn berechne. Es schien entschieden nicht. Er hatte auf den Eintretenden nur einen raschen Blick geworfen, freilich einen scharf erfassenden, denn sein Auge pflegte zu blicken, als wäre eine fest greifende Hand darin, doch nicht ein Zeichen ließ vermuthen, daß er sich weiter um den Unbekannten kümmere.

[]

„Animos,“ fuhr er fort, — „haben Sie denn auch nur schon beobachtet, wie das fallende Papierblatt uns verhöhnt? Sind sie nicht wahrhaft graziös, die Spottbewegungen, womit es hin und her flattert? Sagt nicht jeder Zug mit blasirt eleganter Frivolität: doch noch gewonnen!? O, das Objekt lauert. Ich setze mich nach dem Frühstück frisch, wohlgemuth an die Arbeit, ahne den Feind nicht. Ich tunke ein, zu schreiben, schreibe: ein Härchen in der Feder, damit beginnt es. Der Teufel will nicht heraus, ich beflecke die Finger mit Tinte, ein Flecken kommt auf's Papier, — dann muß ich ein Blatt suchen, dann ein Buch und so weiter, und so weiter, kurz, der schöne Morgen ist hin. Von Tagesanbruch bis in die späte Nacht, so lang irgend ein Mensch um den Weg ist, denkt das Objekt auf Unarten, auf Tücke. Man muß mit ihm umgehen wie der Thierbändiger mit der Bestie, wenn er sich in ihren Käfig gewagt hat; er läßt keinen Blick von ihrem Blick und die Bestie keinen von seinem; was man da von der moralischen Gewalt des Menschenblickes vorbringt, ist nichts, ist Märchen; nein, der starre Blick sagt dem Vieh nur, daß der Mensch wacht, auf seiner Hut ist, und Blick gegen Blick, gleich fix gespannt, lauert es denn, ob er sich einen Augenblick vergesse. So lauert alles Objekt, Bleistift, Feder, Tintenfaß, Papier, Cigarre, Glas, Lampe — Alles, Alles auf den Augenblick, wo man nicht Acht gibt. []Aber um Gottes willen, wer kann's durchführen? Wer hat Zeit? Und wie der Tiger im ersten Moment, wo er sich unbeobachtet sieht, mit Wuthsprung auf den Unglücklichen stürzt, so das verfluchte Objekt: plumper oder feiner, wie es kommt, diabolisch fein zum Beispiel das Eisenfeilstäubchen, das mir in's Auge flog am Morgen, als ich eine Fußreise antreten wollte, auf die ich mich lange gefreut, und das mich um's Auge zu bringen drohte — o, überhaupt: glauben Sie, wenn ein ordentlicher Mensch reisen will, halten die Teufel ein ökumenisches Konzil, — Vorschläge — Anträge — Amendements — zum Exempel: Antrag: Hühnerauge, Amendement: unter dem Nagel; oder Antrag: Grimmen auf der Eisenbahn, Amendement: in Gesellschaft einer Dame; Antrag: schlecht Wetter, Amendement: zerrissene Schuhe und die neuen zu eng. Doch nicht immer waltet aggressive Form. Das Objekt liebt in seinem Teufelshumor namentlich das Verschlupfspiel. Wie die gute, sorgende, schützende Natur einige Thiere dem Boden gleich färbt, bildet, auf dem sie leben, sich nähren, damit sie der Feind schwerer entdecke — Raupe, Schmetterling der Baumrinde, dem Baumblatt, Hase der Erde gleich —, so verfahren auch gern die Dämonen: zum Beispiel rothbraunes Brillenfutteral versteckt sich auf rothbraunem Möbel; doch Haupttücke des Objekts ist, an den Rand kriechen und sich da von der Höhe fallen lassen, aus der Hand []gleiten, — du vergißest dich kaum einen Augenblick und ratsch —“

Wir hörten in diesem Augenblick ein kleines Geräusch von der Seite des dritten Gastes her, sahen ihn hastig unter den Tisch fahren und mit einem Körper in der Hand wieder auftauchen, den er mit großem Schrecken und darauf folgender tiefer Wehmuth betrachtete. Es war sein zuerst mit Butter, dann mit Honig ebenso korrekt gestrichenes, als korrekt geschnittenes Brod, und dasselbe war — „natürlich“ würde A. E. sagen — auf die gestrichene Seite gefallen.

Ich unterdrückte nur nothdürftig einen mächtigen Lachreiz, denn es war doch auch gerade, als ob das „Ratsch“ und das Fallen des Brodes in einem geisterhaften Kausalitätsverhältniß gestanden wären. A. E. sah ganz ernst hinüber und nickte sanft mit dem Kopfe, ohne einen Zug des Spottes, ja eher mit einem Zug der Theilnahme, als wollte er sagen: das kennen wir armen Sterblichen. Der Fremde schoß jetzt nicht nur einen, sondern eine Batterie von Blicken, grimmigen, auf uns herüber und machte sich höchst verdrießlich an das Geschäft, dem unheilbaren Schnitten einen entsprechenden Nachfolger hervorzubringen.

A. E. fuhr ruhig fort: „Dann ist es überhaupt so eine Sache mit dem Ding da, den zwei Dingern, was Kant die reinen apriorischen Anschauungsformen nannte.“

[]

„Raum und Zeit?“

„Eben. Was ist der Raum denn Anderes, als die unverschämte Einrichtung, vermöge deren ich, um den Körper a hieherzusetzen (— er zeigte es an Tassen, Kannen, Körbchen, Flaschen, Gläsern, die etwas dicht auf dem Tische standen —), vorher b dort weg, um Platz für b zu bekommen, wieder c da hinweg stellen muß und so mit Grazie in infinitum —? Und die Zeit? Das ist dasjenige, was man dazu doch nicht hat. Denn Donnerwetter und alle tausend Teufel, leben wir dazu, um zehn Griffe nöthig zu haben zu dem, was kaum Eines Griffs werth ist!“

Der Unbekannte bewegte jetzt stärker und ärgerlich lachend den Kopf hin und her und eine sichtbare Unruhe kam ihm in die Beine.

A. E. war nun gut im Zuge. „Ein andermal,“ fuhr er fort, „sind die Nickel unverschämt in entgegengesetzter Richtung. Jetzt will zusammen, was nicht zusammengehört. Kennen Sie eine der verfluchtesten Formen: das Mitgehen? Wenn so ein liebenswürdiges Blatt, das zum Aktenstoß Y gehört, beim Ordnen, Aufbewahren zu unterst an Fascikel Z hinkriecht und mit hinein in das Schubfach schlüpft und sich über Tag, Woche oder Jahr nicht finden, sich suchen läßt unter Verzweiflung, Wuth, Rennen bis zum Wahnsinn? Dagegen ist so was, wie das bekannte, ewige Unterschlüpfen der Damenkleider unter den Stuhlfuß des []Nachbars nur ein kleiner, zierlich pikanter Spaß des teufelbesessenen Objekts, doch interessant als allein schon hinreichend, unsere dumme Physik zu stürzen, denn wer könnte so etwas mechanisch erklären?“

Jetzt fuhr der Fremde auf mit dem Ruf: „Es wird zuviel!“ stieg mit straffen Schritten auf uns los, pflanzte sich vor A. E. auf und mit Zornblick rief er: „Mein Herr! Wissen Sie, ich bin Professor der Physik! Sie haben mir aber auch gleichsam mein Butterbrod hinuntergeworfen!“

A. E. verweilte auf dem Mann mit einem ganz gelassenen, ganz kontemplativen Blick und schwieg. Was werden sollte, wer konnte es wissen? Plötzlich stieg ihm eine flammende Röthe in's Gesicht, seine Augen funkelten, er fuhr auf und ich, da ich meinen Mann eben doch noch nicht so ganz kannte, wurde schon für den Frieden besorgt, als er mit Sturmschritten, ja mit Sätzen wie ein Panther quer über das Zimmer nach einer Ecke schoß, wo das oben zart erwähnte Geräthe stand, und nun gieng ein Husten, Niesen mit untermischtem Schlucken, seltsamen, wilden Gurgelund Schnapptönen, ein so schreckliches Glucksen, Kollern, Fauchen, Raspeln, Schnarren, Stöhnen, schußartiges Bellen los, als hörte man die rasende Musik eines Chors von Höllengeistern. Es dauerte ziemlich lange, bis diese furchtbare Naturerscheinung vorüber war, dann richtete sich der leidende Mann matt in die Höhe, griff []nach Hut, Tasche, Stab und sagte im Abgehen zu mir mit jammernswerth fistulirender Stimme: „Bitte, haben Sie die Güte, den Herrn zu beruhigen! Guten Tag beiderseits.“

Der Herr war im Schrecken zur Seite getaumelt, als A. E. so rapid in die Höhe fuhr: dann sah und hörte er mit starrem Staunen den Evolutionen des erschrecklichen Gewitters zu und schickte dem Abgehenden einen langen, verwirrten Blick nach. Endlich wandte er sich gegen mich, zwinkerte mich mit den Augen an und deutete mit dem Finger auf seine Stirn. Ich zuckte die Achseln. Er schien dieß für volle Bejahung zu nehmen, war nun wirklich beruhigt und schritt mit frischem Eifer an die Erneuerung seines Frühstückwerks.

Ich mochte dem Vorangegangenen nicht so schnelle folgen; es hätte scheinen können, als wolle ich mich aufdrängen. Ich war doch etwas ungehalten, daß er so rücksichtslos davongelaufen; indem ich mich besann, was ich beginnen solle, um meinen Abmarsch ein halbes Stündchen noch hinzuziehen, fiel mir ein: Halt, gefunden! Grobian, deine Strafe soll nicht ausbleiben, du sollst beschrieben werden! Ich gieng gleich an die Vorarbeit, machte mir eine Reihe von Notizen in mein Tagebuch und brach auf, als ich annehmen konnte, mein wunderlicher Held habe nun genügenden Vorsprung.

Ich schritt geruhig meines Wegs, beschaute mir []See, Fels und hohe Bergeshäupter, nicht eben zu gehobener Naturempfindung gestimmt, der Himmel war bedeckt, die Spitzen des Nieder- und Oberbauen, des Uri-Rothstocks verhüllt, ein schweres Grau lag auf allen Höhen, Tiefen und Flächen. Dennoch war die Landschaft nicht tonlos. Eine eigenthümliche Unruhe schien im See sich zu rühren, der doch kaum von einem Windhauch bewegt wurde: kleine Wellen hoben sich da und dort, als brennte ein Feuer unter dem großen Becken und das Wasser käme in's Kochen; das gedämpfte Rauschen mußte ich mit dem Knistern einer leis anwachsenden Feuersbrunst vergleichen. Seltsam blitzte da und dort ein scharfer Lichtstreifen aus dem Wasserspiegel auf wie ein zorniger Blick aus einem Auge schießt. Es war etwas Geheimnißvolles, dumpf Verhülltes rings umher, wiewohl alle bestimmten Anzeichen nahen Unwetters fehlten. Das verschleiert Drohende, das sich dunkel zu fühlen gab, führte mir doch die Sturmbilder aus Schiller's Tell vor die Phantasie. Versenkt in diese innere Anschauung gieng ich meines Wegs und hatte einen Lärm, der in mäßiger Entfernung sich hören ließ, mit dem körperlichen Ohre wohl längst aufgenommen, ehe mir die Sinnesempfindung zum Bewußtsein kam. Es war heftiges, zorniges Geschrei von Männerstimmen, Hundegebell dazwischen. Jetzt erschollen die wilden Laute schon ganz nahe und wie ich um eine Ecke bog, sah ich eine Szene höchst []unerwarteter Art, eine Gruppe, die mich in leidiger Wirklichkeit an die zwei Ringer, die berühmte und doch unerfreuliche Antike in Florenz, erinnerte. Am Boden wälzte sich, ankämpfend gegen meinen Reisebekannten, ein Mensch, der offenbar zu dem Handwägelchen gehörte, welches daneben stand. Es war ein gedrungener, breitschultriger Kerl von offenbar nicht geringer Körperkraft, aber die Vortheile, die er vorübergehend im Raufen gewann, halfen ihm nichts; A. E. war ihm an Stärke gewachsen, an Gewandtheit überlegen, drückte ihn mit gewaltiger Faust zur Erde, kniete über ihm und schrie dem Ueberwundenen wüthende Worte zu: „Willst du, Thierschinder, mir jetzt zugeben, daß es ebenso grausam als dumm ist, Hunde einzuspannen? Willst du begreifen, daß ein Pfotenthier nicht zum Ziehen gebaut ist, weil ihm der Huf fehlt, in den Boden zu greifen? Daß es das Sechsfache der Kraft aufwenden muß, die ein Hufthier braucht? Daß der gute arme Hund in seinem Diensteifer dieß Sechsfache noch überbietet, während ihr Henkersknechte diesen Eifer dazu mißbraucht, noch aufzusitzen, ja, das keuchende Geschöpf mit der Peitsche in Trab hetzt? Weißt du nicht, daß nach einem Vierteljahr solchen Qualdienstes der beste Hund struppirt ist, lahm im Kreuz und Sprunggelenk?“ Der Unterworfene remonstrirte in rauhen Gurgeltönen mit Fluchen und Schimpfwörtern, aus denen ich nur das sonst schon []gelegentlich vernommene „Kaib“ heraushörte. A. E. holte zu einer Ohrfeige aus, der eingespannte Hund in rührender Treue versuchte unter rasendem Gebell seinem Dränger und Quäler beizustehen, vergeblich, denn ihn hinderten die Riemen des Geschirrs; im tollen Durcheinander besann ich mich rasch, daß ich nicht in tadelnswerther Unthätigkeit des Staunens verharren dürfe, rieß mit vieler Mühe die Raufenden auseinander, half den wüthenden Fuhrmann, der, befreit, alsbald die Fäuste brauchen wollte, festhalten, und nach langem, langem Reden gelang es mir, so viel Ruhe herzustellen, daß ein vernünftiges Wort gesprochen werden konnte. Es ergab sich, daß A. E. den Fuhrmann in der vorhin von ihm verurtheilten Situation getroffen hatte: der Hund im Trab, der Mann mit geschwungener Geißel auf dem Wagen stehend, der eigentlich dazu eingerichtet war, daß er mit dem Hunde ziehen sollte. A. E. hatte ihn angehalten, vernünftig zu belehren versucht, der rohe Treiber hatte ihm alsbald mit Hieben gedroht und so hatte sich die Szene entsponnen, zu deren Ablauf ich gekommen war. Ich mußte nun A. E. Recht geben; der Bote erklärte, er wolle klagen; da er aber begreifen mußte, daß er seinem gewaltthätigen Humanitätslehrer die Nennung seines Namens nicht abzwingen konnte, und da ich ihm auseinandersetzte, daß durch die Drohung mit Schlägen das erste strafwür []dige Unrecht auf seine Seite gefallen sei, verlor sich sein Schimpfen allmälig in ein Brummen, dann in Schweigen. A. E. war ganz ruhig geworden und sagte mit einem Tone voll Gutmüthigkeit: „Wollt Ihr mir versprechen, einen Esel statt des Hundes anzuschaffen, wenn ich ihn zahle?“ Der Bote schwieg und sah ihn mit einem Blick an, der zu sagen schien: Dummer Mensch, wie wolltest du mich kontroliren, wenn ich's verspräche und nicht thäte? „Hört einmal,“ sagte er, „Ihr seid kein reicher Mann, sonst würdet Ihr nicht Botenfahren —“ Der Fuhrmann betheuerte, er komme schwer aus und sei Vater von vier Kindern. „Nun,“ fuhr A. E. fort, „so will ich Euch einen Vorschlag machen. Schafft einen Esel an, versprecht mir, wenn es mit dem Thier gut geht, daß ihr in der Nachbarschaft bei den Boten herum —“ — „O, die lachen mich aus!“ fiel der abgeneigte Mann ein. „Ah bah! man muß das nur nicht fürchten, man wird immer ausgelacht, wenn man was gutes Neues einführt; nun also, lobt es den Andern, helft, daß sie's nachmachen! Im Frühling komm' ich wieder des Wegs und sehe nach Euch, da steht am Wagen Euer Name und Ortschaft angeschrieben, ich werde Euch finden, und wenn Ihr dann einen Esel habt, bekommt Ihr das Doppelte, und wenn Ihr einen, auch nur Einen Nachbar persuadirt habt, es nachzuthun, das Dreifache von dem da.“ Er zog einige Goldstücke []heraus und zeigte sie dem Boten. „Wollt Ihr mir Euer Wort geben?“ Der Mann schlug ein und die Goldmünzen glitten in seine rauhe Hand. Gerührt dankte er mit einem zweiten, herzlichen Handschlag und nahm Abschied. Er fuhr langsam weiter, neben dem Hund ordentlich ziehend, und wir sahen noch, wie er das Gold wieder aus der Tasche zog, betrachtete und wieder einsteckte.

„In der Schweiz,“ sagte nun mein Begleiter, „empört mich der Anblick dieser Rohheit doppelt. Ich bin nicht zum ersten Mal in diesem glücklichen Land. Manches hat mich da gefreut, am meisten die Schonung des Thiers; Pferd und Rind wird menschlicher behandelt als irgendwo, und gerade da muß nun dieser Unfug der Hundefuhren herrschen, eine der allerschnödesten Formen der Barbarei. — Ach, Herr, ich komm' halt noch in's Zuchthaus, Sie werden's sehen, denn ich lang' eben doch noch einmal einen Thierschinder mit dem Stutzen vom Bock herunter — schießen kann ich.“ —

Ich gieng neben ihm fort; eine Einladung zum Anschluß glaubte ich nach dem Vorgefallenen und dieser einläßlichen Gesprächseröffnung nicht erst erwarten zu müssen. Wir zogen eine gute Weile schweigend weiter.

„Es ist heute sehr schön Wetter,“ fieng A. E. endlich an.

Ich mochte nichts einwenden, wiewohl das Wetter []war, wie ich es vorhin geschildert habe, also eben nicht schön zu nennen.

„Warmkaltlaukühl. Ganz schwacher Nordwest mit oberem Föhn, beide noch nicht im Kampf. Heut' wird's noch halten; morgen steh' ich für nichts, ich denke, er wird herunterkommen.“

Ich kannte den Namen Föhn für Scirocco, wußte aber nichts von Ober und Unter, und ließ mir gern auseinandersetzen, daß die elektrisch warme, zu uns von Süden kommende Luft häufig in der höheren Schichte erkennbar herrscht, während in der unteren sogar Ost- und Nordwind gehen kann.

„Sie sind ja ordentlich. Draußen — und der Föhn ist ja doch überall, in Deutschland, in ganz Europa, wie hier — draußen glaubt mir's Niemand, so muß ich immer davon reden und gelte als Narr. Dem Spott nur etwas vorzukommen, habe ich selbst mir den Namen Föhn-Phänomenoman aufgetrieben. — Sind Sie auch so ein Freund vom anspruchlosen grauen Wetter?“

Ich konnte es glücklicherweise ziemlich bejahen. „Nicht wahr? Doch besser, als bei Prachtwetter sitzen wie ein armer Teufel an reicher Wirthstafel, dem das Herz bebt, wenn er an die Zeche denkt? Vollends, wenn es föhnhell ist! O, das ist ein bildschönes, wälsches Weib, die Föhnklarheit, wenn sie da ist, ein Weib, das mit der rechten Hand schmeichelt und die []linke auf dem Rücken hält mit einem Dolch; — da meinen die Menschen, wenn so ein unheimlich schöner Sonntagmittag herunterstrahlt, es sei gut Wetter, und laufen und strömen hinaus dem Vergnügen nach, und ich, Kassandra, steh' am Fenster und weiß, daß sie wie gebadete Mäuse Abends heimkriechen.“

„Ach, lassen Sie ihnen die Täuschung,“ erwiderte ich, „sie bringt den guten Tröpfen doch ein paar vergnügte Stunden.“

„Ja, ja! das ist auch wahr! Machen wir's nur auch so, genießen wir dieß philosophische Wetter, obwohl wissend, daß morgen der dumme Lebtag in der Luft angehen wird, — haben Sie schon im Schopenhauer gelesen?“

Der Philosoph des Nihilismus und Pessimismus war damals noch sehr wenig bekannt. Ich wußte ungefähr von ihm, nichts aus ihm, hatte seine Werke nie zur Hand gehabt.

„Müssen doch hineinsehen und genau. — Geistreich, aber doch eigentlich nur geistreich. Eben doch nichtig. Sonderbar: Freude, meint er, sei nur im Anschauen der Ideen, in der Kunst. Aber er muß doch sein Buch selbst gemacht haben und das war Arbeit. Hat er denn da nicht spüren müssen, daß auch Arbeit froh macht? Der alte Knabe Salomo war doch nicht dumm, der sagt: Nichts besser, denn daß der Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit, denn das ist []sein Theil. Dienst, mein Herr, Dienst! Dort liegt's! Das Moralprinzip müßte lauten: du sollst dienen! Aber wer kann das begreifen, der bloß Gattungen der Einzelwesen sieht und hinter ihnen gleich das Nichts? Der nicht merkt, daß das Thun und Treiben der Vielen etwas herausgearbeitet hat, das über ihnen steht, ein oberes Stockwerk, bleibende Ordnungen, ewige Gesetze, denen zu dienen reine Lust ist, weil dieß Dienen den Diener in's Zeitlose hinaufhebt? Möchte sonst immer schimpfen, was das Zeug hält, über die Qual im unteren Stockwerk! Schwätzt immer von jenen Uebeln, gegen die es doch der Mühe werth ist den Willen aufzubieten, weiß nichts von reiner Lust in reinem Kampf — das Moralische versteht sich doch immer von selbst —, kennt dagegen die Uebel erst recht nicht, die ihm gerade Wasser auf seine Mühle wären. Meint, ein dummer Teufel (sogenannter Wille) habe die Welt gemacht, und er möchte das immerhin, wenn er nur begriffe, wie dann ein Lichtgott darüber gekommen ist, der nur mit der Vasallenschaar des Teufels, mit den Dämonen, nicht mehr ganz hat fertig werden können; weiß nicht, wo die Dämonen eigentlich sitzen, die den Menschen auf den Tod hassen dafür, daß er die Liebe und die vernünftige Arbeit in die Welt gebracht hat und ihnen damit das Spiel verderbt, kennt nicht, weiß nicht aufzuzählen all' ihren Schabernack, ihre nickelhaften Teufeleien.“ —

[]

Wir waren inzwischen an der Stelle angekommen, wo man zur Tellsplatte hinabsteigt, ich machte ihn aufmerksam und führte ihn die Stufen hinunter. Wir standen bei der Kapelle und sahen uns das Felsriff an.

„So? Ist das da das, wo der Schiller die dumme Komödie drüber geschrieben hat?“

„Aber, bitte, Sie haben doch vorgestern den frivolen Spötter im Omnibus —“

„Nun ja, natürlich! Der Wicht hatte ja den inneren Werth der Sage mitverhöhnt — das Moralische versteht sich doch immer von selbst, da soll mir Keiner den Schiller antasten, aber wenn man's als Geschichte vorstellt — als ob's geschehen wäre — geschehen könnte — und weiß es nun nicht zum wahrhaft, zum allein Tragischen zu wenden, weiß nicht, was die bösen Geister treiben, in Wirklichkeit hindern, was sie gegen das Kühne, Große und Gute vermögen und wie darauf, darauf allein die echte Tragödie zu bauen wäre, darauf, auf den Grund der Wahrheit!“

„Aber ich bitte, was wäre denn hier die Wahrheit?“

„Nun, das sollte doch klar sein! Was anders, als daß, wenn man mit der Sage annimmt, Wilhelm Tell sei aus dem Schiff auf die Platte gesprungen, man nothwendig auch annehmen muß, daß er ausrutschte und in's Wasser plumpte. Und nachher vollends mit einem Fußtritt das Schiff vom Ufer zurück []stoßen? Im Sturm? Ich bitte! Das ist keine Kunst, sogenannte Tragödien, Dramen des hohen Styls zu dichten, wenn man den Zuschauern Sand in die Augen streut! Das ist leichter Idealismus, so hoch daherfahren. Sehen Sie, was ich doch aber auch nicht ausstehen kann, das ist, wenn man die Dinge ungenau nimmt. Die Sage ist naiv, sie weiß nicht, wie sie das höhere Gesetz umgeht, der Dichter soll bewußt handeln, nicht blind, leichtsinnig über den Punkt weghuschen, wo das wahrhaft Tragische ruht. Das aber ist der Krieg des Menschen mit den Geistern, dort werden die wahrhaft erhabenen Schlachten und Wunden geschlagen, dort erfolgen die furchtbaren Niederlagen, aus deren Schauern das tragische Grundgefühl, das heißt das ganze Gefühl unserer Endlichkeit emporsteigt,“

„Ja, wie würden Sie denn nun aber die Tellsage behandeln, wenn Sie glauben, daß sie überhaupt behandelt werden könne?“

A. E. schien nur auf diese Einladung gewartet zu haben, es schien ihm sehr zu gefallen, daß ich mich so läßlich und eingehend zu ihm verhielt. „Was vorgeht bis zur Einschiffung Tell's mit Geßler und Gefolge,“ so begann er, „das mag im Wesentlichen stehen bleiben, wiewohl zum Styl, zur ganzen Behandlung viel und Wesentliches zu bemerken wäre. Jener Realismus, welcher überhaupt allein der echte Idealismus ist, müßte ja natürlich im Ganzen walten; []diese Hirten sind zu allgemein, zu griechisch gehalten, sind lauter gebildete Redner und das Gute, das Muthige gelingt ihnen nur so, als ob es keine Kobolde gäbe. Doch das sei, ich muß zugeben, daß der Dichter die Ueberfahrt des Baumgarten und den Pfeilschuß gelingen lassen muß, um da anzukommen, wo er das erhaben tragische Mißlingen soll eintreten lassen. Die Szene des Tellsprungs dürfte nun keineswegs nur erzählt, müßte dargestellt werden, und mit unseren theatralischen Mitteln wäre das möglich. Also: Tell springt, gleitet aus, fällt in's Wasser. Wird herausgefischt, trotz allem Sträuben in den Kahn gezogen. Geßler ruft mit teuflischem Tone: ‚So, jetzt verklabastert ihm den Sitztheil recht tüchtig!‘ Es geschieht, und zwar um so wirksamer, da Tell's Hosen bereits durch die Nässe gespannt sind. Erlauben Sie hier eine kleine Abschweifung. Ich trage mich mit der Idee, den antiken Chor in die Tragödie hohen Styls wieder einzuführen, so auch hier. Der Chor spricht bekanntlich allgemeine Betrachtungen aus und könnte zur Verbreitung nützlicher Kenntnisse verschiedener Art benützt werden. Hier nun, an dieser Stelle, hätte ein am Lande befindlicher Chor von Kunstfreunden aus Geßler's Umgebung — ein Anachronismus, ich gebe es zu, doch ein poetisch erlaubter — einige Sätze über die Bedeutung der sogenannten nassen Gewänder in der Skulptur vorzutragen.“

[]

Ein ganz leichtes Zucken lief hier über seine Züge, so schwach und so blitzschnell, daß ich schlechtweg keine Zeit fand, einen deutlichen Schluß darauf zu gründen.

Er fuhr fort: „Nun aber macht die Exekution den armen Heros so wüthend, daß er mit der Kraft der Verzweiflung sich losreißt und trotz dem Sturm in's Wasser springt. In höchster Spannung erwartet der Zuschauer, ob es ihm gelingen wird, sich zu retten. Der Dichter darf es annehmen; Tell kann gut schwimmen und eine flache Uferstelle erreichen. Darnach ist nun in der ersten Szene des vierten Akts die Erzählung abzuändern, worin Tell dem Fischer seine Rettung berichtet. Folgen die Auftritte wie bei Schiller, auch der Monolog in der hohlen Gasse und das Weitere bis zu den Worten: ‚Ein neu Gesetz will ich dem Lande geben, ich will —‘; hier unterbricht sich Geßler, aber nicht mit den Worten: ‚Gott sei mir gnädig,‘ denn ihn hat kein Pfeil getroffen; vielmehr hört man nur eine Bogensehne schwirren, gleichzeitig ein ungemein starkes Niesen in einem Busch und die Worte: ‚Verfluchter Zufall, List und Trug der Hölle!‘ Dieß kann nicht mißverstanden werden. Tell hat sich ja natürlich verkältet und verniest seinen Schuß; Geßler ruft: ‚Das ist das Niesen Tell's, verfolget ihn.‘ Allein Tell hat noch Zeit, sich aus dem Staube zu machen. Nun muß ich Ihnen eine Notiz mittheilen. Ich habe vor ein paar Jahren in Wien auf dem Schild []eines Tischlers den Namen Tell mit eigenen Augen gelesen. Das gibt uns den richtigen, den wahrhaft tragischen Schluß an die Hand: echte, höhere Ironie des Schicksals: Tell gelangt auf seiner Flucht nach Wien, nimmt einen falschen Namen an, erinnert sich an seine Geschicklichkeit in Holzarbeiten, wird Schreiner, zieht seine Familie nach und überläßt es den Enkeln, im Verlauf der Zeit den richtigen Namen wieder zu schreiben. Die Schlußszene gäbe ein herrliches, herzlich rührendes Tableau: der gerettete, wehmüthig zufriedene Tell mit Weib und Kind in seiner Werkstätte.“

„Und Geßler? Und die Schweiz?“

„Nun, Donnerwetter, die Schweizer in Masse schlagen das Luder todt, das ist doch gewiß besser als ein Mord, und ich finde es dumm genug, daß sich die guten Leute so um ihren Tell wehren, um den Einzigen, da sie Tausende von Tellen gehabt haben. Doch weiß ich nicht, ob ich das darstellen würde, das Moralische versteht sich immer von selbst.“

Ich war nur halb aufgelegt, über diesen erhabenen Entwurf zu lachen; es grub und bohrte doch etwas in mir wie ein feiner Dorn, oder eigentlich stachen zwei Dorne in entgegengesetzter Richtung. Es war dort bei der Stelle vom Chor und den nassen Gewändern und bei dem flüchtigen Zucken um A. E.'s Mundwinkel doch etwas in mir vorgegangen, was zum Bewußtsein heraufdringen wollte. Sollte das nicht []am Ende ein Kapitalschelm sein, der dich zum Narren hat, wie er ja wohl auch den guten Professor der Physik zum Narren gehabt hat? Dem widersprach nun freilich so Vieles, daß der Verdacht, kaum geboren, wieder erstickt wurde; stellte ich mich aber auf diese andere Seite, so meldete sich in mir ein Aerger, ein Verdruß über solches Pflegen und Hegen des Peinlichen, das am Ende doch krankhaft, weichlich, wohl auch selbstgefällig zu nennen war. Da nun mein Begleiter durch seinen Idealentwurf für eine bessere Tragödie Wilhelm Tell wieder auf das leidige Katarrhthema kam und daran fortnörgelte, so steigerte sich dieses zweite Gefühl allgemach zur Entrüstung. In der That wurde er nun entsetzlich langweilig, unleidlich ermüdend. Er klagte die Geschichtsschreibung an, daß sie, die doch nichts Großes und nichts Kleines im Gang der Weltgeschichte zu verstehen, zu würdigen vermöge, ohne die Katarrhe, die dabei mitgespielt haben, in ihrem Wesen, Verlauf und ihrer Individualität gründlich zu kennen, ihre Pflicht versäume, er fragte mit Pathos: „Ist auch je Einer in seiner Genesis, Verwicklung, Ablauf exakt — was doch allein historisch — zur Darstellung gelangt? Mein vorletzter zum Beispiel domizilirte zuerst acht Tage lang im linken Nasenloch, ich hoffte bereits —“

Ich bat ihn um Gottes willen, abzustehen, ich wolle ja gern Alles glauben, aber er verzichtete nur, um []nun auf's Minutiöseste auszumalen, wie sich just, wenn man keine Hand frei habe, zum Beispiel einen Kupferstich mit beiden halte, ein heißes Tröpfchen an der Nase sammle und dann natürlich mitten auf das Kunstwerk falle; er verbreitete sich des Näheren und Nächsten speziell über den krampfartigen Hustenreiz, der gerade nach Lösung eines Katarrhs zurückbleibe; eine Reihe von Bildern: Kitzeln mit einer feinen Nadel, einem Roßhaar, Zusammenschnüren mit einem Pechfaden und dergleichen, wurden verwendet, — und so schien es sich in's Unendliche ziehen zu wollen. Wir waren jetzt in einen der Tunnels eingetreten, die so kühn durch die Felswände des Axenbergs gesprengt sind; A. E. verstummte im Dunkel, während in mir der angesammelte Verdruß zum Zorn anschwoll. Als wir heraustraten und mein Begleiter alsbald seinen Pechfaden wieder aufnahm, als ich hinabsah nach dem See, wie er am Fuß des senkrechten Felsabsturzes anschlug, so war mir, als sei mein Grimm mit diesem Gestein und dieser grollenden Flut Ein Ding und müsse ich auch so trutzig sein wie der jähe Fels und so brandig wie der Gischt der anprallenden Woge aufschäumen, ich stand plötzlich still und sagte in hartem Ton: „Herr, jetzt ist Heu genug hunten!“ Ich wollte rasch fortfahren, A. E. hätte mich fast aus dem Konzepte gebracht, er legte mir bei diesen Worten die Hand auf den Arm und fiel schnell und munter ein: []„Hunten, Gegensatz von drunten, das ist gut, gutes Wort, kannte es noch nicht, versteh' es aber;“ jedoch, einmal im Zuge, fuhr ich fort: „Sie glauben interessant zu reden und reden nur langweilig; Sie gefallen sich darin, die Wahrheit des Lebens auf den Kopf zu stellen; Sie haben einen Palast vor sich und nehmen zum Standpunkt für Ihr Urtheil die Hinterseite mit dem, was sie verbirgt; was man vergessen soll, bei dem halten Sie sich auf, was des Denkens nicht werth ist, darüber studieren Sie, daraus machen Sie ein System! Was keiner Zeit werth ist, dem widmen Sie Ihre beste Zeit, was winzig ist, treiben Sie auf und vergrößern Sie, um recht närrisch zürnen zu können. Nicht aufgespart, sondern aufgezehrt wird auf diesem Wege die Kraft des Widerstandes gegen die großen und ernsten Uebel des Lebens!“

A. E. besah während dieser Worte nachläßig seine Cigarre, die dem Ende zuneigte; dieß reizte mich, noch hinzuzusetzen: „Uebrigens rauchen Sie auch zu viel! Lassen Sie das, und es wird mit den Katarrhen besser werden!“

Er hatte eben den Cigarrenstumpf aus der Meerschaumspitze geblasen, dieser blieb an dem anklebenden Ende des aufgerollten Deckblattes hängen; er ließ den Klunker hin und her baumeln und sah diesen Pendelschwingungen ein paar Sekunden zu, schickte dann einen geruhigen Blick auf mich herüber und sagte: „So? Tetem? Adjes!“

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Er zog den Hut, eilte hinweg und überließ mich der vergeblichen Anstrengung, in dem freilich sehr schwachen Vorrath meiner Sprachkenntnisse eine Erklärung des nie gehörten Wortes zu suchen. Es schien mir orientalisch und ich mußte den Versuch aufgeben, da mein Wissen an dem Gebiete der Sprachen des Morgenlandes rein aufhört. Ein Spott mußte jedenfalls dahinter stecken. Dazu kam das „Adjes“. Ich verlangte nicht, daß er Adieu hätte sagen sollen, aber wenigstens: Adje; das s war grob. — Ich suchte mir den schroffen Abbruch aus dem Sinn zu schlagen, um mir die Reiselaune nicht zu verderben.

Flüelen war erreicht, A. E. aus meinen Augen verschwunden. Ich schlenderte erst an der Schifflände, es unterhielt mich, dem Treiben des Wasserverkehrs zuzusehen. Ein abgehendes Dampfboot nahm Reisende auf, die mit der Post über den Gotthard gekommen waren, darunter drei Jesuiten, die, kaum eingestiegen, ihr Brevier hervorzogen und, auf dem Verdeck wandelnd, ihre Gebete halblaut ablasen; die Ankunft eines großen Rachens, der eine als englisch oder schottisch leicht erkennbare Familie an's Land setzte, zog mich ab und befreite mich von dem widerlichen Anblick. Ein würdiger älterer Herr, eine anmuthvolle Frau, aus deren Schalten mit zwei schönen Knaben zu entnehmen war, daß sie ihre Mutter sein mußte, während ihre ganze Erscheinung zu jenen gehörte, die sich in []die reiferen Jahre das Gepräge der Jugendlichkeit, der Jungfräulichkeit bewahren; eine ältere Dame mit langem, welkem Gesicht und gestrengen, essigsauren, puritanischen Zügen, offenbar Gouvernante. Alle waren in Schwarz gekleidet; eigenthümlich wohl stand jener edlen Gestalt die ernste Farbe, ihr Wuchs war von der reinsten Schlankheit, es war, als biege sich eine junge Weide, wenn sie sich zu den Knaben niederneigte. Ihre Gesichtsbildung war nicht eben regelmäßig schön, aber durchdrungen und belebt von einem Ausdruck der rührendsten Güte und Offenheit. Die Gesichtshaut war blaß ohne Anschein von Kränklichkeit, überhaucht von jenem Dufte, der an den weichsten Pfirsichflaum erinnert, und vollkommen gestimmt zu dem glanzlosen Aschblond der anspruchslos glatt gescheitelten Haare. Man hätte zu dieser Farbe blaue oder graue Augen erwartet, sie waren aber braun, dunkel, südlich, doch ohne einen Funken der Leidenschaftlichkeit, die oft aus solchen Augen blitzt, vielmehr lag darüber jenes Etwas, das durch den Ausdruck: beflort, beschleiert nur mangelhaft bezeichnet wird. Es war das nicht bloß ein Zug von Trauer, wozu man die Erklärung in ihrem schwarzen Anzug finden konnte, es waren die langen Wimpern und ihre beschattende Wirkung, die großen Augenlider, es war der mandelförmige Schnitt des ganzen Auges, was jene Art träumerischer Verhüllung bewirkte, wie man sie wohl bei umbrisch-italienischen []Frauenaugen trifft, aber bei angelsächsischem Blute nicht zu finden gewohnt ist. Die Lippen waren nicht zurückgekniffen, wie man es bei Mann und Weib im englischen Volke so häufig bemerkt und aus der Gewöhnung dieses Organs bei der Aussprache des W sich leicht erklärt, sondern gesund, voll, blühend, athmend, umspielt von einem Zuge, der mir vor die Seele führte, was der Edelmann im König Lear zu Herzog Kent von Cordelia sagt und ihren „reifen“ Lippen. Schwer rieß ich mich von dem Anblick los, der mich mehr und mehr gefangen nahm. Aber mein Reiseplan stand fest, ich mußte vorwärts, denn ich wollte heute noch Amsteg erreichen, dort übernachten, morgen den Gotthardpaß in seinen wilden Hauptstellen mit Muße beschauen, etwa bis Andermatt gelangen und von da die Rückreise antreten, denn meine Zeit war kurz bemessen; Alles zu Fuß, um ganz unabhängig der Betrachtung mich hingeben zu können. Mittag wollte ich in Bürglen machen, im Schächenthal; ich hatte mir den kleinen Abstecher vorgenommen, um doch auch einmal die Stätte zu sehen, wohin die Sage Tell's Heimat verlegt und die durch Uhland's Gedicht über seinen Tod gefeiert ist. Ich gieng rasch durch Flüelen, nachdem ich noch gesehen hatte, wie die englische Familie sich im ausgeworfenen Netz eines Heeres von Kutschern verstrickte, wobei die steife ältere Dame die Rolle der Dolmetscherin in den Unterhandlungen um []den Fahrpreis zu spielen schien. In Altorf wollte ich erst kurzen Halt machen und einen Imbiß nehmen. Wie ich da einem Wirthshause zugehe, führt mich der Weg an einem Trödlerkram vorüber, mein Blick fällt durch's niedrige Fenster in die Stube und wen erkenne ich da drin? Meinen A. E., eben eine Brille prüfend, gegen das Fenster haltend; der Trödler, sichtbar zum Kaufe zuredend, stand neben ihm. Ich blickte schnell wieder weg, hatte aber doch Zeit gehabt, zu bemerken, daß es eine Brille von gediegen altmodischer Gestalt war, und mich an die Zwiebel zu erinnern, die mir in Brunnen als redlichere Nachfolgerin einer zertrümmerten Uhr gezeigt worden war. Zugleich meinte ich, so flüchtig mein Blick auch gewesen, doch beobachtet zu haben, daß A. E. mich erkannte und sich umdrehte.

Ich weiß nicht, welche Rührung in diesem Momente über mich kam. Während der Anblick doch eigentlich komisch war, fiel mir Alles ein, was mich an den Mann angezogen, ja, ich muß gestehen, mir imponirt, mich sogar in ein gewisses Verhältniß nicht drückender Unselbständigkeit zu ihm gesetzt hatte; seine Schwächen und Grillen flößten mir nicht mehr Unwillen, sondern Theilnahme ein. Es kam mir klarer zum Bewußtsein, was es doch eigentlich war, das diesen Menschen so peinvoll empfindlich, so schaallos gegen die kleinen Uebel des Lebens machte. Ja, ich war jetzt sogar geneigt, den Ausdruck: Vernunftwuth, den er einmal []von seiner durchdachten Leidenschaft gegen diese Dinge gebraucht hatte, zu verstehen, zurechtzulegen. Kurz, ich fieng an, zu bereuen, daß ich ihm unfreundlich begegnet war, und es tröstete mich noch ein wenig, daß ich ein noch härteres Wort, das mir dort am Axentunnel auf der Zunge lag, unterdrückt hatte, nemlich: alter Kindskopf! Doch, das half nicht viel; ich verzehrte in der That mit mehr Hunger als Frohheit meine paar Schinkenschnitten und Eier und nahm ziemlich verdrossen, mit wenig Sinn für große und kleine Windgelle und Bristenstock, meinen Weg unter die Füße. Ein Wagen fuhr an mir vorüber, ich erkannte gleich an einem der Knaben, der neben dem Kutscher auf dem Bocke saß, die fremde Familie wieder, ich traute meinen Augen kaum, als mir schien, ich entdecke im Innern neben der anmuthigen Britin oder Schottin meinen A. E. Das Fahren an sich schon war es, was mich an ihm wunderte, denn er hatte auf der Axenstraße, als ein Reisewagen an uns vorüberfuhr, gesagt: „Da hocken sie wieder drin im Kasten, der nach Leder riecht, und haben nicht ein Fleckchen Raum, um nur auszuspucken,“ wobei er, seiner Freiheit froh, in stolzem, kühnem Bogen die hiemit bezeichnete That verrichtete; er hatte ferner bei derselben Gelegenheit das Fahren für die unter allen Umständen unbequemste, dummste und anstrengendste Art der Fortbewegung erklärt. „Was haben doch die Menschen []für Begriffe von Freiheit,“ rief er aus, „da meinen sie, frei zu sein, weil sie die Beine nicht rühren!“ So nahe es nun lag, den Widerspruch, in welchen der leidenschaftliche Freund freier Bewegung sich dießmal begeben, aus einer Bekanntschaft mit der Familie zu erklären, der Zustand meines Gewissens raunte statt dessen mir ein, er werde sich zur Fahrt entschlossen haben, um mit gutem Schick an mir vorüberzukommen; eine Vorstellung, die eben nicht geeignet war, meine Laune zu verbessern. Daß mein Reiseziel der Gotthard sei, hatte ich A. E. gesagt; daß auch er dahin strebe, war keine Frage; es schien mir so die Hoffnung genommen, noch einmal mit ihm zusammenzutreffen und eine Aussöhnung zu suchen. Da ich nun doch einmal zum Nachzügler geworden, blieb ich um so mehr bei meinem Vorhaben, die kurze Seitenwendung von der Hauptstraße ab nach Bürglen zu nehmen.

Der Kellner im Gasthof zum „Wilhelm Tell“ sagte mir, wie ich eintrat, ich könne sogleich am Mittagstisch Platz nehmen, das Essen habe begonnen, er werde mir nachserviren. Ich lege ab, lasse meinen Anzug säubern, trete ein und mein erster Blick begegnet dem verlorenen Reisegenossen. Er saß mitten unter der englischen Familie, dem Alten gegenüber, zu seiner Rechten die junge Frau oder vielmehr sichtlich Wittwe, zu seiner Linken die Gouvernante. Die Tafel war außerdem von Fremden so besetzt, daß für mich nur Ein []Platz blieb, und zwar neben dem älteren Herrn und den zwei Knaben, dem Meidenden und Gemiedenen schief gegenüber. Er grüßte nicht unfreundlich, doch formell. Er war im Gespräche mit der Mißeß begriffen. Sie sprachen italienisch, wohl in der Voraussetzung, daß Wenige der Tischgäste dieser Sprache kundig seien. Ohne zu horchen konnte ich wohl vernehmen, daß einige Fragen A. E.'s sich auf einen Todesfall beziehen mußten, dessen Einzelheiten ihm wohl unterwegs schon erzählt worden waren. Ich hörte den Namen Erik. Aus Ton und Mienen der Dame ließ sich erkennen, daß das Gespräch sich auf den verlorenen Gatten beziehen mußte; es war der Ausdruck gehaltenen Schmerzes einer Seele, die mit der Kraft der Sanftmuth schweres Leiden beherrscht. Tief bewegt hörte A. E. ihr zu, man sah, daß er diesen Kummer im tiefsten Gemüthe theilte und ebensosehr die Schönheit des Schmerzes in dieser anmuthvollen Erscheinung bewunderte. Mit Blicken wie Blicke der Andacht schaute er zu ihr auf und wirklich mußte ich mir nun sagen, daß mir nicht umsonst Cordelia in den Sinn gekommen war, denn niemals wird Wehmuth und ein gewisses Lächeln, wie es auf den Lippen, in den Wangengrübchen wohlwollender Seelen zum bleibenden Zuge wird, sich schöner auf einem Angesicht verschwistern. Nicht minder herzgewinnend war die sanfte Stimme und der Klang des Italienischen in diesem Munde. Sie sprach es []nicht völlig rein; der Vokal a nahm eine Färbung gegen ae an, aber nur eine ganz leise, weit entfernt von der Quetschung, die dieser reine Laut in der englischen Aussprache sonst erfahren muß. Alle übrigen Buchstaben kamen ganz lauter und richtig, nur viel milder, als aus südlichen Organen; es war eine Süßigkeit, Zartheit, Keuschheit in dieser Mischung, in diesem dämpfenden Lispeln, wobei doch der Bestimmtheit und Klarheit der Laute ihre Geltung blieb, daß ich mir sagen mußte, man könnte nicht nur lingua toscana in bocca romana rühmen, sondern auch lingua toscana in bocca inglese. Die ältliche Dame hatte inzwischen mit dem alten Herrn ein Gespräch über Volk und Natur der Schweiz begonnen, soviel sie auf dieser Reise bis dahin gesehen, und wandte sich jetzt an A. E. mit der Aufforderung, auch seine Meinung zu sagen. Das Volk fand sie etwas viereckig und derb. Sie war bei dieser Anrede vom Englischen in's Deutsche übergegangen und schien gerne zu zeigen, daß sie dieser Sprache mächtig sei, deren Töne in ihrem Mund allerdings stark angelsächsische Trübung annahmen. Die Unterbrechung war ihm sichtbar lästig, es zuckte auf seinem Gesicht und er diente nun der Fragerin mit einer Vergleichung der schottischen Hochländer und der Schweizer, die offenbar zu Gunsten der Letzteren gemünzt war, deren Inhalt ich aber kaum verfolgen konnte, da sein sonderbares Lippenspiel meine ganze Aufmerksamkeit anzog. Er []lenkte nämlich das Gespräch wieder in's Englische und sichtbar trieb ihn der Aerger, die englische Aussprache zu karikiren. Er zog zum Beispiel bei den Sylben, wo w und a zusammentreffen, wie bei what, die Mundwinkel um ein Gutes weiter zurück, als üblich, und brachte so eine Reihe froschähnlich quackender Laute hervor, welche die beiden Knaben mit offenem Munde und sichtbar gegen Lachreiz ankämpfend bestaunten, und mir gieng es nicht besser. Jetzt kam die säuerliche Dame, die das in ihrem Eifer nicht merkte, auf die Landschaft zu sprechen und dehnte ihre Vergleichung auch auf Norwegen aus. A. E. wurde dabei sichtbar unruhig und als sie die Schönheit der Wasserfälle rühmte, den Rjukanfoß als den mächtigsten, den Ovsthusfoß als den eigenthümlichsten erwähnte, fuhr A. E. sichtbar zusammen, erbleichte und das Messer entfiel seiner Hand.

Jetzt wendete sich die aschblonde junge Frau zu ihm her, näherte ihm mit unaussprechlich sanfter Beugung — Johannes auf Leonardo's da Vinci Abendmahl fiel mir ein — ihr liebliches Haupt und begann zu flüstern. Ich konnte vernehmen, daß es nicht englisch und nicht italienisch war, was sie jetzt sprach; es mußte, wie ich aus einigen Lauten schloß, norwegischdänisch sein.

Der ernste alte Herr hatte inzwischen mit seinen Enkeln — denn das mußten die Knaben ja sein — ein Gespräch über Wilhelm Tell begonnen. „Laßt sehen,“ []sagte er, „was ihr von Miß Alton gelernt habt,“ und ich erkannte jetzt, was die steife Dame bei der Familie zu thun habe. Sie war Lehrerin der Knaben im Deutschen und zugleich Reisemarschallin in deutsch redendem Land. Diese zeigten sich nicht nur in der Sage, sondern auch in Schiller's Drama wohl bewandert und die Sprachmeisterin nahm nun Anlaß, in volleres Licht zu setzen, wie weit sie es in ihrem Unterricht gebracht habe, sie forderte den älteren, etwa dreizehnjährigen, auf, auch Schiller'sche Verse in antikem Metrum vorzutragen. Er wählte das schöne Distichon auf das Distichon, und begann, unterstützt von der mitskandirenden Lehrerin:

„Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule —“

So weit kam er.

Die Geschichte ist eine strenge Wissenschaft. Sie kennt nur die Wahrheit. Die Schicklichkeit wird sie beobachten, so lang es thunlich, ohne ein wesentliches Stück der Wahrheit zu unterdrücken. Würde diese leiden, wenn sie jener sich fügte: sie wird, wenn auch mit Wehmuth, unerbittlich ihre Bahn verfolgen. Zarte Gemüther, denen diese Strenge unerträglich: sie sind frei, sie können die ernsten Blätter der Geschichte zuklappen, sie können weiter lesen — nach Belieben. Es hatte mir geschienen, A. E. sei des lästigen Uebels, das ihn auf der Reise befallen, ungewöhnlich schnell los geworden; doch das war Täuschung.

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Ein Niesreiz just bei jenen Worten — schnelle Seitenwendung von der schönen Nachbarin ab — Taschentuch — vorsichtige Applikation — trotzdem — der Ueberraschte schien im Drang des Augenblicks versäumt zu haben, eine doppelte Ringmauer von Leinwandfalten um den kleinen Geyser der Nase zu bilden, — eine ganz dünne Fontäne steigt in zierlichem Bogen und fällt nieder in den soeben mit Kappernsauce frisch versehenen Teller der gestrengen Dame zur Linken. Diese zuckt zusammen und rückt mit dem Stuhl. Die Freundin zur Rechten bemerkt den Vorgang nicht, wohl aber der Alte, der ein Lächeln unterdrückt, und sehr wohl die zwei Knaben, die ein helles Lachen nicht unterdrücken, und nicht minder der Kellner, ein Subjekt mit einem jener Gesichter, die man als ohrfeigenwürdig bezeichnen möchte; er sprach einen abgeriebenen rheinischen Dialekt und war offenbar nur für die Sommersaison herbeschrieben, A. E. hatte ihm ab und zu einen Blick voll Widerwillen zugeworfen; dieser nahm grinsend den Teller schnell weg und schob einen neuen hin.

A. E. war verschwunden, als hätte ihn die Erde verschlungen. Beklommen suchte ich eine Unterhaltung mit der schönen Frau einzuleiten, vermochte aber in meiner Beunruhigung nicht, sie fortzuführen, und brach auf, ehe der Nachtisch kam. Ich erledigte meine Zeche und war unten im Hausflur angekommen, als A. E. []die Treppe herabgerasselt kam, hinter ihm der Kellner, der ihm nachrief, er bekomme noch heraus. A. E. hörte nicht, wollte an mir vorüberstürzen, blieb aber plötzlich stehen, faßte mich am Arm und zeigte auf eine Katze, die mit ihrem Jungen auf einem Strohstuhl schlief. Es war ein schönes Thier, von dem seltenen dreifarbigen Schlage, schwarz, rothgelb, weiß, und sie hatte beide Vorderfüße um ihr gleichfarbiges Junges gelegt: eine wirklich rührende Gruppe. „O, sehen Sie,“ rief A. E., „aber auch wie eine Raphaelische Madonna!“ — Das war Sache eines Moments; im nächsten sieht A. E. den Kellner vor sich stehen, der ihm, noch dasselbe Grinsen auf dem Gesicht, womit er vorhin den Teller der Gouvernante gewechselt und dadurch die leidige Ungeschicklichkeit markirt hatte, nun das übrige Geld hinhält. Ihm versetzt A. E., die Faust ballend, mit dem Gelenk des Mittelfingers einen Stoß unter das Kinn und stürmt aus dem Hause.

Der Kellner war rücktaumelnd auf die Treppe hingestürzt, richtete sich auf, stand zuerst sprachlos und brach dann in heftiges Schelten aus. Ich konnte mich nicht enthalten, dem Menschen zu sagen, ihm geschehe recht; jetzt fährt er wild gegen mich auf, in verspäteter, fehlgehender Rache hebt er die Faust und ich versetze ihm eine Ohrfeige. Es stand nun bedenklich, denn am Thürpfosten lehnte der Hausknecht und der doppelt Geschlagene rief ihn zu Hülfe; dieser jedoch []verharrte in seinem Phlegma und sagte zu mir: „Schad't nichts, der Herr ist immer naseweiß gewesen, gehört ihm schon lang eins hinter die Ohren.“ So konnte ich denn ohne weitere Fährlichkeit abziehen und fragte nicht nach den Schimpfworten, die mir der Bestrafte nachrief.

So war ich denn wieder allein. Wohl sagte mir nun mein Gefühl, daß hier im Grunde etwas Trauriges vorgegangen sei; mußte an sich schon ein so peinlicher Zufall einen Mann, wie ich A. E. kannte, höchst empfindlich treffen, so waren hier überdieß offenbar Beziehungen zerrissen, deren Tiefe und Zartheit ich gar wohl ahnen konnte. Allein das Mitleid blieb ganz im Hintergrund, ich verspürte zunächst keine Nachwirkung in mir, als eine unbezwingliche Lachlust, mehr allerdings über die Prügelszene am Schluß, als über die Katastrophe bei Tisch. Ja es wollte mir kaum gelingen, angesichts der Begegnenden auf der Straße die Erscheinung der Menschenwürde nothdürftig aufrecht zu erhalten; einmal, als eben ein paar rothbackige Bauernmädchen vorübergiengen, konnte ich mich so wenig beherrschen, lachte so laut auf, daß ich die eine hinter mir sagen hörte: „Was hat auch der Herr, es ist ja noh niht Suserzit.“ Der trotzige Ernst der furchtbaren Steinpyramiden, Stöcke, Kuppen, der schroffen Wände, die mir näher und näher entgegenstarrten, als ich wieder in das Thal der Reuß eingetreten war, sie vermochten nicht, mein muthwilliges []Herz zu bändigen; als ich bei sinkendem Abend in der Nähe von Klus dem eilenden Bergfluß näher trat und sein Rauschen mir stärker und stärker in das Ohr drang, wurde mein Zustand statt ernster nur närrischer. Das dumme, unsinnnige Wort Tetem kam mir in's Gedächtniß und es war mir angethan, daß ich den blöden Laut nicht mehr los wurde. Ein begegnender Bauer grüßte mich und ich antwortete: „Tetem“. Ich blieb öfters stehen und starrte in die dunkel murrende, dem schroffen Felsblock auf gehemmter Bahn entgegengrollende Flut, ich wollte an diesem Bilde mich zum Ernste zwingen, aber es half nichts: als hätte ich die kindische Wortform in den Strudeln gelesen, zöge sie als Resultat meiner Betrachtung aus der wilden Woge, mußte ich denken, sagen: „Richtig, ja, Tetem!“ Die Felshäupter, Zacken, Zinken, Ecken hatten Mäuler, nickten und blöckten: „Tetem!“, „Tetem!“ brummte der Bristenstock, „Tetem!“ kicherte der schroffe Gitschen, „Tetem!“ gellten die Windgellen.

Ich wurde mir selbst zum Abscheu und fieng das Laufen an, um mir zu entspringen; was half es? Nun schlug meine Umhängetasche mit rhythmischen Schlägen mir an die Hüfte: „Tetem! Tetem!“ Ich rieß sie von der Schulter, es erschien mir als das einzig Rationelle, sie hoch in der Luft zu schwingen und zur Strafe sammt ihrem Inhalt an einem Felsen abzuschlagen; der Inhalt fiel heraus, und während ich []mich bückte, die sieben Sachen aufzulesen, erschrack ich über mich selbst in der Tiefe meiner Seele: „Um Gottes willen,“ rief es in mir, „der Mensch hat dich angesteckt, du wirst verrückt!“ Es zogen mir Wolken, Wallungen über das Gehirn her, und als ich in die Wirbel sah, in denen das Wasser zwischen den Granitblöcken sich dreht, um dann schäumend vor- und hinabzustürzen, so wurde mir, als wirble und schäume es mir gerade so in meinem armen Kopfe. Ja, ja! es ist nicht anders, der Mensch hat dir's angethan! Aber während ich innerlich so sprach: der Mensch! stellte sich freiwillig die Vernunft ein: der Mensch! O ja, ein Mensch! ein menschlicher Mensch! Die Stimmung kam wieder, in welcher ich Bürglen zugewandert war: Reue über mein hartes Anlassen dort auf der Axenstraße, Rührung, Mitleid, Liebe, und hinter und über der Liebe Achtung, und je mehr Achtung, um so mehr wieder Mitleid; kreuzweise durchbohrt von all' den widersprechenden Gefühlen, aufgeregt im Grunde der Seele und niedergeschlagen zugleich langte ich in Amsteg an und nur die Ermüdung brachte mir den erwünschten Schlaf, tief und traumlos, wie er nach tüchtigem Marsch den Wanderer erquickt.

Ich stand früh auf und gieng rüstig meiner Straße. Mein A. E. schien dießmal wenigstens keine WetterKassandra gewesen zu sein. Die Luft war hell; der Bristenstock stieg rein gezeichnet in die Höhe und gönnte []dem Auge, mit Wohlgefallen an seinem Kegel emporund an dem sanft geschwungenen Sattel seiner linken Abdachung niederzusteigen. Steiler und wilder starrten die näheren Felsen aus dem bewaldeten Fuße hinan und schauten ernst auf die sanften Matten, die friedlichen Dörfer herab. Bald offener fließend, bald in tiefe Schluchten eingewühlt, dumpf tosend und trommelnd wälzte die Reuß ihre milchig hellgraublauen Wogen. Manche Stellen nah' am Wege erzählten eine grause Geschichte von Zertrümmerung der Felswelt des Hochgebirges. Da lagen ganze Haufen wild übereinandergeworfener Steinmassen, in allen Richtungen der Stellung verworren hingeschüttet und aufgethürmt; hier und da aber ragte ein vereinzelter Felsblock von ungeheurer Größe, bemoost und etwa von kleinen Tannen bewachsen, die mit den seltsam verkrümmten Wurzeln in die Spalten hineinsuchten, um kümmerliche Nahrung zu finden. Schaute man nach den Gebirgswänden auf, so konnte man bei dem einen und andern dieser niedergestürzten Riesen noch die Stelle entdecken, wo er einst oben hieng, da sich die Gleichheit seiner Form mit den Umrissen einer Kluft in dem Felsenkörper, zu dem er gehört haben mußte, klar erkennen ließ. Mit welchem Donner mögen einst diese Lasten, Alles rings zerschmetternd, nieder in's Thal gesprungen sein! In der Nähe von Wasen fand ich einen solchen Block am Wege, wohl []fünfzehn Ellen hoch, dem das Alles bezwingende Geschick eine seltsame Verknüpfung des Furchtbaren mit dem Komischen beschieden hatte: er trug ein Kartoffeläckerchen auf seinem Rücken. Ich mußte geradezu lachen; der Gegenstand schien mir so sehr bedürftig, poetisch behandelt zu werden, daß ich in Wasen, wo ich eine Erfrischung einnahm, trotz allem herzlichen Verzicht auf den Anspruch, ein Dichter zu sein, ein paar Verse darauf schmieden mußte. Der Leser wird erfahren, warum ich so unbescheiden bin, dieß anzuführen. Als ich weiter gieng, fühlte ich mich über Erwarten müde. Ich hatte doch erst dritthalb Stunden gemacht. Es war eine Schwüle gekommen, die Luft wurde dunstig ohne Wolken, der Dunst nahm einen strohähnlich fahlgelben Ton an, verdünnte sich aber allmälig und wiech einer neuen, sonderbaren, unheimlichen Helle, da von den Massen im Mittel- und Hintergrund ganz jener bläuliche Duft hinwegschwand, welcher doch eigentlich allein der Landschaft den malerischen Schein verleiht, der sie vom Stoffartigen entlastet, zugleich aber die Entfernungsgrade klar unterscheidet und dadurch unser Raumgefühl ausweitend lüftet und beglückt. Zufrieden aber, daß man doch deutlich sehen konnte, drang ich vorwärts, denn meiner wartete noch das Größte: die starrste Felswelt und der wildeste Kampf zwischen Wasser und Fels auf der Strecke von Göschenen bis zum Urner-Loch, die schauerliche Schlucht, []die den Namen der Schöllenen trägt. „Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?“ sang es in mir, als ich in die Biegung eintrat, welche die Straße bei dem genannten Dorf links nimmt, — „in Höhlen wohnt der Drachen alte Brut — es stürzt der Fels und über ihn die Flut.“ — Die Phantasie läßt sich den Zwang nicht anthun, sich die Art, wie sich einst das Wasser diesen Weg bahnte, als einen Jahrhunderte, Jahrtausende dauernd langsamen Gang vorzustellen, sie muß sich den Durchbruch wie einen fürchterlichen stürmischen Gewaltakt denken, sie wirft sich selbst in's unwiderstehliche Element hinein, stürzt sich tobend mit ihm auf die trotzenden Riesen, zertrümmert sie, schleudert sich ihre ungeheuren Blöcke in den Weg und schäumt zornig zischend, brausend, brüllend über das selbstbereitete Hinderniß dahin.

Bei einer der Windungen des Weges bekam ich plötzlich einen Stoß, der mich fast zu Boden geworfen hätte. Auf Geiersittigen war jetzt der Föhn über das Joch herabgeschossen und schrie wüthend auf, da er sie an den stahlharten Felswänden zerstieß. Zwischen sein Aechzen, Pfeifen, Kreischen, Heulen mischten die klagenden, grollenden Wasser ihr Weinen, ihr Schelten, ihren Donner; es war, als sei die Hölle losgelassen. Die Sinne wurden betäubt, die Augen brannten in ihren Höhlen, es war, als siedete es mir in den Ohren, als wäre mir höllischer Schwefelbrodem durch alle []Poren der Haut in den Leib gepeitscht, glühte mir den Schlund herauf und hauchte Flammen aus meinen heißen Lippen, meine Schritte taumelten und schwankten, als wäre ich betrunken. Und jetzt, — halt, was sehe ich? Täuscht es mir der Schwindel vor? Auf dem Vorsprung eines der granitenen Felsungeheuer eine Gestalt — ist es möglich? kann ein Mensch dort hinaufgelangen? — und die Gestalt: ich erkenne sie — A. E! Den Rücken an die Felswand gestemmt, einen Fuß vorgestellt, die Faust himmelwärts geballt — der Sturm wühlt in seinen Locken — den leichten Mantel, den er auf der Wanderung gerollt über die Schulter getragen, hat er umgenommen, er flattert in den Stößen und Wirbeln der Windsbraut, und sie zaust und zaust, bis er ihm vom Leibe gezerrt ist, dort fliegt er, bleibt an einem Dornbusch hoch an der Felswand wie eine gespießte Fledermaus hängen — aber A. E. selbst — man sieht: er spricht laut — man kann nicht hören —

Ich suchte näher zu kommen, es gelang mir mit schwierigem Klettern so weit, daß ich einige zusammenhängende Worte wenigstens in den Augenblicken vernahm, wo der Sturm, in seinem Anprall an die Hindernisse der Felsschlucht wechselsweise nach allen Richtungen stoßend, von der Stelle, wo A. E. stand, nach meiner Seite her blies. Ich suche diese Bruchstücke wiederzugeben. Die Gedankenstriche, die ich da []zwischen setze, sollen die Stellen anzeigen, wo das Getöse des Windes und das Rauschen der stürzenden, schäumenden Wasser mir das wilde Selbstgespräch in Stücke rieß. Ich habe bisher versäumt, die Erscheinung des Mannes näher zu schildern. Es war mir vom ersten Moment an eine Aehnlichkeit mit Hölderlin aufgefallen; der Leser kennt wohl das Titelkupfer in der Ausgabe der Gedichte von 1843; der unglückliche Dichter ist hier im hohen Alter abgebildet; dieses hat nicht vermocht, dem fast regelmäßigen Profil seinen Adel zu nehmen, aber es hat im Bunde mit dem Wahnsinn die hohe Stirn, die feinen Züge tragisch zerfurcht; man verjünge diese Züge zu etwa fünfzig Jahren, denke sie sich überhaupt markiger, die Stirne etwas weniger steil, doch hoch, weniger gefaltet, doch nicht ohne einige Furchen über der Nasenwurzel, man öffne die Augen etwas weiter, lasse sie aber gleich tiefliegend unter starkem Augenknochen, man ziehe die Mundwinkel um's Kennen weniger herab, so wenig nur, daß ein Gepräge von Gewohnheit bitteren Betrachtens nicht ganz aus dieser Linie verschwindet, halte aber im Ganzen das wohlgebildete Profil fest, man setze diesen Kopf auf eine muskulöse Gestalt: so kann man sich eine Vorstellung von dem seltsamen Reisefreund machen, um den mich meine Härte gebracht hatte; ich muß beifügen, daß mir die Rückführung erleichtert war, da ich Hölderlin schon zu einer Zeit []gesehen habe, wo jene zwei Feinde seine Erscheinung noch nicht so sehr zermürbt und gebrochen hatten. Leicht erkennt der Leser aus dem Bisherigen, daß der Ausgangspunkt der Seltsamkeiten, die er an unserem Manne kennen gelernt hat, in einer Grundstimmung, einer Ideenrichtung liegen mußte, die dem Geiste des früh verdunkelten Dichters verwandt war, aber ebenso leicht, daß der stärkeren Männlichkeit in der Erscheinung des Ersteren etwas im Innern entsprach, was dem Zweiten ganz fremd war. Hölderlin war humorlos; ich kann mir nicht denken, daß der unglückliche Dichter aus dem Ernste jemals in solche Derbheit hätte umspringen können, wie A. E. es liebte. Eben an diese Derbheiten, an diese Stöße des Zorns und gröblichen Witze hatte ich schon bisher den tröstlichen Gedanken geknüpft, A. E. könne nicht der Verzweiflung, nicht dem Wahnsinn verfallen, wie der wehrlose schwäbische Sänger. Solche Umsprünge, ja Cynismen wird man nun auch mitten aus den Worten des tiefsten Seelenwehs in diesem verzweifelten Selbstgespräch heraushören und ich gestehe, daß sie in jenen todesbangen Momenten mir doch eine gewisse Beruhigung gaben, es werde nichts Aeußerstes geschehen; so betröstete ich mich wenigstens bis zu dem Augenblick, wo —

Doch es ist Zeit, den rasenden Redner zu vernehmen, so weit das Brüllen des Sturmwinds, das Donnern der Wasser es uns vergönnt.

[]

„Apollo — deine Kinder — Söhne des Lichts — warum nicht — leichten, rhythmischen Aetherschwingungen — — nicht sterben dürfen an deinen tödtlichen Göttergeschossen — oder warum nicht — Drachen Python — warum — mit Nadeln todtstechen — Ameisenhaufen — zu Tode kitzeln — Niesen — Husten — Schnäuzen — Qualle — Kaulquappe — widerliche Schnecke — — Und Gott sprach: es werde! und der Katarrh ward —“

Täuschte ich mich nicht, so konnte ich in diesem Moment von all' den umgebenden furchtbaren Geräuschen ein ungeheures Räuspern unterscheiden.

„Welt — eine Erkältung des Absoluten — in der Einsamkeit — spuckte aus und die Welt war — Die Welt vom Ewigen gehustet, geräuspert — Schandgallert — Brütnest der Plagteufel — Trichinen des Daseins —“

Jetzt ballte er wieder die Faust gegen einen der Felsriesen, die ihm gegenüberstanden.

„— — verhöhnst du mich? Urkerl — Schöpfungstagen — immer gleich — undurchbohrbar — Urlümmel — Schweig! — selbst ein alter Rotzler — Triefnase — — Mensch doch wenigstens Schnupftuch —“

Er gebrauchte es mächtig.

„Warum — warum, ewiger Gott, der du nicht bist — dieß tiefe, starke Bewußtsein der Zwecke — []Zusammenhangs — daß Etwas, auch nur Etwas ganz sei — Durchkreuzung — herrliche Gefühle — Kröten — über den Weg laufen — Beinstellen — uns, deren Adlersonnenblick — Ganzes — Harmonie — Freude — einmal — einmal — Blütenkelch — Feldwanze darin — Gespenster-Angst, Tag und Nacht — Herzensbangigkeit, tiefe — unsichtbaren Feind — Furcht? — Nie, — vor keinem sichtbaren — Will endlich frei sein — frei — Angstband zerreißen — in Fetzen vor deine Füße! — Ha! Wie? Du auch da unten im Wasserstrudel, Nixe mit den Fischaugen? Kennst mich noch? Glotzst herauf? Soll ich kommen? Fort! fort! Nicht zu dir, nicht dir zulieb! — — Suwarow — weiß, — Gebrüll der Schlacht — wie so wohl, so frei — Gebeine im wüthenden Wasserstrudel bleichen —“

Er that auf der Spanne Raums über dem Abgrund einen Schritt — eine kupferroth glühende Wolke war über der Schlucht aufgezogen, auf deren Grunde sich dunkel die wilde Gestalt abhob, über ihm flatterte, gegen die Sturmwirbel mit rudernden Schwingen anstrebend und zappelnd, ein Rabe — tödtliche Angst um den Unglücklichen malte mir im Nu das Bild vor, wie er zerschellt in der Tiefe liege, ein Schmaus den Vögeln des Himmels, ich mußte ihn retten, suchte weiter aufzuklettern, gelangte mit äußerster Noth langsam um ein paar Schritte vorwärts, aber jetzt wackelte []unter meiner Fußspitze das schmale, kaum zollbreit ausgeladene Felsstückchen und unter der greifenden Hand der kleine Zacken — ein Angstschrei — ich fiel, ich verlor das Bewußtsein.

Ich erwachte und fand mich in A. E.'s Armen liegend hart am steilen Ufer der tosenden Reuß, nahe der Teufelsbrücke. Er goß mir mit der hohlen Hand eiskaltes Wasser über das Haupt. „Wie steht's?“ Ich tastete an mir herum. „Suchen Sie sich zu bewegen!“ Ich konnte es, nur in der rechten Hüfte und linken Schulter fühlte ich scharfe Schmerzen; er untersuchte und fand nur starke Schürfungen. Inzwischen sah ich, daß ihm selbst aus einem großen Riß im Rockärmel das Blut hervorschoß. Er zog den Rock aus, streifte den Hemdärmel auf und es zeigte sich eine lange Wunde, von einem großen Dorn oder scharfen Felszacken gerissen. Er wusch sich den Arm mit der niedertriefenden Gletschermilch einer Runse, an der wir uns befanden, und sagte: „Es ist nur eine Fleischwunde, aber verbinden!“ Er stöberte in seinen Taschen und ich mußte in allem Elend einen Augenblick lächeln, als neben zwei gebrauchten zwei ungegebrauchte feine Leinwandnastücher zum Vorschein kamen. Ich half ihm den Verband anlegen und freute mich, des Gebrauchs meiner Hände fähig zu sein. Bei dieser Arbeit bemerkte ich eine lange große Narbe, welche, durchkreuzt von der frischen Wunde, schief über []den rechten Oberarm lief. „Was ist denn aber das?“ fragte ich. — „Ach,“ sagte er, „der Lümmel, der dänische Dragoner bei Krusau — still davon! Das Moralische versteht sich immer von selbst!“

Ich richtete mich langsam auf, that ein paar Schritte und fand, daß ich auch leidlich gehen konnte. „Wir schleichen nach Göschenen hinunter,“ sagte er, „kommen Sie.“ — „Warum nicht lieber vorwärts nach Andermatt?“ — „Nein, nein! dort sitzt es voll von Fremden; drunten ist's still!“ Mit unendlicher Mühe wurden die Hindernisse bis zur Teufelsbrücke überwunden; er schob, zog, hielt mich, während ich weniger kletterte, als auf allen Vieren kroch. Endlich war die geebnete Straße erreicht, er gab mir den gesunden Arm und mit langsamen Schritten begann die nun etwas leichtere, doch immer noch schwierige Wanderung. „Aber wie ist's denn gegangen?“ fragte ich. „Nun, ich hab' Sie auf einmal gesehen, wie Sie hiengen, dann vorwärts klettern wollten. Wie ich herabgelangt bin, das weiß der Himmel, ich nicht mehr. — Sehen Sie dort!“ — Er zeigte nach der Stelle. „Nicht ein Pfad, nur ein Ritzenzug im Fels, der mir für Gemsen zu ungangbar schien, — es gelang mir, just noch im rechten Augenblick unter Sie zu kommen, — Sie schreien — gleiten mir an die Schulter, ich packe Sie, — und nun, dann sind wir eben miteinander heruntergerumpelt, wie's zugieng, weiß ich eben auch nicht []mehr — es ist ja recht gnädig abgelaufen — nicht immer können die Geister doch das Gute stören. Frau von Vorsehung, geborene Zufall, hat sich dießmal doch ganz ordentlich gehalten.“

Wir schwiegen lang, dann fieng er, in den Anblick der stürzenden Wasser vertieft, an: „Wissen Sie, wo die Schönheit liegt in dem Vers: ‚Es stürzt der Fels und über ihn die Flut’? Gar nicht bloß im Klang der Vokale und Konsonanten und nicht bloß im Kraftstoß der einsylbigen Wörter; nein, hauptsächlich in der Cäsur, die mitten in das Wort ‚über‘ fällt. Wie die Woge da — sehen Sie hin — über den glatt gespülten Felsblock rinnt, so das Wort über den Vers-Einschnitt.

Eine solche lehrhafte Bemerkung in solcher Stunde wollte mir im ersten Augenblick schulmeisterhaft erscheinen, aber schnell besann ich mich, daß ich darin vielmehr ein Zeugniß sokratischer Geisteskraft zu achten hatte; ich fand die Reflexion fein und richtig und die heilsame Kühle wissenschaftlichen Denkens drang mir beruhigend in die erschütterte Seele, ja ich meinte zu fühlen, daß sie von innen auf die zerstoßene, brennende Haut herausdringe. Ich wollte eben meine Zustimmung aussprechen, als uns ein italienisches Fuhrwerk begegnete, gezogen von einem Maulthier, das ganz nach der wälschen Art aufgeschirrt war: rother Federbusch, roth gesäumter Pelzbesatz an den Scheuledern, []um den Hals ein klingelndes Schellenband. Wir freuten uns des Anblicks. „Das Maulthier sucht im Nebel seinen Weg,“ zitirte ich. „Ja, wie wir Alle,“ sagte er, „nur stolpert es weniger.“

Wir verfielen wieder in langes Schweigen, Jeder in sich vertieft und bei der Mühe unserer Bewegung doppelt wenig zum Sprechen aufgelegt. Die Straße war jetzt ganz menschenleer.

Indem wir so dahinschliechen, begegneten uns ein paar Kerle, verlumpte Gestalten, als Landstreicher leicht zu erkennen, gaben sich ein Zeichen, als sie uns sahen, und bettelten uns dann mit einem Tone an, der auch ohne die unheimliche Erläuterung durch die derben Stöcke, die sie führten, nicht mißzuverstehen war. Plötzlich war A. E. ganz verändert; bolzgerad aufgerichtet, nicht mehr ein Hölderlin, sondern ganz Bild des persongewordenen Befehls, herrschte er die Strolche an, verhörte sie wie ihr gesetzlicher Richter nach Namen, Herkunft, Stand, kanzelte sie dann als Lumpen ab und schloß mit der Drohung, sie arretieren zu lassen, wenn sie ihm noch einmal unter Augen kämen. Sie standen überrascht und verschüchtert, doch zaudernd. Jetzt kommandirte A. E. mit lautem und straffem Stoß der Stimme: „Links um! Vorwärts marsch!“ Es fuhr ihnen wie ein Blitz in die Beine und sie gehorchten. Ich sah recht, was die Persönlichkeit allein, auch ohne Machtmittel, durch das Gewicht des einfachen Im []ponirens erreichen kann. „Sie können herrschen,“ sagte ich. — „Es lernt sich ein wenig,“ war die Antwort, „über Subjekte immerhin, dagegen über Objekt — kaum, — nicht — nie. — Uebrigens hatte ich den Kerlen am Gang angesehen, daß sie Soldaten gewesen sein müssen.“

Darauf ruhten wir kurze Zeit an einer Stelle aus, wo wir auf einen der reißendsten Wasserstrudel hinabsahen. Wie wir uns schweigend das Schauspiel betrachteten, kam ein Gegenstand hergeschwommen, in welchem wir, als er näher war, A. E.'s vom Sturm geraubten breiten Hut erkannten, obwohl er sich allerdings in sehr erschüttertem Zustande befand. Die arme Filzgestalt trieb dem quirlenden Kessel hart an einem der Abstürze zu und spielte hier eine Weile im Kreise. „Was mag nun der Filz wohl denken, daß das für ein rasendes Zeug sei, was ihn da umwirbelt?“ sagte ich. „Und was die wilde Reuß,“ setzte er hinzu, „daß das wohl für ein Ding sei, das ihr da aufgepackt ist?“ — „Nun, was neulich der Mutz im Berner Bärengraben dachte; als ein Hut hinunterfiel, hob er ihn auf, sah ihn lang an, drehte ihn zwischen den Tatzen um, zerarbeitete ihn gründlich und fraß ihn dann auf — geben Sie Acht, sie wird's gleich ebenso machen!“ — Im selben Moment war das Artefact vom Stromsturz ergriffen und verschwand. „Doch den Jüngling sah Niemand wieder“ — oder auch: „Denn die Elemente hassen das Gebild der Menschen []hand,“ zitirte A. E. und setzte lachend hinzu: „Und so hätten wir uns denn in aller Trübsal doch noch mit unsern zwei Klassikern beschäftigt.“ Ich hatte bis dahin vergessen, daß er barhaupt war, und suchte ihm vergeblich meinen Hutaufzunöthigen, den ich, in eine Felsspalte geklemmt, wieder gefunden hatte. Die ruhiger gewordene Luft spielte mit seinem feinen, auf dem Scheitel etwas sparsam gewordenen, nur um Stirne und Hinterhaupt reichlicheren Haare. Es wurde mir eigenthümlich weich zu Muthe, als ich dem so zusah. — Wir erreichten nun Göschenen. Das Dorf kannte noch nicht die Unruhe, die da herrscht, seit man den Tunnel gräbt, wir traten in ein ländlich solides Wirthshaus ein, machten dem freundlich und mitleidig fragenden Wirth etwas von einem unglücklichen Kletterversuch vor und A. E. zwang mich nun in's Bett, verschwand auf kurze Zeit, kam dann mit einem nassen, ausgewundenen Leintuch, wickelte mich kunstgerecht und sagte: „So, jetzt ruhen Sie, schlafen ein Stündchen, ich will inzwischen nach einem Bader umschauen.“ Bald meldete sich, als er hinweg war, der Schlummer bei mir, nur schickte er sich, ehe er eintrat, eine Reihe todbanger Traumbilder voraus; ich glaubte von Fels zu Fels in's Unendliche zu stürzen; so müßte es einem Wasserfall zu Muthe sein, wenn er fühlen könnte; ich zerschellte tausendmal in einer Minute zu Staub; ich war der Filzhut, den wir treiben gesehen, ich war zu []gleich auch sein Träger; das Becken der Reuß, auf dem ich schwamm, erschien mir als Suppenteller, und ich wurde für seine Entweihung verurtheilt, mit den jäh abstürzenden Wogen in die Tiefe geschleudert zu werden; ich war ein Leichnam, Raben zerhackten mich, ein Geier schlug seine Krallen in meine linke Schulter, ein Adler seinen Schnabel in die rechte Hüfte, ein Felsblock fiel mir auf die Brust, das tosende Wasser schwemmte ihn weg, fuhr mir zischend in alle Röhren des Leibes, mein ganzes Inneres fieng an zu rauschen, zu schäumen, ich wurde selbst zum rasenden Strudel, löste mich in Schaum auf, im Schaum zerstob der Traum und ich sank in das reine Dunkel des ganzen Schlafes.

Ich mochte ein paar Stündchen geschlafen haben, als ich, die Augen aufschlagend, meinen Retter neben mir sitzen sah. Ich erkannte ihn nicht sogleich, denn er hatte eine Pelzkappe auf dem Kopf. Er merkte es, zeigte sie mir her und erzählte, das Glück habe ihn an einen ländlichen Kleiderkram geführt, wo er sie gefunden. Sie stand ihm wirklich ganz gut zu Gesichte. „Nun,“ fieng er dann an, „Sie sehen ja ganz frisch aus, jetzt aus der Wickel! und da ist der Herr Obermedizinalrath von Göschenen.“ Ein echtes Charakterbild von ländlichem Chirurgen sah ich jetzt erst drüben am Tisch stehen und Pflaster streichen. „Es wird dem Herrn gut thun, wie Ihnen,“ sagte der ehrsame Künstler, legte mir zwei große Pflaster auf und half mich dann []ankleiden. Doch ich hätte der Hülfe nicht mehr bedurft; ich fühlte mich ganz leicht und stark, die tobende Musik im Kopfe war verstummt; mich drängte es, meinem Schicksalsbruder an den Hals zu fallen und Laute des Dankes zu stammeln, aber ich hütete mich wohl, diesem Gefühle zu folgen; ich wußte, wie es mir gegangen wäre: ein Pah! und ein paar Sprachspiele von gerettetem Retter und rettendem Gerettetem wären sicher nachgefolgt, ja bei einer leidigen Neigung zum schlechten Witz, die ich schon an ihm kannte, hätte er nicht geruht, bis ein gegabelter Retter-Rettig zum Vorschein gekommen wäre, und so hätte er die rührende Szene in eine Lachszene verkehrt.

„Appetit?“

„Ja wohl, ja freilich!“

„Schon besorgt, kommen Sie zu Tisch!“

Der Bader wurde, zufrieden mit seiner Belohnung, entlassen, wir Zwei traten in ein etwas niedriges Zimmer, das aber mit seiner Täfelung und reinlichen Gardinen einen ganz heimelichen Eindruck machte, der Wirth erschien und hinter ihm ein Mädchen mit der Suppenschüssel. Ich bemerkte, daß A. E. sie in's Aug faßete. „Ein Töchterchen?“ fragte er den Wirth. „Eine Nichte,“ war die Antwort. „Ein hübsches Kind,“ sagte ich, als Beide hinaus waren. „Ich weiß nicht; halb hübsch oder so oder — halt! so ist's: sie sieht aus, als hätte sie eine schöne Schwester.“ Ich nahm mir keine Zeit []zum Nachdenken über gemischte hälftige Schönheit und über Schließbarkeit auf eine schönere Hälfte, denn der Hunger war groß und ebenso ergieng es sichtlich meinem Tischkameraden.

Es begann nach Stillung des ersten Bedürfnisses ein wachsend heiteres, belebtes Gespräch. Ich sah ihn zum ersten Mal eigentlich hell in seiner Stimmung. Seine Athmungsorgane erschienen mir unbelästigt, das starke Ereignis; hatte wohl eine gute Krisis mit sich geführt. Er fieng wie dort am Axen vom Wetter an: „Der Föhn legt sich, will sehen, wann der Regen kommt; ich glaube, viel wird's nicht sein, er wird wohl dießmal die Hauptmasse des Feuchten drüben überm Bodensee hinunterschütten. Können Sie denn den Wind ausstehen?“ Ich hütete mich wie billig, von der physikalischen Nothwendigkeit der Luftbewegung anzufangen, und A. E. fuhr auch fort, ohne Antwort abzuwarten: „Geduld bei allem andern übeln Wetter, aber der Wind ist spezifisch unverschämt, betäubt die feinsten Sinne, Auge und Ohr, macht durch den unnöthigen Lärm das Hirn trunken, wild, ist wie ein Kerl, der mich mit Ohrfeigenregen begleitet, mir auf Tritt und Schritt vorheult, der Teufel sei los, kurz, kann mich geradezu ganz wüthig machen.“

Dieß war die einzige Andeutung, das einzige, entfernte, sehr nur mittelbare Geständniß; der Unvernunft der Szene, dir er am Fels aufgeführt. Der []Wink war mir wenigstens hinreichend, um zu schließen, was übrigens auch sonst der Augenschein zeigte: daß eine gewisse Befreiung eingetreten sei. Nur nehme der Leser die Befreiung nicht für wirkliche Besserung: er würde sich täuschen, wie sich bald finden wird.

Er hatte gestern den Föhn mit einem bösen schönen Weibe verglichen, jetzt führte ihn das Föhngespräch auf dieselbe, aber umgekehrte Vergleichung: „Dämonisch reizvolle Weiber sind doch wie der Föhn; sie machen warm, warm, aber schwül, nicht Sonnenwärme, — elektrisch, bang, — Schönheit des Tigers — geben die Seele nicht, haben keine — wurzelt nichts — Liebe und Katarrh wurzelt im Mann tiefer als im Weib, — aber, aber, mein Herr—“ Hier begannen seine Augen zu funkeln und er fuhr mit der Stimme heraus, als spräche er mit einem Feind — „es gibt Kuren — wenn erst ein rechter Katarrh dazu kommt — wild — scheuslich —“ Er brach ab, erbleichte, versank in ein Brüten und sprach mit plötzlich erweichtem Tone vor sich hin: „O keine Kuren — Heilung erst vom Himmel — vom Lichtgeist — dann ein gesunder Säbelhieb —“

Er faßte sich schnell, und als wäre ihm mit den letzten Worten das Stichwort von außen gegeben, auf ein anderes Thema einzugehen, nahm er die deutsche Frage auf und trug durch einen sichtbar künstlichen Akt der Seele seine Erregung auf diesen ganz anderen, sächlichen Inhalt über: eine Gewaltsamkeit, die ihm []doch so völlig gelang, daß die Kunst zur Natur wurde und nun die ganz ungeheuchelte Leidenschaft eines echten Patrioten zum Vorschein kam. Er brach in bittere Klage aus über die Verachtung, die noch auf der Nation laste. „Fast gleichen wir ja,“ rief er aus, „den Juden, die auf Kohlen sitzen, wo das Gespräch auf ihr Volk führt. Ich hab's Ihnen nicht erzählen mögen,“ sagte er; „vorgestern Nacht in Brunnen — ich saß eigentlich gern unter den Schwyzer-Mannen, obwohl ich sonst das Schreien nicht leiden kann; Luftstimmen, voces non subactae, aber Bruststimmen, Metall, Korn! Da kommen die Kerle auf die Dinge zwischen Preußen und Oesterreich“ — (wir sind im Spätsommer 1865) — „fängt einer an: ‚ja, die Dütschen! 's ist nüt und wird nüt'; ich fahr' auf, weis' ihn zurecht, man droht mir, aber da sie sahen, daß ich keinen Teufel fürchte, haben sie mich in Ruhe gelassen. — Inzwischen, es kommt jetzt anders, Sie werden sehen, aus diesem Wirrwarr entsteht etwas. — So gewiß glaub' ich's, meine es schon zu sehen, daß mir schon vor den nächsten Folgen bang ist, wenn das deutsche Reich aufgebaut sein wird.“

„Da sind Sie doch mehr als eine Wetter-Kassandra! Was für Folgen?“

„Sehen Sie, die Deutschen können das Glück und die Größe nicht recht vertragen. Ihre Art Idealität ruht auf Sehnsucht. Wenn sie's einmal haben — []vielleicht erleben wir's, geben Sie Acht, — und nun nichts mehr zu sehnen ist, so werden sie frivol werden, die Hände reiben und sagen: unsere Heere haben's ja besorgt, seien wir jetzt recht gemeine Genuß- und Geldhunde mit ausgestreckter Zunge —“

Ich erschrack, wollte es nicht glauben, und erschrack doch.

Und an dieser Stelle angelangt, erlaube mir der Leser eine kurze Unterbrechung. Seit es nach und nach kam, wie es nun gekommen, seit Unehrlichkeit, Betrug, Fälschung, Fäulniß so mancher Art tiefer und tiefer in das Blut unserer Nation sich einfrißt, muß ich täglich dieser Prophetenworte gedenken. Ja ich bekenne, vielleicht hätte ich trotz meinem Vorsatz es doch unterlassen, den unbequemen Sonderling zu schildern, wenn nicht diese Weissagung zu melden wäre, die so leidig eingetroffen ist.

A. E. legte mir, den er sehr nachdenklich sah, jetzt die Hand auf den Arm und sagte: „Nehmen wir's auch nicht zu schwer; eine anständige Minorität wird bleiben, eine Nation kann so was überdauern; es bedarf dann ein großes Unglück und das wird kommen in einem neuen Krieg, dann werden wir uns aufraffen müssen, die letzte Faser daran setzen und dann wird's wieder besser und recht werden.“

Ob auch dieß in Erfüllung gehen wird?

A. E. wurde, als dieser schwer lastende Ernst heraus war, wirklich munter, er gerieth, redselig auf []gelegt wie er war, in sein altes Fahrwasser und sein Schiff fuhr so mit vollen Segeln, daß ich in meinem Zuhörerkahne daneben von ganzen Sturzwellen übergossen wurde. Wie sollte ich dieses Sturzbad schildern können! Nur einige Wellen mögen ausgehoben werden.

Die Politik brachte ihn auf die Geschichtsschreibung und nun gieng's an, nun legte er wieder mit seinen Marotten los. Er fordere Gründlichkeit und die Frucht werde sein: Billigkeit, Gerechtigkeit, Mitgefühl, Toleranz, wahre Humanität. Der Geschichtsforscher müsse vor Allem eine richtige metaphysische Vorbildung genießen, müsse sich gute Kenntnisse in der Urgeschichte erwerben. Ich bekam bei dieser Gelegenheit etwas mehr vom philosophischen System oder vielmehr eigentlich der Mythologie des sonderbaren Denkers zu hören, als ich bisher wußte. Die Natur sei das Produkt eines Urwesens weiblichen Geschlechts. Dieses höchst geniale, reizvolle, höchst gütige und zugleich höchst leichtsinnige und dämonische, höchst grausame Weib habe sich mit Legionen böser Geister verbündet, die sich im Urschlamm erzeugten. Man solle zusehen, ob nicht alles Thun und Hervorbringen der Natur weib-artig sei. So leicht, als die Weiber empfangen, schaffe sie; so ohne alles Nachdenken, wie ein begabtes Weib geistvolle Gedanken und Plane entwickle, quellen aus ihrer Hand die unendlichen Formen hervor; so geschmackvoll und eitel als das Weib sich aufputze, schmücke sie ihre []Wesen; man solle doch nur zum Beispiel die Toilette der Vögel sehen, die Büsche, Hauben, Klunker, Krägen, Schweife in allen Formen, namentlich in solchen, die sich zu Prachträdern aufschlagen: man werde doch nicht meinen, diese Dinge seien gemacht, damit Niemand sie sehe, es liege ja auf der flachen Hand, daß das von einer genialen Urkokette stamme; dieß Weib sei wohl auch gut: sie nähre, pflege, sorge, heile, wie nur ein Weib es könne; dann aber sei sie plötzlich total gedankenlos, absolut vergeßlich, ganz so dumm, wie oft das geistreichste Weib, ja eine reine Gans.

„Von der Sie auch gelegt sind,“ fiel ich ein.

„Ja wohl, ja leider wohl,“ sagte er und fuhr ungestört fort: „So vergißt sie, daß sie einen Frühling voll Blüthenherrlichkeit hat sprossen lassen, macht den ganzen Spaß mit einem Nachtfrost hin, vertilgt ihre eigenen Produkte, läßt ihre geliebten Kinder verhungern, verschmachten, verfrieren; sie flößt der Thiermutter die zärtlichste Liebe für ihre Jungen ein und leitet den Bärenvater, den Kater an, sie zu fressen; sie gibt dem besten aller Thiere, dem sehr philosophischen Thiere, wie Plato es nennt: dem Hunde die Hundswuth zur Mitgift und macht ihn zum Scheuel und Greuel der Menschen, die er liebt und die ihn lieben; sie ist mißlaunisch, widerwärtig just wie die Weiber und wirft neben ihre Künstlergebilde das Warzenschwein, die Kröte, den Bandwurm, die Läuse, Flöhe, []die Wanzen. Kann dieß Alles noch aus purem Dusel und Unwirschsein erklärt werden, so ist sie nun aber auch recht eigentlich grausam, so grausam als gütig, und hier nun erst gleicht sie ganz dem dämonischen Weibe oder vielmehr hier am deutlichsten liegt der Beweis, daß dieses Alles nur von einem Weibe herkommen kann, nämlich einem genial boshaften. Ich habe diesen Zug oft am Weibe bewundert. Macht das Weib eine rechte Teufelei und man hält es ihr nun vor, so pflegt sie zu sagen, es sei nicht mit Ueberlegung geschehen. Das ist denn auch ganz wahr: eine Bosheit, so raffinirt, wie sie der Mann nur mit angestrengtem Denken ersinnen könnte, bringt das Weib ohne alles Nachdenken im Augenblick fertig, satanisch schuldhaft ganz unschuldig; das Weib führt ein Gift, das ein moralisches und doch ebenso sehr ein pures Naturgift ist, genau wie die Nattern, Skorpionen, Taranteln; ich habe schon Briefe gelesen von erbosten Weibern geschrieben: kein Mann, so lang er auch grübelte, könnte ein solches Arsenal von Nadeln mit vergifteten Widerhaken zu Stande bringen; den Stich fühlt man oft im Anfang kaum, dann fängt er an zu brennen und nach und nach empfindet man sein ganzes Wesen bis in's Herz hinein vom höllischen Schierling durchträufelt, durchsickert, durchbeizt. Doch weiter im Text: inzwischen nun hatten sich im Urschlamm infusorisch, unabhängig vom Fortpflanzungs []system der persönlichen Urgottheit, nämlich eben jenes Weibs, in der tropischen Hitze der Urwelt Legionen von bösen Geistern erzeugt, sie boten sich ihr als Gehülfen an und mit ihrer Assistenz erst ist nun das Ganze aller Scheuslichkeiten, die ganze Welt raffinirter Grausamkeit fertig geworden, welche die Natur aufweist, die ganze wurstgiftige Wurst des Daseins. Es ist viel zu mild, die Natur ein allgemeines Wechselmordsystem zu nennen, man soll bedenken, wie die Thiere ihr Opfer nicht einfach morden, sondern zum Ueberfluß, zur reinen Wollust stundenlang, tagelang martern; wissen Sie, daß die Raben einen feineren Leckerbissen nicht kennen, als die Augen eines jungen Hasen? — es ist mir gelungen, einmal einen solchen armen kleinen Tropfen zu retten, hinter dem sie schon her waren. In Norwegen sah ich in einem Fjord einen Walfisch stundenlang wie toll aus dem Wasser emporschnellen, ich erzählte es einem Schiffer, der fragte mich, ob ich nicht an seiner Brust zwei schwarze Körper bemerkt habe, ich solle Acht geben, wenn ich diese Erscheinung wieder beobachte; es sei eine Art kleinerer Haye, die immer paarweise schwimmen, denen die Brüste des weiblichen Walfisches die höchste Delikatesse seien, die sich darin festbeißen und nicht ablassen, bis das ganze weiche Organ aus seinem tiefsten Sitz herausgenagt sei; das könne taglang, nachtlang dauern und da springe denn das wehrlose Thier vor wüthen []dem Schmerz aus der Fluth empor, bis es ermatte und verende. Und da soll man singen: Wie groß ist des Allmächt'gen Güte!? Nein, nein, das freilich ist klar, daß dieß ebenso pein- als freudenreiche Ganze, dieß kunst- und pracht- und teufeleivolle System nur von einem höchst intelligenten persönlichen Wesen hervorgebracht sein kann, aber nicht minder klar, daß dieses Wesen ebenso blind, als weise, ebenso bös, als gut ist, kurz, daß es nur ein geniales Weib sein kann. Uebrigens erhellt dieß auch daraus, daß die Natur schlechterdings nicht mit sich reden läßt, daß man mit Gründen absolut nichts bei ihr ausrichtet, just wie die Weiber, die sagen: drum eben, wenn man sie stundenlang widerlegt hat.“

„Zu was brauchen Sie aber noch die Geister?“

„Bitte, mich nicht zu unterbrechen. Der Natur war etwas Ausnehmendes gelungen: sie hatte endlich den Menschen gebildet. Mit Hülfe der Geister wurde er die grausamste aller Bestien, denn ihm diente der Verstand zur Erfindung ausgesuchter Qualen für Thiere und seines Gleichen. Allein es geschah ein Strich durch die Rechnung. Derselbe Mensch erfand, geführt von einer zweiten, höheren Gottheit, einer männlichen, einem Lichtgeist, von dem wir ein andermal noch sprechen, nach und nach Dinge, auf welche das Urweib und die Geister nicht gefaßt waren: das Recht, den Staat, die Wissenschaft, die begierdelose Liebe und die Künste. Das []Weib war mehr nur verwundert, die Natur ist ja gut und bös, bös und gut durcheinander; sie hatte es in unachtsamen Stunden werden lassen und machte nun große Augen, wie es da war. Aber die Geister, das Schandschlammprodukt, wütheten und beschlossen furchtbare Rache. Sie schlüpften in die Objekte. — Das Weitere wissen Sie, wissen, wie der Mensch nun geschunden wird, was Alles ihm über den Weg rennt, wenn er mitten im besten, im vernünftigsten, im zweckmäßigsten Thun begriffen ist, wissen, wie er in Allem tückisch durchkreuzt, durchbrochen, das Hackbrett ist, worauf kichernd, hohnlachend die bösen Geister spielen. Es ist nur noch beizubringen, daß es ungenau gesprochen ist, wenn man das besessene Objekt anschuldigt, statt den besitzenden Dämon. Dieß ist nur sprach- und phantasiegemäß; man kann nicht allemal zwei nennen.“

„Aber Sie waren eigentlich an der Geschichte.“

„Ja so, ja! Billigkeit, Gerechtigkeit, Mitleid, Humanität — wenn sie gründlich geschrieben würde. Wenn ein braver, wenn ein gescheuter, wenn ein großer Mann unsinnig, zweckwidrig, unrecht handelt, schwächlich unterläßt, wenn ein Redner, wenn ein Denker sich in unbegreifliche Widersprüche verwickelt: wissen wir denn, ob ihm nicht ein Knopf an den Hosen gerissen war? Wer kann Vernunft bewahren in diesem Zustand? Ob ihm nicht der Katarrh ein teuflisches Haarseil durch den Schlund zog, sein Ge []hirn trübte, bewölkte, versimpelte und nichts ihm zu denken mehr übrig ließ, als Unsinn, Unrecht, Widersinn? Brannte nicht vielleicht ein Hühnerauge, gab ihm glühende Dolchstiche von der Zehe aufwärts bis in's Herz und Mark? O Menschheit, erkenne dieß, werde klar und du wirst verzeihender, wohlwollender, edler werden! Menschheit, habe Religion! Ein Held kann über einen Strohhalm stolpern! Ein Halbgott an einer Gräte ersticken! Und das ist noch nicht das Schlimmste, aber ein Vernünftiger, ein Braver kann zum Fex, zum Troddel, zum Kinderspott, zum bösen Nickel, zum Schmutzigel, ja zum Verbrecher, zum Scheusal werden. Kurz der Wahnsinn beherrscht das Geschehen: die Schuld der Geister, die Schuld der Teufelsrotte. Und aber trotzdem: sie können die Menschheit placken und schinden, aber nicht mehr unterkriegen, den Oberbau: Gesetz, Staat, Liebe, Kunst nicht mehr einstürzen, wir müssen streben, ringen, kämpfen, als ob sie nicht wären. Ja die Geister selbst und ihre bösen Werke, obwohl wir sie nicht hindern können, müssen uns dienen: wir erkennen sie, wir verwenden sie, namentlich in der Kunst.“

Ich erschrack, weil ich mir denken konnte, nun werde er erst recht in's Zeug gehen. Denn er war immer aufgeräumter geworden, ließ sich nicht im geringsten verstimmen durch die schwierige Aufgabe, die uns ein Theil des gediegenen Mittagessens stellte: alles []Fleisch war hart, wie man es dort zu Lande liebt, aber A. E. arbeitete mit guten Kieferwaffen munter zu und half kräftig mit dem feurigen Veltliner nach, der uns gar wohl that nach unserem Abenteuer. Ich durfte ihn nicht stören in seinen Tischreden und hörte denn geduldig weiter.

Er bewegte sich durch das Gebiet der verschiedenen Künste. Zunächst kam die Poesie daran und zwar das Drama, die Tragödie. Schiller's Tell fiel ihm wieder ein und er sagte: „Wollen Sie dagegen eine wahre Tragödie, das heißt eine solche, die den Konflikt der Konflikte, den des Menschen mit den Geistern, behandelt? Eine Tragödie, die aus der Menschengeschichte den wahren Inhalt destillirt hat? Eine Tragödie, aus der wir die echte Lehre vom Mitgefühl mit dem armen Sterblichen entnehmen, die echte Humanität schöpfen sollen? Eine Tragödie, deren wahre Bedeutung doch bis heute noch gröblich verkannt ist? Ich kenne, darf ich sagen, die ganze Literatur über Shakespeare's Othello. Nirgends auch die blasse Spur von Ahnung der eigentlichen Intention des tiefsinnigen Dichters, zu deren Verständniß er uns doch einen so deutlichen Wink gegeben hat! Was sagt denn Othello im vierten Auftritt des dritten Akts zu Desdemona? ‚Ich fühle Schmerz an meiner Stirne hier' und wie erläutert er dieß deutlicher im vierten? ‚Mich plagt ein widerwärt'ger böser Schnupfen.‘ Beiher ist hier []zu bemerken, wie erbärmlich die Uebersetzer verflachen: ‚Widerwärt'ger!‘ Salt sagt Shakespeare: salzig; o, Shakespeare ist konkret, nie abstrakt allgemein! o, der kennt es! — Nun meinen die seichten Köpfe, das sei bloß Vorwand von Othello, um herauszubringen, ob Desdemona das Schnupftuch noch habe. Schnupftuch! Handkerchief! Worüber die gemeinen Seelen noch lachen! Als ob Shakespeare nicht leicht sonst ein Tuch hätte setzen können, wenn nicht tiefere Absicht gerade dieß verlangt hätte! Meint man denn, eine Wuth, eine That wie des Othello sei aus moralischer Verfinsterung allein zu erklären? Nimmermehr! Der Schauspieler, der sich ganz in die Tiefe des Dichtergeistes versetzt, wird schon im zweiten Akte bei der Ankunft auf Cypern durch eine gewisse Dumpfheit, eine nasale Färbung des Tons fein andeuten, daß sich Othello auf der stürmischen Seefahrt bedenklich verkältet hat; nun erwäge man, daß es ihm, schon angeschnupft, wie er ist, unmöglich gut sein kann, daß er bei dem nächtlichen Skandal auf der Wache schnell das Bett verlassen muß; der darstellende Künstler wird also vom dritten Akt an die Symptome etwas steigern, etwa auch durch Auftragung von etwas Roth auf dem Nasenzipfel — (hier fühlte A. E. nachdenklich an seinen eigenen) — oder, als Mohr, — von etwas Dunkelblau — oder Grün? — er wird beim ersten Ausbruch von Heftigkeit gegen Desdemona durch []scharfes, trockenes Husten dem Zuhörer die Ueberzeugung einflößen, daß der Katarrh jetzt in den Hals getreten ist und allda wie mit einer Nadelspitze kratzt, kitzelt und krabbelt. Jetzt tritt das eigentliche Katarrhfieber ein, das Hirn ist eingenommen, giftig gereizt, alles Blut im Kopf, nicht nur die Nase ist roth oder blau, auch die Ohren sind es — Sie wissen, mein Herr, wie wüthend und blutdürstig der Mensch ist, wenn er heiße, rothe Ohren hat —; mit Jago's Scheinbeweisen, stets erneuten Einflüsterungen steigt in gleichem Schritte dieser traurige Zustand, die Ohnmacht im vierten Akt, aus bloßer Phantasieaufregung denn doch nicht erklärlich, ist Beweis einer radikalen innern Verpfropfung, das Uebel ist offenbar in den Magen niedergestiegen, ist ganz zur höllischen Grippe geworden; von nun an begleite Räuspern, Husten, unendliches Schnäuzen jeden Schritt des Unglücklichen! So gelangen wir zur Mordszene; hier leiste der Künstler das Höchste! Othello ist jetzt auf dem Gipfel seines Leidens; nicht in kleinlich naturalistischer Weise, nein, ganz im furchtbar hohen Styl werde dieses Aeußerste des tragischen Zustands dargestellt, es seien Hustenanfälle erhabener Art, die wie Kanonenschüsse explodiren, endlich wird der Unselige blauroth-grünschwarz im ganzen Gesicht, er kann mit aller verzweifelten Anstrengung die im Halse sitzenden zähen, schmählichen Hindernisse nicht herauswürgen, er kann durch den Mund []nicht genug athmen und die ganz verschwollene Nase versagt völlig den Luftdurchgang; er ist am Ersticken; da, in der Wuth, in diesem Krampf des Lebens, diesem rasenden Sieden des Gehirns wird er zum Teufel: soll ich ersticken, so sollst du es auch, so denkt er; das Schnupftuch! das Schnupftuch! Dieser Ausruf — (er hat das seinige offenbar verlegt) — zeigt an, mit welchen Objekten seine tollgewordene Phantasie sich einzig noch beschäftigt, und jetzt — erwürgt er Desdemona. In diesem Sinn und in diesem allein richtig aufgefaßt, haben wir im Othello die Tragödie aller Tragödien, die erste, vollkommenste, ergreifendste Dichtung aller Zeiten. Da erst muß jedes Herz klopfen, jede Lippe seufzen: o, was ist Menschengröße, Menschenruhm! O, sehen Sie,“ fuhr er heftiger fort, — „ich selbst — an wie viel Gutem haben mich die Katarrh-Teufel verhindert, aber zum Bösen, zum Grauenhaften — ja dazu — damals — damals — o man bedarf Nachsicht —“

Er stockte, besann und faßte sich und fuhr ganz nüchtern fort, es falle ihm übrigens nicht ein, irgend Jemand zu vergöttern. Von den bekannten Flecken Shakespeare's — Absurditäten, Rohheiten — wolle er jetzt nicht reden, sondern nur bemerken, daß es ihm widerfahren könne, gerade in dem Punkte zu fehlen, worin doch seine wahre Größe bestehe. Er mache auf eine schwere Unterlassung im König Lear auf []merksam. Der brave Kent lange nach scharfem Ritt in Cornwall's Schloß an, überreiche den Brief von Lear, werde alsbald beordert, Cornwall und Regan nach Gloster's Schloß zu folgen, und zwar Nachts, erhitze sich hierauf wieder sehr stark in der herrlichen Schimpf- und Prügelszene mit Oswald, werde dann von Cornwall in den Block gespannt, liege nun da, die Füße eingeklemmt, den Leib auf der feuchten Erde, schlafe sogar in dieser Lage und — kriege bei solcher Verkältung keinen Katarrh. Nun wäre es aber sehr geistlos, zu meinen, dieß stehe in keinem Zusammenhang mit dem sittlichen Gehalte der Tragödie. Dieser Kent, dieses wackere, herzstärkende Mannesbild, vergelte seines Königs Ungerechtigkeit mit rührender Dienertreue in freiwilligem Stand der Erniedrigung, werde für ihn beleidigt, schmählich bestraft, aber das größte, das erhabenste aller Opfer, daß er für ihn einen Schnupfen, einen Katarrh auf sich nehme: das sei vergessen, dieses Prachtmotiv nicht entwickelt. Von da an sprang er zu der Skulptur über. Auch hier äußerte er sich leidenschaftlich gegen das, was er falschen Idealismus nannte, um das Prädikat des wahren Idealismus dem entsetzlichen Naturalismus vorzubehalten, den er predigte, von dem er sich aber vorstellte, daß er mit allen hohen Zügen des klassischen, hohen Styls vereinbar sei. So rief er unter Anderem aus: „Da stellen uns die Zuckerlecker die drei []Grazien dar in holder, marzipansüßer Umschlingung! Es ist leicht, es ist wohlfeil, mit so butterweichem Symbole lügen, das Leben verlaufe sich in ungebrochenen Wellenlinien! Man stelle die Wahrheit dar, allerdings in mythischem Gewand, in großartiger, geisterhafter Personifikation! Drei furchtbare Weiber, schön und entsetzlich, grauenhaft schön, bilden, sich umarmend, eine Gruppe, ein Symplegma! —: der Schnupfen, der Katarrh oder Pfnüssel (dieß Wort hatte er, wie er er mir sagte, in der Schweiz aufgefangen; er unterbrach hier den Zug seiner Rede, verbreitete sich über dessen onomato-poetischen Werth und behauptete mit komischer Heftigkeit, das Wort sei keltischen Ursprungs, was ich ihm doch nicht bestritt, obwohl ich es für gut deutsch hielt) — der Pfnüssel — und die Grippe! Ziel, des edelsten Künstlers würdig! Hauptaufgabe: die Nüancen, die Stufen richtig zu geben, abzutonen! Es bedarf dabei keiner gemeinen Naturwahrheit, man kann ganz ideal und doch ganz wahr sein, der Ausdruck in Stirne, Augen, Lippen, Haltung und Bewegung des ganzen Leibes genügt, wenn er mit zartem Verständniß behandelt wird, vollständig, die verschiedenen Grundzustände, die Stimmung, die Verdüsterungsgrade der Nerven, des Gehirns höchst überzeugend auszuprägen; haben doch die Griechen selbst uns den Weg gezeigt, indem sie die Meduse — vielleicht selbst ursprünglich eine Personifikation des Katarrhs — (er []drohte, die Hypothese durch eine mythologische Untersuchung zu beweisen, doch glückte es mir, dieß wenigstens abzuschneiden,) — die Meduse früher als scheusliche Fratze, endlich aber in jenem Wunderwerk aus Palast Rondanini als ein Weib darstellten, das den Reiz hoher Schönheit mit den hippokratischen Zügen und dem Ausdruck dämonischer Bosheit so schaurig entzückend und entzückend schaurig in sich vereinigt!“

Bei den Griechen angekommen, verfiel er auf die Architektur. Das Räthsel des „reinen Segensstyls“, von dem er auf dem Bierwaldstättersee gesprochen, sollte mir jetzt gelöst werden. Allein meine Aufmerksamkeit war denn doch an der Linie der Ermüdung angekommen, um so mehr, da ich mit Prämissen jetzt reichlich genug versehen war, um mir eigentlich selbst vorstellen zu können, was folgen werde. Dazu kam aber noch ein besonderer Umstand, den ich angeben werde; zuerst sei bloß flüchtig gesagt, daß ich nur obenhin einige Bemerkungen vernahm, wie in den neuen Styl aus der klassischen Architektur ein System von kannelirten Pilastern für die Dekoration der Schauseite, ebenso zu dem Kranzgesimse wesentlich die Hängeplatte mit den kleinen Zäpfchen an den mutuli‚ genannt guttae oder Tropfen herüberzunehmen seien, am Sockel dann eine Reihe schön und entgegenkommend ausgebreiteter Nastücher auszumeißeln wäre, und so weiter und so weiter; kurz, alle Formen müssen aussprechen: []hier tritt nur ein, hier soll dir's bequem gemacht werden, hier darfst du dir normalen „Verlauf“ versprechen und unbehinderte Pflege. — Ich weiß nicht mehr, wie es sich gab, daß er noch einmal auf die Poesie zurücksprang. Es summt mir noch halbdeutlich im Ohre nach, daß er weiterhin auf das Epos zu sprechen kam und sich rühmte, sein System könne es wieder beleben, da es eine neue, tiefe, herrliche Mythologie darbiete, und daß er hierauf noch einmal zum Drama, zu seinem Shakespeare übergieng. Er war eben beim Hamlet angekommen und eifrig beschäftigt, auszuführen, wie es doch wieder ein Beleg der Seichtigkeit aller bisherigen Erklärung sei, daß noch Niemand die Grundursache aller Ursachen seines Zauderns, Stockens, seiner geistigen Obstruktion als eine physiologische erkannt habe; alle Hauptstellen in diesem unsterblichen Drama verkünden doch mit Flammenschrift: jeder Zoll ein Hämorrhodarius! Er machte nun Anstalt, das Gesammtbild der Konstitution des Helden in breiter Ausführung aus den Worten der Königin zu entwickeln: „Hamlet ist fett und kurz von Athem“, dieß Alles war eben im Zuge, als das psychologische Ereigniß in mir eintrat, das ich zu melden habe. Der Tisch war fast voll besetzt mit Schüsseln, Nebenschüsseln, Töpfchen, Flaschen, Gläsern; ein alter, steinerner Krug solider Gestalt enthielt das Wasser; ich hatte ihn wohl bald zehnmal anders gestellt; er []wollte nirgends recht Platz finden: auch A. E., wie ich wohl bemerkt hatte, war schon lang von ihm belästigt. Was kann gleichgültiger, nennensunwerther sein? Aber — auf unbewußten Stufen vorbereitet — sprang plötzlich ein Etwas in mir empor, eine gewisse Art von zweitem Gesicht, oder wie soll ich es nennen? Der Krug war mir kein Krug mehr, sondern ein beseeltes, unverschämtes Wesen, ein Geisterlümmel oder Lümmelgeist; seine Schnauze war ein unverschämtes Maul, der erhöhte zinnerne Deckel ein freches Gesicht, der Griff ein trotzig eingestemmter Arm, dieses Wesen kroch von Stelle zu Stelle immer dahin, wo es für uns unbequem stand. Und das Schlimmste war, daß ich über diesen unseligen neuen Sinn, der mir angehext war, nicht einmal erschrack, wie gestern über die andern bedenklichen Symptome, sondern ganz mit mir eins, ganz sicher war und voll Begierde, das unzweifelhaft schuldvolle Wesen nach Recht und Gerechtigkeit zu behandeln: ein Beweis, daß der Prozeß der Ansteckung sich gänzlich in mir vollzogen hatte. Ich fuhr auf, ergriff den Sünder, stürzte an's Fenster, rieß es auf, — aber schnell fiel A. E. mir in den Arm: „Noch nicht, mein Lieber! Ich weiß schon, daß Sie schöne Fortschritte gemacht haben in der Bildung, aber es ist noch nicht ganz reif, vielleicht sogar noch etwas Schmeichelei dahinter. Warten Sie! Wenn es Zeit, werde ich das Zeichen geben!“

[]

Wir waren beim Nachtisch angekommen und bei den aufgetragenen Früchten erinnerte sich A. E. des verkohlten Obstes, das er kürzlich unter den Funden aus der Pfahldorfzeit gesehen hatte, welche in besonders reicher Sammlung die Stadt Zürich bewahrt; wir sprachen vom Kulturzustande der Steinperiode, wie er sich aus den Resten ergibt, die man nicht lang vorher in überraschender Menge da und dort im Grunde des Bodensees und der Schweizerseen ausgegraben hatte, von den Fortschritten der Technik, die doch schon gemacht waren, als das Metall noch unbekannt war, von Ackerbau, Brod, Webekunst, Schnitz- und Töpferarbeit. Der Wirth hatte auf unser Gespräch gemerkt und sagte: „Ich hab' so etwas, ich bringe Ihnen zum Nachtisch ein extrafeines Messer.“ Wirklich erschien mit den Dessertbrocken ein derber Meißel aus Nephrit, sehr geschickt in einen Hirschhorngriff eingefügt, einer der werthvolleren Funde, da man begreiflicherweise Klinge und Griff selten mehr vereinigt findet; A. E., der auf das Thema mit lebhaftem Interesse eingegangen war, zeigte große Freude an dem Geräth und der Wirth ließ es sich abkaufen.

„Ich kann es gut für meine Novelle brauchen,“ sagte er, als der Verkäufer aus der Thüre war.

Er schien einen Moment in Verlegenheit, daß ihm das Wort entflogen, ergab sich aber schnell in das []einmal Geschehene und fuhr fort: „Eine Pfahldorfgeschichte. — Die kann ordentlich werden.“

„Ja, sind Sie denn auch ein Dichter?“

„Nun, das will ich doch glauben! Wen anders werden denn die Geister so placken und schinden, als einen Dichter?“

Pause. Dann sagte er mit einem Ausdruck von großer Freundlichkeit, ja wahrer Herzlichkeit: „Sie sollen sie haben, bald vollends ist sie fertig, das Manuskript hab' ich im Koffer mit, der nach Airolo vorausgeschickt ist. Wenn die Arbeit vollendet ist, sollen Sie eine Abschrift bekommen aus Italien.“

Bei dem Anlaß fiel mir ein, daß ich selbst ein wenig in Poesie gepfuscht hatte. Ich erzählte ihm von dem kartoffelnährenden Felsblock, zog mein Blatt heraus und schickte mich an, ihm meine Verse vorzulesen, nicht ohne erst versichert zu haben, daß ich mich sehr bescheide, mich als Kollege in Apollo aufspielen zu wollen. Er unterbrach mich bei den ersten Worten mit der Frage, ob ich auch die Haufwerke angesehen habe. Ich erfuhr von ihm, daß man so die wild übereinander gestürzten Felstrümmermassen nennt. „Wissen Sie auch,“ sagte er, „wie sie das Volk hier zu Lande heißt?“ Ich verneinte. „Dolmen,“ sagte er, „das ist keltisch und bedeutet Opfertisch — Sie wissen doch von den uralten, geheimnißvollen Steinmalen in der Bretagne, Skandinavien, England — []Dolmen sollten nur die Gruppen heißen, wo ein Felsblock wagrecht über senkrecht stehende hergestürzt ist, das Gebirgsvolk hier hat das Wort noch, versteht es nicht und wendet es auf das ganze Haufwerk an. — Nun haben Sie die Güte, zu lesen.“ So las ich denn:

Aus des Felsblocks rauhen Spalten
Tönt ein Aechzen, tönt ein Knurren.
„Das zu bieten einem Alten!“
Hör' ich eine Stimme murren.
Soll der Sohn so hoher Ahnen,
Zeuge von der Urzeit Tagen,
Soll der Sprosse der Titanen
Einen Grundbirnacker tragen?
Wild und frei emporgehoben
An des Hochgebirges Wangen
Bin ich einst — schaut hin, dort oben!
Stolzes Riesenkind gehangen.
O die Zeit, da um beeiste
Zacken noch der Sturmwind sauste,
Um mein Haupt der Adler kreiste,
Meinen Fuß ein Meer umbrauste!
Hätt' ich, als herabgewettert
Nieder in das Thal ich krachte,
Deine Hütten gleich zerschmettert,
Menschenvolk, bei dem ich schmachte!
[]
Lieber Staub und Splitter werden,
Träg' als Lehm am Boden liegen,
Als so schmählichen Beschwerden
Länger mich als Dienstmann fügen!
Und so hebt er an, zu drücken,
Ihn durchzuckt ein Krampf, ein Schüttern,
Daß auf seinem breiten Rücken
Die Kartoffelblüten zittern.
Laß das Klagen, laß das Knacken,
Das wird Alles nichts mehr nützen,
Laß geruhig dir im Nacken
Den bescheid'nen Acker sitzen!
Denke nur: auch die Kartoffel
Ist ein Kind der Erdenmutter
Und — erlaub' mir, alter Stoffel —
Schmackhaft namentlich mit Butter.
Mußt dich gar so sehr nicht schämen,
Mußt dich, dicker Trotzkopf, eben
Auch dem Praktischen bequemen,
Das ist Losung jetzt im Leben.
Siehst du, so wird jener, dieser
Wildfang im gesetztern Alter
Noch ein brauchbarer Acciser
Oder Kameralverwalter.

Meine Leistung wollte mir doch wirklich im Vorlesen gar nicht so übel vorkommen und der wartende []Blick, den ich auf A. E. richtete, mochte ziemlich selbstzufrieden aussehen. „Nun, das ist ja ganz nett,“ sagte er heiter, „aber bitte, werden Sie mir nicht böse, wenn ich sage: eigentlich nur unter heiteren Freunden beim Weinglas ostensibel. Die ironischen Abschnappungen einer poetischen Anschauung, diese prosaisch negativen Schlüsse sind mehr nur ein Studentenspaß, als Poesie, wobei ich nur nebenbei bemerke, daß das Wort Stoffel doch etwas zu hemdärmelig ist. Ich will Ihnen damit ja nicht weh thun, wenn ich sage: Heine hat's angefangen und dann in's Giftige getrieben. Und was Sie von mir lesen werden, kann sich auch nicht hoch rühmen, man wird es zur ironischen, ja vielleicht zur satirischen Gattung stellen, mein Talent geht nicht weit, ich hab' da vorhin im Eifer etwas dick gethan. Inzwischen bitte ich Sie doch, geben Sie ein bischen Achtung, ob Sie nicht doch auch Positives, ich meine: so etwas, was man“ — „Was man Poesie nennt“ half ich nach. — „Nun ja, falls Sie so etwas finden, da und dort wenigstens, so dürfen Sie den Spaß drucken lassen, wenn ich einmal ausgehustet habe. Mir ist immer vor, es währe nicht mehr lang bis dahin.“

Das Schlußwort seiner Rede packte mich so, daß ich, hätte ich überhaupt über seine Kritik empfindlich sein können, mich und mein Werk ganz vergaß.

Ich drückte ihm dankbar für sein Vertrauen und []wehmüthig die Hand und glaubte billig jetzt wenigstens den Augenblick gekommen, daß wir einander uns endlich vorstellten. Ich griff nach meiner Brieftasche, um ihm meine Karte zu geben, und hoffte auf die seinige.

„Bitte, bitte,“ sagte er, „lassen wir's lieber! Kommt es Ihnen denn nicht auch hübsch vor, einmal im Leben nur Mensch zu Mensch?“

Ich verstand und darf sagen: mir that wohl, was ich entnahm. Eine feurige Freundschaftserklärung hätte mir so viel, so Schönes nicht gesagt. Von einem Andern geübt, hätte die Abwehr und Versagung alles Wissens um Stand und Namen gesucht und eitel erscheinen können; hier wäre nur eine stumpfe Seele einer solchen Auffassung fähig gewesen.

„Aber wie bekommen?“

„Bitte um eine Chiffre und Wohnort.“ Ich schrieb und die Sache war abgemacht, worauf A. E. noch so weit auf sein Opus eingieng, daß er sich sehr lebhaft der Originalität seiner Erfindung annahm, ja dafür verwehrte, als hätte ich sie bezweifelt. Das Pfahldorf- und Steinzeitthema war damals in Karikatur und Schrift schon zu mancherlei Scherzen verwendet worden. Mit einer Leidenschaft, als handelte es sich um einen wichtigen Ehrenpunkt, rief mein Freund — so darf ich ihn nun nennen, nachdem er mir Menschenwerth ohne Rücksicht auf Namen und []gesellschaftliche Stellung zuerkannt hatte — rief mein Freund aus: „Glauben Sie mir, ich bin darin neu und ganz selbstständig! Sie werden sehen, die ganze Dichtung geht tiefsinnig von einer Entdeckung, die nur mir gehört, von einer Idee über den wahren, noch immer nicht erforschten Grund aus, warum diese Menschen auf Seen wohnten; denn Sicherheit gegen wilde Thiere und Feinde? Ist ja nichts! Fror ja im Winter zu!“

Der Nachtisch war inzwischen vorüber und der Wirth brachte Licht zum Cigarrenanzünden. Als A. E. das Handleuchterchen gefaßt hatte, hielt er es mir hin mit den Worten: „Da, sehen Sie: ist das nicht wieder, um sich auf's Tiefste zu empören!“ Er zeigte mir, daß dem Geräthe das flache Blättchen am Griffe fehlte, worauf man den Daumen setzen muß, um es sicher zu halten; das Metall hatte an dieser Stelle eine runde Biegung, die so wenig Halt bot, daß es in jedem Moment vorn überzurutschen drohte. Wie ich ihn kannte, ließ ich mich durch das Maß seines Zorns über diese Kleinigkeit nicht befremden; ja, es schien mir einen belehrenden Blick in das Innere dieses Menschen zu öffnen. Wer über so etwas ergrimmen kann, in dem muß das Gefühl der Zweckmäßigkeit von ungewöhnlicher Schärfe sein. — Uebrigens setzte er noch hinzu, ein solches Produkt sei ein wahres Bild unserer deutschen Industrie, deren Haupt []bestreben es ja doch sei, Alles zweckwidrig zu machen. Man sollte meinen, sagte er, was Einer fachgemäß treibt, das müsse er doch verstehen; ja, ja, hübsch umgekehrt! Der Schneider kann erst recht nicht schneiden, der Sattler nicht polstern, der Schreiner erst recht keinen Stuhl bauen! Der Erste schneidet einen Kasten statt eines Rocks, der Zweite bauscht Matraze und Sitz so, daß du nicht liegen, nicht sitzen kannst, der Dritte baut den Sessel so, daß du dich mit den Füßen anstemmen mußt, um nicht unter den Tisch zu rutschen.

Inzwischen war ihm über Eis und Winter das Ziel seiner Reise, Italien, wieder eingefallen. „Und nun will ich’s also eben wieder dort probiren,“ sagte er, „bei meinen lieben Zugteufeln! Denn Teufel sind sie im Zugmachen; Fenster und Thüren auf! anders thun sie's nicht! Und die verruchten steinernen Böden! Aber mein Doktor hat doch Recht: er bleibt dort zwar nicht aus, aber verläuft milder, unschädlicher. Und eben dann noch etwas!“

„Was denn?“

„Wissen Sie — es eckelt Einem eben oft am Menschen, zumeist in der nordischen Kulturwelt, die so Vieles so ängstlich verbirgt, — Accent durch Gegensatz: Sie wissen, Sie wissen! Dort aber: naturalia non sunt turpia. Also weniger Eckel.“

Er zog nun eine Landkarte hervor, um mir seinen Reiseplan darauf zu zeigen. Es war nicht Raum auf []dem Tisch, um sie ganz auszubreiten, die Karte war aufgezogen, er öffnete die Blätter zunächst so weit, als der Tisch Platz bot, aber die weitere Verfolgung der Reiselinie forderte, daß nach und nach die anderen Abtheilungen aufgeschlagen wurden, und nun gieng ein Umstellen, ein Aufräumen mit den mancherlei Geräthen an, womit die Fläche besetzt war. Der Wirth schien gern zu zeigen, daß er einen reichhaltigen und schmucken Service besitze, und hatte daher manches entbehrlich gewordene Gefäß nicht abgetragen; auf einem zweiten Tisch und einer Kommode standen Blumenvasen, Tassen und Anderes, in derselben Art wie jener mit Goldrand und farbigen Mustern verziert, umher; wollten wir auf dem Speistisch abräumen, so mußte erst auf einem dieser Möbel dieselbe Arbeit vorgenommen werden, dazu bot aber wieder nur der Speistisch Raum, den man doch eben leeren wollte, und so entstand ein Kreislauf höchst verwirrender und bemühender Art, der endlich in ein leidenschaftlich wirbelndes Hin und Her übergieng und kein Ende zu nehmen drohte. Ein Gott schien uns mit Blindheit geschlagen zu haben, daß uns das einfachste Mittel nicht einfiel, nemlich abtragen zu lassen. Plötzlich hielt A. E. inne, während ich in diesem Geschäfte noch fortfuhr. Daß er bei diesem Kreisen der Objekte soeben noch selbst mitthätig gewesen, schien er rein vergessen []zu haben. Mit Stentorstimme rief er: „Auch gar noch Fandango? Es ist genug!“

Er klingelte. Der Wirth erschien. „Was kostet der ganze Service, Alles was hier im ganzen Zimmer umhersteht?“ Der Wirth fragte: „Wozu?“ und zeigte sich auf die ungenügende Antwort von A. E., er möchte ihn eben haben, wenig geneigt, seinen Schatz zu verkaufen. Doch, da er kaum anders denken konnte, als, der Gast sei auf diese Gegenstände um ihrer Schönheit willen erpicht, da ihm dieß schmeichelte und da er schließlich wohl kein Geldverächter war, so ließ er sich bestimmen und nannte eine Summe, die eben nicht bescheiden, doch auch nicht so hoch gegriffen war, als die kundigere Gewinnsucht eines Städters sie gespannt hätte. Sie wurde ihm rund in Gold ausbezahlt; er striech ein und fragte: „Soll ich auch die Verpackung übernehmen?“ A. E. sah ihn sonderbar an, wendete sich gegen mich und sprach feierlich, wie damals im Wirthshaus zu Brunnen: „Supplicium! Todesurtheil!“

Er gab mir den Krug in die Hand und sagte: „Ihnen die Ehre des Vortritts!“

Ich, wie ich nun leider geworden war, gehorchte mit Pflichtgefühl. Dem Fenster gegenüber stand jenseits der Straße ein mächtiger Granitblock, einst — wer weiß vor wie viel Jahrhunderten — herabgestürzt von einem der Felsungeheuer und nun als Damm []und Schranke hier aufgepflanzt, Zeuge einer Zeit, da es Krüge und Service freilich noch nicht gegeben. Ich zielte nicht schlecht und der Krug zerschellte an ihm in zahllose Scherben und Splitter. A. E. belobte mich und ergriff eine Obstvase; ihr Schicksal war dasselbe. Wir wechselten ab mit Tellern, Platten, Gläsern, was uns nur in die Hände kam. Unten hatte sich schnell ein Zuschauerkreis von Dorfjugend versammelt und jubelte über das ungewohnte Schauspiel. Unter großem Gelächter wurde nach jeder Aktion unserer Kriminaljustiz gerufen: „G'hei abe! G'hei abe!“ A. E. hatte eben eine hübsche Karaffe aufgenommen, als dieser Ruf zum ersten Mal erscholl, hatte auch schon zum Wurf ausgeholt, hemmte aber seine Bewegung, faßte mit der einen Hand meinen Rockknopf, während die andere mit dem Gefäß mitten im Schwung hoch gehoben verweilte, und hielt mir eine kurze Vorlesung über das Wort, das die Knaben riefen und das ich, der Aussprache folgend, ohne seine Belehrung schreiben würde: Keien. „G'heien,“ so dozirte er in der geschilderten Stellung, — „schreibe G, Apostroph, HEI — also eigentlich geheien — von heien mit Vorschlagsylbe ge — heißt:

a) Werfen;
b) belästigen (‚laß mi ung'heit' — sagen Oberschwaben und Schweizer), auch dämonisch verfolgen (‚der Teufel geheit mich’, sagt Luther);
[]
c) äußerst feine Modifikation des Sinns, die ich in Schwaben gelernt: es g'heit mich, heißt: ich habe das Mißgefühl, etwas Angenehmes versäumt, verscherzt zu haben.

„Ob noch eine andere Bedeutung zu Grunde liege, darüber habe ich lange vergeblich geforscht, glaube aber jetzt auf der rechten Spur zu sein. Davon ein andermal.“

Nach diesem Vortrage befreite er den gehobenen Arm aus seinem Banne, holte noch einmal aus, die Karaffe flog den Weg ihrer Geschwister und zerplatschte am Granitblock.

Ich wollte nun in rhythmischer Abwechslung alsbald wieder folgen, als er, den Blick auf unsern Zuschauerkreis geheftet, mir plötzlich in den Arm fiel und sagte: „Halten Sie inne, bis ich wieder komme.“ Er eilte hinaus und hinab, ich sah ihn mitten durch den Haufen der Dorfjungen dringen auf eine Frau zu, die hinter ihren Reihen stand, ein Kind auf dem Arme. Sie war dürftig gekleidet, ihr und dem Kind sah der Hunger aus den Augen. A. E. hatte mit seiner scharfen Sehkraft offenbar von oben bemerkt gehabt, daß sie dem tollen Schauspiel mit vorwurfsvollen Blicken zusah; man konnte schließen, daß seine Anrede an das Weib etwas darauf Bezügliches enthielt. Ihre Antwort ließ sich deutlich hören, da der ganze Haufen mäuschenstill geworden war: „Ja, Herr, wie das Ge []schirr so flog, dachte ich: wenn ich nur in meiner irdenen Schüssel zu Haus ein paar Schübchen gute Suppe hätte.“ Ich sah, daß Geldstücke in ihre Hand glitten, er flüsterte ihr Einiges zu, das sichtbar beruhigend wirkte, wohl aber zugleich eine Bitte enthalten mochte, nicht weiter zuzusehen; denn sie gieng hinweg und mit sichtbar aufgeheiterter Miene.

A. E. eilte wieder herauf und sagte sehr munter: „Vereinbar! vereinbar! so, nun kann es wieder fortgehen!“ Ich holte wieder aus und zum großen Troste der Versammlung auf der Straße lief denn die Aktion weiter.

Hinter uns stand der Wirth und sah zu, starr, sprachlos, „zur Statue entgeistert“.

„Hoffnungslos
Weicht der Mensch der Götterstärke;
Müßig sieht er seine Werke
Und bewundernd untergeh'n.“

Unser Eifer nahm zu, als sich unsere Arbeit dem Ende nahte, die Bogen, in denen wir warfen, wurden immer kühner, der Wurf immer sicherer; im Feuer dieses Thuns bemerkten wir nicht, daß außer dem Mädchen, das mit dem Wirth uns bedient hatte, noch Jemand zu ihm getreten war; es war mir nur vor, als hörte ich hinter mir ein helles Lachen und Klatschen, ich hatte keine Zeit, darauf zu achten. Jetzt []war der feierliche Akt vollendet und wie wir uns zurückwenden, steht bei jenen Zweien eine dritte Gestalt, ein hohes, bildschönes Mädchen, mit großen, dunklen, von Freude leuchtenden Augen, in die Hände klatschend und lachend, wie Kinder im höchsten Jubel lachen. Schwarze Locken, von silberner Nadel gehalten, fielen um ihr braunes Antlitz, gefüllt und stolz geschwungen stieg der Nacken und hielt aufrecht das Haupt mit seinem reinen Profil empor; man sah wieder eine Wölbung des Brustbaus, wie sie in unsern nördlichen Ländern so selten ist: frei, kräftig, ein wohlgebildeter Raum für das Organ des Athmens.

Wie ich sie näher ansah, tauchte mir erst von ferne, dann deutlicher eine Erinnerung auf. Um diese schönen Augen spielte etwas Weiches, man konnte nicht sagen, in welchen Formen der Augenhöhle und ihrer Umgebung es lag, nicht wenig trugen die großen Lider und die langen Wimpern dazu bei; nach kurzem Suchen kam mein Gedächtniß bei der Dame an, die ich erst gestern in Bürglen gesehen hatte. Die Aehnlichkeit in diesem Zuge war so stark, daß man leicht das Unähnliche in Gedanken ausschied; man konnte sagen: es war diese Erscheinung aus Blond in Schwarz und Braun, aus dem fein Schlanken in's Vollere, aus dem zart Durchgebildeten in's kräftig Volksmäßige übersetzt.

A. E. stand erstaunt, in Schauen verloren. „Come vi chiamate?“ fragte er.

[]

„Cornelia.“

„Siete da Perugia?“

„No, Signore.“

„Da Assisi?“

„No, Signore.“

„Da Arezzo?“

„No, Signore.“

„No, Signore. Io sono da Bellinzona.“

„Fa niente,“ rief er jetzt, schloß sie in die Arme und drückte der Ueberraschten, die kaum sich sträubte, einen feurigen Kuß auf die Lippen. Der Wirth sah verwundert, halb ärgerlich, halb lachend zu dieser Szene, ließ jedoch geschehen. Man konnte ihm auf dem Gesichte lesen, daß in seinem Gemüthe zwei Mächte sich eine ordentliche Schlacht lieferten: das Gefühl der Zweckwidrigkeit des erst Vorgefallenen, der Unmuth über so verkehrtes Handeln und über die jetzige Dreistigkeit auf der einen und auf der andern Seite der Respekt vor Fremden, die sich eine so großartige Verschwendung erlaubten, und die Lust am Spaße, den eine Szene, wie die letzte, denn doch jedem Zuschauer bereiten mußte. A. E. wandte sich jetzt mit der Geberde eines Mannes, dem etwas Vergessenes einfällt, plötzlich zu ihm, nahm ihn beiseite, fragte ihn leise etwas, die Antwort des Wirths, der seine Stimme zum Flüstern nicht gebildet hatte, verrieth, []von was die Rede war: er nannte den Namen einer Frau mit dem Zusatz einiger weiteren Personalien; es konnte nur das arme Weib sein, dessen Erscheinung das kurze Zwischenspiel im großen Töpfedrama herbeigeführt hatte. A. E. machte sich eine Notiz in's Tagebuch. Der Wirth war jetzt sichtbar so ausgesöhnt, daß er unseres Wohlgefallens an dem Mädchen einfach sich erfreute; er sagte freundlich: „Meines Bruders Kinder, der eine Italienerin zur Frau hat und in Bellinzona wohnt.“

A. E. stand noch einige Augenblicke, die Hand des schönen Mädchens haltend, fragte, ob er Grüße nach der Heimat bringen dürfe, sie wurden ihm gern aufgetragen, dann wandte er sich zu mir und sagte: „So, jetzt lassen Sie uns scheiden und gehen; nach dem Vernunftakte, nach der religiösen Opferhandlung, die wir vollzogen, könnte uns ein schöneres Punktum nicht mehr werden.“ Er nahm seine Sachen um und an, gab dem Wirth und seinen Nichten noch herzlich die Hand und gieng voran und ich folgsam ihm nach. Während er die Treppen hinabstieg, blieb ich noch bei Cornelia, die mir vor die Thüre folgte, stehen und sah sie fragend an; sie verstand meinen Blick, sie las schnell darin, daß er forschte, wie ihr der Herr gefalle, und sie sagte: „È pazzo, ma pur simpatico. Pazzi siete tutti e due.“ Es drängte mich, sie dafür nun meinerseits auch zu küssen, ich []bedachte aber schnell, daß sie „pazzi“ in den Plural verwandelt hatte, „simpatico“ aber nicht, auch widersprach ein Etwas in mir der Nachahmung in diesem Fall, kurz ich bezwang die Anwandlung und drückte ihr nur zum Abschied die Hand.

Ich trat zu A. E. vor die Hausthüre. Der Föhn hatte sich gelegt, sein Glutsturm schien die Wassermassen, die er mit sich zu führen pflegt, hinter uns auf die Flächen Deutschlands gejagt zu haben; hier im Gebirg war nur ein leichter Regen gefallen und hatte die Luft mäßig gekühlt.

„Ich wollte eigentlich bis Andermatt,“ sagte ich, doch setzte ich alsbald hinzu: „Nein, es ist wahr, es ist besser, wir scheiden nun.“ — „Nicht wahr?“ sagte A. E. mit herzlichem Tone und grundfreundlichem Blick; — „das Weitere würde nur nachhinken und beisammen bleiben wir ja doch nicht; den Rest des Passes mit Teufelsbrücke können Sie ja morgen oder sonst einmal sehen. Die Novelle also kommt. Addio!“ Er schüttelte mir die Hand, schwenkte mit rascher Wendung und gieng dahin.

Es konnte mir nicht in den Sinn kommen, auch nur ein Wort zu sagen, eine Bewegung zu machen, wodurch ich dem Gefühl Ausdruck gab, das im Augenblick dieses Abschieds über mich kam, obwohl es nach aller Wahrscheinlichkeit ein Abschied für immer war. Ich kannte ihn zu gut, um nicht zu wissen, wie wenig []Glück ich mit einem Anlauf zärtlicher Art gemacht hätte; ich erwiderte stumm den Handdruck und gieng gleichfalls meines Weges.

Im nächsten Moment fiel mir ein, daß ich nicht dazu gelangt war, nach dem Sinn des seltsamen Wortes zu fragen, das mich am vorigen Tage wie ein Geist verfolgt hatte. Schnell aber wurde ich mir bewußt, daß dieß darum unterblieben war, weil ich einen passenden Moment zu der Frage nicht fand, und weiter wurde mir klar, daß noch etwas Anderes zu Grunde lag; ich war eigentlich doch nicht dazu aufgelegt. Alsbald vergieng mir daher auch die augenblickliche Lust, zurückzulaufen und das Versäumte nachzuholen. Ich wäre vor A. E. schlecht bestanden, wenn ich, vollends nach dem Abschied, einen besondern Schritt gethan hätte, um zu erfahren, was ein Humorwort bedeute, das irgend einer geringfügigen Anekdote seinen Ursprung verdanken mochte. So resignirte ich denn darauf, jemals noch im Diesseits das Räthsel des Tetem gelöst zu sehen.

Ich war etwa zwanzig Schritte entfernt, als ich seine Stimme rufen hörte: „Sie!“

Ich kehrte mich um: A. E. war stillgestanden und rief mit einem Tone, woraus die helle Frohheit klang, mir zu: „Und sie hat's erst nicht abgewischt!“ Dann wandte er sich und ich sah ihn mit nervigen Schritten die Straße hinansteigen. Zugleich []erkannte ich am Fenster das dunkle Lockenhaupt Corneliens; sie sah ihm nach, bis er an der nächsten Biegung der Straße verschwand.

Ich wanderte langsamen Schrittes bergab. Warum sollte ich nicht gestehen dürfen, daß mir das Auge feucht wurde, und warum nicht, daß ich zu fühlen meinte, dieser Tropfen gelte gar nicht allein dem Abschied, sondern wohl mehr noch gerade dem letzten, komischen Wort und dem, was es mir zu denken gab, zu denken nicht bloß über den einen Menschen, der dort über das wilde Gebirgsjoch in die Ferne zog.

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Es war etwa zwei Monate später, als ein Packet an mich kam mit dem Poststempel Venedig. Ich öffnete sehr begierig und da hatte ich nun die Pfahldorfgeschichte — in sauberer Reinschrift, da und dort mit Korrekturen von anderer Hand, welche die des Verfassers sein mußte. Ein Zettel lag bei; ich werde nachbringen, was darauf geschrieben stand. Es ist ein gewisses Gefühl von Bedürfniß der Abwechslung, was mich bestimmt, meinem ferneren Berichte den Abdruck der Novelle vorangehen zu lassen; ich habe so lang selbst geredet, daß es Zeit ist, unsern Freund — ich hoffe, das sei er trotz alledem — ganz zu Worte kommen zu lassen.

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Der Besuch. Eine Pfahldorfgeschichte von A. E.

Wir blicken durch eine kleine Fensteröffnung in eine Hütte, die uns gar dürftig erscheinen müßte, wenn wir uns nicht Bau, Ausstattung, Schmuck unserer Räume aus dem Sinne schlagen wollten. Die Wände bildet ein Flechtwerk, das mit Lehm bekleidet ist, daran läuft ein Bord, der einen Hausrath von äußerster Einfachheit trägt, ein roher Tisch in einer Ecke, einige Stühle von nicht feinerer Arbeit sind zu sehen und auf dem Estrich, der eben nicht aus Parkettafeln, sondern aus einem Guß von Thon und Kohlenstaub über einer einfachen Lage von Planken besteht, erhebt sich ein Herd, dessen Form auf so höchst ursprüngliche Zustände hinweist, wie Alles, was wir erblicken. Und dieß Alles gehört keinem armen Manne; die Matte dort aus Binsengeflecht scheidet das Ganze des Bodens in eine Schlaf- und eine Wohnstube, die freilich zugleich als Küche dient, und das ist ein RaumLuxus, den nicht jede dieser Hütten aufweist. Der wohlhabende Besitzer ist ein ehrsamer Pfahlbürger []des Dorfes, das sich über dem Spiegel des Sees Robanus, wenige Meilen entfernt von der größeren Wassergemeinde Turit, erhebt. Er heißt Odgal und ist augenblicklich abwesend; einige hundert Schritte entfernt sitzt er in einem Einbaum auf dem Wasser und ist mit seinen Fischernetzen beschäftigt. Dem Gemach aber fehlt es nicht an einem lebendigen Schmuck. Eine rüstige, rothbackige Dirne, von munteren Kindern umgeben, hantirt mit einem schweren runden Stein auf einer größeren Steinplatte, auf welche sie einen Haufen von Waizenkörnern geschüttet hat: sie mahlt. Die Arbeit ist nicht leicht, schwerlich würde auch eine starke Bauerntochter unserer Zeit die Last des Kornquetschers so leicht heben, so geschickt und leicht handhaben, und wir bewundern dabei ein paar prächtige Arme, die aus den aufgestreiften Aermeln des einfachen Bastkleids ebenso wohlgebildet als muskulös hervorglänzen. Etwas Sonderbares erblicken wir freilich auf dem linken Oberarm: ein seltsames Bild, das ebensowohl einen Kuhkopf, als einen Halbmond vorstellen kann, ist hier mit blauer Farbe eingeritzt und längst mit der Haut verwachsen. Niemand jedoch wird sagen, daß es den schönen Arm entstellt! es sieht eben aus, als hätten die blauen Aederchen, die diese schimmernd klare Haut durchrieseln, den Einfall gehabt, sich gelegentlich zu einer Art von Verzierung zu gestalten. Also lassen wir uns die täto []wirte Schöne gefallen und sehen uns weiter um in diesem Raume. Drei Kinder, ein Knabe und zwei Mädchen, treiben ihr Spiel mit einem Eichhörnchen; das kleinere ist seit einem Jahr erst aus den Windeln und erfreut sich jetzt zugleich seiner Freiheit; neben ihm liegt ein Ding, etwas wie ein eigenthümliches Zaumgebilde, am Boden: es ist der Halfter, womit der arme Wurm an einem Pfosten festgebunden wird, wenn die Fallthüre offen ist, die wir jetzt niedergelassen sehen; sie deckt eine Oeffnung, die sich einfach über dem Seespiegel befindet und ursprünglich zum Fischfang bestimmt war. Man ließ durch sie einen Korb in's Wasser hinab und durfte sicher sein, daß er zappelnde Beute mitbrachte, wenn man ihn nach einiger Zeit aufzog. Seit die Gemeinde stark über zweihundert Bürger zählt, ist der See so ergiebig nicht mehr, die Oeffnungen aber sind geblieben, eine Treppe führt hier in's Wasser, um schneller zum Kahn zu gelangen, als durch die spärlichen und engen Durchgänge zwischen den Häusern, die man mit wenig Recht Gassen zu nennen beliebt, und über die einzige Brücke des Dorfes. Einen eigenthümlichen Gegensatz zu den Erscheinungen der blühenden Kinder und der schönen, rüstigen Jungfrau bildet eine unheimliche Alte, runzlich, von gelber Farbe, die grauen Haare hängen ihr fast ungeordnet über die Stirne; sie sitzt in einer Ecke und spinnt. Dazu singt sie []in eintöniger Weise — man kann es kaum Melodie nennen, es ist nur wie ein dumpfes Murmeln — ein dunkles, uraltes Lied.

„Helft mir spinnen, spinnen,
Heil'ge Spinnerinnen,
Die ihr schwebt im Schilf!
Selinura, hilf!
Faden kam geronnen,
Hast die Welt gesponnen,
Du und deine Feen,
Geister in den Seen!
Tanze, Spindel, tanze
Fäden, feine, ganze!
Wirtel mit Gesumm
Wirble um und um!
Leise rauscht's im Riede
Mir zum Spinnerliede,
Flüstert Zaubersang
Mir zum Spindelklang.“

Dazu hörte man die Welle unter dem hohlen Bau an den Pfählen plätschern und den Abendwind raschelnd durch den nahen Uferschilf wehen: eine Begleitung, die gar wohl zu dem geisterhaften Gesange stimmte.

Ein frischerer, hellerer Klang, von ferne her vernehmbar, unterbrach diese düstere Musik. Es war ein Jodeln, ganz dasselbe Spiel wechselnder starker Fistel []und Baßtöne, wie man es heute noch in den Schweizerund Tiroler-Alpen oft und gern vernimmt. Das Mädchen striech sich die braunen Locken aus, die ihr bei der starken Arbeit über die Stirne gefallen waren, und aus ihren dunkelblauen Augen, die bisher nachdenklich, träumerisch unter den langen Wimpern darein geschaut hatten, blitzte die helle Schalkheit hervor. Wie ein morgendlicher Strahl fuhr jetzt ihre glockenhelle Stimme durch die nebligen Laute der gespenstischen Alten:

„Und mein Schatz der kann singen
Und jodeln dazu,
Wenn er ausi thut treiben
Sein Kalb und sein' Kuh.
Ju!
Und e schwarzbrauner Jager,
E lustiges Blut,
Der wär' mir schon lieber,
Mit em Gamsbart uf'm Hut!
Ju! Ju!“

Das Ju denke man sich mit jenem durchdringenden, gezogenen Jodelton gesungen, der fernhin durch Berg und Thal ausklingt. Man sollte meinen, der entfernte Sänger werde ihn erwidern, aber von dorther ließ sich kein Laut mehr vernehmen. Ueber die Züge der Alten gieng ein Schatten, ihre finsteren Augen schickten einen stechenden Blick nach dem Mädchen, []ihre Spindel stand still und sie sagte nur die zwei Worte: „Wieder das?“ „O was ist's denn weiter auch?“ erwiderte das Mädchen und wandte sich nun zu den Kindern, die nach Abendbrod verlangten. Nicht so zierlich wie Werther's Lotte theilte sie mit einem Steinmeißel einen dunkeln Brodlaib, dessen Rinde in der That ziemlich kohlich und dessen Substanz eben nicht so weiß und porös aussah wie bei unserem leichtverdaulichen Brod, in wenig regelmäßige Schnitten; der Leser begreift, daß Messerklingen von genügender Länge aus Stein nicht herzustellen waren, so mußte denn bei Körpern, die für ein Holzmesser zu hart waren, der Meißel die Stelle versehen; man darf übrigens zugeben, daß Sigune den Druck oder Stoß von oben, womit er gehandhabt wird, mit so viel Grazie ausübt, als irgend mit dieser gröberen Bewegung vereinbar ist. Sie nimmt hierauf mit einem Holzlöffel Butter aus einem thönernen Napf, dessen Hals einige aufgemalte Zickzack-Linien einfach genug verzieren, streicht sie mit dem spatelförmigen Stiele zierlich auf die Brode und sagt dann: „Wartet, weil ihr ordentlich brav gewesen, sollt ihr einen Vorschmack vom Fest haben.“ Sie holt noch einen andern Topf vom Borde und schöpft daraus einen braunen Stoff, bei dessen Anblick die Kinder jubeln: es ist ein Mus von verkochten Apfelschnitzen mit etwas Zusatz von Honig. „Gsälz! Gsälz!“ riefen die Kinder und konnten []kaum erwarten, bis die Butterlage mit dem wohlschmeckenden Ueberzuge bedeckt war. Sigune — denn so hieß die erwachsene Schwester der Kleinen, die ihnen getreulich seit einem Jahr die todte Mutter ersetzte — vergaß sich selber nicht; der Alten wurde dann ein Becher Meth gereicht und auch das Eichhörnchen nicht vergessen, ihm wurden einige Haselnüsse gespendet, und so ließ sich denn die ganze Gesellschaft ihr Vesperbrod schmecken.

„Hixi, Hixi“ rief jetzt das ältere Schwesterchen Sigunens, „komm' sing mit uns das Märchenlied von Coridwen einmal wieder!“ Der Knabe stimmte mit ein, die Alte — ihr Name nicht abgekürzt hieß Urhixidur — war inzwischen munterer geworden und stellte nur die Bedingung, daß die Kinder ordentlich einfallen; sie versprachen eifrig und so begann denn der Gesang, wobei der Leser zu merken hat, daß bei den fünf ersten Strophen je die zweite Zeile vom Knaben, die vierte vom Mädchen übernommen wird, das Uebrige aber mit näselndem und zugleich hohlem Tone die Alte vorträgt.

„Gwyon, dieser kleine Tropf —
Was thut der?
Hat geschleckt vom Zaubertopf.
Wer kommt her?
Kommt hinzu, o weh! o weh!
Coridwen, die starke Fee!
[]
Gwyon, dieses Zwergelein,
Was wird er?
Wird ein flinkes Häsulein.
Wer kommt her?
Coridwen als Hündin schnell
Will zerzausen ihm das Fell.
Daß sie ihn nicht packt am Wisch,
Was thut er?
Gwyon wird im Nu ein Fisch.
Wer kommt her?
Coridwen als Otterthier
Jagt ihn und erhascht ihn schier.
Gwyon, Gwyon, jetzt sei flink!
Was thut er?
Er wird flugs ein Distelfink.
Wer kommt her?
Coridwen stößt auf den Schalk
Gleich herab als Finkenfalk.
Zu entfliehn des Falken Zorn,
Was thut er?
Er wird rasch ein Waizenkorn.
Wer kommt her?
Coridwen wird eine Henn'
Und verschluckt ihn, Coridwen.“

Von ihrer gelungenen Gesangleistung fast noch mehr, als von dem gern gehörten Märchen beglückt, jubelten und klatschten die Kinder, während die Alte, ohne weiter auf sie zu achten, mit verändertem, tiefem, []finsterem Tone den Schluß vor sich hinsang, um den sich die Kleinen niemals bekümmert hatten:

„Das Korn hat gegoren
Im heiligen Leib,
Da hat sie geboren,
Das Wunderweib,
Die Strahlenstirne, den Taliesin,
Der da schauet allen geheimen Sinn,
Der da blicket hinaus in die Ewigkeit,
Der da ist und war in aller Zeit,
Der Druiden Vater und Geister-Haupt.
Verflucht, wer nicht an Taliesin glaubt!“

Ein Huhn flog herein und pickte die WaizenKörner auf, die bei der Mahlarbeit zu Boden gefallen waren. Dieß steigerte den Jubel der Kinder und eins um's andere riefen sie: „Schluck' das Körnchen, Henn, Henn, Henn! Coridwen, Coridwen!

Inzwischen ist an der Fensteröffnung ein unbemerkter Zuschauer erschienen, ein Bursch im besten Jugendalter. Er betrachtet sich mit sichtbarem Wohlfallen die Gruppe und verweilt mit innigen Blicken auf der mütterlichen Schwester der Kleinen. Nachdem er manche Minute so ohne Regung gestanden, zieht er eine Binse hervor und kitzelt mit ihrem Ende Sigunen hinter dem Ohre; sie springt auf, „wart' nur, wart' Alpin, ich brech' dir den Finger ab,“ ruft sie, faßt seine Hand und drückt auf das Zeigfingergelenk, als wollte sie die Strafe vollziehen. Der Bursche grillt []auf und lacht, tritt schnell in die Hütte ein, gefolgt von einem zottigen Schäferhund, der mit lustigen Sätzen, wedelnd, bellend, leckend Sigunen und die Kinder begrüßt, nimmt die Thäterin um den Hals und klemmt sie in's Ohrläppchen, daß nun das Aufschreien an sie kommt. Dann wird er plötzlich ernst, setzt sich auf den Herd und sieht sie schweigend an. „Hast wieder das Gsatzli vom Jäger gesungen oder nicht?“ „Ja, ja, sie hat's,“ mischt sich mit angeberischem Ton die Alte in's Gespräch, setzt ein „aber“ ohne Wortfolge hinzu und bricht mit ihrem Spinnrocken auf, nachdem sie den Wirtel sorgfältig eingepackt und eingeschoben hat; denn es ist einer von den kostbaren: nur von Thon, aber niedliche Verzierungen, dazwischen seltsame Runenzeichen sind darauf eingegraben. Im Abgehen klopft sie mit ihrem Kunkelstecken noch leise an den größten der Kochtöpfe, die auf dem Bord am Herd stehen, und sieht Sigunen mit einem Blick dabei an, als wollte sie sagen: „Da hab' ich zu Haus einen andern!“ Diese lacht und versetzt spöttisch: „Na, ich bin dir nicht neidig auf deinen alten Krauthafen!“

„Und hab' dir grad wollen eine Freud' machen, — so etwas für's Fest — aber ich weiß, es g'freut dich erst nicht,“ sagt jetzt Alpin. Er handelt jedoch seinem eigenen Worte zuwider und zieht unter seinem Schafpelz, dessen Wolle nach außen gekehrt ist, eine []Schnur von glänzenden Körpern hervor. „Ah! Ei! Je, wie nett!“ ruft das Mädchen, das ohne viel Umstände darnach gegriffen hat und dem der freundliche Geber das kostbare Geschenk leicht in die Hand fallen läßt. Es ist ein Halsband von aufgereihten Stückchen aus Bergkrystall; sie sind nicht eben ganz gleich an Form, aber man sieht, sehr sorgfältig nach annähernder Aehnlichkeit zusammengelesen; sie zu schleifen, bis sie in ihrer Durchsichtigkeit hell leuchteten, mag mühsam genug gewesen sein, noch viel mühsamer jedoch das Durchbohren. Sigune weiß wohl, was das Arbeit kostet, mit einem spitzen Splitter von Quarz oder Feuerstein einen, noch dazu kleinen, harten Körper zu durchlöchern, ohne ihn zu zerbrechen, und sie kann sich gar wohl vorstellen, wie manche lange Stunde, beim weidenden Vieh sitzend, der zärtliche Hirte daran gearbeitet haben mag. Und daß sie Sinn dafür hat, am Feste, statt mit ihrer alten Schnur von farbigen Thonperlen mit solchem Schmuck zu erscheinen, bedarf keiner Versicherung. Sie ist nun wohl herzlich gerührt, reicht auch dem Geber mit den Worten: „Bist immer gut!“ einen Schmatz, der aber spürt, daß er etwas kurz und oberflächlich ist, er weiß gar wohl: hätte er Sigunen einen Auerhahn oder Gemsbock zu Füßen gelegt und erzählt, wie er ihn auf gefahrvollen Wegen erschnappt habe, da hätte sie ihn an den Locken gepackt und anders geküßt. Es trat wieder eine Pause []ein und Alpin, als wäre gesprochen, was er soeben nur gedacht hat, sagt mit weicher Stimme: „Ich mag halt eben die ordentlichen Thierli nicht umbringen, sie wollen halt auch leben; und weißt, neulich wieder — wie ich den angeschossenen Rehbock im Wald gefunden, mit dem Pfeil im Leib, langsam verendet, aber noch lebig von Hunden angefressen, — seitdem mag ich schon gar nicht mehr jagen; ja, wenn's auf ein recht schädliches wildes Thier geht — hab' ich je den Wolf gefürchtet? — soll ich dick damit thun, daß ich jüngst den Bären —“ Hier veränderte sich der Ausdruck seiner milden, hellblauen Augen, er richtete sich stolz und steil auf und fuhr fort: „Man hat dir's erzählt — nicht ich — ich mag mich nicht brüsten — heut sag' ich dir's: sieh, so stand das Ungethüm, nahm den Kampf an, will mich umarmen — mein Speer war keiner von den starken — sonst eben gut genug zur Schippe — ich wag's darauf und ganz nah' heran, — die Spitze richtig in den Rachen — schnell nachgebohrt mit aller Kraft — 's war grad keine Kleinigkeit —“

Er erzählte nicht weiter, sondern rief heftig: „Wer das kann, der nimmt's auch noch mit manchem Jäger auf! Komm, Ryno, wir gehen! Gut' Nacht!“ Und er war hinweg, begleitet von seinem Thiere, das sich eben nicht gerne von der munteren Gesellschaft zu trennen schien.

[]

Sigune saß nachdenklich, die Halsschnur in der Hand wiegend. Es war eben so eine Sache. Alpin war ihr lieb, aber — Man wußte damals noch nichts von Ideal und Bauernmädchen pflegen heute noch nichts davon zu wissen, sonst würden wir sagen: es schwebte ihr eben ein anderes Ideal vor. Sie hatte dem guten Alpin noch nie bestimmten Anlaß zur Eifersucht gegeben, aber so viel neckische Bosheit war allerdings in ihr, daß sie ihn oft genug in ihre Gedanken hineinsehen ließ, und diese lauteten: schlank, behend, schwarzbraun, blitzende dunkle Augen, Kraushaar, hübscher Schnurrbart, wo möglich an den Spitzen in die Höhe gestrichen, überhaupt keck, flott, jägerartig. Alpin aber war stämmig, langsam, hatte Augen, die wir als hellblau schon kennen und die gewöhnlich sanft und nachdenklich blickten, glattes Flachshaar und — was ihm besonders im Wege stand und allerdings ihm selbst auch Kummer machte: der Schnurrbart wollte, obwohl es längst, längst Zeit war, nicht recht kommen, sondern beharrte darauf, dem dünn bewachsenen Kornfeld nach langer Trockenheit gleich zu sehen. Man hörte jetzt unten einen Kahn anfahren, anlegen, der Vater kam zurück, brachte in einem Schaff seinen Fang, einen fetten Karpfen und ein Prachtexemplar der Forelle-verwandten Asche nebst einigem Volke niedrigeren Schlags; Sigune halte nicht Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen, Odgal mochte sich den Karpfen heut []Abend schmecken lassen und die Tochter machte sich ungesäumt an's Geschäft der Zubereitung. Dem Vater wurde das Geschenk nicht verheimlicht und er schien es nicht ungern zu sehen.

Wir überlassen sie ihrer Arbeit und folgen dem aufgeregten Alpin durch ein paar Zwischengänge des Pfahldorfs nach der Hütte seines Vaters. Es ist kein guter Abend heute für unsern jungen Freund. Er findet den Vater öfters niesend und hustend, dazwischen fluchend über einem Steine sitzen, der seiner bearbeitenden Hand sichtbare Schwierigkeit entgegensetzt. Es ist ein ovaler Kiesel von der Größe einer starken (damaligen) Männerhand und der alte Ullin ist beschäftigt, ihn der Länge nach zu durchsägen. Seine Säge besteht aus einem nur zwei Zoll langen Stück Flins, das heißt Feuerstein, mit unregelmäßig gezahntem Rande. Der Kiesel soll zwei Aexte geben, aber die Säge stößt auf eine Verhärtung und kann nicht vorwärts kommen. Schon zwei Tage lang hat sich Ullin daran abgemüht; jetzt, eben wie der Sohn eintritt, hat er die Geduld verloren, schleudert den Stein auf den Estrich und flucht unter einem neuen Nies- und Hustenanfall: „Hol' euch der höllische Grippo, Stein, Säge und Nase!“ Dabei stößt er eine Schale voll Meth um, die er sich eben frisch eingeschenkt hat. Mit dem süßen und eben nicht schwachen Getränke hater sich unter der sauern Arbeit gestärkt und zugleich []das Kratzen im Halse zu beschwichtigen gesucht. Die Schale ist ungleich feiner, als andere Arbeiten der Pfahlbewohner, und aus einem Stoffe geschnitzt, der dort selten genug war, dem Holze des Buchsbaums, Erzeugnisses einer wärmeren Sonne. Ullin hatte das Geräth von einem Freund am Podamursee, wohin es ein Händler aus fernem Lande gebracht, um die Bälge von zwölf Edelmardern erstanden. Wer der höllische Grippo ist, werden wir erfahren; für jetzt müssen wir dem Gespräche folgen, das zwischen Vater und Sohn beginnt. Sie hatten eben auch einen Spahn miteinander und nicht erst von gestern her. Der Vater wollte mit dem Sohn höher hinaus, als dieser mochte. Das unzureichende Werkzeug, das ihm den Kampf mit dem spröden Stein erschwerte, brachte ihn jetzt wieder auf dieses Thema. Gieng es nach seinem Willen, so sollte der Sohn Fabrikant werden und längst hatte er ihm vorgeschlagen: entweder sollte er sich in einem Schnur- und Fadengeschäft, das sich in der großen Wassergemeinde Turik aufgethan, oder in der weitbekannten Werkzeug- und Waffenfabrik am See Podamur zum Meister ausbilden, um seiner Zeit ein eigenes Anwesen hier auf dem See von Robanus zu gründen. Der Leser möge nicht zu sehr staunen, wenn wir von Fabriken reden in einer Zeit, wo die menschliche Bildung auf einer Stufe stand, wie wir hier sie darzustellen haben. Wo ein Volk doch schon so weit ist, []wie wir hier sehen, da hat immer auch schon eine Theilung der Arbeit und mit ihr eine Vervollkommnung durch Massenbetrieb Einer Gattung von Arbeit begonnen. Wohl ist der Bauer auch Fischer, kann Netze stricken und flicken, ist Zimmermann, spitzt seine Pfähle selbst mit der Steinaxt, treibt sie mit dem schweren Holzschlägel in den Seegrund und errichtet darüber seine vier Wände, ist Wagner, baut sich einen schwerfälligen Pflug mit hölzerner Pflugschaar, einen Wagen mit Rädern aus einer, durch schwere Leisten kümmerlich gefestigten Holzscheibe, wohl kann Frau und Tochter nicht nur melken, kochen, sondern auch mahlen, spinnen, mit beinerner Nadel oder mit Fischgräte nähen und auf sehr einfachem Webstuhl, dem Kegel und Kugeln von Thon als Netzstrecker dienen, vermag sie Stoffe zu weben, nicht nur einfache, sondern sogar gemusterte von ganz niedlicher Zeichnung; aber neben solcher Vereinigung von Fertigkeiten in Einer Hand haben sich doch schon die Anfänge des Handwerks eingestellt, denn bereits mußte man erkennen, daß Vervollkommnung Zeit braucht und daß nicht Jeder Zeit hat, von dem Vielerlei, das er treibt, Jegliches recht zu lernen. Unternehmende und kluge Männer haben da und dort sogar einen weiteren Schritt gethan: sie haben begriffen, wie ersprießlich es ist, wenn man sich zusammen thut zu einerlei Geschäft, viele Hände in seinen Dienst zieht und in der Thei []lung wieder eine Theilung vornimmt, indem man je eine der Arbeiten, die das Ganze in sich begreift, einer Anzahl dieser Hände zuweist, so daß sie darin eine ausnehmende Fertigkeit erlangen. So ist drüben am Podamursee aus kleinen Anfängen ein Anwesen erwachsen, das weit hinein die Lande diesseits und jenseits dieses großen Wassers mit Werkzeugen von Feuerstein und anderem hartem Mineral versorgt; viele Arbeiter sind beschäftigt und theilen sich, wie gemeldet, in die Arbeit; die Einen fertigen Pfeil- und Speerspitzen, die Anderen Meißel verschiedener Stärke und Breite, wieder Andere, und zwar die Geschicktesten, sind Sägenschläger und es war eines ihrer Produkte, das wir in Ullins Hand gesehen haben; sie wissen ein Stück Feuerstein durch wenige geschickte Schläge zuerst in längliche Splitter zu theilen und dann den Rand eines Splitters so zu sprengen, daß seine Zacken ungefähr den Dienst der Zähne einer metallenen Sägenklinge verrichten können. Diese kannte man ja noch nicht, und so hielt man große Stücke auf ein Werk, das uns gar dürftig erscheinen muß; man muß auch bedenken, daß kein metallener Hammer, sondern nur ein kleiner Steinschlegel zu Gebote stand, um die schwierige Spaltung vorzunehmen. Wie sehr man doch die Unzulänglichkeit des Geräthes zu fühlen bekam, haben wir aus Ullin's Geduldermüdung gesehen. Er wußte aber von einem neuen, großen Fortschritt, der []in dieser Fabrik gemacht worden: die durch Schlagen, Sprengen hervorgebrachte Form wurde durch Schleifen auf Granit, auf harten Quarzen geglättet, regelmäßiger gebildet, die Zähne der Säge wurden durch feilenartige Handhabung desselben Gesteins geschärft, Alles bekam eine Präzision und Brauchbarkeit, die man bis dahin bitter vermißt hatte, doch länger konnte man freilich die Säge, härter Waffe und Meißel nicht machen. Unbestimmte Ahnungen von künftigen, noch größeren Fortschritten schwebten aber Ullins denkendem Kopfe vor und es war sein Lieblingsgedanke geworden, seinen Sohn in diese große Bahn einzuschieben. Mit der Schnur- und Fadenfabrik in dem näheren Turik schien es ihm weniger Ernst zu sein, denn sein Alpin, obwohl eine stille Natur, hatte bei früheren Anläufen eine noch stärkere Abneigung gegen diese Art von Arbeit an den Tag gelegt und der Vater selbst dachte sich in Wahrheit seinen Sohn lieber in einem lustigen Schlag- und Klopfwerk, als in einem dumpfen Gemache voll Flachsgeruch und surrenden Häspeln. Aber auch gegen den andern Vorschlag sträubte sich der Sohn heute wie immer, ja heftiger als jemals. Denn, gereizt wie er von Sigunen herkam, war er sich eben jetzt recht bewußt, daß sein Stand auch seine Ehre habe, und wollte ein Fabrikant so wenig werden wie ein Jäger. Stand dürfen wir sagen, denn allerdings war auch das Viehhüten in jener Zeit schon zum be []sondern Geschäfte geworden wie überall, wo ein Volk zum Ackerbau vorgeschritten ist. Und da wollte es einen Mann auf dem Platze; das haben wir aus Alpin's Bärenkampf ersehen, und außer den Bären gab es nicht nur Wölfe, sondern noch andere, nicht die Heerde, aber den Hirten bedrohende schreckliche Feinde, deren einer uns im Verlauf dieser Geschichte begegnen wird. Schon darum konnte der Hirtenstand nicht verachtet sein, aber er war es ohnedieß nicht, sondern etwas Ehrwürdiges. Und Alpin war ein kleiner König. Er selbst hatte sich das ernsthafte, geruhige, genährige, stille Rind vorbehalten, unter ihm stand ein Roßhirt, ein Schafhirt, ein Ziegenhirt und ein Schweinshirt, den zwar kein Homer den göttlichen Sauhirt Eumaios nannte, den aber die Welt doch nicht minder in Ehren hielt, als seine Kollegen, und diese untergeordneten Herrscher hatten sich wie der Regent selbst noch Hülfskräfte in Form von anstelligen Buben herbeigezogen. Die erwähnte Gefahr brachte es mit sich, daß der Hirte oft in den Jäger übergieng, aber darum war er nicht Jäger von Handwerk. Auch die Jagd, obwohl Jedermann nebenher auch jagte, forderte schon einen besondern Stand. Der gelegentliche Kampf gegen die vielen starken und wilden Feinde im Thierreich konnte nicht ausreichen, sie mußten verfolgt werden und da bedurfte es ausdrücklich zu diesem Zwecke geübter List und Kraft; auch liebte man sehr das []Wildpret, das wird uns gründlich der Festschmaus bezeugen, von dem späterhin zu berichten ist.

Wir kehren zum einredenden Vater und ablehnenden Sohne zurück.

„Ach, laß, Vater! Wenn ich so bei meinen Thierlein sitze und denke so allerhand über ihre Art und Thun und kenne sie aus einander und wundere mich, wie sie doch verschieden sind, und wenn ich so weiter denke und kommt mir als großmächtig Geheimniß vor, wie Alles das so sein mag, auch Gras und Laub und die großen Berge und die Sterne, und wenn ich dann nicht weiter weiß und blase oder jodle oder blättle — —“

Der Vater unterbrach ihn: „Was nützt mich das Jodeln und Blätteln!“ Aber Alpin war stolz auf sein Jodeln und noch mehr auf sein Blätteln und dieß mit Grund: er entlockte dem Buchenblatt zwischen seinen Lippen Töne und Melodieen, wie sie jetzt ein Virtuos auf Klarinette oder Fagot bezaubernder nicht hervorbringen könnte. Und nun war das Gespräch natürlich schon im unebenen Geleise. „Und blättle,“ nahm Alpin in gereiztem Tone wieder auf, „und denke dagegen, ich sollte zu Zwanzigen klopfen und hämmern an dem, todten Gestein und mein eigen Wort nicht hören vor dem Lärm — und so immer das Gleiche den ganzen Tag — und dann der Herr oder die Herren — ich arbeite ja dann nicht für mich — was krieg' ich von denen?“

[]

Geld gab es dazumal, in jenen Gegenden wenigstens, noch keins. Der Vater konnte nichts nennen, als die Tauschmittel: Geräthe, Kleider, Schmuck, Vieh, Felle, Wolle, Getreide.

„Und wer hilft mir, wenn ich zu wenig krieg', und mit dem, was ich krieg', was soll ich anfangen?“

Der Vater fand sich in einige Konfusion versetzt und antwortete nach einer Pause: „Wieder tauschen oder aufsparen und Land kaufen.“

„Wozu brauch' ich aber so viel Zeug? Und Land haben wir ja genug!“

Man war an einem Punkt angekommen, wo kein Theil weiter wußte. In beiden Köpfen bohrte etwas, wollte ein Gedanke zur Geburt drängen, der doch unmöglich geboren werden konnte. Zwei Pfahlbauerngehirne, Gehirne, wie sie organisirt sein konnten vor etwa sechs Jahrtausenden, an dem Punkte einer Vorstellungsreihe angekommen, der sie in logischer Linie hätte auf die Perspektive weisen müssen: die Arbeiterfrage! Geld! Geldspekulation, Geldhandel, Geld aus Geld! Banken! Gründungen! —

In der That machten Beide jetzt so unkluge Gesichter, daß ein moderner Zuschauer sich des Lachens nicht hätte enthalten können. Der Vater nahm zur Beruhigung seiner so ungewohnt arbeitenden Centralnervenstränge wieder einen langen Schluck Meth. Der Sohn, dem Schwindel zu entgehen, den ihm das []Stieren in diesen kohlrabenschwarzen Abgrund erregen mußte, packte jetzt die Sache von einer andern Seite, die ihm ein klein, ein ganz winzig klein wenig deutlicher vorschwebte:

„Und dann — mithelfen soll ich, daß das Zeug aufkommt? Und so fortwächst, daß am End’ kein Thal in diesen ganzen Landen vor dem Pick-, Klopf- und Hämmer- und Haspelwesen mehr sicher ist? Kein Bächlein lauter und lieblich mehr gehen kann, weil sie's verschmutzen mit Waschereien und — mit“ (man erkennt, daß er Mühlwerke und Fabriken mit Wassertrieb ahnt und nicht nennen kann, daher setzt er nur hinzu:) — „und daß am Ende der verstummen muß?“

Mit dem Wort wurde ihm ganz erbärmlich zu Muthe. Er war Meister auf dem langen Hirtenhorn so gut, wie im Jodeln und auf dem Buchenblatt. Er konnte blasen, daß es in die innerste Seele gieng. Ihm kam in diesem Augenblick das Heimweh, als ob er schon weit, weit weg in dem steinklappernden Hämmerwerk wäre. Sein See, seine Schafe, seine Rinder, voran die Pracht- und Staatskuh, die graue Lisel, die so sanft blinzte, wenn er sie hinter dem Ohr kratzte, seine Berge, die fernen silberblitzenden Gletscher — Alles kam ihm vor, als sehe er es bereits kaum noch nur ganz ferne — und ebenso ferne Sigunen. —

Auch seine gute Mutter Minona fiel ihm ein, die []draußen am Lande seit einem Jahr im stillen Eichenhaine den ewigen Schlummer schlief. Sie hatte freilich ihrem Alpin auch manchmal eine schwere Stunde bereitet, da sie ihm mit einem Lieblingsplan anlag, der dem braven Sohne so wenig einwollte, als die weltmäßigen Ideen des Vaters. Sie wünschte, er solle studieren. So dürfen wir wohl sagen, da es etwas dem ganz Aehnliches, was wir so nennen, schon in jenen Zeiten allerdings gab. In Turik war nicht bloß die große Schnur- und Fadenfabrik, sondern unter Anderem auch ein Druidenorden mit seiner Pflanzschule, einem großen Seminar, und neben ihm eine Bardenschule, die zusammen das bildeten, was wir jetzt eine Universität nennen. Der Druidenorden mit seiner klösterlichen Lehranstalt entspricht dem, was jetzt theologische Fakultät heißt; die Bardenschule daneben umfaßt als große, weltliche Fakultät manche Zweige, die jetzt an mehrere sich vertheilen, als da sind: die juristische, kameralistische, medizinische, philosophische, mit Kathedern für Naturwissenschaften, Geschichte, namentlich Kulturgeschichte, Metaphysik, Aesthetik, insbesondere Poetik, die jedoch mit der Musik auch praktisch gelehrt wird, also mit einer Dichterschule und einem Konservatorium verbunden ist. Wenn wir uns hiemit einiger moderner Namen bedienen, so wollen wir andurch dem Leser nicht verwehren, sich den Zustand bemeldeter Wissenschaften noch etwas primitiv, gewissermaßen stei []nern vorzustellen. Die Barden waren im Grund eigentlich ein Zweig des Druidenordens, wir werden aber im Verlaufe noch Allerhand vernehmen von bedenklichen Spannungen zwischen diesem Zweig und seinem ursprünglichen Stamme. — Der stolzeste Traum von Alpin's Mutter war denn, ihr Sohn sollte in Turik studieren und zwar Theologie: sie hoffte, ihn einst als Druiden zu sehen, und da stieg ihre Phantasie von Sprosse zu Sprosse; wir würden sagen: Pfarrer, Diakonus, Superintendent, Prälat, aber darüber gab es noch eine Spitze, zu der sie in ihren kühnsten Phantasiegebilden schwindelnd emporklomm: CoibhiDruid! Druidenhaupt! Und das war keine Kleinigkeit, denn der war Oberpriester und Fürst in Einer Person, da es Könige zu selbiger Zeit noch keine gab. Der Coibhidruid war zudem unfehlbar und vernichtend wirkte sein Bann, der den Getroffenen von den Opfern ausschloß. So hoch nun aber die gute Minona träumte, Unmögliches träumte sie nicht. Denn der Coibhidruid wurde (auf lebenslänglich) von seinem Orden gewählt, und wenn es denn bei der Wahl nur auf Würdigkeit ankam, warum sollte nicht einst möglich sein, daß — ?

All' diese Hoffnungen gründete sie auf Alpin's stille und sinnige Gemüthsart. Aber der sonst so lenksame Sohn stemmte sich, wie schon erwähnt ist, dagegen nicht minder fest, als gegen die Pläne des Vaters. Alpin hatte mehr als Einen Grund gegen []das Geistlichwerden. Der erste, allein schon entscheidende, war: er mochte überhaupt nicht. Warum? Das konnte er nicht so recht erklären. Das eine Mal sagte er, der lange weiße Rock sei ihm zu vornehm, er bleibe lieber in seiner Juppe von Schafpelz; das andere Mal: die geistlichen Herren wissen Alles so gar gewiß, davor sei ihm bange. Kurz, er respektirte die Priester, mochte aber keiner werden. Nun kam aber freilich noch ein Grund, den er selbst der lieben Mutter nicht gestehen mochte. Die geistlichen Herren durften nicht heirathen. Die Mutter aber fieng an, zu merken, und als sie deutlicher und deutlicher merkte, stand sie sanft von ihrem Zureden ab, denn sie war Sigunen gut, sie mochte das frische Mädchen gar gerne leiden. Der Sohn merkte, daß sie merkte und nicht ungern sah, und als sie starb, betrauerte er in ihr nicht nur die Mutter, sondern auch eine Stütze für den Wunsch seines Herzens.

Davon konnte er nun dem Vater, wie er ihn kannte, kein Wörtchen sagen. Der Mann, der so weit hinaus wollte mit dem Sohn, was war von dem zu erwarten, wenn er ihm sein Herz eröffnete! Es mußte freilich um jene Zeit auch dem Vater schon zugetragen sein, was in der Gemeinde kein Geheimniß mehr war. Er hatte nicht darauf geachtet, weil er nicht hatte achten wollen; er hatte beschlossen, es für eine Jugendspielerei anzusehen und todtzuschweigen.

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Und nun wollen wir zu dem Gespräche zurückkehren, das wir nur zu lang unterbrochen haben. Die wehmüthigen Worte vom Kuhreigen hatten den Alten nicht im geringsten gerührt. Daß dem Sohne vor Weh die Stimme brechen wollte, merkte er gar nicht. Er griff eben wieder nach seiner Methschale, hielt sie betrachtend in der Hand und begann, seinem Sohne noch einen andern Plan zu empfehlen: er solle sich dahin ausbilden, daß er seiner Zeit eine große Holzschnitzanstalt errichten könne. Es ließe sich, meinte er, wohl die Quelle erkunden, woher die Schale einst gekommen, ein ergiebiger Verkehr mit dem fernen Land einleiten, man könnte geschickte Hände heranbilden, um Geräthe verschiedener Art mit so zierlichen Gliedern, wie sie den Rand dieses Runds einfaßten, zu einträglichem Verkaufe zu schnitzen. Inzwischen kam dem gequälten Sohn die liebe Natur selbst zu Hülfe. Der Alte hatte des wirksamen Getränkes nachgerade doch stark über Durst geschluckt und es kam ein gewisser milder Nebel über ihn, der sich in der Erscheinung des Lallens oder sogenannten Zungenschlags äußerte. Er wollte sagen, er vermuthe oder muthmaße, daß sich mit Schnitzereien aus Buchsmaser etwas Tüchtiges anfangen, ein gutes Geschäft gründen ließe. Die Aehnlichkeit der Sylben in: Muthmaßen, Vermuthen und Buchsmaser wurde ihm zur Klippe, woran er scheiterte. Er produzirte Wortmischungen wie Verbuchsmaserung, Vermasmuth []buchserung, Buchsvermuthmaserung, Muthverbuchsmaserung, Masverbuchsmutherung und ähnliche. Dem Sohne war es nicht darnach zu Muth, daß er hätte lachen können, aber er nahm die Zeit wahr, sagte gute Nacht und gieng.

Am Ende des Pfahldorfs standen drei große Ställe für die Heerden, die untergeordneten Hirten schliefen auf Heu- und Strohlagern bei dem Gethier, Alpin, der Oberhirt hatte seine besondere kleine Hütte daneben. Dorthin schliech er nun in seines Herzens Weh und streckte sich auf seine Felle nieder. Lange wollte sich der Schlaf nicht einstellen, als aber endlich die Natur ihr Recht in Anspruch nahm, ließ sie sich auch durch ein sonderbares Geräusch, das ringsherum anhub und immer stärker wuchs, nicht aus ihrer wohlthätigen Ordnung bringen, um so weniger, da dem Schläfer diese Erscheinung nichts Neues war.

Ehe wir den Ursprung derselben aufsuchen, müssen wir uns erst nach einer andern Stelle umsehen. Wir lassen die Nacht bis zum Morgengrauen verstreichen, begeben uns an's Land und sehen in der Dämmerung einen schlanken Burschen dem See zuschreiten. Eine Pelzmütze bedeckt sein dunkles Lockenhaupt; sie ist mit einer Spielhahnfeder geschmückt, die aus einem Kreise von Gemshaaren aufsteigt, und sie ist breit verbrämt mit einer Borte aus zusammengefügten rothen Federn vom Kopfe des Steinhuhns. Er trägt einen Gürtel, []vorn mit einer großen Erzplatte geschmückt, deren dünne Fläche mit einer reichen Zusammenstellung von Linien und kleinen, getriebenen Buckeln verziert ist, — wer weiß, ob nicht das Urbild des breiten Mittelschilds am Ledergurt, der heute noch in den benachbarten Gebirgen Tirols getragen wird und an dessen weiß eingestickten Verzierungen man ganz ähnliche Zeichnung bemerken will, wie an jenen uralten Mustern; bei Arthur aber ist in der Mitte der Ornamente ein Kreis und im Kreise ein Dreieck zu sehen; an diesem Gürtel hängt links ein ehernes Schwert in eherner Scheide und rechts ein breiter, stark kegelförmig in die Spitze zulaufender Dolch von demselben Metalle. Ein Sack aus Rehfell hängt auf seinem Rücken, mit einer Schnur zusammengezogen, der jetzt noch übliche Rucksack unserer Gebirgsbewohner. Er ist sichtbar gefüllt und wird wohl nicht leicht sein, doch der Träger erscheint von seiner Last so wenig als von seinem Marsch ermüdet, das Haupt hängt ihm nicht vor, sondern steht aufrecht auf dem schwungvoll aufsteigenden Halse, und rasch, mit elastischem Schritte bewegt er sich vorwärts nach dem Seeufer, es ist ein Gang, wie man ihn jetzt nur noch bei Völkern sieht, deren Füße nicht Schuh und Stiefel, nur Sandalen kennen. Ein Hund begleitet ihn, ein großer braungestriemter Hatzrüd; er mochte die Wachsamkeit, den Beistand des treuen Thieres wohl bedurft haben auf der gefährlichen []Wanderung, die er heute schon mehrere Stunden vor Tag angetreten.

Das erwähnte Geräusch ist inzwischen zu gewaltiger Stärke angewachsen. Es erinnert bald an das gebellartige Schreien des Schuhus, bald glaubt man schmetternde Posaunentöne, bald das schrille Kreischen großer Sägen zu vernehmen — ein Durcheinander von Tönen, als brüllte ein Chor von unbekannten, geisterhaften Ungeheuern.

Der Bursche lächelt und streicht sich den Schnurrbart. Er kennt das. — Auch das wachsame Thier wird nicht stutzig, scheint längst Gewohntes zu vernehmen.

Nahe dem Ziele führt unsern Wanderer sein Weg an vier grauen, dunklen Steinmalen vorüber. Sie scheinen gottesdienstliche Bedeutung zu haben. Eines derselben besteht in einer rohen, mächtigen Granitplatte, die wagrecht auf vier ebenso rohen steinernen Stützen ruht. Es wird wohl ein heiliger Tisch, ein Altar sein. Rechts davon, etwas rückwärts, befindet sich, senkrecht als hochragender Steinpfeiler aufgestellt, ein zweiter Granitblock, unbehauen wie jener; auf seinem Gipfel erscheint ein Gebilde des Meißels, so unbeholfen, als es herzustellen ist, wo alle Geräthe selbst noch aus Stein bestehen und nur der härtere in weicherem arbeitet. Es gleicht der Form, die wir auf Sigunens Arm eingeritzt gesehen haben: zwei aufgebogene Hörner []stellen wohl einen Halbmond vor, scheinen aber auch an den Stirnschmuck des Rindes erinnern zu wollen. Links vom Steintisch, ebenfalls etwas zurücktretend, ragt ein zweiter Pfeiler, gleich massig und roh, nur etwas niedriger; er trägt auf seiner Spitze ein Bild, so ungeschlacht wie jenes, nur etwas erkennbarer; es ist offenbar ein Molch, was es darstellt. Unbekrönt dagegen steht in gerader Richtung hinter dem Altare, tiefer zurückgestellt, als die beiden Seitenpfeiler, ein dritter, der größte, er besonders altersgrau, rauh und gemahnend, als schwebten uralte Ahnungen der Völker, die in unvordenklicher Zeit solche Felsen aufgerichtet, um seine moosbewachsenen Hüften.

Arthur — so heißt der Wanderer — geht mit gleichgültigem Blicke vorüber. Er unterläßt es, die Steinmale mit einem Zeichen der Ehrfurcht zu begrüßen; er beschreibt nicht, wie es der fromme Brauch verlangt, mit drei Fingern einen Kreis, dann eine Schlangenlinie auf seiner breiten, wohlgewölbten Brust. Nach den fernen Gebirgsstöcken, Gräten und Spitzen ist sein Auge gekehrt. Der breite Glärnisch, der steile Reiseltstock, der stolze Tödi, die schimmernden Klariden tauchen ihre Rücken, Jacken und Häupter in den ersten Strahl der Morgensonne; jene Firnfläche, die jetzt Vreneli's Gärtli heißt und schon damals von alten Sagen umwoben sein mochte, leuchtet in rein bläulichem Weiß herüber; weit sind Arthur's Augen ge []öffnet und ein Ausdruck ist in ihrem feuchten Glanz zu lesen, der zu sagen scheint, daß schon die Seele eines Pfahlbewohners im Bilde bestrahlten Hochgebirges mehr zu fühlen fähig war, als nur Stein, Erde, Schnee und Eis.

„Halt, wer da?“ schrie eine rauhe Stimme.

„Gut Freund!“

Der Wächter oben an der Pfahlbaubrücke hatte bei seinem Anruf den Eibenbogen von der Schulter genommen, einen Pfeil aufgesetzt und lag im Anschlag. Es war herkömmliche Form, so oft ein Bewaffneter sich der Brücke näherte, aber dießmal zielte er so scharf, daß es fast aussah, als könnte es Ernst werden, denn er hatte die ungewöhnlichen Waffen gesehen; das Erz schimmerte in der Morgensonne.

„Sag' an, was willt du schaffen
Mit deiner Wehr und Waffen?“ —
‚Will euch lassen in Frieden!‘ —
„Sollst sie wieder haben beim Druiden.“

Man erkennt auch aus diesem Anruf und der Antwort einen bestehenden Brauch, der dem Ankömmling geläufig sein muß. Er löste Schwert und Dolch von dem schimmernden hohen Hüftgurt, von dem sie an zierlichen Ketten niederhiengen, und legte beide Waffen vor sich nieder. Der Wächter ließ jetzt das bewegliche Stück der Brücke herab, nahm die Waffen auf und []führte ihn zum Druiden. Wir begleiten die Zwei zu seiner Wohnung. Sie war inmitten der übrigen Häuser der geräumigste Bau des Dorfes, eine Art von Apsis, ein halbkreisrunder Anbau befand sich an der hintern Seite des Vierecks, man sah schon von Außen, daß darin mehr Bequemlichkeit sein müsse, mehr Theilung für verschiedene Zwecke des Thuns und Lassens, als in den gewöhnlichen Bauernhütten. Während der Wächter dreimal an der Thüre klopfte, zog eben Alpin mit seiner Heerde vorüber; es war die Stunde, wo er austrieb. Er maß den Fremden mit erstaunten Blicken; als er auf der Mütze die Spielhahnfeder und den Gemsbart bemerkte, verdunkelte sich das Licht in seinen weitgeöffneten Augen und zog sich eine Falte über seine Brauen. Zögernd und noch ein paarmal sich umsehend trieb er weiter.

„Herein.“ Der Druide saß eben, während im Hinterraum das Wasser zum Kaffee siedete, behaglich in seinem pelzverbrämten Schlafrock, und hinter ihm stand seine alte Hauserin, beschäftigt, ihm die Haare zu ordnen. Er pflegte den noch reichlichen Naturschmuck seines Hinterhauptes in Anspruch zu nehmen, um die Kahlheit seines Vorderhauptes nach Möglichkeit anständig zu decken. Die Alte wußte die herübergezogenen Stränge zierlich mit ausgesucht zartem, höchst geläutertem Tannenharz festzukleben. Der Wächter meldete den Fremdling. Angus, so hieß der Druide, gebot, ihn []einzuführen, stand auf, nahm seine hohe, spitze Pelzmütze vom Ende eines Hirschgeweihs, das, zum Zweck eines Aufhängegeräths sehr bequem zugerichtet, an der Wand angebracht war, setzte sie auf und gab sich eine Positur, wie sie seinem dreifachen, ja vierfachen Amte entsprach. Denn er vereinigte in seiner Person den Priester, Polizeibeamten, Richter und dazu den Schatzmeister des aus den Abgaben schön sich mehrenden Kirchenguts, das in viel Vorrath an Getreide, Fellen, Wolle und ansehnlicher Rinderzahl bestand. Der Wächter führte jetzt Arthur herein, dieser stellte sich schweigend vor dem Druiden auf in geneigter Haltung und die Hände über der Brust kreuzend, denn dieß war die Begrüßungsform, wie die Würde des Seelenhirten sie forderte. Der ernste Beamte ließ sich nun vom Wächter Bericht erstatten, die nie gesehenen Waffen näher vorzeigen und eröffnete dann das Verhör mit einem Hustenanfall. Es war etwas in dieser Aktion, wodurch sie sich fühlbar von einem bloßen Naturereigniß unterschied; es war Takt und Tempo, es war Rhythmus, es war etwas Feierliches, Erhabenes darin. Arthur kannte das und verharrte in seiner ehrerbietigen Stellung. „Woher, o Fremdling?“ begann nach dieser musikalischen Einleitung der Druide. — „Vom See Nuburik“ (— er meint den See, den wir jetzt den Neuenburger nennen). — „Was willst du hier bei uns?“ — „Den Bürger []Odgal besuchen, meines Vaters Geschwisterkind.“ — „Willst du Urfehde schwören, daß du nichts Feindliches willst beginnen?“ Der Druide nahm das Schwert auf, besann sich einen Augenblick, ob er es für die Steinstreitaxt, worauf seine Bürger zu schwören pflegten, wolle gelten lassen, bot es dann Arthur hin und dieser legte drei Finger auf die Klinge und schwor. Jetzt erst erlaubte sich der Priester, seiner neugierigen Verwunderung über die Erzwaffen Ausdruck zu geben und Frage auf Frage darüber zu stellen. Er hatte vorlängst ganz dunkel etwas sagen hören von Geräthen aus einem neuen, harten, gelbglänzenden Stoffe, die man in Turik gesehen haben wollte; er hatte es kaum aufgefaßt und bald vergessen; der Verkehr mit der Pfahlstadt war eben kein sehr häufiger; jetzt fesselte der Augenschein nicht wenig seine Aufmerksamkeit. Arthur gab ihm alle gewünschte Erläuterung. Vor Jahr und Tag sei ein Fremdling fernher über das Alpengebirge gekommen zur Gemeinde Nuburik, ein Handelsmann aus dem Lande, wovon alte dunkle Kunde gehe, daß da eine wärmere Sonne scheine und Menschen wohnen, die in allerhand Kunst denen des Alpenlandes weit vorausseien; der habe Beile, Hämmer, Meißel und manches Andere aus diesem blinkenden Stoffe gebracht und gegen Felle, Rinder, Schafe und Wolle eingetauscht. Dann nach Jahresfrist sei ein Zweiter eingetroffen und habe kunstreichere []Werke aus derselben Mischung zum Verkauf geboten: Schwerter, Dolche, wie die, welche der Druide hier sehe, Speer- und Pfeilspitzen, auch Töpfe, Schalen und außerdem gar feine Dinge, Fischangeln, hübsche Schmucksachen, zierliche Kämme, Armringe, Heftnadeln, Halsschnüre aus Kügelchen und Kettchen, die den Frauen gar wohl gefallen haben. Das sei noch immer Tauschwaare geblieben, dann seien Männer gekommen, die auf Saumthieren ganze Lasten der Stoffe gebracht haben, wie man sie aus den Bergen grabe, schmelze und aus der Mischung des weißen und rothen, des Zinns und Kupfers dieß blinkende harte Erz bereite. Aber auch Gußformen haben sie mit sich geführt und gezeigt, wie man verfahre, und nun habe man das gelernt und verfertige selbst alle diese nützlichen und schönen Dinge. Dann habe man angefangen, in den eigenen Bergen zu graben, die Metallstoffe gefunden und seitdem sei nun ein ganz neues Leben dort auf dem See zu Haus, es komme da den Menschen Alles leichter vor und sie seien geweckter, beweglicher geworden. Auf dem großen Nachbarsee Leman und dann in Turik habe man in den letzten Zeiten diesen wichtigen neuen Zeug auch kennen gelernt und mit Eifer ergriffen. Ihm, dem Herrn Druiden aber beehre er sich hiemit eine bescheidene Gabe für seinen Haushalt demüthigst zu überreichen mit der Bitte, sie in Gnaden anzunehmen.

Er zog aus seinem Rucksack ein zierliches Messer []hervor, die Klinge hübsch yataganförmig geschwungen, zierliche Ornamente auf ihrer Fläche, das Heft ungleich feiner, als bei den schweren Steingeräthen, aus Hirschhorn gebildet.

Der Druide hatte bei jenen Erläuterungen nachdenklich den Kopf hin und her gewiegt. Er zögerte ebenso nachdenklich, nach dem schimmernden Geschenke zu greifen. Ein Schatten glitt über sein dickes Gesicht, seine kleinen, tiefliegenden, sonst behaglich glitzernden Augen.

Inzwischen war hinten im Anbau das Frühstück fertig geworden. Wir haben es als Kaffee bezeichnet und es war auch Kaffee, nur nicht aus der arabischen Bohne, sondern aus gerösteten und gemahlenen Eicheln, ein recht gutes und gesundes Getränke, wie man weiß. Die Bereiterin dieses Labsals ist dasselbe Wesen, das wir im Anfang spinnend und singend bei Sigunen und soeben als Haarkünstlerin gefunden haben, es ist Urhixidur, die geschäftige Pflegerin, Hausverwalterin des Druiden und von Geburt seine Base; sie hat sich bei Arthurs Eintritt zurückgezogen, unter der Arbeit an der Matte gelauscht, hervorgeschielt und trägt jetzt auf hölzernem Runde das duftende Getränk herein, mehr als dieß, ein Ganzes, von dem man sagen kann, es wetteifre mit der Vollständigkeit eines englischen Frühstücks; denn nicht nur ein Topf herrlichen Rahmes voll gesellt sich zum Kaffeegefäß, sondern nebst []einem Brodlaib auch gesottene Eier, Butter, Honig und ein Bärenschinken, ein Theil des Thieres, welches Alpin kürzlich in so muthigem Kampfe getödtet hat. Sie ist in dem Moment eingetreten, wo Arthur dem Druiden das Messer hinbeut, und die ehrsame Schaffnerin findet es passend, ohne Zögern und mit scharfem Tone zu bemerken: „Dieß ist auch wieder so eine von den gefährlichen Neuerungen. Soll denn alles gute Alte zu Grunde gehen?“ Der Druide striech sich verlegen seinen mit Grau durchschossenen Bart, Widersprechendes gieng in ihm vor: er schämte sich des Pantoffels, dessen Herrschaft die kecke Einmischung so klärlich an den Tag legte, die Waffen gefielen ihm eigentlich und noch mehr das hübsche Messer, zugleich aber mußte er im Innern der Hauserin Recht geben, denn von Anfang an, beim Anblick der Waffen schon, hatte ihm so etwas vorgeschwebt, wie es die vorlaute Alte nun in Worte faßte. Diese ergriff jetzt ein sauberes, glattes Holzmesser, trennte damit ein Stück von der Butterform ab und lobte die guten alten Werkzeuge. Arthur hatte schon vorher den Schinken in's Auge gefaßt; er war angeschnitten oder vielmehr angemeißelt, was wir ja bereits kennen; man sah deutlich die rohen einzelnen Eingriffe des unzureichenden Werkzeugs und zum Ueberfluß lag ein solches daneben. Arthur trat hinzu und schnitt mit sicherem Druck und Zug seines Erzmessers eine dünne Scheibe des röthlichen Fleisches herunter. []Der Alten funkelten die schwarzen Augen in ihren tiefen Höhlen, ihre gelbe Haut wurde blaß, das heißt hellgelb, dann grünlich, dann roth, richtiger orangegelb, sie rieß Arthur das Messer weg, schleuderte es zu Boden und rief: „Man wird uns auch noch unsere gute alte Religion zerschneiden.“ Arthur stand schweigend, lächelnd über die rasche Logik und sah den Druiden an mit einem Blicke, der deutlich sagte: „Was wirst du nun dazu sagen?“ Der Druide zog einen mittleren Weg vor — das liebte er — mit gewissen Ausnahmen — überhaupt. Er fühlte, daß dem Weibe, dessen vorstürzende Leidenschaft ihn vor dem Fremden beschämte, ein Verweis gebühre, allein er kannte ihre Wehrhaftigkeit, und zudem, wenn denn einmal sein ahnendes Gefühl den Besorgnissen der Alten beistimmte, so konnte er auch nicht umhin, die so weit gedehnten Folgerungen gutzuheißen. Er beschloß in dieser Verwicklung, der gestrengen Herrscherin seines Hauses sowohl Unrecht als Recht, das heißt dem Ankömmling sowohl eine Artigkeit, als auch einen ernsten Wink zukommen zu lassen. Die Artigkeit lautete: „Ich nehme die Gabe an, o Fremdling, und gebe dir deine Waffen zurück.“ Eigentlich fragte er sich, ob er nicht zu Ehren höflicher Sitte, auch schärferer Bestrafung seiner unbotmäßigen Schaffnerin ihn zum Kaffee einladen sollte, aber diese las ihm das aufrührerische Vorhaben aus den Augen ab und ein strenger []Blick aus den ihrigen genügte, es nicht zur Ausführung gedeihen zu lassen. Der Wink aber bestand in den Worten: „Ich hoffe, daß du unsere heiligen Gebräuche achtest, und erwarte, daß du heute Abend bei dem ersten Vorakte des großen Festes, der Betuchung unserer frommen Jugend, erscheinest.“ Arthur bejahte, verabschiedete sich und der Druide machte sich an seinen Kaffee. Er trank mit wenig Behagen dießmal; er hätte sich sogar fast unterstanden, einen an der Beharrlichkeit Urhixidur's längst erlahmten Widerstand heute nach langer Zeit wieder zu eröffnen: sie ließ sich's nicht nehmen, dem redlichen Getränk eine Beimischung von der Wurzel einer Pflanze, genannt Wegeluge, zu geben: demselben Vegetabil, das wir jetzt Cichorie benennen; sie behauptete, es gebe dem Kaffee eine bessere Farbe und Konsistenz; der Druide meinte: aber keinen guten Geschmack; es hatte darüber schon Szenen gegeben; die stärkste, als der würdige Mann einmal sich so weit vergessen hatte, aufzustellen: die kleinste Dosis von dieser gemeinen Pflanze gebe dem Kaffee einen Geschmack von Jauche; darüber war die Verfechterin guter alter Sitte so wild geworden, daß von nun an der Muth des Widerstrebenden gebrochen war. Schweigend, mitunter zwischen den Zähnen murmelnd, trank und aß er und ebenso die Alte. Einen giftigen Blick auf sie werfend schnitt er sich mit dem Erzmesser ein Stück vom Schinken ab, mit einem noch []giftigeren meißelte sie sich einen derben Schnitz davon herunter und schmatzte zum Essen etwas stärker als sonst, denn sie wußte, daß der Druide das nicht leiden konnte.

„Der Fremdling besucht Odgal?“ fragt die Alte.

„Ja,“ antwortet der Druide.

„Kann Sigunen gefährlich werden.“

„Ah bah!“

Doch ließ es einen Stachel in ihm zurück; er hatte daran noch nicht gedacht. Er war ein entfernter Vetter von Ullin wie von Urhixidur, die also das lebendige verwandtschaftliche Band zwischen beiden Häusern vorstellte. Daß diese dem frommen Hirtenjüngling, wie sie Alpin nannte, wohl gewogen war und ihn bei Sigunen eifrig unterstützte, haben die Leser schon aus dem Anfang unserer Geschichte ersehen. So war ihm auch ihr Hausherr freundlich geneigt, nicht nur als Verwandter, sondern insbesondere als Freund des Hirtenstands, in welchem er einen Träger der guten, gläubigen, alten Sitte und Gesinnung sah. Sigunen's Muthwille machte ihm weniger Sorge als der Alten, er scherzte selber manchmal mit der munteren Maid und mochte dem braven Burschen wohl gönnen, daß es ihm mit ihr gut werde.

Alpin war inzwischen eine Strecke weit in tiefen Gedanken mit seiner Heerde hinausgezogen; plötzlich hielt er, sagte dem Rinderbuben, er solle nur zufahren, []und gieng zurück, anfangs langsam, dann schneller, dann ward der Gang ein Laufen, endlich ein keuchendes Jagen, so kam er an bei Odgals Hütte und stand an demselben Fenster, durch das er gestern Sigunen belauscht, geneckt, herzlich begrüßt hatte.

Was mußte er sehen! Arthur saß neben Sigunen, den Arm um ihren Nacken und sah mit glänzenden Augen zu, wie sie einen blinkenden Gegenstand in der Hand wiegte. Es war eine Halsschnur, wie er sie noch nie gesehen; ein zartes Geflechte von gewundenen Erzfäden wechselte mit Kugeln fein gegliederter und verzierter Gestalt von demselben Metall und von Stelle zu Stelle mit ebensolchen Formen aus durchsichtigem Bernstein. Entzückt betrachtete sie den wunderneuen Schmuck und ließ seinen Glanz in der Morgensonne spielen. Und was dem Armen noch einen rechten Stich in's Herz geben mußte: daneben auf dem Tisch lag unbeachtet das Werk seines Fleißes, seines Schweißes, die Halskette aus Bergkrystall. Zugleich bemerkte er, daß der Geber des Geschenks einen ähnlichen Schmuck selbst trug; zwar einfacher: ein Erzgeflechte ohne Zuthat, doch vornehm und prächtig schimmernd auf der bräunlichen Haut des schlank geschwungenen Halses. Es war allgemeine Sitte der Männer, einen Halsring zu tragen, aber um den Hals Alpin's zog sich nur ein Reif aus geschlungenen gelben Wollfäden: ein Schmuck, der ihm jetzt gar trocken und ärmlich vor []kam trotz dem Klunker von Bärenzähnen, den er kürzlich daran gehängt hatte. Die Kinder jubelten laut auf, auch sie hatten herrliche Gaben bekommen; das ältere Mädchen Ohrenringe: da baumelten an feinen Kettchen durchbrochene Kugeln, in jeder eine kleinere eingeschlossen, — wie es nur möglich war, diese in das gegitterte Gelaß hineinzubringen! Und wie allerliebst mußte das immer spielen, klingen, glöckeln, wenn man's nun im Ohrläppchen trug! Der Knabe war beschäftigt, einen Boug, will sagen einen Armring an seinen Arm zu streifen, in dessen schimmernde Oberfläche gar anmuthige Ordnungen spielender Linien eingegraben waren, ein Gebilde fast so schön wie jenes, das an Arthur's eigenem Arme funkelte. Das kleinere Mädchen schüttelte ein Spielzeug von Erzringen, die an einem Zinnring hiengen, und ergötzte sich an ihrem Rasseln. Der Vater aber stand unbeweglich, sprachlos über ein winziges Objekt gebeugt, das er in der Hand hielt und das ihm wie ein Weltwunder erscheinen mußte: eine Fischangel, die ihm von nun an die kümmerlichen Aushülfen von Bein ersetzen sollte; und was sein Glück bis zur Höhe des Verstummens steigerte, das war eine Gußform für dasselbe Geräthe, die er in der Linken hielt.

Alpin blieb unbemerkt; er wollte sich still zurückziehen, aber sein Ryno war ihm gefolgt, er schnüffelte an der Thüre, ihn hörte und witterte Tyras, der ge []strenge Begleiter Arthur's, stieß die Thüre auf und im Nu waren sich beide Hunde in den Haaren. Ein wildwüthendes Raufen gieng los, während die Familie und der Gast herausstürzten. Der große Bulle war dem braven Schäferhund nicht an Tapferkeit, aber an Kraft überlegen, das zottige Fell des Feindes bot seinen Zähnen Anhalt und er verbieß sich nach Art seines Schlages so in dessen Genick, daß Alpin nicht zaudern durfte: er packte das starke Thier um den Hals und schleuderte es mit einem mächtigen Schwung über die Brustwehr des Pfahldorfs; erst der Flug durch die Luft vermochte die festgeklemmte Zange seiner Zähne zu lösen, so war Ryno mitgerissen worden und fielen beide Hunde zusammen in das Gewässer des Sees. Mit rollenden Augen standen Arthur und Alpin einige Minuten sich gegenüber, Odgal suchte seinen Gast zu beschwichtigen, auf Alpin fiel ein Blick von Sigunen, seltsam gemischt aus Unwillen und zugleich aus Mitgefühl, und dann doch auch aus Furcht und Scheu, wie ein Weib sie wohl fühlen mag vor einem Mann, den sie als gutmüthig kennt, von dem sie aber weiß, daß er doch auch einmal schrecklich werden könne. Mitten in seinem Zorn und Jammer schöpfte Alpin aus diesem Anblick unbewußt eine gewisse Genugthuung, die ihm so viel Halt gab, daß er sich durch Arthur's drohende Blicke zu keinem Ausbruch hinreißen ließ. Auch dieser nahm sich zusammen und []schien nachgerade doch zu bedenken, daß hier kein Unrecht geschehen war.

„Auf Wiedersehen!“ sagte Alpin, freilich in einem dumpfen Tone, der nichts Gutes versprach, wandte sich und gieng hinweg. Er schritt der Brücke zu, erst jenseits derselben fiel ihm sein Ryno wieder ein, er that einen schrillen Pfiff, nach kurzer Zeit erschien das treue Thier, keuchend, pudelnaß, ganz erschöpft, wollte am wiedergefundenen Herrn hinaufspringen und mußte, elend zugerichtet, am Nacken blutend, von dem Versuche abstehen. „Armes Thier!“ er sagte das mit wenig fester Stimme und es war ihm, als käme ihm die Nässe aus dem zottigen Fell in die Augen. Langsam zog er mit dem matten Begleiter hinaus seiner Heerde zu; als er sie erreicht hatte, war sein Erstes, eine Kuh zu melken und die Wunde des Thieres mit warmer Milch zu waschen, dann mit welkem Moos sein Fell zu trocknen; als dieß geschehen, legte er es wie ein krankes Kind auf ein Rehfell und nun — dachte er an sich. An wen? An den armen, verlassenen, verrathenen Alpin. Er schliech weg ins Dunkel eines Gehölzes, warf sich in's hohe Gras, wälzte sich links und rechts, wie glühende Nadeln arbeitete es in ihm, ein Schweiß brach ihm aus, er fuhr in Wuth empor, warf sich wieder zu Boden, betrachtete sich selbst, wie er so hingestreckt lag, und zu neuer Qual tauchte jetzt plötzlich das Erinnern einer Wahrnehmung in []ihm auf, die er sich vorher nicht zum Bewußtsein gebracht hatte. Er sah seine Hosen an, sie waren von grobem Lodenstoff und eben nicht geeignet, die Gestalt seiner Beine, die sich eigentlich gar wohl sehen lassen konnte, vortheilhaft zu zeigen, und nun fiel ihm ein, daß Arthur's Beine doch ganz anders sich ausnahmen; da sah zwischen Lederhose und gemustertem Stutzstrumpf das nackte Knie hervor und unbehindert von knorrigen Falten erschien die sichere Zeichnung des wohlgeschaffenen männlichen Bewegungsorgans in ihrer Kraft und Schönheit. Jetzt erst wurde es ihm siedend heiß und abermals warf er sich zu Boden. „Ja! ja! ich bin ja nur ein stiller, zahmer, dummer Hirte! Ich hab' keine so gewellten Tanzbeine, trag' ja auch keine Spielhahnfeder und Gemsbart, nur ein paar blaue Häherfederl und einen Wisch von Luchsohren-Borsten an der Pelzkappe, und bin nicht wie ein Mädel mit glitzernden Ringen aufgeputzt.“ Die Ironie half ihm nichts, die Kraft des Stolzes brach, eine Flut von Thränen stürzte hervor; Ryno kam ihm zugekrochen, wie er so lag; „Komm' her, gutes Vieh,“ sagte er, „wir sind ja wohl zwei unglückliche Kerle miteinander,“ er duldete ihn neben sich, ja legte den Arm über ihn, versank nach und nach in ein stumpfes Brüten und endlich kam über die beiden Verwundeten, den einen, der im Nacken, und den andern, der tief in der Seele getroffen war, die Wohlthat des Schlafes.

[]

Der Hirtenbub weckte ihn, es mußte heute früher eingetrieben werden, denn Alpin durfte bei der abendlichen Feier nicht fehlen. Der Hunger stellte sich ein, er machte sein einfaches Hirtenmahl kurz ab und fuhr heim mit seiner Heerde, entschlossen, Arthur für's Erste zu vermeiden, — und Sigunen? Er wollte sie nie wieder sehen, ja er dachte gar, dem Vater nachzugeben, sei es, daß er Feuersteinschmied werde, sei es, daß er zu den Druiden oder Barden nach Turik in die Lehre gehe; was dachte er Alles, und hinter dem Allem dachte wieder etwas Anderes in ihm, eine dunkle Stimme, die er nicht recht verstand, nur daß ihm schien, sie sage, aus all' den trotzigen Vorsätzen werde nichts werden. Er fand die Gemeinde in verworrener Aufregung, das Dorf gliech einem Bienenschwarm; Alles lief durcheinander, der Plankenboden der engen Gassen polterte von tausend Schritten derb auftretender Mannen. Kurz nach dem unheimlichen Auftritt am frühen Morgen war die Neuigkeit von der wunderbaren Erfindung, deren Erzeugnisse Arthur mitgebracht, wie ein Lauffeuer durch die Hütten gesprungen. Man kam, man sah, man staunte an, man versuchte die Waffen an Fleisch und Holz, man war entzückt und man schüttelte doch auch die Köpfe. Das Staunen nahm einen eigenthümlichen Charakter an, als Arthur nun etwas vorzog, was er in Odgal's Hause noch nicht gezeigt hatte. Es war ein kleines Stückchen Erz, flach, vier []eckig, es zeigte auf einer Seite das Bild einer Kuh, umgeben von einem System sehr kunstreich in einander verschlungener Linien. Er suchte den sonderbaren Gegenstand zu erklären, er sagte geheimnißvoll, es sei ein neues Tauschmittel; er nahm einen Ansatz, die Bedeutung auseinanderzusetzen, allein er stieß auf solches stummes Stieren, verdrießliches Kopfschütteln, ärgerliches Lachen, daß er sein Erzstückchen wieder einsteckte mit einem Gesicht, das sagte: das ist noch nicht für euch. Einige der Mannen, denen er es gezeigt, sahen ihn von da an mit gewissen Blicken an, die zu fragen schienen: Narr oder verdächtiges Subjekt? Es kam noch etwas dazu, den Luftkreis, der den Fremdling umgab, in eine gewisse Gespanntheit zu versetzen. Es entfielen ihm, wenn er so von Neugierigen umringt war, ab und zu Reden, Andeutungen, die zu denken gaben, als zum Beispiel: es könne sonst auch noch Manches anders werden, — es sei nicht gerade Alles für die Ewigkeit, was jetzt felsenfest scheine, — die Welt sei weit und wohl nicht überall kommen den Menschen die Dinge so vor, wie hier zu Land. Der Wächter wollte bemerkt haben, daß der Ankömmling die Steinbilder am Ufer nicht begrüßt habe, wie jeder ordentliche Heidenmensch doch thue. Noch eine andere bedenkliche Erscheinung gab viel zu raunen und zu munkeln: Niemand hatte Arthur husten gehört; ein Punkt, dessen Erläuterung wir allerdings dem Leser noch schuldig, []aber auch mit Nächstem zu geben bereit sind. Darauf legten besonderes Gewicht ein paar Alte, an deren Athmungswerkzeugen diese Art von organischer Erschütterung allerdings in regelmäßiger Wiederholung von Pause zu Pause zu bemerken war: sie liefen zum Druiden und gaben ihm Alles an, was unheimliche Bedenken über den Ankömmling erregte, und mit wichtig aufgezogenen Augenbrauen betonten sie vor Allem das letztere bedeutungsschwere Phänomen oder vielmehr Nichtphänomen. Der Druide hatte heut keinen guten Tag, er war schlecht bei Laune zum Voraus: nicht bloß, weil er sich am frühen Morgen schon bei seinem Kaffee hatte ärgern müssen — eine Erfahrung, die uns bekanntlich den ganzen Tag zu vergällen geeignet ist —; nein, es war da noch ein besonderer Umstand, der ihm die Laune verderbte: die alten Denunzianten brachten ihm zugleich die Nachricht, daß auf morgen die zwei Barden angesagt seien, die man von Turik hergebeten habe, und sie trugen das vor mit Kopfschütteln und mit Vorwurf in Blick und Ton. Wir müssen in der Zeit etwas zurückgehen, dem Leser Licht zu geben.

Die ungewöhnliche Hitze dieses Sommers hatte einen Theil des Sees trocken gelegt. Ein Pfahlbürger mit Namen Massikomur, der wie Andere öfters den Weg zu seinen Aeckern der Abkürzung wegen über diesen Seegrund nahm, meinte einmal, als er in die []Spalten des gedörrten und geborstenen Schlamms hineinsah, etwas wie Thonscherben, ein andermal etwas wie eine rohe Axtklinge von Stein zu bemerken. Er war ein nachdenklicher, wißbegieriger Mann; er fieng an, zu graben. Er hackt und hackt und stößt, nachdem er einige Schuh in die Tiefe gelangt, auf größere Scherben von Töpfen, denen gleich, die man jetzt gebrauchte, aber weit roher an Form, ohne verzierendes Glied, und wo sich ein solches findet, besteht es nur in einer Reihe von Vertiefungen am Halse, die sichtbar mit dem Nagel eingedrückt sind; der Thon gröber, unverarbeiteter und viel schlechter gebrannt, als der jetzige, die Rundung unförmlicher, als man sie heutzutage herzustellen versteht: jetzt, heutzutage, das heißt dazumal, als Massikomur lebte, wo die Glasur und die Töpferscheibe auch noch nicht bekannt, aber doch die Brennung sorgfältiger, Augenmaß und Hand in der Formung ungleich sicherer und feiner geworden war. Ferner finden sich Geräthe und Waffen aus Holz, Stein, Bein, aber weit nicht so vielfältig und weit roher als man sie jetzt zu bereiten weiß: die Pfeil- und Lanzenspitzen aus Feuerstein durchaus nur gespalten, nicht nach allerneuester, zwar noch seltener Axt geschliffen; was aus weniger hartem Stein gebildet war, Aexte, Kornquetscher, Meißel von so plumper Form, daß leicht ersichtlich: wo man den Schleifstein anwandte, da fehlte die Geduld zu []pünktlichem Gebrauch. Mit Hämmern, Schlegeln muß es dürftig ausgesehen haben; es finden sich mehrere Unterkiefer von dem gewaltig großen Bären jener Zeit, dem Höhlenbären, die sichtbar die Stelle jener Schlaggeräthe versehen mußten. Man entdeckt Küchenabfälle: Fischgräten, Körner von Himbeeren, Erdbeeren, allerhand Knochen; hier ein ungeheurer Rückgratwirbel! Den kennt man: er stammt vom Ur, der wohl seltener geworden, aber noch nicht ausgestorben ist; noch gelingt es wenigstens einmal im Jahr, einen dieser Riesenochsen in der Grube zu fangen und (langsam und grausam genug mit den doch immer noch höchst unvollkommenen Waffen) zu tödten. Stangenstücke vom Schelch, die Zeugen der Ausgrabung bedurften keiner Uebersetzung des Worts, noch konnte man, wiewohl nicht oft, die Wälder vom streifenden Geweihe des Riesenhirsches rauschen hören; hier ein Ende zu einem Dolche verarbeitet: „Wir machen das jetzt feiner,“ sagte der Finder. Aber halt! was mag das sein: ein ungeheures Stück von glattem Bein, rund, es kann nur Zahnbein sein; dort noch ein Stück, beide gehörten sichtbar zusammen und ergeben, da sie Massikomur an einander fügt, das Bruchstück eines riesenhaften Zahns, der hauerartig aus dem Rachen eines Thiers herausgeragt haben muß, und zwar zuerst abwärts gebogen, dann nach oben gekrümmt; das muß ein Thier von fabelhafter []Größe gewesen sein! Man staunte, man rieth vergebens, denn man wußte nichts mehr vom Mammuth. Nun tauchten mancherlei Knochen auf von nicht so über alles bekannte Maß großen, doch sichtbar auch sehr ansehnlichen Thieren, die man durchaus nirgends hinzuthun wußte. Unsere Pfahlbürger waren so weit ganz exakte Osteologen, daß sie genau bestimmen konnten, ob ein Theil eines Knochengerüstes einem der ihnen bekannten Thiere angehörte; das Verarbeiten des Beins zu so mancherlei Geräthen und das beliebte Spalten, um die Kraft- und Leckerspeise des Marks zu gewinnen, hatte ihnen eine große Sicherheit des Blicks verliehen. Aber wer noch kein Nashorn, noch keinen Löwen gesehen und geschlachtet hatte, wie sollte er das Ganze ihres thierischen Baus sich denken, wie ihre Gattung und Art feststellen können, wenn er Reste ihrer Knochen fand?

Es war eine willkommene Abspannung von den Anstrengungen des Staunens, des vergeblichen Rathens, Sinnens, als man wieder zu Lagen gelangte, woraus Geläufiges, Wohlbekanntes an's Tageslicht trat. Auf Getreidebau hatten schon die plumpen Kornquetscher gewiesen, und nun: siehe da! ein Brodlaib, freilich nicht so gefällig rund, wie Sigune sie zu kneten wußte. Und endlich: „Donnerwetter! komm' her, Gwalchmai!“ rief Massikomur seinem Nachbar zu, der soeben auch den kürzeren Weg über den vertrockneten Seegrund zu seinem Acker gieng; „sieh' her!“ Gwalchmai eilt herbei []und er hebt ihm eine Schaufel voll verkohlter, kleiner, halbrundlicher Gegenstände unter die Augen. „Hagel auch, Schnitzli!“ rief Gwalchmai, denn es waren ja unzweifelhaft Schnitze von Aepfeln und Birnen, wie sie heute noch, so und so verkocht, mit würzigen Körnern, mit Meth angesetzt, die große Rolle des beliebtesten aller Gemüse, des allgemeinen Nachtischs, des allgemeinen Vesperbrods spielten! Das hieng, um an der Sonne gedörrt zu werden und Vorrath für den Winter zu bilden, an allen Dachgesimsen und Fenstern in Bündel gefaßt herum, wie heutzutage (das heißt dießmal: in den Tagen des Verfassers dieser Geschichte und seiner Leser) die Maiskolben, das wurde dann in großen Holztruchen aufbewahrt und die Schnitztruche war den Kindern eines Hauses das wichtigste aller Geräthe. Es sammelte sich ein Kreis von Neugierigen; Zweifler waren darunter, die meinten, das Zeug werde eben vom jetzigen Dorf einmal hinabgesunken sein; sie stutzten, als man ihnen die Tiefe wies, aus welcher der Fund kam, sie verstummten ganz und sperrten weit den Mund auf, als Massikomur, vor ihren Augen weiter grabend, zu seiner eigenen Verwunderung auf Stümpfe von Pfählen stieß in derselben Tiefe, das obere Ende kohlicht, also das Holz herabgebrannt bis auf den noch im alten Seegrund feststeckenden Stummel. Also kein Zweifel mehr: ein altes Pfahldorf! Alt, wer konnte wissen, wie viele Jahrhunderte! Abgebrannt, []wie einst vielleicht — — man schauderte, denn man kannte diese Gefahr, wie sie nicht bloß vom Feinde drohte; strenge Gesetze hüteten ängstlich das Feuer; wenn Föhn kam, gieng der Bittel um und sah strenge nach, ob es auf jedem Herd richtig ausgethan sei. Doch viel größer als der Schauer war das Staunen, das Gefühl des Dunkels, der Reiz, die Begierde, es gelichtet zu sehen. Zwar könnte man meinen, es sei doch keine schwere Aufgabe für die Fassungskraft der Verwunderten gewesen, sich vorzustellen: der Seegrund lag einst tiefer, ein Pfahldorf stand darauf, brannte ab, der Seegrund stieg mit der Zeit durch neue Schlammschichten und in der neuesten stehen die Pfähle der jetzigen Gemeinde. Aber man versetze sich billig in den Kopf eines Pfahlbewohners! Dann versenke man sich in den Gedanken: Kulturperioden! Ungeheure Zeiträume! Ewiger Wechsel! Man werfe nur einen Blick in die Perspektive der Betrachtungen, die sich daran knüpfen, und man wird begreiflich finden, daß die Geister gründlich verwirrt, beunruhigt, ja durchschauert waren. — Dem Druiden hatte man gleich im Beginn Anzeige von diesen Fünden gemacht: er verhielt sich abweisend, verdrießlich; er kam nicht zur Ausgrabung; er wollte nichts davon wissen. Auch die geregelten alten Huster, die wir erwähnt haben, schüttelten mißlaunisch, mißtrauisch die Köpfe zu der räthselhaften Entdeckung. Das ärgerte nach und nach []die aufgewecktere Minderzahl der Bürger, man saß beim Meth zusammen, man murrte, man grübelte, man berieth. Eine so gestimmte Gruppe von Pfahlmännern finden wir eines Abends bei Alpin's Vater Ullin im Gespräche beisammen. „Von dem, was vorher gewesen, will unsereins eben auch was wissen,“ brummt der hagere Griffith. — „Ja,“ fällt Nachbar Gwalchmai mit den kleinen, klugen Augen ein, „wir wollen nicht so ganz im Dunkeln wandeln,“ — „Und in der Zukunft, was kann da vielleicht Alles noch werden?“ bemerkt der fortschrittliebende Hausherr und fährt fort: „Wenn der Druide uns nichts sagen will oder am End' wirklich selber nichts weiß —.“ — „Gerade das glaub' ich, daß er selber nichts weiß, er hat ja doch nichts als Theologie studiert,“ meint der dickbackige Karmor und lacht. — „So verlangen wir,“ schließt Ullin, „er solle einen Seanacha aus Turik herberufen; ich weiß gleich einen, den hat man mir hoch gerühmt, als ich neulich drüben war, um Häute gegen Meißel zu verkaufen, — Feridun Kallar heißt er —, der wisse mehr von alten Geschichten, auch von Sonne und Mond, Erde, Wasser, Feuer, Bäumen und Thieren und Menschenwesen, als irgend Einer. Versteht sich, daß er ein Meister, ein Pencerdd ist.“

Griffith: „Aber die Barden kann unser Herr nicht leiden.“

Gwalchmai: „Ja freilich nicht, weil sie mehr []wissen als er! Drum sagt er immer, von Turik wehe ein schlechter Wind herüber.“

Griffith: „So verlangen wir's erst gerade recht. Wir wählen eine Deputation, die soll morgen gleich zu ihm: der Barde muß her!“

„Nehmt mich in die Deputation,“ ruft Karmor, „ich freue mich schon jetzt drauf, was der alte Hausdrach Urhixidur für Augen macht, wenn wir unsern Willen vortragen.“

„Ja, ja,“ lachte Gwalchmai, „die gelbe Bohnenstange möchte eben immer für eine Gwyllion gelten, und ihr Herr läßt es ihr so hingehen, läßt manchmal selbst so einen Wink fallen, als ob was dran wäre!“

Wir müssen hier einen Augenblick ungern die Redner unterbrechen. Der Leser wird nicht wissen, warum Gwalchmai nicht sagt, Urhixidur möchte für eine Druidin gelten, sondern für eine Gwyllion. Die Druiden leiteten sich, wie man aus unserer Geschichte des Weiteren ersehen wird, von Taliesin, als dem Gründer ihres Ordens, ab, den Druidinnen wollte man so hohe Abkunft, Erleuchtung von so hoher Lichtquelle nicht zugestehen und nicht absprechen; man gieng daher einen Mittelweg: sie sollten sich auf ihn zurückführen dürfen, aber auf ihn nur, als er noch Gwyon war, der eben aus dem Zaubertopf genippt hatte. So nannte man sie denn Gwyonkind, Gwyonchen, denn das bedeutet Gwyllion.

[]

Wir kehren zu unserem Gespräch zurück.

„Als ob!“ versetzt Griffith.

„Ja, als ob,“ fährt Gwalchmai fort, „als ob wir nicht wüßten, daß sie im Examen durchgefallen ist!“

„Ja,“ erläutert jetzt Karmor, „und ich weiß, warum? Ich hab' mir's neulich in Turik sagen lassen: sie ist im Prophezeien schlecht bestanden, und da hat sie nun aber den alten Hafen und sagt, es sei der Weisheits- und Zauberhafen der Fee Coridwen, und sie habe ihn von ihr geerbt nebst dem Wirtel, denn sie sei ihre Ur-Ur-Ur-Urenkelin. Der Pfaff nickt dazu, als ob er's glaubte, sie hat ihn ganz in ihrer Gewalt, ja, ja, wir wollen Beide recht ärgern.“

Massikomur, bisher stummes Mitglied dieser Gesellschaft, nahm jetzt das Wort: „Müßt nicht so spotten, ihr Burger; wir müssen gesetzte Mannsleut sein; ihr könnt's im Großen doch nicht anders machen, als es ist, und im Kleinen werden die Druiden eben immer auch so ihre schwachen Seiten haben. Gegen diese mögt ihr euch, wenn's der Müh' werth ist, fest hinstellen, aber ohne Bosheit. Wählen wir also Boten, sie sollen ordentlich und ruhig vorbringen, was wir für eine vernünftige Forderung halten; es wird ja gehen.“

Auch Alpin fehlte nicht im Kreise, schon darum nicht, weil man in der Stube seines Vaters tagte; die Fünde gaben auch ihm viel zu denken, die scharfen []Reden waren gerade nicht sehr nach seinem Geschmack, ohne daß er sich übrigens darüber empört fühlte; er liebte sich eben eine gewisse Ruhe und Stille, daher gefiel ihm die Gesinnung Massikomur's, und da seine Worte sichtbar wirkten, so wagte er sich in der Pause, die entstanden war, seinerseits mit einem Vorschlag heraus.

„Ich meine,“ sagte er, „wir könnten bei der Gelegenheit auch einen Filea, natürlich auch einen Meister, einen Pencerdd, bitten, daß er uns zum Fest ein recht schönes Lied dichte. Ich kenne einen aus der edlen Sängerzunft der Barden, er heißt Guffrud Kullur, ist erfahren in allen Weisen der Dichtkunst und Musik, er baut gar so schöne Lieder, die schönsten Reimgesetzel und singt sie mit Cwlwm und Mwchwl, daß es eine Pracht ist!“ Seine Zuhörer wußten besser, als unsere Leser, daß die zwei niedlichen Wörter musikalische Sätze und Weisen bedeuteten; Alpin fuhr fort: „Die Mädel hier singen auch gar so ein schönes Lied von ihm; ihr müßt's schon gehört haben.“ Es machte ihm kein Beschwer, zu wissen, daß die Zuhörer gleich auf Sigunen rathen mußten, denn Keine sang so schön. Er war verschämt mit seiner Liebe und doch auch stolz darauf; wir sind ja, wie sich der Leser erinnert, um einige Wochen zurückgegangen, es stand noch harmloser zwischen den Beiden. Alpin hörte denn nicht ungern, daß Massikomur sagte: „Ja, Sigune singt so etwas gar Schönes, hab's öfter gehört; ist das von dem []berühmten Barden Kullur? Den wollen wir uns erbitten. Alpin fieng jetzt an, eine Melodie zu summen, und aufgemuntert von Zeichen des Wohlgefallens, gieng er in Gesang über, begann wieder von vorn und sang hell bis zu Ende:

„Im Kahne, im Kahne,
Wenn er am Röhricht leise streift,
Das Auge weit und weiter schweift,
Was still ich ahne,
Ich weiß es nicht;
Im Mondenlicht,
Im Nebelschein
Gedenk' ich dein.
Die Welle, die Welle,
Wenn sie so flüstert und so raunt
Zum Herzen, das so träumt und staunt,
So dunkel helle,
Ob sie es weiß?
Ich singe leis:
Im Nebelschein
Gedenk' ich dein.
Im Walde, im Walde,
Im Schatten dort schläft Baum an Baum
Und rauschet auf als wie im Traum;
Dort in der Halde
Ein ferner Klang —
Wie wohl und bang!
Im Nebelschein
Gedenk' ich dein.
[]
Vom Eise, vom Eise,
Vom reinen Schnee, vom hellen Firn
Dort auf des Riesenberges Stirn
Wie Sangesweise
Zieht's in die Brust
In stolzer Lust,
Beim hochher blitzenden Silberschein
Gedenk' ich dein.“

Die Männer faßten schnell die angemessene, ohrgerechte Melodie auf, sangen die letzten Verse kräftig mit, hielten bis zum letzten Vers die Schlußzeilen gedämpft, wie sich ziemte, ließen sie aber am Ende mit laut vorbrechendem Jubel erschallen, so daß die Tonwelle mächtig und prächtig über die Wasser des Sees hinaus in's Weite schwoll und im Wiederhall der nahen Berge verklang.

Massikomur, Ullin und Karmor wurden gewählt, zogen ihre besten Röcke an, verfügten sich zu dem Druiden und trugen ihm gesetzt und höflich ihr Sprüchlein vor.

Der Priester machte ein saures Gesicht, als er den Antrag vernommen. Wir wissen bereits, daß er dem Winde, der von Turik wehte, nicht zu trauen gestimmt war, müssen uns aber die Sachen jetzt etwas näher ansehen. Die Barden waren, wie der Leser sich erinnert, eigentlich eine Zunft im Orden der Druiden. Man sollte meinen, diese hätten sich mit ihren Kollegen friedlich in die Wissenschaften so getheilt, daß sie den []Barden das Weltliche überließen, während sie selbst dem Geistlichen oblagen. Zunächst haben wir zur Vervollständigung des früher Vorgebrachten hinzuzufügen, daß in der Körperschaft der Barden auch ein Fach für Erfindung bestand; ein Barde, der sich hiemit beschäftigte, hieß Priveirdd und da für den Unterricht in diesen Dingen eine eigene Schule errichtet war, so können wir sagen: es bestand neben der Hochschule in Turik ein Polytechnikum. Aus dieser Anstalt waren die Köpfe hervorgegangen, denen die große neue Garnfabrik in Turik und das große Anwesen für neue Feuersteinbearbeitungsmethode am Padamursee, von denen wir Alpin's Vater sprechen hörten, ihre Gründung verdankten. Nicht genug. Unlängst hatte man bemerkt, daß ein paar unruhige Geister dieser Schule mit einem Manne, der vom See Leman herübergekommen, viel zusammenstacken und munkelten und daß sie dann mit ihm hinüberreisten. Man sah es nicht gern, denn die Stämme, die dort wohnten gegen Untergang, galten als leichtfertig und neuerungssüchtig. Das sagte man zunächst besonders den Leuten vom See Nuburik nach und wollte wissen, sie üben neuerdings einen schlimmen Einfluß auf die am See Leman, wo es bis dahin den Druiden gelungen war, mit Hülfe eines Anhangs frommer Bürger das leichtblütige Völkchen in guter Zucht zu halten. Nun brachten die Reisenden mancherlei Geräth aus dem wunderbaren []Stoffe, dem Erz, mit herüber. Heftiger Streit begann in der Wasserstadt Turik, als man die Neuerung kennen lernte. Man begriff, daß sie die Welt fast auf den Kopf stellen würde. Die Einen sahen darin den Untergang aller guten Sitte und Ordnung, und zu diesen gehörten die Druiden, die Andern eine unendliche Wohlthat, zu diesen gehörten alle Freunde des Neuen und so auch die Barden; diese warfen sich mit Feuer auf die Aneignung und Fortbildung der durchgreifenden Errungenschaft.

Nun war es aber eine schwierige Sache zunächst um die Theilung überhaupt in geistliche und weltliche Wissenschaft. Die Druiden nämlich beschäftigten sich auch mit den weltlichen Zweigen und behaupteten, sie seien deren so kundig wie die Barden; die Barden aber beschäftigten sich auch mit dem Geistlichen, mit Fragen vom Ursprung und von der Regierung des Weltalls, und behaupteten, das gehe sie so gut an wie die Druiden. Dieselben waren aber zudem in diesen und jenen Dingen so rücksichtslose Forscher, daß den letzteren die Sache anfieng, nach allen Seiten sehr bedenklich zu werden. Eben um jene Zeit hatte es ein großes Aergerniß gegeben. Es verlautete, ein Barde habe auf dem Lehrstuhl Aeußerungen fallen lassen, welche sehr geeignet seien, den Glauben an Selinur, ein anderer Aeußerungen, nicht minder geeignet, den Glauben an Grippo zu erschüttern: []göttliche Wesen, die wir bald näher werden kennen lernen. Ja noch mehr: mit Schauder erzählte man sich, ein besonders kühner junger Meister habe sich erfrecht, Zweifel an der Vernünftigkeit des Wohnens auf Seen, obwohl nur andeutungsweise, vorzubringen: einer Sitte, die doch im tiefsten Zusammenhang mit der Religion stand. Die Druiden wußten aber doch ganz gewiß, daß diese Götter existirten und diese Wohnweise geboten hatten; deßwegen gewiß, weil der Oberdruide, der Coibhidruid, es gewiß zu wissen befahl, er, der ja nicht irren konnte. Dazu waren denn überdieß die genannten umwälzerischen Bewegungen in der Abtheilung der Erfinder gekommen: Stoff genug, um zu befürchten, zu schauern, zu hassen. Gieng das so fort, verbreitete sich dieser neuerungssüchtige Geist, so war zu besorgen, daß bald den Menschen nichts mehr heilig sein und die scharfe Waffe gegen Ungläubige, der Bann, der Fluch sich abstumpfen werde. Man mußte sich daher nach einem Rückhalt umsehen, der geeignet wäre, diesem geistlichen Schwert im Nothfall mit weltlichen Mitteln den gehörigen Nachdruck zu geben. Es war der Adel, der vorzugsweise kriegerische Stand, bei dem man diese Anlehnung suchte. Allein der Adel war in seinen Gesinnungen selbst getheilt. Die Einen hielten stark zu den Druiden; denn ihre Ansicht war, ein Orden, der die Götter stütze, stütze auch den Adel, indem der feinere Menschenteig, aus welchem derselbe []bestehe, mit demjenigen feinsten Teig, aus welchem die Götter bestehen, auf eine ganz besondere Weise verwandt sei. Die Andern hielten zwar auch große Stücke auf ihren feineren Teig, doch dünkte es ihnen löblich, diese Feinheit durch Wissenschaften und Künste weiter zu verfeinern, und diese hielten zu den Barden und machten sich weiter nicht allzu viel aus ihrem Unglauben. Bald hatten die Einen, bald die Andern das Uebergewicht, und so war denn auf die Stütze des Adels nicht eben stets ein sicherer Verlaß für den höchsten, den Druidenstand. Nun war noch das Volk da. Es hatte freilich seinen Namen von: Gefolg, aber so stark auch das Gefolge der adeligen Herrn, es war doch natürlich nicht alles Volk Gefolg, und die Zahl der noch übrigen Fäuste stellte eine Macht vor, groß genug, um als drohendes Mittel in den Händen einer Partei zu erscheinen und in äußersten Fällen den Ausschlag zu geben. Druiden- wie Bardenstand sah bei der Aufnahme seiner Schüler nicht auf die Geburt, nur auf Talent und Fleiß, der erstere allerdings auf noch etwas: auf den Sinn unbedingten Gehorsams; wen er umklammert hatte, der wurde durch strenge Beherrschung zum strengen Herrschen erzogen. Hiedurch gelangte der Orden wohl zu großer Macht über die zu den Volksfäusten gehörigen Volksgemüther, aber die aufgeweckten Bardenschüler und ihre Meister hatten eben auch Eltern, Verwandte, Freunde, gar mancher []einfache Mann spürte wohl, daß man mit den nützlichen Erfindungen, die man dieser Zunft verdankte, nicht schlecht fahre, und an diesem Theil der Volksmenge hatte denn jene zweite Adelspartei einen Rückhalt von beträchtlicher Kraft und Breite. In dem Zeitpunkt nun, auf welchem unsere Geschichte vorgeht, bewegte sich das Zünglein der oft schwankenden Wage merklich nach dieser Seite hin. Der Oberdruide, der sich den stolzen Namen Mac-Taliesin beigelegt hatte, war alt und etwas bequem geworden, die alte Rührigkeit des Ordens aus Mangel an Trieb von oben erschlafft und von der jugendlichen Beweglichkeit der Gegner überholt.

Daß dieser Stand der Dinge sich auch im Dorfe Robanus verspüren ließ, haben wir ja eben aus den ziemlich unehrerbietigen Reden erkannt, deren Ergebniß die Deputation an den Druiden Angus war, und es begreift sich nun nicht nur ganz, warum er den Boten ein saures Gesicht machte, sondern zugleich auch, warum er nicht genug Sicherheit in sich fühlte, der unwillkommenen Zumuthung zu widerstehen. Er besann sich kurz und sagte dann: „Nun ja, meinetwegen!“ Wir werden sogleich noch einen bestimmteren, einzelnen Grund erfahren, der ihm die Einwilligung erschweren mußte. Die Deputation zog ab, dieselben Männer bekamen den Auftrag, sich zur Einladung der Barden nach Turik zu begeben, die berühmten Meister gaben []freundlich ihr Jawort und auf morgen also, den zweiten der drei Festtage, vor denen wir stehen, wird ihre Ankunft erwartet.

Wir haben zurückschreiten müssen, um das Kopfschütteln zu erklären, womit jene frommen Alten dem Druiden diese Nachricht mittheilten; wir begeben uns wieder auf die Zeitstelle, von der aus wir diesen kurzen Abstecher angetreten haben. Angus hat den Ankömmling aufgefordert, heute Abend nicht beim Betuchungsfeste zu fehlen, womit die dreitägige Feier beginnt. In wenig rosiger Stimmung finden wir ihn beschäftigt, mit Hülfe Urhixidur's seinen Ornat anzulegen. Er hat ihr die verdrießliche Neuigkeit nicht vorenthalten. „Mich dauern nur die schönen Verse, die jetzt in's Wasser fallen,“ sagt die Alte. Er hatte ihr noch etwas vertraut, früher, ehe von der Berufung der Barden die Rede war. In der gehobenen Stimmung, womit er dem Fest entgegensah, hatte sich eine lyrische Ader, die einst in den Tagen seiner Jugend öfters sich verspüren ließ, merkwürdigerweise wieder geregt, Vers um Vers war ein prächtiger neuer Festhymnus aus seinem Geist hervorgequollen, so oft einer fertig, hat er ihn der getreuen Schaffnerin vorgetragen und sie hat jedesmal eine sehr günstige Kritik abgegeben; wie wohlwollend hat er ihr noch vor wenig Tagen dafür die welke Wange getätschelt und gesagt: „Bist eben mein gutes altes Durli!“ Und nun war []ein Fremder berufen, wahrscheinlich ein moderner, phantastischer Dichterling, der ihn um die schöne Frucht seiner Weihestunden bringen sollte! — „Nein, ich weiche nicht,“ rief Angus, schwieg eine kurze Weile, preßte dann den untern Kiefer fest an den obern und setzte hinzu: „Ich lasse mich nicht verdrängen! Ich werde mein Werk trotzdem zur Geltung bringen! Wirst schon sehen!“ Die Alte nickt zufrieden, nestelt weiter am weißen Mantel und sagt, während sie die Theile mit einem fein geglätteten Dorn an der Schulter zusammenheftet: „Sollte der Fremdling mit den neuen, unheimlichen Waffen, der heute gekommen, auf seiner Reise nicht in Turik eingekehrt sein? Der Weg führte ihn doch darüber!“ — Der Druide schrillte auf; er hatte bei der Bemerkung einen so heftig zuckenden Ruck gethan, daß ihm der Dorn in die Haut seiner Achsel fuhr. Das war eine Fernsicht, die zu denken gab. Gar vielleicht ein Sendling der Bardenpartei, als Wühler vorausgeschickt und mit den Gästen fortzuwühlen bestimmt?

Sein Anzug war vollendet und während Urhixidur im Nebenraum hinter der hängenden Matte ihr Festkleid anlegte, gieng er mit großen Schritten auf und nieder. Es wollte ihm scheinen, der Boden schwanke unter seinen Füßen. Freilich war derselbe immer etwas wacklig gewesen, aber heute kam er ihm wackliger vor als sonst. Eines stand ihm als Ergebniß []seiner Betrachtungen fest: auf den Fremdling wollen wir ein scharfes Auge haben.

Urhixidur war ebenfalls fertig, seine Begleitung stand draußen bereit und er schritt hervor, nicht ohne beim Austritt feierlich zu husten. Alle Kinder der Gemeinde, die das vierzehnte Lebensjahr erreicht hatten, standen, zu zwei und zwei geordnet, in ihren Festkleidern bereit; über bunt gewürfelten Röcken trugen sie kurze weiße Mäntelchen um die Schultern. Zunächst ihnen sehen wir die Personen aufgestellt, die von Amtswegen auf diesem Gang nicht fehlen dürfen; die übrige Gemeinde befindet sich schon am Lande drüben auf dem heiligen Platz und harrt auf die Ankunft der Festschaar. Der Zug setzt sich in Bewegung. Voran schreitet der Weibel, das ist der Amtsdiener des Druiden, zugleich der Opferdiener. Er trägt senkrecht einen langen Stab von Buchenholz, worauf fremdartige Zeichen eingeschnitten sind. Darauf folgen zwei Bittel, das heißt Amtsdiener des Gemeinderaths, zugleich Polizeimänner. Einer derselben ist außerdem Ehegoumer. Was ein Ehegoumer sei, weiß man in jenen Gegenden noch heutzutage sehr wohl, die ehrwürdige Sitte, das ernste Gemeindeamt hat sich bis heute erhalten; es ist ein Mann, der ein wachsames Auge auf sämmtliche Ehen der Gemeinde hat, nachspürt, wo Uneinigkeit in einem Hause aufkommt, den schuldigen Theil erkundet, warnt, ermahnt, zurechtweist, und wenn er durchaus []gegen Besserung verstockt ist, tüchtig durchhaut. Dem großen deutschen Dichter, als er die Figur des Mittler in seine Wahlverwandtschaften einführte, hat ohne Zweifel diese uralte Form vorgeschwebt, er hat das Motiv benützt, veredelt und so denn auch den letzteren, drastischen Zug passenderweise ausgeschieden. Das Wort kommt von goumen, ein wachsames Auge auf etwas haben, hüten. Man begreift, daß dieses Amt eine ansehnliche und muskelstarke Persönlichkeit verlangte: Eigenschaften, die dem Ehegoumer von Robanus nicht abgiengen und die ihn auch ganz befähigten, zugleich als zweiter Bittel die Polizei zu unterstützen. Jetzt folgt, feierlich schreitend, der Druide. Weiß wie sein Mantel ist sein Unterkleid, sein Haupt ziert eine hohe, kegelförmige Pelzmütze, festlicher als jene, die wir als seine häusliche Kopfbedeckung schon kennen: sie ist von Biberfell und mit handbreitem Aufschlage von Hermelin geschmückt. In der Hand trägt er einen Stab mit einem szepterähnlichen Knauf, an dem jenes Mittelding zwischen Halbmond und Kuhhörnern ausgeschnitzt ist, dem wir schon mehrfach begegnet sind. Hinter ihm schreitet Urhixidur und neben ihr ein noch kräftiger Greis mit langem weißem Barte. Sie hat heute öffentlichen Dienst und ist — man sieht es ihr an — sich dessen sehr bewußt. Ein langer schwarzer Mantel mit rothem Gürtel umwallt ihre hageren Glieder, ein rothes Tuch ist turbanartig um ihr Haupt []geschlagen; die grauen Haare hat sie heute sorgfältig geflochten, sie hängen ihr in langen Zöpfen über die Brust. Ihr Antlitz ist heute bemalt: sie hat sich mit Röthel (Rothstein) Figuren darauf gezogen, Linien, die von den Schläfen vorlaufend über die Wangen sich verbreiten und abwärts als in sich gezogene Kreise endigen; ob sie bloße Ornamente oder von geheimnißvoller Bedeutung, eine Art Runen sind, wissen wir nicht zu sagen. Die Stelle unter den Augen hat sie dunkelblau gefärbt, wie heute noch die Orientalinnen es lieben; ihr Auge lag zwar tief und blitzte stechend genug, um solcher hebenden Folie nicht zu bedürfen. Das Bemalen des Gesichts war eine eben abkommende Sitte, wenige alte Weiber hiengen ihr noch an; daß sie einst geherrscht haben müsse, beweist die Menge von Rothsteinstückchen, die Massikomur damals unter den Zeugen der Vergangenheit im alten Seegrund gefunden hat. Der rechte, hinter das Haupt zurückgebogene Arm der unheimlichen Alten hält den Handgriff eines großen Topfes, zwischen dessen Zickzackverzierungen man dasselbe Zeichen eingegraben sieht, das wir soeben wieder am Stabe des Druiden erblickt haben: eine Gefäßträgerin, freilich nicht so anmuthig wie die Kanephoren auf dem Fries des Parthenon, nicht so schön bewegt in Linien, wie wir im Orient und in Sizilien Wasserträgerinnen, ihren Krug auf der linken Achsel haltend, wandeln sehen; eine seltsame, []wildfremde, gespenstische Erscheinung. Der Greis neben ihr trug an einer blauen Schnur einen Holznapf, in seinem Gürtel steckte eine Art von Futteral, ungefähr jenem gleich, worin unsere Schnitter den Sensenwetzstein tragen. Hinter den Zweien sah man sechs Gemeindeälteste schreiten, auf sie folgte der Zug der Knaben und Mädchen und ihn beschlossen zwei Wächter mit Bogen und Speer. Draußen auf dem Platze standen Männer und Frauen getrennt, doch nicht durch so starke Zwischenräume, daß die äußersten Flügel der Bursche und der Dirnen nicht Fühlung miteinander gehabt hätten. Da gab es Geplauder, Spaß, Neckereien. Alpin mied Sigunen; er mußte sie in munterem Gespräch mit Arthur sehen; es tröstete ihn wenig, daß sie doch seine krystallene Halskette trug, denn er dachte, die kostbarere Gabe des schrecklichen Nebenbuhlers werde für's Hauptfest gespart sein; er wollte es sich abzwingen, nicht weiter hinzublicken und that es doch; ihm war, wie es Verdammten sein mag, wenn ihnen Teufel die himmlische Seligkeit vormalen, denn wie schön war sie heute! wie leuchtend hob sich Hals und Kopf aus dem feinen Marderpelz, der ihr blau und roth gestreiftes Gewand verbrämte! Die Kugeln und Würfel des Schmuckes aus seiner Hand kamen ihm vor wie Thränentropfen, die er an ihrem Halse weinte. Inzwischen machte sich Gwennywar, Gwydyr's Tochter, in seine Nähe, sein Drittenkind []bäschen. Es war der zierlichen Maid etwas mehr im Herzen als Verwandtenliebe; sie sah, wie Alpin nach dem Paare hinstarrte. Ihr gab der Teufel ein höllisches Wort ein: „Du, Alpin, weißt, was Sigune heut im Herausgehen zur Nachbarin Daura gesagt hat?“ — „Will's nicht wissen,“ aber es war ihm gut anzusehen, daß er's doch wissen wollte. „Der Arthur hat gar so ein schönes, liebes Genick; es steigt so schön auf und das dunkle Lockenhaar schwebt gar so schön wie angeflogen daran hinauf.“ — Sie zupfte, während sie das sagte, schelmisch an dem Kragen von Schwanenpelz, der über ihrer feinen Brust und Schulter lag. Die schlimme Kröte! In Alpin zischte es auf, als wäre ihm siedender Schwefel aus der Glutesse des Höllenpfuhls in die Seele gespritzt. Er ward sich plötzlich und zum ersten Mal einer äußerst unvortheilhaften Partie in seiner Erscheinung bewußt. Er trug wie die andern Bursche des Pfahldorfs, was man im heutigen Süddeutschland einen Hausknecht oder Johann nennt, das heißt einen Kranz von längeren Locken im Nacken, während die Haupthaare kurz geschnitten, oder vielmehr, da es damals nur Scheeren von Bein gab, grausamlich abgezwickt waren. Er griff sich mit der Hand da hinten hin; ihm blitzte Selbsterkenntniß auf, ein entsetzliches Licht. In Arthur's Heimat schnitt man sich die Haare aus dem Nacken; dort wußte man, wie das die Linie der Ge []stalt herausnimmt, hebt, ihr etwas Ausgewickeltes, Freies gibt. Noch einmal: ein Giftwort! Den armen Burschen, den sie doch heimlich liebt, so stechen, verspotten, martern! Und wer weiß, ob sie nicht erst noch lügt?

Der Zug hat inzwischen die Brücke überschritten und ist am Festplatze angekommen. Wir haben uns diese Stelle mit ihren geheimnißvollen Steinmalen schon betrachtet, als Arthur daran vorüberschritt. Hinter ihr dehnt sich ein Eichenhain aus, vor ihr ein freier Platz. Die rohe Steintafel, die auf ebenso rohen Stützen ruhte, haben wir als einen Altar angesehen und darin nicht geirrt; sein Name ist Dolmen (Steintisch). Vor ihm pflanzt der Bittel, wie der Zug angekommen, den Stab mit den eingeschnittenen Runen auf. Der Zug wendet sich inzwischen nach rechts, bleibt vor dem Pfeiler mit dem Halbmondbilde stehen, der Priester verneigt sich tief und beschreibt dieselbe Linie, die das Bild darstellt, mit dem Daumen auf seiner Brust, die Kinder folgen seinem Beispiel. Der Zug geht weiter zum rückwärts stehenden massigen Steinpfeiler. Ihn müssen wir jetzt näher in's Auge fassen als damals, wie wir mit Arthur vorübergiengen: er steht schief, er neigt sich über, sein Fuß ruht in einem Felsblock, in dessen Höhlung er wie in einen Sattel eingelassen ist. Der Zug steht wieder still, der Druide winkt, alle männlichen Mitglieder, die drei Diener, die sechs Gemeindeältesten, die zwei []Wächter, treten vor und stemmen mit äußerster Kraft die Schultern an eine Seite des Pfeilers, jedoch nicht in rechtem, sondern in spitzem Winkel, sie drücken und drücken und siehe, er schwankt! Er schwankt nicht nur, sondern er dreht sich auch! Jetzt wiederholen sie den Druck, er dreht sich weiter und so fort, bis eine Kreisbewegung vollendet ist und, da der Druck nicht wiederholt wird, die Felslast in ihre Ruhe zurückkehrt. Ehrfurchtvoll spannen sich alle Blicke auf diese Erscheinung, alle Lippen vereinigen sich zu einem murmelnden Gebet, so lang sie dauert, dann umwandelt der Zug dreimal den ungeheuern Block und schreitet linkwärts weiter.

Was will, was soll dieses räthselhafteste unter den Malen, was bedeuten die heiligen Bräuche, die wir vor und an ihm vollziehen sahen? Niemand weiß es, Niemand selbst unter eben dem Geschlechte, bei dem wir uns hier befinden, es müßte denn eine dunkle Sage Grund haben, die in unserer und rings in mancher Dorfgemeinde umgieng: es leben in den größeren Niederlassungen, den Wasserstädten, wo sich die Druiden- und Bardenschulen befanden, im Schooße dieser Zünfte noch Männer, welche uralte Erinnerungen und mit ihnen den Schlüssel des Geheimnisses bewahren. Der Name dieser Pfeiler war Menhir und der besagt nichts als: Steinsetzung, Steinmal. Am Ufer bei Turik standen deren zwölf, einen Kreis um []den Dolmen bildend, dunkle Gerüchte giengen um, daß sie bei verwandten Völkern gegen Abend in ganzen langen Doppelreihen, bis zu hunderten, ja zu tausenden stehen. Einige meinten, sie seien zum Andenken tapferer und verdienter Männer einst hergewälzt und gesetzt, Andere bezweifelten das und riethen auf dunkle Religionsgeheimnisse, die Meisten dachten gar nichts, Alle aber betrachteten sie mit dunkler Scheu und Ehrfurcht.

Der Zug verweilt jetzt vor dem Pfeiler mit der unförmlichen Molchgestalt; der Druide betrachtet dieß Gebilde mit Schauder, macht mit beiden Händen eine Geberde, die ein Abweisen, eine Scheue ausdrückt, beschreibt hierauf mit dem Daumen eine Schlangenlinie auf der Brust, verbeugt sich dann tief und auch diese Bewegungen werden von sämmtlichen Theilnehmern des Zuges nachgeahmt. Hierauf schwenkt derselbe linksum in der Richtung des Dolmen ab, auf ihn stellt Urhixidur feierlich ihren großen Topf, sein Inhalt muß hochbedeutend sein, wenn er an diesem Orte ruhen darf; ihr gegenüber setzt der Greis, der im Zuge neben ihr gieng, seinen Napf auf das andere Ende des Steintischs, zieht das Holzhalfter aus dem Gürtel und nimmt daraus einige dünne, kurze, spitze weiße Beinchen, die er pünktlich nebeneinander auflegt. Beide bleiben neben dem Altare stehen, die Kinder stellen sich ihm gegenüber in einem Halbkreis auf und inmitten des freien Raums ernst und feierlich der []Druide. Ringsherum steht die Gemeinde; zu sitzen gibt es nichts, nur zum großen Festmahl übermorgen sind Bänke und Tische, sehr einfache Zimmerarbeit, im Hain errichtet, der an den Dolmen stößt.

Der Druide räuspert sich und hustet, gemessen, feierlich. Die Gemeinde folgt seinem Beispiel, ebenso die Kinder, mit Nachdruck die Knaben, schwächer und unzulänglicher die Mädchen. Der Druide intonirt einen Gesang, ein kurzes geistliches Lied, dessen Text wir nicht hersetzen, weil er in poetischer Kürze nur enthält, was wir jetzt aus Fragen und Antworten ausführlicher entnehmen werden.

Mit freundlich väterlichem Tone beginnt nun der Priester: „Ihr sollt heute zeigen, liebe Kinder, ob ihr im Glauben fest seid und wohl vorbereitet, aus dem Kindesalter überzutreten in das Alter des Jünglings und der Jungfrau, auf daß ihr nicht erlieget den Versuchungen der Jugend, den Gefahren der Welt, sondern wandelt als ehrsame Glieder dieser frommen Heidengemeinde, bis ihr einst das Irdische segnet und aufgenommen werdet in das Paradies, das da ist im lichten blauen Zelt über den Sternen.“

Es beginnen nun die Fragen, deren wichtigsten Theil wir mit den Antworten ihrer Reihe nach hersetzen.

1. Warum wohnen wir auf den Seen?

Weil es Selinur befohlen hat.

[]

2. Woher weißt Du das?

Es stehet geschrieben.

3. Wo stehet es geschrieben?

Auf dem heiligen Buchstab.

Wobei das Kind zu dem oben erwähnten Stab aufschaut und hindeutet.

4. Hat Selinur uns geoffenbart, warum sie es befohlen hat?

Ja.

5. Hat sie es befohlen aus weltlichen Gründen?

So meinen die thörichten Weltmenschen.

6. Was meinen denn die thörichten Weltmenschen?

Sie meinen, wir wohnen auf den Seen, um Schutz zu haben vor wilden Thieren und vor Feinden.

7. Warum ist dieses thöricht?

Weil unsere Seen im Winter zufrieren, so daß uns böse Thiere und Menschen leicht erreichen könnten, wenn wir sie nicht anders abwehrten.

8. Was ist der wahre Grund, aus welchem Selinur es befohlen?

Zum Heil unseres Leibes und unserer Seele.

9. Wer ist denn Selinur?

Die große Mutter aller Dinge, die da wohnet im []Monde, die da gesponnen hat auf heiliger Spindel Erde und Wasser und Luft und Gras und Bäume und Thiere und Menschen und diesen oft erschienen ist als weiße Kuh.

10. Was that sie, als sie den Menschen gesponnen?

Sie blies ihm den lebendigen Odem durch die Nase.

11. Was that der Mensch hierauf?

Er nos.

Richtig, liebes Heidenkind, aber man sagt nicht: er nos, sondern: er nieste.

Der Knabe, ein allerliebster Lockenkopf, wurde feuerroth. Der Druide streichelte ihm freundlich die Wange. In diesem Augenblick mußte der Junge selbst niesen. Ein wohlwollendes Nicken und Lächeln gieng durch die Gemeinde. Der Druide fragt weiter, den nächsten Knaben.

12. Was bedeutete es aber, daß der Mensch niesen mußte?

Es bedeutete, daß er solle leben und sich bewegen und eine Seele haben und aber auch unterworfen sein dem schlimmen Reize, denselbigen aber ausstoßen und sich läutern, auf daß er werde rein, klar und gut.

13. Wer hat Solches bemerket und zum Uebel gewendet und will den Menschen damit verderben?

Der böse Grippo.

[]

14. Wer ist Grippo?

Der Geist der Finsterniß, der große Molch, der da erzeuget ist im Urschlamm, der Drache aus dem Pfuhl, der furchtbare Entzünder.

Das Kind blickt mit Schauer nach der Molchgestalt auf dem hohen Blocke links vom Dolmen.

15. Sollen wir ein so finsteres Wesen hassen und verachten?

Scheuen sollen wir es und begütigen durch Opfer.

16. Was für Opfer?

Lämmer, Böcke, Stiere.

17. Sind nicht in schweren Fällen noch andere Opfer nöthig?

Ja.

18. Was für?

Menschenopfer.

19. Wozu sind Menschenopfer außerdem noch gut?

Wahrzusagen aus den Zuckungen des Sterbenden.

20. Aus welchem besonderen Grunde sollen wir Grippo scheuen und ihm opfern?

Weil der große Grippo auch ist der Gott des Kriegs und dem Volke, dem er gnädig, aus dem Hirnreize des Pfnüssels entzündet die Aergawydd, das heißt die Schlachtwuth, den Feind aber schläget mit []Stumpfheit und Dumpfheit, die da ist eine Frucht desselbigen Uebels.

21. Was aber ist dieß für ein Uebel, sofern es nicht also dienet, sondern uns verderbet?

Es beginnet in der Nase und im Hals und will nicht heilen und gehet hinab in den Magen und in alle Gedärme und wird Stockschnupfen, bleibende Verschleimung, jahrelanger Husten, sei es einfacher oder Keuchhusten, Glutgift, das da dringet durch alle innere Haut und Fleisch, Blut, Mark und Knochen, und tödtet öfters schmachvoll den Menschen im Wust, der da gleichet dem Urschlamm, woraus Grippo erzeuget ist.

22. Welchen Schaden nimmt dadurch die Seele des Menschen?

Sie wird zuerst dumpf und stumpf, hierauf erzeuget sich, wenn die Augen brennen und die Ohren blauroth werden, Erbitterung, Zorn, Grimm, Wuth, steigen auf arge Gedanken, Haß, Bosheit, Mord, Raub und alle Laster, kurz die Sünde.

23. Können wir uns davor schirmen und retten durch uns selbst?

Ach, nein!

24. Warum nicht?

Weil vor dem Feuerqualm des Gottes sich nicht gehütet hat Urnar der erste Mensch und hat ver []erbet auf alle seine Kinder und Kindskinder den bösen Hang zum giftigen Pfnüssel.

25. Wer allein kann uns helfen?

Die große Göttin, welche liebet die Menschen, die Weltmutter Selinur.

26. Was hat die große Gottheit gethan zu unserem Heile?

Sie hat sich unser erbarmet und uns geoffenbaret, wir sollen wohnen auf den Seen, als da geschrieben stehet Buchstab Zeile 2.

27. Kann uns die große Mutter ganz bewahren vor dem Uebel?

Nein, es ist zu spät. Aber sie kann das Uebel selbst zum Guten wenden.

28. Sage mir dieses nun deutlicher.

Wir sollen wohnen auf den Seen, weil allda der feuchte Nebel über dem Wasser den Pfnüssel zu regelmäßigen Fristen hervorbringt und aber der Mondschein, der da ausgehet von der Göttin Selinur und im Nebel dämmert und wallet, ebendenselbigen Pfnüssel gesetzmäßig ausbrütet, auskocht, ausheilet.

29. Welches sind diese Fristen?

Vier im Jahre: Anfang März, Anfang Juni, Anfang September, Anfang Dezember.

30. In welchem Zeitpunkte befinden wir uns jetzo? []Im Anfang der dritten Heilwoche des September, da in der letzten großen Hust- und Niesnacht das Uebel sich ersprießlich gelöset hat.

31. Was ist die Frucht solcher Auskochung und Ausschüttlung?

Leib und Seele wird geläutert und der Geist wird offen, Selinur zu erkennen, zu verehren und ihr zu dienen mit guten Werken und viel Gebet.

32. Wen würdiget Selinur besonders solcher ordentlicher Erkältung und folgender Läuterung?

Fromme Menschen.

33. Wodurch äußert sich der Beginn der jedesmaligen Läuterung?

Durch kräftiges, helles, gesundes und biederes Husten. Es läuft hier durch die versammelte Gemeinde eine geordnete Reihe solcher stoßenden Kehlvorgänge, wobei jene Männer, die wir schon unter dem Namen alte Huster aufgeführt haben, sich durch besonders feierliche Aktion auszeichnen.

34. Wer stehet der großen Göttin in diesem heilsamen Werke noch insbesondere bei?

Die heiligen Feen, ihre Dienerinnen, die schönen, die weißen.

35. Wo sind diese? []Sie schweben und weben mit den Strahlen des Mondes in den Lüften überall und besonders im Schilf, im Röhricht der Seen, und singen geheimnißvolle Lieder und niesen sanft.

36. Hat der wilde Grippo auch Gehülfen?

Ja, die Korrig, das sind die bösen schwarzen Zwerge.

37. Wo wohnen solche?

In der Zugluft.

38. Welche Waffen führen sie?

Feine Binsen, Distelstacheln, Schneidgrasspitzen, Dorne, Brennnesseln, Büschel aus Raupenhaaren, Bärte der Gerstenähre, womit sie in der Nase kitzeln, im Schlunde kratzen und stechen und hinablangen tief in's Innere des Menschen, Fläschchen voll brennenden Giftes, das sie in die Blutadern spritzen, Bretter, die sie dem Menschen vor die Stirne nageln, daß er wird verstöret und seine Seele verfinstert und verblendet, daß sie nicht mehr kann unterscheiden recht und unrecht, gut und böse.

Der Druide hielt nun einige Minuten inne und man sah ihm an, daß es ein schwieriger Punkt sein müsse, zu dem er zaudere überzugehen; dann fragt er weiter:

39. Sind mehr als nur die zwei großen Götter?

Ja, es ist noch ein Gott.

40. Wie heißt er?

Der unbekannte Gott.

[]

41. Was wissen wir von ihm?

Nichts.

42. Woher wissen wir, daß er ist?

Es steht auf dem heiligen Buchstab Zeile 7.

43. Wie sollen wir ihm dienen?

Wir sollen sagen am Schluß aller unserer Gebete: Sei auch du uns gnädig, unbekannter Gott! Nachdem dieß letztere Thema in solcher Kürze absolvirt war, wandte sich der Fragende, sichtbar erleichtert, zu einem andern, das ihm weniger peinlich zu sein schien.

44. Wie erlangen wir Gehör bei den Göttern?

Allein durch die Druiden, welche sind die Mittler zwischen der Gottheit und dem Menschen und welche zweierlei Gewalt haben: den Frommen die göttliche Gnade zu öffnen, den Gottlosen zu verschließen.

45. Wer hat den heiligen Orden der Druiden gestiftet?

Taliesin oder Strahlenstirn, der als Zwerg Gwyon genossen aus dem Wundertopfe der Fee Coridwen, von ihr verschluckt worden ist als Waizenkorn und aus ihr geboren als Grundbesitzer aller Gnadengaben des Geistes und solche verliehen hat dem heiligen Orden, den er gegründet.

Bei Erwähnung des Zwergs Gwyon zuckte etwas wie verhaltenes Lächeln in den Zügen des antwortenden Kindes und die Gemeinde schien ähnlich gestimmt, []doch alle Gesichter wurden wieder sehr ernst bei dem Schlußsatze von der Gründung des ehrwürdigen Druiden-Ordens.

46. Was ist die größte Gottlosigkeit?

Zu leugnen, daß Selinur sei und ihre heiligen Feen, und zu leugnen, daß Grippo sei und seine schwarzen Zwerge, und nicht zu gehorchen dem Willen der Götter, der da spricht aus den Druiden.

47. So ein Mensch sich also verhärtet und verstocket, was soll ihm geschehen?

Die Antwort auf diese Frage war an ein Mädchen gekommen. Es fieng an:

Er soll werden gepfählet oder — Hier stockte es, zuckte zusammen und zitterte. Der Druide nahm es freundlich an der Hand und sagte: „Wart', liebes Kind, ich helfe dir, sprich nur zugleich mit mir.“ Gestützt und getragen von der Stimme des Priesters brachte nun das Kind mühsam die Worte hervor: oder gekreuzigt oder soll ihm mit Horndolch aufgeschlitzt werden die Brust oder der Bauch und wann der Druide hat geweissagt aus dem Zucken seiner Glieder oder Eingeweide, soll er verbrannt werden vor dem Bilde Grippo's.

48. Was wird aus ihm werden nach seinem Tode?

Er wird verdammt sein in Ewigkeit, sich zu wälzen im Pfuhle des Schlammes und der Flammen, darin []hauset der böse Grippo, der Wurm der Hölle, und soll ihm dennoch das Feuer nicht ausglühen den ewigen Pfnüssel, damit er ist behaftet und gestrafet.

49. Was aber wird werden aus den Gläubigen und Frommen nach ihrem Tode?

Sie werden wohnen in Ewigkeit im blauen Gezelte Selinur's und tanzen und singen mit ihren Feen.

Es sei uns erlassen, den Fragen und Antworten weiter zu folgen; die fernere Reihe derselben beschäftigt sich mit den Einzelheiten des Gottesdienstes, deren interessanterer Theil durch unsere Erzählung dem Leser vor Augen geführt wird. Es waren siebenzig Kinder und ebensoviele Fragen. Den Schluß machte ein Gebet, das der Druide vorsprach und die Kinder nachsprachen. Hierauf tritt der Druide an den Dolmen und spricht: „Ihr sollt nun, geliebte Kinder, das Zeichen empfangen, daß ihr jetzo gewürdigt seid, einzutreten in die Heilsordnung der großen Mutter Selinur, reif und mündig, zu wandeln durch die Pforten, die sie gesetzet hat und die da führen zur Läuterung des Leibes und der Seele.“ Die Kinder, ihm folgend, stellen sich am Dolmen auf. Jetzt nimmt Urhixidur feierlich den Deckel von ihrem Topf und reicht dem Priester ein viereckiges Stück feinen Linnens, blau mit weißen Tupfen; in der einen Ecke ist mit gelbem Zwirn das Halbmondzeichen der Selinur eingestickt: eine mühsame []Arbeit der Alten, unter Mithülfe einiger geschickter Mütter vollzogen. Der Priester reicht die Gabe dem ersten Kinde und so geht die Handlung der Reihe nach fort, bis das letzte beschenkt ist. Angus zog, als die Vertheilung zu Ende war, sein eigenes, ebenfalls blaues und weißgetupftes Tuch und gebrauchte es kräftig und feierlich. Die Kinder folgten ihm auch in diesem Akte, doch die Mädchen fast nur scheinbar. Der symbolische Akt dieser ersten Verwendung war eigentlich feststehendes Herkommen, bei den Mädchen hielt man aber nicht eben strenge darauf und sah es gerne, wenn sie das Angebinde nur vergnügt ansahen, kaum zum Näschen führten und dann einschoben. Das Weib war, wir dürfen es nicht verschweigen, von den Pfahlbewohnern nicht eben hoch geachtet; daß es von der Entzündung der Schleimhäute, welche der Glaube dieses Volks in so sonderbare Verbindung mit der Religion brachte, seltener befallen wird und daß sie bei ihm viel leichter zu verlaufen pflegt, darin sah man eine gewisse Oberflächlichkeit, um deren willen man sich berechtigt glaubte, es als ein niedrigeres Wesen zu betrachten. Nicht daß es unter diesem verwerflichen Fehlschluße viel gelitten hätte; heimlich im Innern der rauhen Männerbrust fällte das Gefühl ein zarteres Urtheil, als im Kopfe der dogmatisch beengte und erstarrte Verstand: selbst der Pfahlbürger sah es denn doch natürlich nicht ungern, []daß das schöne Geschlecht bei Verkältungen von der Natur milder und schonender behandelt wird als der Mann, selbst er fühlte, daß er für die Gründlichkeit, womit die Natur im starken Geschlechte diesen Prozeß durchzuführen pflegt, denn doch auch sehr der Langmuth und Nachsicht jener bedurfte, die sie ihrerseits darin nicht ebenso bedürfen. Und so verweilten denn nicht nur die Mütter, sondern auch die Väter mit wohlgefälligen Blicken auf den anmuthigen Mädchen, wie sie der säuberlichen Gabe sich nur als einer Art von neuem Garderobestück erfreuten.

Jedes beschenkte Kind war, die vorige Ordnung einhaltend, auf seine alte Stelle zurückgetreten, der Halbkreis war wieder gebildet, der Druide trat wieder vor und redete die Kinder an: „Und jetzo empfanget mit Andacht an eurem Leibe das heilige Zeichen der Weihe!“

Die Kinder wurden unruhig, mehreren sah man Spannung und Angst an, sie wurden dafür von den andern geneckt, die Miene des gestrengen Priesters selbst zeigte eine gewisse Erheiterung, es zuckte in seinen Mundwinkeln, durch die Gemeinde, namentlich durch die Schaar der Dirnen, zog ein anwachsendes Kichern. Der erste Knabe schritt stolz entschlossen zum andern Ende des Dolmen, wo der bärtige Alte stand, und bot ihm den entblößten Arm. Der Greis hatte bereits eines seiner spitzen Beinstäbchen in den Napf getaucht, die Spitze erschien nun blau, er faßte den Arm des []Knaben, ritzte ihm die Haut und verweilte einige Sekunden drehend in der Wunde, der Junge bieß die Zähne übereinander und verharrte lautlos. Nicht alle Kinder hielten so fest, wie sie nun nacheinander dran kamen, unter den Mädchen waren kaum ein paar, die nicht aufquickten und weinten, worauf jedesmal ein helles Lachen durch das junge Volk in der Gemeinde lief. Auch diese Handlung war endlich zum Schlusse gelangt, das Halbmondzeichen war auf dem letzten Mädchenarm — noch nicht fertig, aber angelegt. Es wäre nicht so heiter, nicht mit so wenig Schmerzen abgegangen, wenn das Ritzgeschäft mit diesem Einen Mal ganz durchgeführt worden wäre. Die Kinder mußten in den folgenden Wochen noch mehrmals daran, dann that es weher, denn für jetzt wurden nur die Endpunkte des Bildes eingegraben, später erst ward das Blau, der Saft aus der Pflanze Waid, mit ätzender Flüssigkeit gemischt und so in die frische Wunde eingeführt, um sich inniger mit der Haut zu verbinden, und dann erst zugleich das ganze Bild fertig punktirt, um nachher auch an diesem neuen Theil die Wiederholung vorzunehmen. Doch die Opfer dieser harten chirurgischen Einwirkung standen ja in dem glücklichen Alter, wo man nicht an die Zukunft denkt, jetzt hatten sie nur noch ein kurzes heiliges Lied zu singen, dann wartete ihrer zu Hause ein wohlbesetzter Tisch, und vergnügt suchte nun jedes seine Eltern auf, als nach []Vollendung der Ceremonien Alles nach dem Dorfe zurückgieng.

Arthur hatte dem zweiten Theile der Handlung keine Aufmerksamkeit zugewendet, dem ersten aber von Anfang an mit gehaltenem Ernste, zugleich mit einem Ausdruck von Trauer zugesehen und bei den Fragen und Antworten finster den Kopf geschüttelt. Wir haben längst gesagt, daß er das Alles kennt; er kennt es und doch ist es ihm bei diesem Anblick wieder neu geworden und drückt ihm sichtbar die Seele nieder. Zu spotten über Dinge, die Andern heilig scheinen, war nicht seine Art. Einen gewissen Blick, den ihm der Druide zusandte an jenen Stellen der Fragen, wo von schweren Fällen, verstockten Leugnern und Menschenopfer die Rede war, hatte er in seiner Unbefangenheit gar nicht bemerkt. Nun aber kam ein Moment, wo er sich des Lächelns nicht ganz erwehren konnte. Als die singenden Kinder gleichzeitig und anhaltend alle den Mund weit öffneten, fiel ihm auf, daß er in lauter blauschwarze Höhlen sah. Es war die Heidelbeerenzeit, die Kinder sämmtlich hatten sich's Vormittags im Walde schmecken lassen, und Nachmittags die Eltern wohl daran gedacht, sie hübsch herauszuputzen, aber nicht daran, daß sich die Kleinen den Mund ausspülen sollten. Das Kosmetische war eben in dieser Richtung sehr wenig ausgebildet. Die Erscheinung fiel auch keinem Menschen außer Arthur auf: um so []mehr wurde sein Lächeln von den Vielen mißdeutet, die es bemerkten. Das hätte man vielleicht vergessen, als aber die Gemeinde mit den Kindern heimzog, entfiel ihm ein sehr unbedachtes Wort; die Brust war ihm zu voll, er konnte nicht schweigen. Gwalchmai gieng gerade neben ihm, den er als einen der aufgeweckteren Köpfe des Pfahldorfs schon kannte. „Arme Kinder!“ sagte er zu ihm, „ich denke, die Heidelbeeren werden ihnen gesünder sein, als der Blödsinn! Wie ist es nur möglich, daß er noch besteht! Kann man damit noch ein Volk erziehen? Ist dieß ein Stab und Schild für den Eintritt in die Welt? Und es wär' so ein schöner Brauch, einen starken Einschnitt in die junge Seele zu machen an diesem Wendepunkt! Was hätt' ich drum gegeben, hätt' mir Einer zu der Zeit eindringlich, aber einfach gesagt, wo das wahre Glück zu suchen ist! Und der unbekannte Gott, nun, was den betrifft —“ Er brach ab, er wußte wohl nicht weiter. Er gieng vorwärts, ohne eine Antwort abzuwarten, still vor sich niederblickend wie ein Mann, in welchem Gedanken gähren und langsam reifen. Wer außer Gwalchmai seine Worte noch vernommen, hatte er nicht bemerkt. Es war Alpin, zugleich aber noch ein Anderer, von dem wir hören werden.

Jetzt kam mit einem Trupp Kamerädinnen Sigune vorüber, ohne Alpin gewahr zu werden; sie holten Arthur ein, Sigune nahm ihn an der Hand und []sagte: „Komm' jetzt zu uns, Vetter, wirst einen langen Magen haben, laß dir gefallen, was unser Tisch bietet.“ Alpin's guter Wille war gewesen, abzuzwingen, was in ihm stach, bohrte, brannte, trotz alledem wieder in Odgal's Haus einzutreten und mit breiter Brust sich vor Sigunen zu stellen auf Gefahr, daß er den tief Gehaßten dort träffe. Jetzt gab er es auf und rannte weg, hinaus und dahin, wo er am frühen Morgen schon Trost gesucht: in die Berge, in die Wälder, um ihnen auf's Neue sein Leid zu klagen. Er war da zu fern, um einen Auftritt mitanzusehen, der die Gemeinde Abends noch einmal aus ihren Wohnungen, von ihren festlich besetzten Tischen in's Freie trieb.

Ein Verwundeter war im Walde gefunden worden, ohnmächtig, man trug ihn herein; als er zu sich kam und die Sprache wieder fand, berichtete er in abgerissenen Lauten, ein Wisent habe ihn beim Holzschlagen überrascht, angegriffen, mit einem Stoß in die Seite niedergeworfen, und nur dem Umstand, daß ein zweites Wild derselben furchtbaren Gattung herbeigekommen und alsbald ein Kampf zwischen beiden Stieren sich entsponnen habe, verdanke er seine Rettung; er wäre sicher in die Luft geschleudert und dann zerstampft worden; er sei dann fortgekrochen, so weit er konnte, bis ihn das Bewußtsein verlassen habe. Er hatte eine breite Wunde unter der linken Brust, das Blut floß noch immer. Man brachte ihn zum Druiden. []Als wir die Aemter dieses Mannes aufzählten, erschien es nicht nothwendig, auch die Funktion des Arztes mitzunennen. In größeren Gemeinden war allerdings ein besonderer Arzt, ein Barde, ein Naturkundiger und Mediziner vom Fach. Für kleinere Gemeinden, wie die unsrige, versah der Druide diese Stelle; es wurden in Turik von den Barden besondere Vorlesungen für künftige Druiden gehalten, die ihnen das Nöthigste aus der Medizin und Chirurgie zu eigen machten. Der Leser ist bereits gewarnt worden, sich den Stand dieser Wissenschaften in jener Zeit nicht als einen allzu rationellen zu denken. Immerhin waren neuerdings bedeutende Fortschritte gemacht worden; die Studienzeit unseres sechzigjährigen Druiden war aber vor dieselben gefallen. Er hatte zudem, die Wahrheit zu gestehen, die pastoral-medizinischen und chirurgischen Vorlesungen etwas unregelmäßig besucht, indem er dachte, er könne seine Zeit besser anwenden mit Erwerbung von Kenntnissen solcher Heilungsmiltel, von denen kräftigere Wirkung zu hoffen sei. Wie diese Mittel beschaffen waren und wen er hierin zu getreuer Beihülfe herangezogen, das werden wir nun ersehen.

Alpin kam spät Abends nach Hause. Als er Ruhe suchen wollte — mit wenig Hoffnung, sie zu finden —, hörte er in geringer Entfernung einen Einbaum lösen, stand auf, sah hinaus und erkannte Arthur aufwärts rudernd im See. Jetzt hörte er auch eine []weibliche Stimme fernher vom Saume des Gewässers, wo der helle Mond in den Nebel über dem Röhricht schien. Augenblicklich löste er den eigenen Kahn, der angebunden unter dem Hause lag, fuhr schnell und leise am Gestrüppe des Ufers hin und hielt im dichteren, höheren Schilfe, als er so nahe war, daß er deutlicher sehen und hören konnte. In kurzen Kreisen sah er langsam einen Kahn sich drehen, darin eine dunkle weibliche Gestalt. Sie sang oder schleppte vielmehr durch wenige Töne dumpf, einförmig, hohl, einen uralten Zaubersegen:

„Unser Herr Grippo fuhr über Land,
Im Brande ein Brand.
Brand, du sollst nicht hitzen,
Brand, du sollst nicht schwitzen,
Brand, du sollst nicht schwären,
Noch über dich begehren,
Bis der Weltenmutter die Spindel bricht,
Bis erlischt des ewigen Mondes Licht.“

Nach je zwei Zeilen wurde kurz pausirt und Alpin glaubte zu sehen, daß die weibliche Gestalt über einem undeutlichen Gegenstand, der ausgestreckt im Kahne lag, mit der Rechten, worin sie etwas hielt, das sich im Helldunkel nicht erkennen ließ, seltsame Handbewegungen machte, senk- und wagrechte und kreisförmige Linien in der Luft zog. Was es für ein Körper war, der sich im Einbaum befand und dem diese Ge []bärden galten, darüber konnte er nicht im Unklaren bleiben, als er in diesen Pausen ein schwaches Aechzen vernahm. Er sah Arthur jetzt ganz nahe fahren, Kahn an Kahn drängen, sich hinüberbücken, die sich Widersetzende gewaltsam beiseite drücken, etwas Dunkles in die Höhe richten. „Soll das ein Verband sein?“ hörte er ihn rufen. „Zauber thut mehr denn Verband.“ — „Gieb ihn her, du mordest ihn.“ — „Hinweg, Gottloser!“ — „Du mußt!“ Er ist in den andern Kahn hinübergesprungen, sie packt ihn an und rauft mit ihm, ein schnellender Ruck und das hexenhafte Weib ist beiseite geschleudert, fällt in's Wasser, Arthur hebt mit der Sicherheit gewandter Kraft den Verwundeten in seinen Kahn und fährt mit pfeilschnellen Ruderzügen hinweg. Alpin ließ unthätig Alles geschehen, sah zu, wie von Geistern gebannt und gefesselt. Jetzt rückt er hervor aus dem Röhricht. „Hix, Hix!“ ruft er, „ich komme.“ — „Bist du's, Alpin! Hilf! Hilf!“ Der Alten ist es nach einigem Umplätschern gelungen, den Rand ihres Kahnes zu erfassen, er hilft der Zappelnden hinein, läßt die Durchnäßte auf das Fell nieder, auf welchem vorher der Verwundete gelegen, und zuckt das Ruder, sie fortzubringen. „Halt, halt! mein heiliger Mistelzweig, in heiliger Herbstmondnacht geschnitten mit der heiligen Sichel, dort schwimmt er,“ ächzte die Alte. Alpin gab dem Kahn ein paar Stöße, fischte ihn heraus und ruderte weiter, dem []Pfarrhause zu. Er trat in etwas Hartes und Scharfes, das ihm in die große Zehe schnitt, griff hinab und zog eine Scherbe herauf. Urhixidur stieß einen Schrei der Verzweiflung aus: „Coridwen! Coridwen! mein Zauberhafen hin! O hin, hin!“ Sie wälzte sich vor Jammer im Boot und weinte lautauf, daß es fernhin hallte. Alpin erinnerte sich jetzt, daß er bei dem Kampfe zwischen Arthur und dem unheimlichen Weib ein gellendes Schüttern gehört hatte, wie wenn ein irdener Körper zerbricht. Sie hatte geglaubt, den Schwingungen des Mistelzweigs mehr Zauberkraft zu verleihen, wenn sie ihn in dem geheimnißvollen Gefäße mitnahm, und unvorsichtig genug das Heiligthum einer Wasserfahrt anvertraut. Endlich schwieg sie erschöpft vom Stöhnen und lag stumm, auf einen Arm gestützt, im Kahne. Auf einmal fuhr sie mit einer zuckenden Bewegung in ihre Rocktasche und ein neuer Aufschrei folgte dieser Bewegung: „Auch das, auch das! Mein Wirtel auch dahin! Heilige Erbstücke! O, Urururahnmutter Coridwen, du, die aus der Weltenspinnerin eigener Hand die göttlichen Gaben empfangen, schau' nieder aus den Wolken und hilf rächen, strafen!“ Endlich verstummte auch diese Klage und man legte an dem Stiegchen an, das in das Haus des Druiden hinaufführte. Dieser lag schon in so festem Schlafe, daß das Geräusch ihn nicht weckte, das überdieß von seinem gewaltigen Schnarchen übertönt wurde. Er []hatte ja sein Amt als Heilkünstler mit so voller Ueberzeugung an Urhixidur abgegeben, ihr den Verwundeten mit so vollem Vertrauen überantwortet, daß er sich, als sie mit ihm abfuhr, mit ganzer Seelenruhe zum Schlummer niederlegen konnte, und der pflegte bei ihm tief und gesund zu sein. — „Es gibt ein kaltes Bad, aber auch ein heißes,“ murmelte die Alte, als sie ausstieg. „Ein gefährlicher Ketzer,“ sagte Alpin, „er hat auch über unsere Religion gespottet,“ mit diesen Worten löste er den Wiedring, an dem er seinen eigenen Kahn nachgezogen hatte, und fuhr heim.

Er mußte wissen, was er that, als er in so gehäuften Brennstoff die Brandfackel dieser Angeberworte warf, es war ihm gar wohl bekannt, was die Base bei dem Druiden galt, und er war nicht so blind, das verborgene sehr Gefährliche in diesem Manne nicht wenigstens dunkel zu ahnen. Aber er kam sich ganz zufrieden mit sich vor, sein Gemüth schien ihm ruhig wie der See, dessen Spiegel kein Lüftchen bewegte. Es war nur in dem Einbaum so eine sonderbare Unruhe, er wollte in keine regelmäßige Gangart kommen, er schwankte, und das Vordertheil fuhr manchmal so eigenthümlich wie ein Ausruf in die Höhe. Das Wasser gluxte am Holze wie sonst eben auch, aber es klang heute so seltsam; einmal meinte der Ruderer gar flüstern zu hören: „Alpin, das war nicht recht!“ Dann kamen dumpfe Töne, die murmelten etwas wie: []krumm, oder: Lump! dann spitze, die thaten wie: Wicht! Wicht!

Er dachte: dummes Zeug! und legte sich schlafen; er sagte sich, er habe nun endlich doch einen ruhigen Schlaf verdient. Kaum lag er auf dem Ohre, so fiel ihm siedend heiß ein: jetzt pflegt Arthur den Verwundeten sicherlich mit Hülfe Sigunens. Er warf sich auf das andere Ohr, da fragte plötzlich etwas in ihm: Alpin, was hättest du thun sollen? Entweder glaubst du, die Hexe könne mit Zauberspruch und Mistel besser heilen, dann durftest du ihr den Verwundeten nicht abjagen lassen; oder Arthur mit den Mitteln, die er anwenden wird, dann mußtest du ihm beistehen. Ueber das Entweder-Oder in den beiden Vordersätzen hatte er nun freilich noch niemals nachgedacht und er konnte sich betrösten: wenn man zweifelt, wenn man nicht weiß, was thun von Zweien, so thut man am besten nichts. Dennoch wollte der Trost nicht vorhalten und — auf einmal sprang er auf, und — etwas hast du ja doch gethan: Pfui! Pfui! und noch einmal Pfui! Er rief es laut, so laut, daß der Rinderknecht im Nebenraum aus seinem tiefen Schlaf emporfuhr und rief: „was gibt's?“ Doch legte sich der wieder zurück und schlief alsbald weiter, auch Alpin streckte sich wieder hin, verhielt sich still und blieb so liegen auf seinem Bärenfell, das nur jetzt kein Fell mehr war, sondern ein Ameisenhaufen.

[]

Mit dem ersten Morgendämmern gieng er aus dem Hause. „Auch so früh schon auf?“ grüßte er den Bittel, dem er begegnete. — „Das trifft sich gut, Alpin, ich soll dich zum Druiden bestellen.“ Er sagte das nicht im Befehlton, sondern freundlich und mit einem gewissen Zwinkern der Augen. — „Später, später, hab' augenblicks nicht Zeit, der Schafhirt hat ein paar hustenkranke Hämmel, muß nach dem Vieh sehen.“ Die Ausrede war nicht so grob, als sie es heutzutage wäre, doch immerhin auffällig und der Bittel blieb verdutzt stehen. Alpin begab sich in seinen Heerdestadel; es schien ihm, sein Vieh begrüße ihn nicht so herzlich wie sonst, und seine Lieblingskuh, die Lisi, bog gar den Kopf zur Seite, als er zu ihr trat; er gab ihr einen Faustschlag und rief: „Willst auch du mich verachten?“ Das Thier, so rohe Behandlung nicht gewohnt, sah ihn mit den großen Augen traurig vorwurfsvoll an, als fragte es: wohin ist's mit dir gekommen?

Er trat heraus, bleich, unschlüssig, gieng wieder hinein, streichelte die Kuh, dann fuhr er schnell wieder aus der Thüre. Es muß etwas geschehen! es muß durchgebrochen werden! rief es in ihm, dunkel, aber stark. Mit straffen Schritten gieng er nach Odgal's Haus; er wußte, daß Sigune früh aufstand. Da sitzt sie auch, das Herdfeuer ist schon angezündet, aber sie macht sich nichts dabei zu thun; sie hält ein Ding in der Hand, auf das ihre Augen mit großer Spannung []gerichtet sind, während alle Mienen von einem Gefühle lebhaften Wohlgefallens zeugen. „Darf man herein?“ fragt Alpin durch's Fenster. — „Ja, komm' nur; sieht man dich einmal wieder? Du siehst bleich.“ Sie gab ihm die Hand. „Heut' Nacht hättest dabei sein sollen drüben im Freihof —“

Wir müssen sie hier einen Augenblick unterbrechen, um dem Leser ein Wort vom Freihof zu sagen. Wir befinden uns natürlich in Zeiten allgemeiner Gastfreundschaft, aber auf Pfahldörfern ist eben kein Ueberfluß an Raum und wenige Familien sind in der Lage, zu beherbergen. Die wohlhabenderen Gemeinden besitzen daher ein Haus zur Aufnahme von Fremden, die eine andere Unterkunft nicht finden können oder nicht wünschen. An Ausstattung, Bedienung ist begreiflich nicht zu denken, einige Pelze zum Lager sind Alles, für das Uebrige muß ein Gastfreund sorgen. Hotel können wir das also nicht wohl nennen; damals sagte man Freihof. In diesen seinen Wohnraum hat Arthur den Unglücklichen gebracht, dem im eigenen Hause die richtige Pflege gefehlt hätte.

Also — „drüben im Freihof,“ sagt Sigune. „Wir haben,“ fährt sie fort, „den Wunden gepflegt, Arthur und ich; solltest sehen, wie der verbinden kann, und ein Glück, er hat auf seiner Reise, die ihm selbst Anfall und Wunden bringen konnte, gute, kühlende Salben mitgebracht, aus der Pflanze Selago und Verbena, []und hat sie aufgelegt; der Kranke liegt jetzt in erquickendem Schlaf auf Fellen und weicher Streu.“ — „Gut, ganz recht,“ sagte Alpin, einen Stich verarbeitend, der ihm durch die Seele gieng. „Was hast denn aber da?“ Sie hatte den Gegenstand beiseite gelegt. „Da schau' her,“ rief sie jetzt, „was Neues, Wunderbares! Vetter Arthur hat uns zu den schönen Sachen gestern Abend noch das gebracht, nun guck'! Nachher will ich den neuen Schmuck anziehen und mich so da drin sehen.“ Es war eine ovale Scheibe von Erz mit zierlichem Griff; Sigune drückte sie ihm in die Hand. „Was soll's?“ — „Nun, sieh' doch stät auf die Fläche.“ Alpin schaute und schaute, er sah sich selbst. Verglieche man dieß Bild mit dem, das unsere jetzigen Spiegel uns zeigen, so müßte es freilich nur als ein verschwommenes erscheinen; das wäre aber sehr unrichtig, wir haben das Bild im Erzspiegel mit dem ungleich verschwommenern auf dem Wasserspiegel zu vergleichen, dem einzigen, das unserem Alpin bekannt ist, und so kommt es ihm deutlich in einem Maße vor, das alle seine Begriffe übersteigt. Er läßt den Spiegel fallen, geisterhaft wird ihm zu Muthe. Er steht so und starrt vor sich hin, hinaus in's Leere, wie in eine tiefe Finsterniß. Allmälig taucht ein schwaches Licht in dieser Finsterniß auf: „Also — also so — von nun an wird der Mensch sich selbst sehen — zweimal dasein — und dann — wenn er von dem Bild weg []geht, wird es doch in ihm bleiben — und er wird inwendig sich selbst sehen — wird nicht mehr einfach, nicht mehr ein Einfacher sein — wird sich zugleich immer auch inwendig fragen, wie er wohl anderen Menschen vorkomme — und dann — wenn er etwas denkt oder sagt oder thut, wird man nicht mehr wissen, ob er's nicht denkt oder sagt oder thut, weil er sich vorstellt, wie er dabei aussehe, sich ausnehme —“

Er stockte — wie hätte der Pfahlhirte für das, was ihm in dunkler Ahnung aufdämmerte, die Begriffe finden können und die Worte für die Begriffe! Wir Jetzigen freilich könnten ihm gut nachhelfen, wir, denen so leicht ersichtlich ist, daß mit der Erfindung und Vervollkommnung des Spiegels eine gründliche Veränderung in das Seelenleben, in alle Zustände der Menschheit getreten ist. Verschärfung des Selbstbewußtseins, aber auch eitle Selbstbespieglung und eitle Bespieglung in Anderen: wie sollte der arme Alpin diese Bezeichnungen aufbringen und wie all' das Unabsehliche ermessen, das sich aus einer solchen Wendung im Bewußtseinsstande des Menschen ergeben, entwickeln mußte! Ihm wurde schwindlig vor dem Bilde der künftigen Jahrhunderte, das ihm dunkel vorschwebte und das er nicht erfassen konnte. Er fand noch das Wort: schillern — ihm scheine, da schillere Alles. Weiter reichte es nicht. Und nun bedenke man noch dazu, daß er nicht in der Lage war, mit freiem Ge []müthe über dieß Räthsel zu forschen, denn ach! der Spiegel gehörte Sigunen, war ein Geschenk Arthur's! Ob sie ihm gefalle, wird sie den Spiegel fragen, und dann wohl auch, wie Dem und Jenem und einem Dritten — und wie wird sie dann werden? Nun, den Namen Kokette lieferte ihm wahrhaftig sein Sprachvorrath eben auch nicht, aber die Sache flimmerte ihm vor dem innern Blick. Wir werden also billig sein: es kommt Vieles zusammen, was jetzt in diesem Herzen umwühlt. Grauen überrieselte ihn, dann kochte ein Grimm, eine Wuth auf. Mit wilden Blicken fuhr er in die Höhe, hinaus zur Thüre und schleuderte den Spiegel in's Wasser. Wie er sich umkehrt, steht Arthur vor ihm. Er packt ihn an der Kehle und ruft: „Giftschenk!“ Arthur legt die Hand an sein Schwert und zuckt es halb aus der Scheide. Alpin fällt ihm in den Arm: „Nicht so! nicht hier!“ Sigune war herbeigestürzt, flehte Arthur, hieng an Alpin's Knieen: „Laßt, laßt!“ Die beiden Feinde vereinigten sich, sie zu beruhigen, ihr die Vorstellung beizubringen, als könnte vielleicht mit Worten ausgeglichen werden, führten sie mit freundlicher halber Gewalt in ihre vier Wände zurück, eilten hinweg und mit wenigen Sylben war verabredet, was in schweigendem Einverständniß schon innerlich beschlossen war. „Steinaxt und Hirschhorndolch gegen Erzschwert und Erzdolch, soll's gelten?“ — „Gut,“ sagte Arthur, „es soll.“ — „Draußen im []Fichtenwald, wo die kleine Lichtung ist, dreihundert Schritte in gerader Richtung hinter dem Dolmen- und Eichenhain! Ich hab' erst noch einen Gang zu thun, in einer Stunde bin ich da!“ — „Du triffst mich.“

Alpin war es so leicht und frei zu Muth, als wären ihm Centnergewichte von der Brust gefallen. Er that einen Jauchzer, als er zu Hause seine Steinaxt genau untersuchte, ob der Stiel auch fest genug sitze, und unter zwei Dolchen den stärkeren und schärferen wählte. Aber ein leiser Seufzer folgte dem Jubelruf. Sigune! — doch das war nicht das Schwerste; Zorn, Grimm war zwar verflogen und die Seele hatte zum Sorgen und Bangen um sie wohl wieder Raum, aber das mußte jetzt zurückstehen, denn jetzt galt es nur Eines: Mann gegen Mann; sie ist Weib, Schicksal ist Schicksal, sie soll's tragen, wie es fallen mag. Aber, aber! da hieng noch ein böses Gewicht; wie es abschneiden? Da saß noch ein böser Flecken; was auf der weiten Welt thun, ihn abzuwaschen? Er war ja zum Druiden gerufen, nicht eigentlich befohlen, er konnte wegbleiben, aber das wäre feig, sagte er sich; heut' wollte er gut machen als gerader Mann, was er gestern Nacht schlecht gemacht als krummer Angeber, aber der Vorsatz, der Entschluß zur That, zum Zweikampf, genügte ja nicht und die gethane That doch auch nicht, der Flecken der Verdächtigung stand für sich da, kohlrabenschwarz, er wollte für sich []behandelt, ausgelöscht sein, er blieb sonst hängen, klebte seinem Gewissen an, wenn er lebte, seinem Namen, wenn er fiel. Was thun, was thun? — Halt! — ihm kam Licht — die Wahrheit! Die Wahrheit: sonst gibt's hier nichts!

Er gieng zum Druiden, ausgerüstet, wie er war, mit seinen Waffen. Vor der Thüre hörte er drinnen einzelne Hustlaute von verschiedenen Stimmen. Er trat ein. Urhixidur war — gottlob! rief es in ihm — nicht da, sie lag in der Hinterstube tief in einen Berg von Wolfsfellen versteckt, da sie, für ihre eigene Person doch mehr auf natürliche Mittel als auf Magie vertrauend, eine Schwitzkur auf das nächtliche kalte Bad für gut befunden hatte. Dagegen standen zu den Seiten des Druiden fünf ältere Männer; sie gehörten zu dem Schlage der „alten Huster“. Der Druide hatte ein Gesicht, so hart und gespannt, als wäre es gefroren, man sah auf den ersten Blick: das war ein Verhörgesicht! Der Schluß: ein Zeugenverhör, und die Huster haben schon deponirt, ergab sich von selbst. „Es liegen,“ begann Angus, „gegen den Fremdling Arthur mehrere sehr beschwerende Inzichten vor als gegen einen Religionsspötter, gegen einen Götterleugner; von dir, Alpin, ist mir zu Ohren gekommen, du müssest als Zeuge gegenwärtig gewesen sein, als er das eine oder andere giftböse Hohnwort über unsern heiligen Glauben und ehrwürdige gottes []dienstliche Handlung fallen ließ; dieß wird bestätiget durch die Bemerkung, die du in dieser Nacht gegen Urhixidur gemacht hast, als sie von dem Uebelthäter ruchlos gestöret worden in dem Heilwerke, das sie in meinem Auftrag vornahm, als der Frevler sich sogar erfrecht hatte, diese achtbare Person in's Wasser zu werfen, als dabei der heilige Coridwentopf zerbrach, als er ihr den wunden Pflegling raubte und als dich die Gottheit zu ihrem Retter ausersehen; sag' an, sprich, was weißt du? Zuerst wiederhole mir die Worte, die du zu meiner Hausmeisterin gesprochen.“

„Hochwürdiger Vater!“ sagte Alpin, „erlaube mir, zu schweigen. Mich drückt mein Gewissen, denn ich habe aus Haß gesprochen, was ich zu Urhixidur über den Mann gesagt; ich hasse ihn aber nicht, weil ich nachgedacht hätte über die göttlichen Dinge und mir zutraute, das zu verstehen, und überzeugt wäre, daß er darin ein Frevler ist, sondern ich hasse ihn, weil ich ihn hasse, und nicht der Strafe Anderer will ich ihn übergeben, sondern ich selbst will ihn strafen, will es versuchen, ob mir Grippo, der Herr und Gott des Krieges, vergönnt, ihn zu bezwingen und zu vertilgen.“

„Warum hassest du ihn? Ich will es wissen!“

Alpin stockte. Doch da in einer Gemeinde, die so eng zusammenwohnt, eine Bewerbung um die Liebe eines Mädchens, die so beharrlich war wie die seinige, ohnedieß kein Geheimniß geblieben sein konnte, so ver []mochte er es, sein inneres Widerstreben zu bezwingen, und sagte: „Weil er eine Tochter unseres Volks hinwegführen will zu dem seinigen, wo Alles fremd und anders ist und —“

Die Sprache lieh ihm auch hier kein Wort, der Satz blieb unvollendet. Auch seine Zuhörer hätten ihn nicht zu ergänzen vermocht mit Worten; woher sollten er und sie Bezeichnungen schöpfen wie: Ueberbildung, von der Natur abweichende Kultur, Raffinirtheit, Frivolität und dergleichen? aber sehr leicht und gern ergänzten sie ihn mit erahnenden Vorstellungen, mit helldunklen Schlüssen, die, von der Prämisse: Erzwaffen ausgehend, durch eine Kette von unbestimmt vorschwebenden Mittelgliedern rasch bei der Folgerung: Gottlosigkeit anlangten. So war denn Alpin's Wort ganz Wasser auf ihre Mühle, ja mehr Wasser, als er eigentlich wollte, da gerade dieß ein Punkt war, den er seinerseits, obwohl gestern noch Angeber, lieber dahingestellt sein ließ; wir werden ihn in dieser letzteren Richtung noch näher kennen lernen.

„Was hast du eigentlich vor?“

„Zweikampf; der Fremdling ist einverstanden.“

Die umstehenden Zeugen riefen: „Es sei so! Verhindert es nicht, ehrwürdiger Vater! Es sei Gottesurtheil! Gottesurtheil auch über die Waffen: ob besser das gute Alte, Stein und Horn, oder der tückisch schimmernde neue Stoff!“

[]

Angus wiegte bedenklich das Haupt hin und her; es mochten einige Zweifel sehr realen, physikalischen Inhalts durch dieses Haupt gehen. Er verschwieg sie und faßte die Frage von einer andern Seite: „Gottesurtheil,“ sprach er, „muß öffentlich und feierlich sein; Alpin muß anklagen vor der versammelten Gemeinde auf Götterleugnung, Kampfrichter müssen aufgestellt sein und ich muß vorsitzen.“

„Die Anklage erheb' ich nicht,“ fiel Alpin rasch ein.

Es war noch eine andere Schwierigkeit: Arthur hatte in der kurzen Zeit doch manche Gemüther gewonnen; daß es in der Gemeinde das gab, was wir eine Linke nennen, haben wir aus den Verhandlungen ersehen, aus denen die Berufung der Barden von Turik hervorgieng. Es war zu befürchten, daß die Einleitung eines Gottesurtheils auf so schwere Anklage großen Widerspruch fände. Derselbe Grund aber mußte dem Druiden starke Zweifel erwecken, ob er einen Prozeß mit der einfachen Folge der Verurtheilung Arthur's als Ketzers auch durchzuführen vermöge, ohne seine Autorität und Beliebtheit bei der Gemeinde zu untergraben.

„Kein Gesetz hindert,“ sagte jetzt Morbihan, einer der fünf Zeugen, „daß Zweikampf auch geheim stattfinden könne und doch sein Ausgang als Gottesurtheil gelte; unser altes Gesetz ist für den öffentlichen, keines besteht gegen den geheimen.“ Die Bemerkung wurde beifällig aufgenommen und unterstützt.

[]

Nach einer Pause sagte, leicht zum Ja bekehrt, der Druide: „Es sei! Biete deine Waffen!“

Alpin hielt Axt und Dolch hin, ungern allerdings, denn, was er vorhatte, das meinte er doch eigentlich nicht in dem Sinn, in welchem seine Waffen nun eingesegnet werden sollten. Der Priester beschrieb das Schlangenzeichen Grippo's in die Luft und sprach halbsingend in hohldumpfem Beschwörerton:

„Gieb, o
Grippo,
Alter Rohrmolch,
Das; der Horndolch
Sicher steche!
Gieb, o
Grippo,
Urweltsschlammwurm,
Daß im Kampfsturm
Axt nicht breche!
Gieb, o
Grippo,
Lurch im Urstrupp,
Daß Hirnstockschnupp
Feind's Kraft schwäche!

„Und nun zeuch hin, mein Sohn, und schlag' und stoß' zu in Gottes Namen!“ schloß der Priester.

Alpin trat seinen Gang an. Er war schon einige Schritte entfernt, als ihm Angus nachrief, er solle erst []seinem ältern Gaisbuben noch aufgeben, daß er heute noch einmal zu ihm komme. Alpin besorgte dieß noch; der Druide machte sich mit dem Jungen seit ein paar Wochen alltäglich zu thun; was? war ein Geheimniß; doch bemerkte man, daß es musikalischer Art sein müsse; der Bursche war ein sehr gelehriger Schüler Alpin's auf dem Hirtenhorn.

„Er ertobte des Muotes,“ heißt es im Nibelungenliede, da Rüdiger von Bechlarn nach schwerem innerem Kampfe und herzerschütternden Wechselreden das Schwert zückt, gegen seine Freunde, die Nibelungen, zu streiten. Der letzte Auftritt hatte Alpin's Seele wieder beschwert; er war eben doch unheimlich gewesen, und es wollte sich nun etwas in ihm regen, was wider den Kampf sprach, aber er nahm sich straff zusammen, spannte seine ganze Seele auf den Gedanken der Entscheidung, die nun einmal dieser Schwüle ein Ende machen müsse, der Kampfgeist fuhr in ihm auf, er beschleunigte seine Schritte, und dieß um so mehr, da er befürchtete, er habe über die Zeit gezögert und dieß könnte ihm falsch ausgelegt werden. Er war eingetreten in den dunklen Fichtenwald; er hörte von fern ein Geräusch wie ein Prasseln, Wischen, Streifen, kurze Rufe einer Menschenstimme dazwischen, der Wald gab diese Töne mit dem eigenthümlich verklingenden Nachhall wieder, als riefe Baum dem Baum eine Kunde zu, die so fortlaufe bis in unbekannte Fernen. []Aber halt! Was ist dieß? ein brummender, gezogener Laut ist nun deutlich zu unterscheiden, finster, furchtbar, tief wie aus den Höhlungen der Erde heraufgrollend, — Alpin kennt ihn, es ist das Brummen des Wisents, er eilt vorwärts, so schnell es nur der Wald erlaubt, erreicht die Stelle und erblickt —

Wir wenden uns in der Zeit um ein Weniges zurück. Arthur hatte sich beeilt, den verabredeten Kampfplatz zu erreichen. Er steht in Gedanken verloren, den Gegner erwartend; auch in ihm spricht etwas gegen den Kampf und gegen dieses Etwas wieder die Ehre und der Zorn. So in sich versunken hört er nicht, daß nahe im niedern Holze sich etwas erhebt und gegen ihn herbewegt, bis ein dumpfes Brüllen ihm die furchtbare Gefahr verräth. Es war der Wisent, der gestern den Bürger des Pfahldorfs verwundet hatte; Arthur trug — unvorsichtigerweise, denn er konnte vermuthen, daß das schreckliche Thier noch um den Weg sei — sein rothes Brusttuch offen.

Der wilde Stier, den unsere Ahnen Wisent nannten, dessen amerikanischer Vetter Bison dem Leser wohl bekannt sein wird und der nur an Einem Ort in Europa durch Hut und Hegung sich noch erhalten hat, im Walde von Bialowicza in Littauen: der Wisent ist zwar weit nicht so groß, wie der längst ausgestorbene, damals schon äußerst seltene Stammvater unseres Rinds, der Ur, der Auerochs, von dem er []jetzt fälschlich den Namen trägt, doch weist eine Höhe von sieben und eine Länge von dreizehn Fuß, unter welche freilich seine heutigen Nachkommen stark herabgesunken sind, eben auf kein geringes Kraftmaß hin. Schwerlich war selbst der riesenhafte Ur ein so gefährlicher Feind des Menschen wie dieses unzähmbar wilde Geschöpf. Sein Element ist Wuth; man kann nie wissen, wann sie ausbricht, am sichersten geschieht es beim Anblick rother Farbe. In jähem Sprunge fährt das Ungethüm auf Arthur los, er vergißt im schrecklichen Drange des Moments, daß sein Schwert eine unmächtige Waffe gegen solchen Feind ist, zieht, stößt, die Klinge trifft schief, schlitzt nur die Haut unter der wolligen Halbmähne, die den Wisentstier bis in die Mitte des Leibs umkleidet, er wird von der Wucht des Anpralls niedergeworfen, schnellt auf und nun beginnt eine Jagd von Thier auf Mensch, die den Tapfersten endlich betäuben, lähmen, entseelen müßte. Es gelingt Arthur, einen jungen Baum im Sprung zu erfassen, aufzuklettern, der wüthende Feind führt einen Stoß dagegen, daß der schenkeldicke Stamm abknallt und der Hingeschleuderte abermals nur seiner pfeilschnellen Behendigkeit die augenblickliche Rettung verdankt. Er besinnt sich, daß man vor einem Stier in scharfen Zickzackbewegungen fliehen muß, weil es dem Thiere schwer wird, rasch umzuwenden: ein Mittel, das vielleicht vorhält, so lang ihm die Geistes []gegenwart bleibt; aber kein Augenzeuge der verzweifelten Hetze könnte das hoffen. Fürchterlich an sich schon der Anblick eines Thieres, an dessen breitgestirntem Haupte durch den krausen Haarwald die ohnedieß groben organischen Formen so verdeckt sind, daß es einfach bloß zur ungeschlachten, blöckischen Stoßwaffe gebildet erscheint. Tiger- und Löwenkopf hat bei schöner Bildung grundfalsche, blutdürstige Katzenzüge, da mag dem Schrecken des Angegriffenen noch die Seelenqual sich beimischen, so viel Wildheit mit solcher thierischen Schönheit verbunden zu sehen, aber er sieht doch Züge, das Entsetzen ist nicht so dumpf, wie beim Anblick dieses Stierkopfs, der wie ein Stück roher Masse aussieht, von dem langen Leibe wie ein Mauerbrecher vorwärts geworfen, um zu Brei zu zermalmen, was nicht hart wie Fels und Eisen ist, oder mit Hülfe der kurzen, nah an den Schläfen aufwärts stehenden Hörner, was da Lebendiges begegnen mag, und wäre es der schwere Körper eines Bären, wie einen Ball in die Luft zu schleudern. Und doch verkünden furchtbare Zeichen, daß eben in diesem formlosen Blocke der dumpfwilde Geist wohnt, der ihn als seinen Sturmbock, seine Schleuder regiert: Feuerqualm scheint aus den schnaubenden Nüstern zu sprühen, das tiefe, wie aus langem Gewölb heraufgeholte Brummen ist nur noch schrecklicher als Brüllen des Löwen, des Bären, dämonische Wuth funkelt in dem großen, dunklen Auge, []bei seinem Schwellen und Rollen zeigt sich die Bindehaut, die als weißer Grund dem menschlichen Augenstern seine edle, reine, hebende Umrahmung gibt, als roth durchäderte Folie und erhöht so mit ihrer Blutfarbe das scheusliche Wuthbild, aus dem Maule hängt die blaurothe Zunge und ein dunkler Bart schwankt am Unterkiefer, als hätte der teuflischen Maske noch ein Stück vom Kopfe des Ziegenbocks gefehlt. Vom mächtigen langen Leibe wird dieß Haupt in ungeheuren Galopprucken zum Stoß vorgeworfen und mit der geschwungenen Zottel des Schweifes scheint sich das Unthier zu immer erneuter, wachsender Furie zu peitschen. Das war, muß man gestehen, ein Anblick besinnungraubender Art; Arthur stand auf dem Punkte, sie zu verlieren, und sobald er sie verlor, mußte seine Behendigkeit selbst sein Untergang sein, denn eine einzige seiner blitzschnellen Kehrungen verfehlt — und sie mußte ihn gerade in die Stoßlinie des fürchterlichen Feindes hineinführen. Bereits ist ihm dieß widerfahren, er blutet aus einer Streifwunde an der Stirne, sein Auge umflort sich, er schwankt, er beginnt zu taumeln. In diesem Augenblick unendlicher Gefahr ist Alpin erschienen, ein Gedanke wie ein zuckender Strahl erleuchtet ihn, er nimmt einen Ansatz, springt dem Ungeheuer auf den Rücken, auf den höckerartigen Wulst des Widerristes, klammert sich mit mächtigen Schenkeln fest und stößt mit der Riesenkraft und mit []den sichern Sinnen des Natursohns den starken, äußerst glatt polirten und spitzen Dolch aus dem Ende eines Hirschgeweihs, ungehindert von der bauschigen Mähne, der dicken Haut, den stahlharten Sehnen, zwischen den Hinterhauptknochen und den ersten Halswirbel hinein, daß er mit Blitzesschnelle die Verbindung von Gehirn und Rückenmark zerreißt. Das schwere Thier bäumt sich empor wie ein Hirsch, schnellt mit einer unwiderstehlichen Schüttelbewegung den tödtlichen Reiter weit weg, stürzt auf den Rücken, zappelt und verendet. Arthur sah nur wie durch einen Schleier diese That der Rettung, ein starrer, in allen Nerven gelähmter Zuschauer stand er wie in den Boden gewurzelt, an einen Baum gelehnt, und statt dem Retter, der nun bewußtlos am Boden lag, zu Hülfe zu eilen, sank er jetzt selbst zusammen und blieb so liegen wie ein Träumender mit offnen Augen, bis auch ihm die Lider sich schloßen.

Jetzt hört man ein Bellen, kurze, kläffende Laute, wie die Hunde sie hören lassen, wenn sie einer Spur nachjagen. Schnell dringt es näher und mit einem Sprunge, heulend vor Freude, wirft sich Tyras auf seinen Herrn und leckt ihm die Hände, die blutende Stirne. Kurz darnach rauscht es wieder durch das Gehölz und aus den Büschen taucht Sigunens hohe Gestalt hervor, ihre Haare fliegen, ihre Gewänder sausen noch von der Heftigkeit athemloser Bewegung, ihre schönen Arme sind von scharfen Fichtenzweigen, []Stechpalmdornen blutig geritzt, das Brusttuch hat sich im stürmischen Rennen durch diese dichten Hindernisse herabgestreift; so steht sie nun, schaut, sieht die zwei Betäubten am Boden und — wirft sich über Alpin.

Er erwachte, das Antlitz an ihrem weißen, warmen Busen, von ihren braunen Locken überschattet, benetzt von ihren reichlichen Thränen.

„Bist du es?“ fragt er.

„Ich bin's,“ antwortet Sigune.

„Ja, hast du mich denn lieb?“

Jetzt verfiel sie in ein tiefes, lautes Schluchzen und als sie die Sprache wieder fand, da brach es hervor: „Vergieb! vergieb! gequält, gepeinigt, gefoltert hab' ich dich im wilden Muthwill, in der grundbösen Schelmenlaune — Liebe war's — Liebe gegen sich selbst verkehrt — dein will ich sein — mein sollst du sein — beisammen, beisammen, treu bis in den Tod!“

Und sie wußte noch nicht, daß er Arthur gerettet. Alpin wußte es auch nicht mehr, das Geschehene war ihm rein entschwunden, er kannte nur die Gegenwart und preßte wie in seligem Traume, auch er nun in einen Strom von Thränen ergossen, das schöne, reuige Weib an seine Brust. Mit sanfter Hand schob Sigune jetzt sein Haupt beiseite, sie erröthete, sie besann sich auf sich, verhüllte ihren keuschen Busen und schaute sich nach Arthur um. Ihn hatte nicht eine schöne Menschenerscheinung, nur das treue Thier aus seiner []Betäubung geweckt; er sah um sich. Wenige Schritte neben ihm lag das braune Ungeheuer auf dem Rücken, geisterhaft aufstarrend mit den erloschenen großen schwarzen Augen. Er entsann sich. Jetzt sah er auch die Zwei; seine und Sigunens Blicke begegneten sich, er nickte, raffte sich auf, trat hinüber, legte die Hand auf Alpin's blondes Haupt und sagte, mit der Linken auf die Leiche des grimmen Feindes deutend: „Von Jenem hat mich Dieser gerettet.“ Nun kam auch Alpin das Gedächtniß wieder, doch mit ihm eine Erinnerung, deren Herbe und Bitterkeit ihm plötzlich die erschlafften Lebensgeister sammelte, spannte, um Einen peinvollen Gedanken zusammenzog. Er schnellte vom Boden auf: „Danke mir nicht,“ rief er, „von Dem dort habe ich dich gerettet, aber an einen Schlimmeren dich verrathen; o Götter, Götter! was habe ich gethan!“ Er erzählte mit wenigen Worten, setzte ebenso kurz die Lage, die Gefahr, die vom Druiden und seinem Anhang drohte, in's Licht, starrte dann vor sich hin, einem Menschen gleichend, der eben im Begriff ist, sich in grenzenlosen Jammer zu verlieren, faßte sich aber plötzlich im Bewußtsein, daß hier keine Zeit zum Klagen sei, sann und sann und hatte schnell einen Rettungsplan entworfen. „Es ist,“ sagte er, „nicht weit entfernt eine tiefe Höhle mit mehreren Nebenkammern; hier kannst du dich den Tag über verbergen; Abends wird alles Volk um die Barden versammelt sein, []Niemand deine Abwesenheit bemerken, und Nachts hole ich dich ab und bringe dich fort.“ Rasch überschlug er sich das Weitere. Wohin den gefährdeten Gast zunächst bringen? Am besten nach Turik; denn bei dem Stande der Dinge in der großen Wassergemeinde, wie wir ihn schon kennen, war schwerlich zu erwarten, daß es der Druide versuchen werde, ihn dort mit einer Anklage zu belangen. Wie aber auf dem Wege bis dahin vor etwaiger Verfolgung sichern? Es galt, ihn auf Richtpfaden zu führen. Auf einem Theil des Weges konnte er diesen Dienst selbst übernehmen, aber er durfte nicht zu lang abwesend sein. Er gedachte eines treuen, zuverlässigen Freundes auf dem nahen Gripinsee, seine Hütte war die nächste am Ufer; zu diesem wollte er ihn am Aaflüßchen hin, das sich in den Robanussee ergießt, selber begleiten; er sollte den Flüchtling noch in derselben Nacht über den See setzen; alle nur Hirten bekannten Wege, die von da durch Dick und Dünn nach Turik führten, waren dem Manne bekannt und Alpin durfte vertrauen, daß der längst Bewährte, durch manche Dienste und Gegendienste verbundene sich gerne bereit finden werde, seinen Schützling auf diesen geheimen Pfaden sicher zum Ziele zu geleiten. Den Tag über mußte er den theuern Neugewonnenen leider allein lassen, man durfte ihn im Dorfe nicht vermissen, die Bezwingung des Wisents konnte nicht lang geheim bleiben, eine Fabel mußte []erfunden, dem wartenden, auf Kunde vom Ablauf des Zweikampfs höchlich gespannten Druiden mußte weiß gemacht werden, der Gegner sei nicht zu finden gewesen, dafür plötzlich der gefährlichere Feind erschienen und glücklich besiegt worden. Einen Schutz, der nicht zu verachten war, versprach inzwischen der starke, muthige Tyras und Abends hoffte er doch auf so lang wenigstens abkommen zu können, um dem Einsamen die nöthige Erfrischung zu bringen. Die Drei wandelten zur Höhle.

„Kannst du mir verzeihen?“ sagte Alpin.

„Du hast's ja,“ erwiderte Arthur, „mannhaft wieder gut gemacht, vor dem Druiden und dann im Walde. Bist bös gewesen, ja wohl, aber ich kenne die Eifersucht; hab's auch einmal durchgemacht und noch anders als du, hätte fast einen Mord auf meine Seele geladen.“ Ein Schatten lief über seine Züge; er fuhr fort: „Ich hab' in heißer Zeit erster Jugend ein bildschön Mädchen geliebt aus frommem Hause, meine Seele war wie ein Sturm, die Jungfrau schwur mir Lieb' und Treue und am Tag darauf find' ich sie in den Armen eines jungen Druiden, der eben von der Schule kam und jüngst geweiht war, ein hübsch, glatt Bürschchen mit gescheitelten Locken, fast einer Fee im Mondschein gleich. Und wie ich den Scheinheiligen einsam finde am Ufer des Sees, pack' ich ihn an der Brust und halt' ihm seine Sünde vor. []Der entgegnet frech, heuchlerisch und spitzfindig. Ich stoß' ihn in's Wasser, wie ich aber den Tropf zappeln sehe, spring' ich nach und zieh' ihn heraus. Das Mädel hat noch Manchen betrogen, ich aber hab' mich auf die Jagd geworfen, sie zu vergessen, und wie ich einmal auf einen Wolf laure, kommt mir der junge Pfaff in den Schuß, der eben zum heiligen Haine gieng. Ich hatte die Finger an Pfeil und Sehne und will schon drücken, erschrecke aber an mir und setze ab. Bin ein wilder Mensch gewesen, seither hab' ich mich besonnen und bin stiller. Du aber, Alpin, bist ein Narr gewesen, wir sind ja Vetter und Base; ist dir doch auch ein wenig recht geschehen, daß sie dich geplagt hat.“

„Und a schwarzbrauner Jager mit'm Gamsbart auf'm Hut,“ sagte halbsingend Alpin und deutete auf den Schmuck an Arthur's Mütze.

„Gefällt mir schon recht,“ scherzte Sigune, „aber du steckst jetzt einen Büschel von Wisentbart auf die deine.“

„Komm', Base,“ sagte Arthur, „gieb mir die Hand!“ er ergriff dazu Alpin's Rechte, legte ihnen die Hände zusammen und darüber seine eigene Rechte. Die Blicke des braven Paares weilten ruhig und still ineinander, kein Wort und kein Kuß wurde gewechselt. „Ich kann's jetzt schon sagen.“ fuhr Arthur fort; „es hätte meinen Vater gefreut, wenn ich das Bäschen heim []gebracht hätte, aber —“ Er nahm seine Erzählung wieder auf, als hätte er sie nicht unterbrochen gehabt: „Es träumte mir in der Nacht nach der Wolfsjagd, ich stehe wieder im Wald und ziele und wolle eben abschnellen auf den jungen Priester, da fühle ich meine Hand gehalten und sehe einen Glanz um mich und neben mir steht Taliesin, der Glanz geht von seiner Stirn aus und er spricht: ‚Diese soll nicht Pfeil niederstrecken, sondern neuer Taliesin.‘ Es kam dann das Erz zu uns und ich erfreute mich noch eine Zeit der Jagd mit den neuen Waffen, aber der Traum kehrte öfters wieder, Gedanken wie Blitze sind mir in manchen Stunden aufgestiegen, unser alter Götterglaube und Dienst wollte mir vorkommen glanzlos, zerbrechlich, matt, wie Bein und Stein gegen das gediegene glänzende Metall, das Jagen fieng an, mir zu entleiden — und nun auf der Reise — drüben in Turik — bei den Barden — es wurde heller und heller — schicken thut mich Niemand, als mein Vater zu Odgal, die Verwandten einmal wieder zu begrüßen und nach der Base zu schauen, aber jetzt, seitdem es mir so wetterleuchtet im Kopf und jetzt seit dem Feste da, wo der alte Wust mir wieder so gröblich vor Augen geplatzt ist, jetzt muß ich wandern, wandern, es läßt mir keine Ruhe, und dann — ja, ich spür's, mir schwant's, von diesen Tagen, von gestern, von heute an wird mein Leben — wenn ich's rette — eine Jagd werden — []eine Jagd — ich werde jagen, nach Menschen jagen und gejagt werden — und —, glaub' mir, Alpin, zur Liebe hab' ich keine Zeit mehr, auch wenn ich wollte.“ Die Worte blieben unerläutert und waren dem Sprecher vielleicht selbst nicht so klar, daß er die Erklärung dazu hätte geben können. Und nun war unter all' dem das übervolle Herz noch nicht dazu gelangt, die Hauptsache, den Dank auszusprechen. Es geschah erst, als man am Eingang der Höhle angelangt war. Nur erwarte der Leser keinen stürmischen Gefühlsauftritt. Daß auch Männer sich umarmen und küssen können, war den Pfahlbewohnern noch rein unbekannt; hätten sie sehen können, wie das betrieben wurde zu den Zeiten Vaters Gleim und wie noch heutiges Tags da und dort Männer sich abschmatzen: man darf wohl annehmen, sie hätten sich mit Scham und Schauer abgewendet. Arthur sagte einfach: „Ich danke dir, dem Feind, mein Leben!“ und begleitete die Worte mit einem Druck der Rechten, worüber unsereinem das Blut aus den Fingern spritzen würde und den nur eine Hand aushielt, die fähig war, einen Wisent mit einem Horndolchstoß niederzustrecken.

Die Höhle war tief und weit und enthielt Nebenhöhlen in sich, die aussahen, als hätte Menschenhand nachgeholfen, sie zu Wohnungsstätten herzustellen. Einzelne Thierknochen und Scherben lagen umher; es gieng eine alte Sage, dort hätten einst Menschen ge []wohnt. — „Langweilig wird's schon sein,“ sagte Alpin. Arthur sah an der hohen, dunkelgrauen Wölbung hinauf; „ich bin gern allein,“ versetzte er dann. „Da hast nun recht Zeit zum Brüten,“ meinte Alpin. Arthur nickte lächelnd und striech ihm mit der Hand über die blühende Wange. Eine dunkle Sorge kam über Alpin, als man sich trennte, obwohl es für ihn vorerst nicht auf lang war. Ungleich schwerer noch lag es auf Sigunen. Wer weiß, wann im Leben man sich wiedersehen wird? Ja wer weiß, ob? Es kamen ihr Thränen. „Gieb ihm einen Kuß,“ sagte Alpin. Sie reichte ihn, die gegenseitigen Lippen verweilten nicht heiß, aber innig in sanfter Berührung. Man trennte sich, der versöhnte Tyras sah wie fragend zu, als die Beiden hinweggiengen.

Arm um Hüfte, Arm um Schulter geschlungen, giengen Alpin und Sigune heimwärts durch den Fichtenwald bis an die Lichtung des Eichenhains. Jetzt erfuhr Alpin, wie die Dinge gekommen. Die Herausforderung war aus Blick und dunklem Wort leicht zu erschließen, Ort und Zeit blieben ihr verborgen. Was litt sie nun! Wie zerwühlte die Reue, die Liebe, die Todesangst, die Höllenqual des Schuldgefühls ihre Seele! Jetzt, jetzt fand sie Worte, und doch weit, weit nicht genug Worte für die Ewigkeit dieser fürchterlichen Stunde. Sie rennt im Dorf um, sie fragt Alt und Jung, ob Niemand Alpin und []Arthur habe hinausziehen sehen und in welcher Richtung; Niemand weiß Auskunft, zu Viele darf sie nicht fragen, denn sie muß Aufsehen vermeiden; da verbreitet sich die Kunde von der nahen Ankunft der Barden aus Turik; zwei Gemeindeälteste sind ihnen entgegengeritten, sie werden, vom Druiden feierlich empfangen, in den Freihof geleitet. Die Thüre dieses Gelasses wird kaum geöffnet, so stürzt Tyras heraus und fort über die Brücke an's Land. Sigune hat einen Führer gefunden! Das Schnobern nach der Spur seines Herrn hemmt die Schnelligkeit seines Laufes, Sigune kann ihm folgen und — das Uebrige wissen wir. Sie standen am Waldsaum, als sie ihre Erzählung — nicht Erzählung, ihr in abgebrochenen Sätzen gestammeltes Bild vollendet hatte. Alpin schwieg, sie sahen sich lang in die Augen. „Darf ich bald vier Pfähle hauen?“ fragte Alpin. Sie drückte ihm die Hand, die in ihrer Rechten lag, erröthete, zupfte ihn mit der Linken an seinem Nackenhaar und entsprang.

Alpin, als er im Dorf ankam, wünschte sich Glück, daß aller Welt Aufmerksamkeit von den zwei berühmten Fremden hingenommen war. Der Druide, in dessen Haus ein Festmahl für die Ankömmlinge bereitet wurde, hatte keine Zeit, Alpin ausführlich zu verhören; es war also glücklicherweise nicht nöthig, die bereit gehaltene Nothlüge lang anzuspinnen. Urhixidur, die natürlich schnell erfragt hatte, was im Werke gewesen, []war unsichtbar, ganz, wiewohl ungern, Köchin für das große Bewirthungswerk, und den Leuten der Gemeinde gegenüber durfte Alpin doch wenigstens nur ein Stück der Thatsache weglassen, brauchte kaum eigentlich zu lügen. So völlig hatte man nun allerdings nicht bloß für die Barden Sinn und Ohr, daß man nicht mächtig aufgeschaut hätte bei der Kunde von der Erlegung des gefährlichen Wilds und daß sie nicht wie ein Lauffeuer sich verbreitete. Zwar der Genickstich war keine unbekannte Tödtungsart, zufällige Erfahrung ersetzte die anatomische Kenntniß, aber man wußte nicht anders, als daß so gewaltige Thiere wie Ur und Wisent erst in Gruben gefangen, mit Stricken geknebelt sein müßten, ehe an der Stelle der langsamen Vernichtung ihres zähen Lebens durch Axtschläge und Speerstiche diese rasche Abschneidung seines Fadens durch eine ungewöhnlich starke Faust mit Nachhülfe eines Schlegels zum Eintreiben des Horndolchs versucht werden könnte. Alpin wurde angestaunt; „da haben wir ja zum Voraus den Schützenkönig für morgen, so trifft doch Keiner in's Schwarze!“ hieß es, denn der Morgen des ersehnten hohen Freudentags war dem jährlichen Schützenfeste bestimmt. Für Sigunen aber war der allgemeine Jubel kein kleiner Zuwachs zu dem innern, mit Angst um Arthur wunderbar verwobenen Jubel ihrer Seele; wohl kein Jäger, aber doch ein von der ganzen Ge []meinde bewunderter Jagdheld! Und wir heiter glänzten Vater Odgal's Augen! Sigune wußte schon lang, daß er nichts gegen die vier Pfähle hätte, aber nun: ein Wisenttödter zum Eidam! Er rühmte sich, einmal einen Wels mit seinem Flinsspeer gespießt zu haben, einen hundertpfündigen! Zwei stolze Mannen! Für die Gemeinde aber erstand noch ein Hebel zur Mehrung der allgemeinen Freude nicht sowohl aus der Seele, als aus dem Magen: ein seltener Festbraten für morgen! Man machte Anstalten, das Wild zu holen; Alpin beeilte sich, sie zu leiten, damit ja Niemand nach Arthur's Zufluchtsstätte sich verlaufe; im Walde wurde schnell eine Tragbahre aus jungen Stämmen gefügt, die man mit starken Wiedschlingen verband, und nicht weniger als zwölf starke Männer schleppten laut jauchzend die Last des Thieres hinüber in's Pfahldorf. Mit Augen, die von Stolz und Freude leuchteten, stand Vater Ullin an der Brücke, als man die seltene Beute herauftrug. Das war nicht der kleinste Gewinn, daß Alpin jetzt aus diesen Blicken lesen durfte, der Papa werde ihn künftig mit seinen Feuerstein-, Fadenund Buchsmaserschnitzfabrik-Ideen in Ruhe lassen.

Wir werden morgen einem größeren Schmause zusehen, als dem, welcher heute die zwei Barden mit den Gemeindeältesten im Hause des Druiden vereinigt, der es — mit wenig Lust — ehrenhalber hat übernehmen müssen, sie zu bewirthen; wir wollen uns []daher nicht dabei aufhalten, wollen die Reisemüden ruhig ihrem Nachtischschlummer überlassen, noch einige weitere Stunden überspringen und uns am Abend nach dem Dolmen begeben, wo bereits die Gemeinde versammelt ist und dem Priester zu beiden Seiten die Barden sitzen. Blaue Talare sind ihr stattliches Festkleid, ihre Häupter unbedeckt, mit Eichenkränzen geschmückt. Die Pfahlbürger sind bewaffnet; das war, ausgenommen die heilige Betuchungsfeier, unzertrennlich von der Festtracht bei allen Volksversammlungen. Der lange Bogen von Eibenholz hieng über die Schulter, der Köcher über den Rücken, der Horndolch stack im Gürtel, nur der Speer, die schwere Steinaxt war zu Hause geblieben. Die Frauen und Töchter waren nicht zu sehen. Zwar verbot keine hergebrachte Sitte ihre Zulassung, das Weib war nur von der politischen Versammlung, der Landsgemeinde, ausgeschlossen; allein das schöne Geschlecht hatte damals noch wenig Lust, belehrende, bildende Vorträge anzuhören, mit rührender Offenherzigkeit wurde vielmehr gestanden, man finde dergleichen langweilig.

Nachdem Stille geboten war, erfolgte nun durch Angus die feierliche Vorstellung der Barden bei der Gemeinde und an den Seanacha Feridun Kallar die Einladung, seinen Vortrag zu beginnen. Er schlug den Vortritt aus. „Nicht ich,“ sprach der freundliche Mann, „der Sänger sei gebeten, voranzugehen! Es ist []billig, daß die helle, jugendliche Dichtung den Reigen führe, daß sie in den Seelen den schönen Stimmungsgrund für die ernsten Wahrheiten lege, welche die Wissenschaft vorzutragen hat.“ Nach kurzem Widerstreben gegen die Ehre, die ihm der ältere Freund erwies, trat ein jugendlicher Mann vor und bestieg die Kanzel. Sie war vor dem Dolmen errichtet, ihre Brüstung mit Tannenreisern geschmückt, darin war eine Oeffnung gelassen für eine Harfe. Ein Diener trug das hochgebaute Instrument, die Telyn, hinauf und stellte sie zurecht. Mit feierlicher Verbeugung, die Hand auf die Brust gelegt, begrüßte der Dichter die Versammlung. Erwartungsvolles Flüstern gieng durch die Reihen. „Groß ist er nicht,“ sagte Bürger Porrex zum Nachbar Ferrex. „Aber sieh', was für ein edles Haupt,“ erwiderte dieser und hatte Recht, denn unter der klaren Stirne wölbten sich in feinem Bogen die Brauen über den lichtvollen dunklen Augen, die Adlernase deutete auf Feuer und Schwung, und auf die süße Gabe des rhythmischen Wortes die wohlgeformten, nur leicht geschlossenen Lippen. „Und wie schön er den Kopf trägt,“ ergänzte Bürger Liwarch die beiden Andern, denn ungesucht stolz aufrecht stand das bärtige Haupt auf dem schwungvoll gezeichneten Halse. Der Mond war jetzt über dem See aufgegangen und warf seinen ersten, noch matten Schein auf den Filea, den Sänger-Barden, Guffrud Kullur. Er griff einige []einleitende Töne auf der Harfe und begann seinen Vortrag. Seine Dichtung war auf eine uralte Melodie gesetzt, die nur den Aelteren in den Gemeinden noch geläufig war; im musikalischen Geschmack war seit einiger Zeit eine Wandlung eingetreten, man liebte bewegtere Weisen, doch bedurfte der Sinn für den Werth der alten ernsten Gangart nur einer Weckung und der Barde war der Mann, solche in's Werk zu setzen:

„Sehe dich im Dunkeln leuchten,
Sehe dich im grauen, feuchten
Nebel sanft und stille brüten,
Samen alles Werdens hüten:
Willkommen, Auge du der Nacht,
Die auf den Wassern träumend liegt,
Gegrüßt im Kranz der Sternenpracht,
Die spielend sich im Weltraum wiegt!
Weiße Schleier seh' ich wehen,
Lispeln hör' ich heil'ge Feen,
Tauchen auf und tauchen nieder,
Singen dunkle, alte Lieder:
Sie wissen, was da ist und war,
Eh' noch ein Menschenkind gelebt,
Dem Geisterblick ist offenbar,
Was werdend in den Nebeln schwebt.
Urgebirge seh' ich ragen,
Aus der Schöpfung ersten Tagen,
Felsenkämme breit geschichtet,
Hörner himmelan gerichtet:
[]
Das schimmert von der Ferne her
Tiefschweigend wie ein Nachtgebet,
Dahinter höre ich das Meer
Im Geist und wie die Brandung geht.“

Hier griff der Sänger gewaltig in die Saiten denen er bis dahin am Schlusse der Strophen nur leise, zitternde Akkorde entlockt hatte; eine stürmische Tonflut brauste durch die stille Nacht und durch die erschütterten Seelen der Zuhörer, die noch tiefer schwiegen, als der kaum bewegte Spiegel des Sees im Strahle des Mondes. Der Barde ließ die mächtigen Laute noch fortrollen, während er die nächste Zeile sang, dann gieng er wieder in die zart gegriffenen Töne über, denen er Pausen ließ, um noch hörbar unter dem gleich sanften Plätschern der Wellen im Röhricht und dem leisen Rauschen des nahen Haines zu verschweben und zu verhauchen:

„Brausen hör' ich's allerwegen
Einem neuen Tag entgegen,
Durch die weiten Geisterbahnen
Geht ein Träumen, geht ein Ahnen.
Wir sinnen, wo in weiter Welt
Die Thore wohl geöffnet sind
Und wann wohl seinen Einzug hält
Das längst ersehnte Heldenkind.
Brüte, Nebel, wärme, brüte
Dunkler Keime Wunderblüte!
[]
Einst gelangt die Welt zum Worte
In der Göttin keuschem Horte:
Schon weicht der letzte, leise Spott
Und Zweifel aus des Herzens Grund;
Es ist, als thät' der alte Gott
Mir endlich seinen Namen kund.“

Es folgte eine lange Pause allgemeiner Stille, nachdem die letzten Töne der Harfe fernhin verzittert waren. Dann begann ein Flüstern und man hörte aus demselben da und dort ein tief aus der Brust geholtes: „O!“, das nicht nach Schmerzlaut klang oder, wenn nach einem solchen, dann war es der Seufzer, der sich der Brust entringt, wenn sie in ihren Tiefen von Sehnsucht und Ahnung erregt ist. Dagegen auf einer Seite des Halbkreises begannen andere Töne hörbar zu werden, Laute von jener Gattung, die man ein Munkeln nennt. Diese Töne mehrten sich, wuchsen, man bemerkte dann eine Bewegung unter den Leuten, man sah, wie sie, auf den Druiden weisend, einander anstießen, hierauf sammelten sich Einige um ihn und das Ergebniß war, daß er die Rednerbühne bestieg.

Der Hymnus war eigentlich der Gemeinde zur Entscheidung darüber vorgelegt, ob er ihr gefalle und sie ihn am Feste gern singen möge. Daß der Druide sie als ihr Sprecher vertrat, war nur natürlich, dagegen immerhin etwas vom Zaun gebrochen, daß er nun die Stimmen der Bürger, die ihn da umstanden, []nur so ohne Weiteres für den Ausdruck der Meinung Aller nahm, wiewohl übrigens streng parlamentarische Formen der Abstimmung allerdings noch nicht im Gebrauche waren; kurz, der ziemlich parteiische Obmann betrat nun die Kanzel und sprach:

„Hochgeachtete Gäste, insbesondere hochgeachteter Herr Bardensänger! Ich weiß, daß ich im Sinne der ganzen Gemeinde spreche, wenn ich erkläre, daß sie in Eurem Festgedichte ein Erzeugniß sowohl der religiösen Gefühlsbegeisterung, als auch der tiefen poetischen Stimmung begrüßt, im Inhalt höchst bedeutend, in der Form fließend, korrekt, meisterhaft. Nur ganz unmaßgeblich, weit entfernt von aller Absicht, diese Blüte der Dichterphantasie irgend verkleinern zu wollen, möchte ich mir einige bescheidene kritische Bemerkungen erlauben. Dürfte es nicht vielleicht denkbar sein, daß ein Festgesang als Hymnus mehr ausdrückliche verherrlichende Anrede an die Gottheit, zugleich auch und eben im Zusammenhang damit mehr eigentlichen religiösen Glaubensgehalt in sich schlöße? Nicht als Dichter darf ich mich für befugt erachten, diese leisen Ausstellungen vorzubringen, ich rühme mich nicht, mit der Gabe der Poesie gesegnet zu sein; jedennoch sind in diesen Tagen weihevoller vorfestlicher Stimmung Augenblicke für mich gekommen, wo es mir war, als fühle ich ein Wehen von oben, vom Gestirn Selinur, und wieder ein Wehen von den Wassern her, und vernehme eine Stimme, die []da rief: ‚Wage es, mein Knecht Angus, dichte, dichte mir ein hohes Lied auf's Fest!‘ — Ich habe gehorcht, ich habe es versucht. Ich bin bereit, die Frucht dieser schüchternen, doch innigen und muthigen Beflissenheit dem Urtheil der Gemeinde zu unterbreiten, nicht als gehässiger Nebenbuhler des geistvollen Barden, den ich verehre, sondern in der Meinung, es dürften vielleicht zwei Festgedichte in lieblicher Eintracht nebeneinander bestehen können und es wäre nicht unpassend, das eine zum Beginn, das andere zum Schluß der heiligen Handlung des Opfers zu singen.“

Barde Kullur sprang sogleich, als Angus herabgestiegen, auf die Bühne und betheuerte in ganz heiterem Tone, daß er gern bereit sei, ganz zurückzutreten, er sei durchdrungen von der Ueberzeugung, daß ein Druide besser wissen müsse, was in einem geistlichen Festliede zu sagen sei, als ein Laie, ein Barde; auch glaube er im Sinne der ganzen achtbaren Versammlung zu handeln, wenn er ihn ergebenst und dringlich bitte, das Erzeugniß seiner Inspiration nicht länger den gespannt Harrenden vorzuenthalten, sondern unverweilt vorzutragen.

Jetzt stieg wieder der Druide empor und versicherte, das lasse einestheils seine Bescheidenheit nicht zu, daß er mit seinem schlichten Werke sich so unmittelbar neben den berühmten Dichter dränge, und anderntheils bedürfe es zum Vortrag noch einiger []Vorbereitung. Im Bewußtsein nämlich, daß man in gegenwärtiger Zeit an der Poesie einen gewissen träumerischen Charakter liebe — (er sandte bei diesen Worten dem Barden einen Blick zu, Kullur bemerkte ihn und lächelte leicht) — und im Bewußtsein, daß sein Produkt dagegen durch einen gewissen deutlichen, mehr nur verständigen, weil dogmatisch klaren Charakter in seiner Wirkung verlieren könnte, habe er für gut erachtet, diesen Mangel durch eine größere Fülle musikalischen Schmuckes zu ersetzen; in der That, er lege fast mehr Werth auf diese Begleitung, als den Text, indem er — hierin vielleicht fast unbescheiden — sich schmeichle, durch seine Komposition möglicherweise eine neue Aera in der Musik hervorzurufen. Die Exekution sei aber nicht leicht, fordere noch weitere Einübung, und es sei jedenfalls noch eine Generalprobe vorzunehmen.

Niemand widersprach und so blieb denn dieser Genuß vorbehalten. Angus stellte jetzt den älteren der zwei Ehrengäste, Feridun Kallar, den Versammelten vor und bat ihn, die Kanzel zu besteigen.

Ernst und doch freundlich ließ der Mann, wie er nun oben stand, die Augen auf der harrenden Gemeinde verweilen, ein mildes Lächeln spielte um seine Mundwinkel, die hohe, von krausen grauen Locken umgebene Stirne verkündigte einen Mann des Sinnens und Forschens, die etwas gelbliche Gesichtsfarbe störte []nicht im mindesten den Ausdruck von Güte und feiner Laune, der auf diesen Zügen lag, sondern ließ nur schließen, daß anhaltende Geistesarbeit die Verrichtung der Leber etwas beeinträchtigt haben dürfte.

Er begann: „Hochwürdiger Herr Druide! Hochachtbare Gemeindeältesten, achtbare und ehrsame Mannen! Pfahlbürger! Pfahlkerle! Pfahlekarlier! (Bravo!) Ihr habt mir die Ehre erwiesen, mich zu einem Vortrag über die merkwürdigen Fünde einzuladen, die euer Seegrund zu Tage gefördert hat. Glücklicherweise bin ich nun in der Lage, euch melden zu können, daß an unserem See, nur ein paar Stunden von Turik entfernt, gerade dieselbe Entdeckung gemacht worden ist; nämlich an der Stelle, wo jetzt die ehrenwerthe Gemeinde Milun auf ihren Pfählen wohnt, legte die große Dürre einen Theil des Grundes trocken, man sah uralte schwarze Stümpfe hervorragen, Kinder fanden Scherben von Töpfen, brachten sie nach Hause, die Alten wurden aufmerksam auf die rohe Form, die arme und ungeschickte Art der Verzierung — es waren, wie ihr es hier gefunden, bloße Reihen von Eindrücken mit Fingernägeln während man jetzt doch einige feinere Linien, ein Zickzackornament einritzt oder aufmalt —, ebenso auf den zerbrechlichen Thon, der nicht mit feinem Staub aus hartem Gestein verdichtet war, wie man es jetzt thut: man grub weiter, fand in Milun wie in Robanus Knochen von unbekannten ungeheuren []Thieren, insbesondere einen Stoßzahn von einem fürchterlichen Geschöpf, das wie ein trampelnder Berg ausgesehen haben muß; Enden vom Geweih des Riesenhirsches Schelch, Wirbel und Schenkelknochen des Ur fehlten so wenig, daß man leicht sah, die beiden gewaltigen Thiere müssen damals weniger selten gewesen sein als jetzt, wo man ihre Gehörne und Köpfe, bringt einmal das Glück die rare Beute, an die Rathhausthüre nagelt, wie man das in Turik thut und ich heut auch hierorts gesehen habe. Die menschliche Kunst, — das konnte man leichtlich schließen, — muß damals noch weit zurück gewesen sein; wir haben jetzt angefangen, unsere Flinswaffen glatt zu schleifen; deren fanden sich nur roh gespaltene; man entdeckte keine Spur von Weberei, die Leute von damals werden wohl nur das Gerben verstanden haben, also in lauter Pelz und Leder dahergestiegen sein, und da das Zeug im Sommer doch arg heiß gibt, so mußten sie entweder sehr schwitzen oder sie giengen um diese Jahreszeit eben fast nur so um, wie Selinur den Menschen erschaffen hat. Doch ohne Putz müssen sie nicht gewesen sein, denn von jenem Röthel, womit sich jetzt nur noch wenige alte Leute das Gesicht malen —“ (Gelächter — man hört leiser, dann lauter den Namen Urhixidur nennen — Angus blickt finster) — „von jenem Röthel hat man auch dort gar viele Stückchen entdeckt. Und das läßt schließen, daß es an []allerlei anderem Schmuck, wie Federn auf dem Kopf, buntem Pelzbesatz an Kleidern und Mützen nicht werde gefehlt haben. Nähen und ein bischen Steppen und Sticken konnte man schon, aber man sieht aus den Stichen, daß die Nadeln, die wir jetzt aus Vogel- und Mausbeinchen, aus Fischgräten so fein herzustellen und handzuhaben wissen, noch sehr grob gewesen sein müssen. Auch Halsschnurkugeln und Wirtel aus Thon hat man gefunden, sogar mit eingeritzten, freilich sehr uranfänglichen Verzierungen. Man hat keine Wagenreste entdeckt, sie werden nur grobe Schlitten zum Lastführen gebraucht haben; daß aber keine Trümmer von Pflügen vorkamen, das kann nicht beweisen, daß jene unsere Ahnen kein Getraide bauten, kein Brod aßen, das wißt ihr, denn auch bei euch hat man ja die groben Pumpernickel gefunden, wie dort. Und endlich führte man im alten Milun kein so armseliges Leben, daß es nicht so gut wie im alten Robanus schon Schnitzli gegeben hätte. (Heiterkeit.)

„Nun aber, hochwürdige, hochachtbare und achtbare Zuhörer, ist das eigentlich kein so gar besonderer, sondern ein ganz einfacher Fall und hättet ihr keines auswärtigen Gelehrten bedurft, ihn euch zu erklären, wenn sonst nichts dabei wäre. Ich kann euch weiter nichts Neues sagen, als daß wir in Turik durch unsere vergleichenden Knochenmessungen herausgebracht haben, die Hausthiere: Rind, Ziege, Schwein, Hund, müssen []dazumal dieselben gewesen sein wie jetzt. Es haben eben vor uns Menschen mit allerhand Gethier wie wir auch zusammengelebt, Menschen, die aber nicht so weit waren wie wir; daran ist ja nichts Wunderbares. Wie lang es her ist, wer weiß es? So eine Seeschlammschichte von drei, vier und mehr Fuß Dicke, die braucht schrecklich lang, bis sie fertig ist. Viel Hunderte von Jahren kann's her sein, daß das alte Pfahldorf tief unter dem jetzigen über dem damaligen Seespiegel stand. Es muß verbrannt sein, vielleicht durch Zufall, vielleicht durch Feindeshand. Still flutete dann der See darüber und ungezählte Zeitläufe lang schien die flammende Sonne und der sanfte Mond auf seine Wasser, und still war Alles und stumm und öde, während in der Tiefe langsam, langsam eine dünne Lage Schlammes um die andere sich ansetzte und tiefer und tiefer die Zeugen eines untergegangenen Lebens begrub. Da kamen einmal Leute, die suchten sich — wir wissen nicht warum: vielleicht war denen auch irgendwo ihr Pfahldorf abgebrannt — suchten sich einen stillen, guten, fischreichen Platz zum Wohnen, und wählten die Stelle von Milun und wußten nicht, was da unten begraben sei, und schlugen Pfähle und vermehrten Jahr um Jahr ihre Familien und Häuser, und gaben sich Mühe, ihre Geräthe, Waffen, Kleider immer besser und feiner, ihre Speisen immer schmackhafter zu bereiten, und lernten auch von Mannen aus []andern Städten und Dörfern, mit denen sie im Verkehr waren, und so ist es hier in Robanus auch gegangen und in Turik selbst wohl auch und anderwärts auch, und so sind wir nun miteinander auf der Höhe der Bildung angekommen, auf der wir stehen.

„Nun aber hier kommt der Punkt. Die Sache ist eben nicht wichtig, aber das ist wichtig, was sie zu denken gibt, und hievon zu reden ist nun freilich der Mühe werth und will ich's versuchen, so gut ich kann.

„Auf der Höhe der Bildung, habe ich gesagt. Ja, wir glauben, darauf zu stehen, ihr glaubt's auch, nicht wahr? So recht auf der Spitze, dem Giebel, Gipfel, Wipfel der Bildung, und lächelt über die Geschlechter, deren arme Ueberbleibsel wir nun zu Gesicht bekommen haben?

„Seid versichert: genau dasselbe glaubten jene Geschlechter auch und sie standen auch auf dem Gipfel, denn die Höhe, worauf sie standen, war für sie Gipfel. (Stimmen: ‚Oho!')

„Ihr stutzt. Jetzt wartet, jetzt wollen wir einmal vorwärts schauen! Vor kurzer Zeit haben wir unsere Webstühle ungleich kunstreicher als früher gebildet, wir weben die schönen gemusterten Stoffe. Feiner schleifen wir den Flinsstein für unsere Aexte, Speer- und Pfeilspitzen. Noch viel Wichtigeres hat sich ereignet. Wir haben durch Austausch und Verkehr mit den Seen der Nachbarstämme vor Kurzem den neuen Stoff, das []Erz, kennen gelernt, von dem ihr seit gestern erst wißt, da Odgal's Vetter Sachen davon hergebracht hat. Es wird nicht mehr lang anstehen, so wird man alles Geräthe, Schmuck, Waffen daraus bilden. Ein anderes, ganz absonderliches Ding hat euch wohl der Gast auch schon gezeigt: die kleinen Erzstückchen, die künftig im Handel und Wandel für Tauschwaare gelten sollen. (Lachen rechts und im Centrum, Stimmen: ‚Lumpenzeug! Windige Bröcklein!')

„Man lacht; aber ich bitte: möchtet ihr nicht die Güte haben, darüber nachzudenken, welche Umständlichkeiten euch dadurch erspart werden? Stier, Ochs, Kuh, Kalb dahertreiben, um so und so viel Getraide, gegerbte Häute, Waffen dafür zu bekommen; geht's nicht kürzer und leichter mit Stückchen Erz, deren Einer leicht ein paar Hundert im Rucksack trägt? (Stimmen: ‚Thür und Thor für Betrug! Werden leicht nachmachen sein!‘) Ei, habt ihr nicht gesehen, daß man den Stückchen sehr künstliche Stempel gibt, die nicht leicht Jemand nachmacht? Und noch dient zu wissen: die fremden Männer haben geheimnißvoll herumgeflüstert, daß sie noch ganz andere Wunderdinge bald bringen werden: Tauschstücke aus einem weiß und aus einem hochgelb glänzenden Körper, der aus den Tiefen der Erde gegraben wird, aber so selten, daß ein Stückchen davon, in Form gebracht, wirklich ganz wohl so viel Werth hat, als ein Hammel, eine Kuh, die man dagegen []eintauscht. — Nun, ich sehe wohl, daß euch das Ding noch zu fremd ist, überlassen wir's der Zukunft, aber noch etwas Anderes laßt mich erwähnen. Denkt! schon haben die wandernden Männer von jenseits der Alpen, die uns das Erz gebracht und gezeigt haben, wie man es aus Kupfer und Zinn bereitet, uns erzählt, man sei auf einen andern, noch bessern Stoff gekommen, der sich fertig in den Bergen finde, nur mit allerhand Erde vermischt, so daß er durch Feuer aus diesen Zusätzen herausgeschieden werden müsse; der gebe, wenn man ihn tüchtig schmiede, Waffen und Geräthe, die noch weniger leicht brechen als die von Erz, er sei zäher und lasse sich doch auf's Aeußerste härten. Er sehe nicht so schön gelb aus, nur schlicht grau, blinke aber doch, wenn er geglättet sei, in einem Glanze, daß man ihm seine Tugend wohl ansehe. Sein Name sei Eisen. Bereits haben auch die fremden Händler Sachen aus diesem Stoffe an den See Leman gebracht, deren einige zu uns herübergelangt sind. Ich hab' etwas hier.“

Er winkte seinem Freunde Kullur und dieser ließ ihm einen bereit gehaltenen Korb reichen. „Was meint ihr, daß das sei?“ rief er, indem er einen Gegenstand herauszog und emporhielt, dessen Gestalt den Zuhörern ein reines Räthsel war. Er trat an die nächste Eiche, stemmte ein Brettchen, das er aus dem Korbe nahm, gegen ihren Stamm, fieng an zu bohren, griff dann einen Nagel und eisernen Hammer heraus, nagelte []das durchbohrte Brett an den Baum und sprach, indem er das erstere Werkzeug wieder vorzeigend in die Höhe hielt: „Seht, meine lieben Pfahlemannen, das nennt man einen Bohrer; das ließe sich von Erz nicht so gut herstellen, es bräche zu leicht; das Uebrige, Nagel und Hammer, kennt ihr, ihr habt es bis jetzt von Holz und Horn gehabt, aber das da — was meint ihr? — das battet doch anders! Denkt nun, was man Alles wird machen, was Alles aneinander befestigen können, nachdem man diese Sachen hat! Mir ist unter Andrem der Gedanke gekommen, um wie viel haltbarer man die Wägen machen könnte, wenn man auf die Stirnseite der Räder, mit der sie am Boden laufen, ein Beschlag von derselben Masse, einen Reif nagelte; mit einem solchen Gestell könnte man doch wohl sicherer fahren, als mit unsern Rumpelkarren auf den wackligen, zusammengeflickten Rädern! Und also wie viel schneller! Da wird's gehen! Das wird hinsausen! Und so in tausend Dingen! Denkt euch nur zum Beispiel das Sägen! Stellt euch vor: Sägen von diesem hartzähen Stoff, richtig und scharf gezahnt! Braucht nicht jetzt ein Mann drei Wochen, bis er aus einem Stamm sechs Bretter gespalten hat? Das werden Leute sein, die das Alles erfinden, was sich aus dem Zeug noch machen läßt! In den Köpfen wird's aussehen! Und wenn's weiter und immer weiter getrieben wird, wenn's am Ende gar blitzschnell geht —“

[]

Er stockte und seine Augen starrten aufgerissen, glänzend in's Weite. Dann lächelte er, er schien sich durch einen Spaß aus der Wirrniß vorschwebender und doch unvollziehbarer Bilder befreien zu wollen. „Zeit,“ fuhr er fort, „Zeit — Zeit — o, das wird ein Geschlecht sein, da wird man meinen, noch Zeit herausbekommen zu müssen, wenn man von Robanus nach Turik fährt! — Ueberhaupt: Zeit! — Was ist Zeit? (Stimme: ‚Zeit ist eben Zeit!‘) — Nein! mir scheint: Zeit ist eigentlich — doch halt, daran kommen wir nachher noch einmal. Jetzt denkt euch erst, versetzt euch in die unglaublich schnellen, handund gedankenschnellen Menschen, die es dann geben wird, an all' die kunstreichen Sachen, die sie hervorbringen, treiben, haben werden, und fragt euch: wie müssen wir denen vorkommen, wenn unsere Städte und Dörfer einmal drunten im Seeschlamm liegen und sie ausgraben, was von unsern Sachen noch erhalten sein wird, und sinnen und grübeln und ungefähr herausbringen, wie es bei uns ausgesehen haben mag?“

Er schwieg. Es wurde eine lange Stille. Die Zuhörer sahen etwas verblüfft vor sich nieder.

„Grämt euch nicht viel darum! Braucht euch nicht zu schämen! Die Leute, die uns herausscharren: wir, unsere Geister werden sie nicht allzu gelb und grün beneiden! Ueberklug werden sie sein, diese späten Enkel, hastig, []unruhig, fahrig, immer eilig, immer gedrängt. Wie gemüthlich ist unser Abschiedsgruß, wenn Einer geht: Lassen's Zeit! Wie schrecklich ist das Pressiren, das Pressirtsein! So ein Mensch wird nichts mehr geruhig betrachten, bei nichts mehr mit stillem Sinnen verweilen! Sein Leben wird ein Jagen sein! Er wird raffen und raffen, um zu genießen! Was für Köche, was für Zuckerbäcker wird's dann geben! Und es wird den Menschen dann erst nichts recht schmecken, weil sie ja doch immer auf's Folgende spannen! Sie werden endlich nicht mehr raffen, um zu genießen, sondern um zu raffen! Es wird keine Gegenwart mehr für sie geben! Und wenn sie sich vormachen, sie haben eine Freud' am Mädel, so werden sie sich nur anlügen, denn auch da wird ihnen nichts genug sein! Und Schneider wird's geben! Denkt euch: die Kleider! Die Klunker! das Geflunker! O, die Kerle werden kleine Thürme auf den Kopf setzen, und wenn ihnen der runde Thurm nicht mehr gefällt, viereckige Schubladen! Die Weiber werden sich Haarhörner in die Höhe aufstappeln, wie drüben der Tödi, der Titlis und der Glärnisch mit Breneli's Gärtli. Und werden noch ganze getrocknete Vögel drauf setzen und Fuchsschwänze, Schinken und Hasenschlegel! Röcke werden sie tragen, bald weit wie das runde Haus unserer vornehmen Herren, bald so eng, daß sie gehen wie in Knieschellen, und am Ende gar noch ein Gebausch und Gerausch []auf den Hintern nesteln wie einen rasend gewordenen Hahnenschwanz, denn die Scham wird zum Grippo sein! (Stimmen: ‚O! O! Pfui!‘ Gelächter.) Aber halt! halt! Nun seht noch einmal, noch weiter vorwärts, und fragt euch, wenn dann diese Menschengeschlechter auch hinunter sein werden und noch viel Spätere graben ihre Trümmer aus (— wer weiß: vielleicht nicht mehr aus den Seen, denn es werden sich ja die Lebwesenschaaren so vermehren, daß da kein Platz mehr ist, und übrigens — übrigens — nein, lassen wir das!) — graben also die Künftigen ihre Trümmer aus und buchstabiren sich daraus zusammen, wie's wohl ausgesehen haben möge dazumal in der Menschenwelt: wie blind und dumm muß dann diese versunkene Zeit derjenigen erscheinen, welche sie an's Tageslicht zieht! Und zwar doppelt und dreifach, denn man kann sich doch wohl denken, daß diese ganz Späten wieder ernsthafter geworden sind und gern gründlich nachdenken. Wie und was Alles werden diese Menschen denken! Wer weiß, ob nicht tausend Dinge geradezu umgekehrt, wie wir sie uns vorstellen! Wer weiß, was bis dahin Alles erfunden ist, daß die Menschen leichter von einander lernen und mehr von der Ferne erfahren! O, ich hab' da schon öfters einen gar sonderbaren Einfall gehabt. Da droben, die großen Lichter am Himmel: sie müssen arg weit von uns weg sein, und da die entfernten Dinge kleiner scheinen als []sie sind, wie groß mögen sie sein! Und, ja — wie? Sind sie nicht vielleicht eigentlich etwas Dichtes, das durch die große Macht und Kunst der Gottheit ohne Stützen so im Freien schwebt? Und was meint ihr, wär's am End' nicht gar auch möglich, daß auf diesen großen, beleuchteten Kuchen auch eine Art Leute lebten? Und gar auch noch, da die Leute hier auf unserem Kuchen gar so viel Mittel erfunden haben werden, von einander und von der Ferne zu wissen und zu erfahren, — was meint ihr, wär's nicht gedenkbar, daß Die hier und Die dort — was weiß ich, wie und auf welchen Wegen! — auch von einander erführen und in eine Art Gemeinschaft mit einander träten! (Stimmen: ‚Verrückt! Er ist ein Narr!‘) Nicht verrückter, meine Lieben, als denen, deren Zeug ihr kürzlich ausgegraben, der erschienen wäre, der ihnen gesagt hätte, was wir jetzt Alles können! — Seht, meine theuren Mitheiden, und so geht's nun fort und fort und immer fort. Die Zeit und die Leute bleiben nie stehen und immer die Folgenden haben die Augen weiter offen und kommen ihnen die Vergangenen vor wie junge Katzen, die noch nicht sehen. Und so haben wir immer neue Gipfel der Bildung, und weil es immer neue gibt, so gibt es keinen. Dazu hab' ich aber noch etwas zu sagen. Es ist gar wohl möglich, daß vor vielen tausend Jahren da oder dort Geschlechter gelebt haben, die in allen Künsten schon so weit waren, als []man von jetzt an in vielen tausend Jahren sein wird, und daß all' ihr Reichthum und ihre Pracht und feinen Werke dann in Wildniß versunken sind, und daß über dem Schutt die Menschen wieder haben vorn anfangen müssen. Wär' es so gegangen, so hätten wir also einen Weg, auf dem die Wesen ziehen und wandern, der gienge nicht immer bergauf, sondern auch bergab und bergauf. Aber hin wie her, es ist eben ein Weg, eine Bahn, eine Bewegung!

„Und jetzt laßt mich auf die Zeit zurückkommen und noch einmal fragen: was ist die Zeit? Die Zeit geht weiter. Sie läuft immer, immer fort. Wir haben das Wort Zeit erfunden dafür, daß Alles immer wechselt. Wenn Alles immer wechselt, ist sich im Wechseln Alles gleich. Ist also eigentlich nur Eines, das immer wechselt. (Gähnen. Eine Stimme: ‚Er wird langweilig.‘ Eine andere: ‚Sehr unverständlich.‘) Ja, ja! habt Recht! Es ist mir eigentlich ebenfalls langweilig. (Er gähnt). Die Zeit ist eben langweilig. Darum sollte man in der Zeit aus der Zeit hinaus! Ich will mich verbessern. Es findet da etwas Eigenes statt, was mir natürlich eben auch sehr unverständlich ist. Denkt euch einen Zapfen, woran eine Schnur mit einem Steingewicht hängt. Treibt die Schnur, daß sie auf und ab schwingt, endlich in ganzem Kreise. Denkt euch nun, sie brauche nicht getrieben zu werden, sondern schwinge von selbst immer fort. Das ist die []Zeit oder sind die Dinge, deren steter Wechsel Zeit heißt. Auf und nieder, nieder und auf, links rechts, rechts links, hinum, herum, so heißt's fort und fort in Ewigkeit. Oder halt! Ich weiß ein deutlicheres Beispiel. Ihr habt doch schon euch selbst oder Einer dem Andern einen Finger an's Geäder dort am Handknöchel gelegt? Ihr wißt, da pickt, da schlägt etwas. (Bejahende Gebärden.) Wir sind nicht so dickfest, als wir meinen, nicht Fleisch und Bein durch und durch, es läuft etwas Flüssiges in uns um, das uns jeden Augenblick erst webt, flicht, strickt. Es ist sonderbar, man sollt's nicht glauben, wenn man so einen Handdruck bekommt, wie ich gestern vom Gwalchmai, daß ich meinte, meine Hand sei zwischen zwei Balken gequetscht. (Gelächter. Stimmen: ‚Ja, der kann's.‘) Nun gut, wieder zur Sache! Nun haben unsere Naturgelehrten in Turik herausgebracht, daß dieß das Blut sein muß, welches in immer gleich wiederkehrenden Stößen vom Herzen aus, das da liegt (er legte die Hand unter die linke Brust), nach den Adern gepumpt wird. Das ist nun eine viel künstlichere Sache, als die Schnur und der Zapfen, aber wir haben beidemal etwas, was sich bewegt, und etwas, von dem die Bewegung abhängt oder ausgeht. Gut. Nun wollen wir das Gleichniß anwenden und sagen: die Schnur mit dem Gewicht und das Blut in der Schlagader, das sind die Dinge der Welt und vorzüglich die []Menschen. Es paßt und paßt auch nicht. Die Wesen der Welt, die da leben und empfinden, sind doch keine bloße Schnur mit Gewicht, keine bloße Blutwelle, darum paßt das Gleichniß nicht. Aber sie hängen ab wie die Schnur vom Zapfen und die Blutwelle vom Herzen, darum paßt es. Sie hängen ab, weil sie sich das Leben ja nicht selbst geben und dem Tod nicht entrinnen, sie hängen ab von etwas, das mitten in der Bewegung, also in der Zeit fest bleibt, das zeitlos ist. Ihr seht, ich mühe mich ab, ein Bild zu finden. Unsere Urahnen haben sich auch drum abgemüht. Da schaut hinüber! (Er wandte sich und zeigte nach dem Menhir.) Da steht der Wagstein, ihr habt gestern wieder gesehen, wie er schwankt und sich dreht! Und so oft ein Sturm geht, seht ihr ihn schwanken, und kommt ein Wirbelwind, so bewegt er sich im Kreise. Und nie fällt er, immer kehrt er in seine sichere Ruhe zurück. Ihr wißt, in Turik stehen deren zwölf, und Männer, die weither gekommen vom fernen Lande, haben erzählt, sie haben die Menhir stehen sehen zu Hunderten und Aberhunderten in langen, mehrfachen Reihen. Was muß das eine Arbeit gewesen sein, auch nur Einen herzuschleppen und aufzustellen, als die Werkzeuge noch so arm waren, wie die Fünde im Seegrund erweisen! Und warum, wofür hat man sich so viel Mühe gegeben? Was haben denn jene Alten in grauer Vorzeit sich selbst und der Mitwelt und der []Nachwelt sagen wollen, als sie so in ihrem dunklen, ahnenden Wesen diese ungeheuern Blöcke heranwälzten und sie mit unendlichem Sinnen und Schweiß in einen rund gehöhlten Sattel oder überdieß auf eine Steinkugel in diesem Sattel so stellten, daß sie schwanken und kreisen und nicht stürzen? Nun, ich denke, das haben sie sagen wollen: die Welt schwanke, schwebe, kreise und es bleibe doch sicher und unentrückt in sich der Mittelpunkt, der sie trägt, das ewig Eine, das sie zusammenhält. Gewiß hätten sie's gern besser gezeigt und ein Gebild erfunden, das immer, jeden Augenblick sich bewegt, um sich selbst kreist, denn das thut ja die Welt, aber sie haben es eben gemacht, so gut sie konnten. Und predigen wollten sie damit: merk' dir's, o Mensch! Du bist ein Körnchen im Wagstein der Welt, du bist nichts ohne den Mittelpunkt, halt an ihm, denn er allein trägt dich, in ihm allein ist Ruhe, Grund und Halt. Wolle nicht etwas sein ohne ihn, lösest du dich ab, so verweht dich der Wind!

„Was folgt? Nun, es ist ja schon gesagt! Die feinsten unter den Körnchen im Gestein des kreisenden Felsblocks, im Gewichte, das am Zapfen schwebt, die zartesten Kügelchen in der Blutwelle, die das Weltherz treibt, die vorzüglichsten unter den Lebwesen, sie, die eine Seele haben und ihrer selbst inne werden, sollte denn nicht ihr Sinn dahin gehen, daß sie sich versenken in das, was zeitlos ist und sich selbst gleich und []außer dem sie nichts sind und ohne das sie versiegen, verwehen, hineinfallen in den Rachen der Alles verschlingenden Zeit? Aber wie Wenige thun es! Wie treiben es denn die Meisten? Sie hasten und hetzen dem vermeintlichen Gipfel zu, der doch keiner ist, weil viele Gipfel heißt: kein Gipfel, und vergessen das Eine, an oder aus dem sie schwingen, und das doch immer Eins und dasselbe bleibt. Es sollen ja freilich wohl immer neue Gipfel sein, mit andern Worten: der Mensch soll immer heller und gescheuter werden. Aber man kann hell und gescheut werden auf zweierlei Art. Man kann sinnen und sinnen, entdecken und entdecken, Neues auf Neues erfinden, Alles, nur um immer bequemer zu leben, mehr und feinere Lust zu haben. Das führt zu den Gipfeln, die ja doch immer wieder nur Niederungen sind. Die andere Art aber, die ist ein Sinnen, das geht nach dem Wesen der Dinge und tiefer und tiefer nach dem Einen in Allem, das nicht größer, nicht kleiner, nicht höher, nicht niedriger wird, sondern immer gleich es selbst ist. Und obwohl man es nie ganz erforscht, ihm nie ganz auf den Grund sieht, so kühlt doch dieß Sinnen und Forschen die Seele gar heilsam aus, nimmt ihr die falsche Hitze und durchwärmt sie dafür mit der Liebe zu dem Einen, und sie fängt an, auf das, was da wechselt in der Zeit, herabzusehen wie von einem hohen Berg. Oder mit andern Worten, da wird man selbst ein Menhir. []Ich glaube, daß in allen Zeiten Männer, die sich also begründet haben, dastehen wie die gewaltigen Wagsteine zwischen den kleinen Menschlein, die sich an ihrem Fuß herumtreiben, und daher wohl haben unsere Urahnen da und dort der beweglichen und doch unentwegten Wagsäulen so viele gesetzt, weil sie wünschten und hofften, daß es viele solche Männer gebe.

„Laßt mich auch ein Wörtlein vom Glück reden. Glück, denk' ich, ist nur, wenn man also feststeht und auf diese Weise hell und gescheut wird. Es ist ja nur aus Blindheit und Gleichgewichtsmangel und Lossprung vom Mittelpunkt, daß die Menschen Thoren werden und wilde Narren, und lügen, betrügen, stehlen, ehebrechen, rauben und morden, im Rausch, im Taumel leben, nach Glück haschen und das Elend erhaschen.

„Gute, brave Stein-, Bein-, Horn- und Holzgemüther! Wackere Seeseelen! Nehmt mir nicht übel, ihr solltet ein bischen weniger steinern, beinern, holzig und hornig sein! Der See macht noch nicht selig! Ihr solltet ein bischen mehr bohren, ich meine mit dem Bohrer, der da hoben ist. (Er deutete mit dem Bohrer, den er immer noch in der Hand hielt, nach der Stirn.) Ihr wollt zu wenig harte Brettchen bohren!

„Ich bitt' euch, wozu ist man denn eigentlich? Wozu braucht es denn eigentlich die Seinerei, die Existirerei? Als, damit Wesen seien, welche das Wesen wissen? Das Wesen wissen heißt dann auch das Rechte []wissen und thun. Es thut Niemand gut, der nicht nachdenkt; recht thun heißt, gemäß der Wahrheit handeln, nachdem man sie durch ordentliches Denken herausgebracht. Wer nicht nachdenkt, kommt herunter. Man findet aber die Wahrheit nicht im Schlaf, da muß man arg geschüttelt werden. Aller guten Dinge sind drei. Drei gute Dinge sind: strenge Erziehung, heilsame Stöße des Schicksals und Durst nach Wahrheit. Man darf wohl fröhlich sein; drei Dinge sind schön: ein wohlgethaner Mann, ein wohlgethan, hold Weib und der blaue, lichte Himmel. Drei Dinge sind schöner: Gesang, edle Sitten und gutes Gespräch. Drei Dinge sind die schönsten: Erkenntniß, Thätigkeit und selbstlose Liebe. Drei Dinge sind klein: ein Floh, ein Zwerg und der Mensch, der nicht sterben will den Tod des Ich. Drei Dinge sind häßlich: eine Kröte, die dumpfe Lust und die Angst vor dem Geistlicht.

„Und jetzt laßt mich ein Wörtlein sagen vom häßlichen Knirps Gwyon und von der Fee Coridwen.“

(Gelächter. Man hört Summen von mehreren Stimmen: — Gwyon, dieser kleine Tropf — dieses Zwergelein — Häsulein — Hündin schnell — im Nu ein Fisch — Otterthier — Finkenfalk — Waizenkorn — wird eine Henn', Coridwen, Coridwen —.)

„Weiß schon, daß ihr's gern singt, ihr Kindsköpfe! Ein Kindermärchen ist euch die heilige Ueberlieferung geworden, was sie will, habt ihr rein vergessen und []den Schluß des alten Liedes laßt ihr weg, oder wenn ihr ihn einmal singt, singt ihr ihn falsch, denn wo es heißt, daß Coridwen gebiert die Strahlenstirn, Taliesin, da singt ihr: verflucht, wer nicht an Taliesin glaubt. Selig, heißt es, selig, wer ihn versteht und glaubt!

„Wer ist denn der kleine Tropf, der häßliche Knirps Gwyon? Der Erdenmensch ist er. Was hat er verschmeckt, als er aus dem Zaubertopf naschte? Den Geist, denn im Topf war ein Brei aus Kräutern, die da geben das Schauen, das Durchschauen. Was ist das für eine Jagd und Hatz, die dann angeht, da ihn Coridwen verfolgt im Hasen als Hündin, im Fisch als Otter, im Finken als Falk, im Waizenkorn als Henne? Nun, was wird's besagen? Den Geist kriegt man nicht umsonst, der läßt sich nicht nur so schlecken, da muß man gejagt, geängstet, gebeutelt, getrillt, geworfelt werden, da muß man sich durch alle Formen durchwürgen, hat sich ja vor der ersten Geburt schon durchwürgen müssen als Has, Fisch und Fink, da muß man die Todesangst der Kreatur nicht viermal, nein viermillionenmal schmecken, da muß man endlich gar verschluckt werden und, wie das Samenkorn abstirbt im Erdschoß, um Aehre zu werden, absterben dem ersten, frischen, lustigen, bunten Leben, um aufzustehen als Taliesin, als Strahlenstirn, als Geistmensch und so im Leben das zweite Leben zu leben. Wer wird denn die Fee Coridwen eigentlich []sein? Die Erdmutter ist sie, die aber gescheuter ist als ihre Kinder, die da weiß, wo es hinaus will und soll mit den Erdwesen, die sie darum mit Plagen und Jagen durch und durch schüttelt und dann gar verzehrt und neu gebiert als Lichtwesen in der strahlenden Schönheit der Geistgestalt. Strahlenstirn hat ja freilich wohl gestiftet den Druidenorden, das ist ihm aber nicht eingefallen, daß er irgend Jemand zu blindem Ansehen verhelfe, sondern er hat ihn gestiftet, daß er euch zur Vernunft befreie, indem er euch die wahre Bedeutung des Ackerbaus zu bedenken anhält. Da ist nemlich noch etwas hinter dem Waizenkorn. Taliesin hat auch den Ackerbau erfunden und eingeführt und damit hat er Gesetz und Ordnung gegründet. Denn ihr seht doch ein, daß ihr noch Wilde wäret, wenn ihr keine Aecker hättet, darauf ihr Getreide pflanzt. Ehe der Mann seinen Acker hatte, konnte er nichts recht sein eigen nennen und war ein ewiges Prügeln und Morden um die Früchte des Baumes und die Beute der Jagd; wie aber die Menschen anfiengen, den Boden zu bauen, ein Stück Feld zu umgrenzen, da fieng das Eigenthum an und mußte Gesetz und Recht geschaffen werden, es zu schützen. Nun aber seht, wie das wieder zusammentrifft mit dem, was ich vorher gesagt vom Ersterben und Neuerstehen. Denn erst seit es auf Grund des Eigenthums Gesetz und Ordnung gibt, hat es auch andere feinere Dinge []können geben, als da sind die Runen und die edle Dicht- und Tonkunst und das Nachdenken und Lehren über das Wesen der Dinge. Wie das Waizenkorn aus dem Boden vorsproßt und als Aehre in Luft und Licht hinaufsteigt, so ist aus dem Ackerbau emporgekeimt all' die gute Erfindung und Anstalt, dem Menschen aufzuhelfen, daß er als Gwyon ersterbe und aufstehe als Strahlenstirn. Das Alles hat Taliesin gestiftet und mit dem Allem will er euch gescheut und gut machen. Er meint's wohl und freundlich und hat Niemand mit Fluch bedroht, als die, welche sich selbst verfluchen, weil sie Holzköpfe und steinhart und horndumm bleiben wollen, und wahnsinnig, schändlich und scheuslich ist es, zu glauben, er halte die Menschen an, den schrecklichen Gott der Kriegswuth und Pfnüsselverstörung zu ehren mit Menschenopfern, und nun sagt einmal, ihr Pfahlmanen, ihr Pfählmannen, die ihr Ketzer und Kriegsgefangene pfählt, kreuzigt, metzget, lebendig verbrennt, wo steht ihr, auf welcher Höhe befindet ihr euch, daß ihr glaubt herabzusehen auf die Ahnen, deren Reste ihr ausgegraben und bei denen vielleicht, wie roh sie auch waren, doch die grause Sitte der Menschenopfer noch nicht aufgekommen war? Ist das der Spitzgipfel, Gipfelspitz, Giebel, Zwiebel und Gipfel eurer Aufklärung?“

Er konnte nicht enden. Der Druide war schon an jener Stelle sehr unruhig geworden, wo der Roth []stein als Gesichtsfärbemittel erwähnt wurde und das Geflüster der Zuhörer die Sylben des Namens seiner guten Haushälterin an sein Ohr trug. Dann als von möglichen künftigen Hüten thurmartiger Gestalt die Rede wurde, glaubte er eine Anspielung auf seine Zipfelpelzmütze, dieß Hauptstück seiner Festamtstracht entnehmen zu müssen und am unfreiwilligen Schlusse das Wortspiel mit Gipfel der Aufklärung schien ihm diesen Verdacht nur ganz zu bestätigen. Es bedurfte freilich nicht erst dieser persönlichen Stiche, die er mit Unrecht zu erleiden glaubte, sie verschärften nur die Empörung, die jeder Theil des Inhalts in ihm anfachen mußte. Immer unruhiger rückte er auf seinem Ehrenstuhl hin und her und endlich das Wort von den Menschenopfern schlug dem Faß den Boden aus, er fuhr auf, Kallar sah ihn nach der Rednerbühne herstürzen und sagte ruhig: „Ich bin eigentlich fertig und trete dem würdigen Oberhirten meinen Platz ab“; so stieg er herunter und Angus stürmte hinauf.

Er nahm sich zusammen, setzte sich in Rednerpositur und stellte das linke Bein vorwärts, daß der Fuß in der Oeffnung hervorsah, die für Kullur's Harfe in der Brüstung gelassen war. Auf dem Schuh war ein Druidenfuß so zierlich, als man es mit Fischgräte oder beinerner Nadel vermag, aus den weißen Kielfasern von Gänseflugfedern eingestickt, eine Kunstleistung Urhixidur's. Die Bauern sahen mit ehrfurchtvoller []Scheue nach dem heiligen Zierrat hin; er ließ ihnen Zeit dazu und begann dann mit merkbarem Willen, sich zu mäßigen! „Hochachtbarer Seanacha! Wir sind Euch edlem Gaste äußerst dankbar für die Aufklärung, die uns Eure Gelehrsamkeit über den merkwürdigen Fund hat zu Theil werden lassen. Nicht minder für einen Theil der tiefsinnigen Betrachtungen, die Ihr an Eure Aufschlüsse geknüpft habt. Ohne dem hochedeln Stande der Barden das Kleinste entziehen zu wollen von der Ehre, die seinem profunden Wissen gebührt, möchte ich nur rücksichtsvoll andeutend darauf hinweisen, daß das Volksgemüth aus einem andern Theil dieser Betrachtungen den scharfen, äzenden, Schwärung zeugenden Saft des Aergernisses, des höchst bedenklichen Anreizes ziehen könnte. Es wurde sich gegönnt (Kallar lächelte über die kostbare Wendung), die Vermuthung fallen zu lassen, daß künftige Menschengeschlechter nicht mehr auf den Seen wohnen würden; dieß ist aber ein Hauptstück unserer ehrwürdigen Religion. Der werthzuschätzende Vorredner hat ferner einige sehr neue Bemerkungen über die Gestirne vorgebracht; er hat dabei zwar jenes herrlichste aller Lichter, das wir sogar höher als die brennende Sonne verehren, — er hat jenes Lichtes nicht gedacht, worin selbst das blödeste Auge die sanften und vollen Züge des Angesichts der Weltmutter Selinur erkennt; aber sollte die Folgerung zu kühn sein, daß er sie nicht []ausnimmt von der — ich darf sagen: phantastischen und doch zugleich trivialen Vorstellung, daß die Himmelslichter eine Art von schwebenden Scheiben seien, auf welchen gar vielleicht menschenähnliche Wesen wohnen dürften? Da nun unsere altersheilige Sitte, auf Seen zu wohnen, und der Dienst der erhabensanften Selinur so unzertrennlich zusammenhängen, so erlaube ich mir die Frage: Was ergibt sich?“ Er wurde roth und röther, fieng an heftiger zu gestikuliren und schlug mit der Faust auf das Brüstungsbrett der Rednerbühne. „In den übrigen Lichtern verehren wir die Geisterschaar der Urmutter, der ganze Himmel ist entweiht, entgöttert! Die Altäre werden stürzen! Die Vorstellungen der Menschengeschlechter wechseln, hat es geheißen; so wird ja wohl auch die Grundvorstellung wechseln, es wird eine Zeit geben, wo unser heiliger Glaube, der bestanden hat, so lang die Welt besteht, nicht mehr besteht! Entsetzlich! Nichts ist mehr fest, Alles wankt und schwankt! Grauenhaft, eine Zeit zu denken, wo es keine Heiden mehr gibt! — Zeitlosigkeit? Ewigkeit? — Leeres Wortgetändel! Sich gleich bleibendes Eines, Zapfen mit Hängegewichtschnur, pochender Herzklumpen statt Götter? — Spitzfindige, unerbauliche Menhirdeutung! Gezwungene, bodenlose Sinnklauberei aus Coridwen's Zaubertopf und leichtfertige Dehnung des erhabenen Inhalts, der dem Geburtswunder Taliesin's innewohnt, armer Versuch, in ihm []etwas Anderes zu sehen, als den Gottmenschen, durch den unser heiliger Orden sein Ansehen an die Gottheit knüpft! Auch das ist höchst verdammliche Irrlehre, daß Coridwen die Erdmutter sei; denn dadurch wird sie ja an die Stelle der allwebenden Selinur gehoben. Sie ist nur eine der Feen der Weltmutter gewesen, allerdings von ihr gewürdigt, einen Strahl ihrer Schöpferkraft in sich zu tragen und dem Waizenkorn geheimnißvoll einzuverleiben. Sie ist öfters freundlich unter Menschen gewandelt; es leben noch Menschen, die durch Verwandtschaft mit dem von ihr geborenen Taliesin mit ihr selbst verwandt sind. Sie hat ihren Zaubertopf vererbt; diese Gemeinde weiß, wo er sich befand, er ist nicht mehr, Frevlerhand hat ihn zerschlagen. Alles wird zertrümmert, Menschliches vergöttert, die Gottheit gestürzt. Die alte Urnacht kehrt wieder! Leere! Unendliches Hohl! Nichts! Nichts! Ich sehe den Fürsten der Nacht, den finstern Grippo lauern — seine Augen glühen wie Feuerräder — sein Kamm steigt und brennt feuerroth — Schwefelglut haucht sein Rachen — sein Drachenschweif ringelt sich — ihm, dem Schrecklichen, und ihm, dem gottgesandten Ordenshaupte sollen die Menschenopfer versagt sein? Entsetzlich! Nein, nie, nie soll —“

Er hatte stärker und stärker auf das Gesimsbrett zu trommeln und zu schlegeln angefangen, dann versucht, auf der Bühne sich heftig hin- und herzubewegen; []sie war zu eng, die Leidenschaft erlaubte ihm nicht, den Bewegungsdrang zu hemmen, er vergaß in seinem Eifer die offene Stelle in der Reisigbrüstung der Rednerbühne, die ihm doch gedient hatte, seinen Druidenfuß so bewußt vorzuzeigen, — bei einem zornigen Vorstoß durchbrach sein dicker Körper die schmale Spalte des biegsamen Tannenzweiggeflechts, er fiel hinaus und purzelte zu Boden, fünf Fuß tief etwa.

Die zwei Barden waren die Ersten, die herbeieilten, ihn aufzuheben, rasch drang ihnen die Gemeinde nach, schnell umdrängte den unglücklichen Redner ein dichter Knäuel von Menschen, die sichtbar nicht von Einem Gefühle getrieben waren, in dem Wirrwarr von Tönen konnte man Stimmen des Mitleids, frommes Seufzen, rauhes Murren und Fluchen und nur halb unterdrücktes Lachen wohl unterscheiden, die Aufregung wuchs und es sah ganz darnach aus, als müsse es hier zu einem wilden Handgemenge kommen; da erscholl plötzlich eine helle, starke Stimme von oben, von unbekannter Höhe herab:

„Hört, hört! Hört mich! Mich hört!“

Alles schaute empor. Auf dem Wagsteine steht eine dunkle Gestalt. Jetzt erscheint noch ein Wesen neben ihr, man hört das Bellen einer mächtigen Hundsstimme. ‚Schweig, Tyras!‘ ruft es jetzt wieder aus Menschenkehle, in diesem Augenblicke tritt der Mond aus den verfinsternden Wolken und man erkennt Arthur.

[]

Wie er den Wagstein erklommen, wer konnte es wissen, denn noch kein Mensch hatte es versucht, der Stein war hochheilig, aber wäre er es auch nicht gewesen, der hängende, doch steile Felsblock hätte als unersteiglich erscheinen müssen. Wie dem Frevler die große, schwere Dogge folgen konnte, das ließ sich nur durch die bekannte Stemmkraft der Fußmuskeln, die im starken Ansprung diesem Hundeschlag sogar ein Klettern möglich macht, zur Noth erklären. Zerfurcht und bleich von der tiefen Erregung des Augenblicks und der letzten Erlebnisse erschienen Arthur's Züge noch bleicher im blassen Lichte des Mondes. Wie ein Geist stand er da oben, aber schön, hochgewachsen, schlank, mit großen, weit offenen, leuchtenden Augen. Schauer fesselte die Herzen, Niemand wagte den Mann anzutasten, dessen Fuß doch so empörend die geweihte Stelle entheiligte. Stumm blickte Alles nach ihm hinauf, tiefe Stille trat ein. Nun hebt er wieder an: „Zerreißt mich, zerhackt mich, siedet oder bratet mich lebendig, aber sprechen muß ich, hören müßt ihr mich, hören!“

Er stockte, er schien schwer den Anfang zu finden und fuhr dann fort, zuerst im verlegenen, schüchternen, naiven Tone eines Neulings im Ordnen der Gedanken und im öffentlich Reden, doch allmälig erwarmend, die Worte wie in einem Strom rollend, den Ton zum Donner anschwellend.

[]

„Das kann schon sein, das ist schon möglich, daß die Sachen da herum um uns, Licht, Luft, Erde, Bäume, Thiere und Menschen ein Weib geschaffen hat. Es sieht schon darnach aus, denn da ist schön und häßlich, gut und grausam, sanft und wild, ordentlich und wieder so unordentlich durcheinander, wie in Weibes Leben und Weibes Seele, die launisch ist und sich nicht gleich bleiben kann. Aber nachher ist ein Manngott drüber gekommen und hat's zu ordnen angefangen. Nur etwas verspätet hat er sich, weil Männer langsamer sind, und so hat er nicht mehr ganz fertig werden, hat's nichts mehr ganz richten können. Ein Manngott, ein herrlicher, ein strahlender. Wo ist er? Hauset er in der Sonne, von deren Majestät euer blasser Mondsdienst nichts weiß, nichts wissen will? Mannheit und Macht ist er, er brauset im Sturm, er ist der große Athem der Welt, auf der Donnerwolke fährt er daher. Das ist der unbekannte Gott, den eure Priester nennen und von dem sie doch nichts hören wollen!“

Ein Gewitter zog inzwischen am nächtlichen Himmel auf, schwarze Wolkenberge thürmten sich im Westen. Man hörte eben bei den letzten Worten das erste ferne Grollen des wirklichen Donners. Die Männer erbleichten, der Redner erschien ihnen verschworen mit der geheimnißvollen Naturmacht und die Scheue, die sich ihrer bemächtigte, schützte ihn vor den Leidenschaften, []die ihn in jedem Augenblick zu unterbrechen drohten. So fuhr er fort:

„Aber nein, nein! Nicht dunkle, dumpfe Macht ist er, er ist hell, offen, ganz offen. Licht ist er, er scheinet durch Alles und in Alles, da ist Alles durchsichtig. Er hat vielleicht auch gar kein Haus, die Sonne ist nur sein Glanz- und Prachtbild. Er ist vielleicht, obwohl Mannesart in all' seinem Thun, doch eigentlich auch kein Mann, denn er ist überall. Er ist Einer und auch Keiner, er ist Einer und auch Drei. Drei Dinge ist er: das Sein, der Tod und der Geist. Er zeuget Alles, wandelt Alles und steigt auf aus Allem. Darum ist er ein Feuergeist, denn er brütet aus, verzehret und leuchtet. Die Menschen suchen seinen Namen und verwirren sich. Es sind Männer an unsere Seen gekommen von drüben her, vom weiten Lande gegen Untergang der Sonne, sie haben sich Gaels oder Gadhelen genannt, die haben berichtet vom Glauben ihres Volkes, da werde als oberster aller Götter verehrt Esus, der Schauerliche, dessen Odem zu vernehmen im stillen, geheimnißvollen Walde, der aber webe und wehe durch das ganze Weltall und dessen heiliges Zeichen der Kreis sei, weil er aus sich lauft und in sich zurück und keinen Anfang hat, noch Ende. Aber dieser Gott ist ein dunkler Gott und ein Abgrund. Und es sind andere Männer gekommen noch weiter her von einem breiten Eiland im []großen Wasser, und sie hießen sich Kymren und haben Wunderbares gesagt von einem Gott, den nannten sie Hu Gadarn, das ist Hu der Gewaltige. Sie glaubten, er sei auch die Sonne, und sprachen von ihm: Licht ist sein Weg und sein Rad, Sonnenschein sein Wagen und mit Geisterschwingen schwebet er über den Wassern, groß ist er in Land und Meeren, der größte in allen Welten. Er habe die große Flut getheilt und die Menschen den Ackerbau gelehrt und er wolle den Frieden und nur, um ihn zu schaffen, den Krieg, Gesetz und Ordnung habe er gestiftet, den Gesang, die Künste den Menschen herabgebracht, und er sei Geber alles Guten. Als das hörten die Gaels, sprachen sie, Hu sei nicht der Gott selbst, er sei ein Gottsohn oder Göttinsohn wie Taliesin, den wir verehren wie sie, Esus habe die Welt geschaffen und sei eingeboren in den Hu und habe sie durch ihn geordnet und durchleuchtet. Dieser Hu ist ein Lichtgeist nach meinem Sinn, aber die Menschen wollen den Geist fangen in Namen und göttliche Leiber und verdunkeln ihn und tappen umher in krausem Dickicht. Arm ist die Sprache, in Banden der Sinn, ich weiß kein Wort, als: der Geistgott, obwohl er nicht Mann sein kann wie ein Mensch. Er ist Gesetz, Ordnung, Klarheit. Er ist in uns, er ist die Gerechtigkeit, die Tapferkeit, die den Frieden schützt, die Güte, das Mitleid, das Wissen, die Weisheit. Er ist sie. Wo Dumpfes, wo Wildes []bezwungen wird, da ist er. Er bezwingt auch die Zeit. Morgen und Abend, Tag und Nacht, Mond und Jahr sind gleich vor ihm. Da gibt es kein Vorher und Nachher. Er ist das ewig Bewegende in aller Bewegung. Wer ihn liebt, schüttelt es ab, das Albgewicht der schrecklichen, gähnenden Zeit und tauchet auf in das Urlicht, das da zeitlos ist, wie euch der weise Barde gesagt hat. Wir sind Wellen im unendlichen Zeitmeer, wir sind Nichts, wo wir uns nicht heben in den Strahl der Ewigkeit. O süßes Zittern, wenn berührt von der Weltensonne unser Scheitel blitzt! Wenn sie unser kaltes Wogenherz durchwärmt, unser Eis schmelzt! Es schmilzt, wenn wir gut sind! Es schmilzt, wenn wir lassen vom Dumpfen, vom Armseligen, von all' dem, um dessen willen es nicht der Mühe werth ist zu leben. In was lebt ihr? Im Schund um Essen und Trinken und schöne Kleider, um Rinder und Ziegen und Häute, im Zank um nichts! Wo schwebt ihr? wo schwimmt ihr? Im blitzenden Weltmeer des Lichts? Ihr schwebt nicht, ihr klebt, im Sumpfe klebt ihr, im Schlamm zwischen Binsen und Röhricht — schleimige Schneckenseelen seid ihr! Eckeln sollte es euch an euch selbst!“ —

Jetzt begann und wuchs ein Murren unter den Zuhörern, aber nur heftiger schalt er fort:

„Der milde Barde hat's euch sanft und leis gesagt, laut und scharf will ich es euch sagen! Da habt []ihr euch einen Glauben zurecht gemacht oder zurecht machen lassen, der ein blöder Wahn ist um und um, von wo man ihn auch mag ansehen. Ihr glaubt, daß Selinur durch den feuchten Seedunst euch die Pfnüssel ordne? Nein, ihr glaubt es erst recht nicht. Thut nicht so! Ihr wißt wohl, daß euch das schnöde Uebel nur viel hundertmal öfter und ärger heimsucht in euren feuchten Nestern! Nicht geregelt hustet und nieset ihr, sondern durcheinander kraus, wirr und wüst! Klebrige Schalthiere werdet ihr! Die Zähne frißt euch der Nebel an und im Winter habt ihr die Fußböden so kalt, daß euch die jückenden Frostbeulen an den Zehen herumhängen wie Klumpen von Waldbeeren und daß euch vor Fußfrost alles Blut in Kopf steigt, was eben eine Hauptursache ist, daß ihr nichts Gescheutes denken könnt! — Die Seele, den Geist nieset und hustet ihr euch aus dem Leibe! — Wißt es, schon ist's im Werk, daß wir wegziehen vom See auf's Land! Fest soll's sein unter uns, auf's Trockene wollen wir! Man wird dumm über den trüben Wassern, verschnuppt, hirnverstört, abergläubisch, fürchtet Gespenster, fürchtet den Grippo. Wozu braucht ihr ihn noch? Wozu noch den schnöden Wurm? Den gibt's ja nicht, kann's nicht geben. Ist's nicht an der Weibgottheit und an Regimentern von nickelhaften Erdgeistern, die sie in ihrem Leichtsinn walten läßt, ist's daran nicht genug, um allen Schabernack zu erklären, []mit dem das Leben uns zwickt und zwackt? Brauchen die bösen Zwerggeister noch ein Oberhaupt, das am Ende mächtiger wäre, als der Lichtgott, der unter eurem unbekannten Gotte steckt? Aber all' das dumme Zeug, ich weiß, warum ihr's euch vormacht. Ihr ahnt gar wohl, daß noch ein anderer Pfnüssel im Menschen sitzt, jener, der im Herzen drückt und kratzt und bohrt. Die Faulheit ist's und der wüste böse Wille, der nichts wissen mag von der oberen Ordnung, die der Geistgott gebaut, der Burg, wider welche die bösen Geister nicht aufkommen. Aber darüber huscht ihr hinweg und macht's euch leicht, indem ihr's zusammenbringt mit dem Uebel in Hals und Nase und euch ein flüchtig seichtes Wort vorschwätzt vom Läutern! Wohl hängt's auch zusammen, aber nicht, wie ihr euch vormacht. Arger Pfnüssel entschuldigt manche böse Zornthat, aber nicht jede, das Reich des Guten steht fest auf eigenen, ewigen Säulen und hängt nicht ab von den Häuten und Drüsen im Leib, und das Böse steigt nicht in ihnen auf und läßt sich nicht weghusten. Die Schuld wegschieben, dem Grippo in die Schuhe, und das Gut- und Vernünftigwerden von der Selinur im helldunklen Seenebel erwarten — das ist eure Eselsbrücke! Eure Sünden nicht redlich ausbüßen, sondern an den Priester hinüberhusten, der sie dann weiterhusten soll und befördern zur Vergebung, das ist euer Selinurdienst! Nicht kennen wollt ihr euch selbst, fremd []wollt ihr bleiben euch selbst! Alles ertragt ihr eher, als Wohl und Weh eurer armen Seele mit euch selbst auszumachen! Weiber seid ihr, nicht Männer, darum wollt ihr nichts wissen vom Lichtgott, vom Manngott, vom mannhaften Geistgott, denn der verlangt, nicht nur um euch herumzuscheinen, sondern in euch hineinzuscheinen, zu durchleuchten den harten Stein, euer Herz, daß es licht werde, lind und gut und vernünftig und stark in aller Milde und Weichheit! Auf! auf! heraus aus dem Klebeschleim und Stankschlamm eures alten Wahns! Er ist gottlos! In euch ist keine Gottesliebe, ihr habt keinen Gottesdienst!“

„Es ist genug!“ rief jetzt der Druide, der von seinem Falle keinen Schaden genommen, vom Schrecken sich schnell erholt und mit großer Spannung zugehört hatte; „es ist genug! Herab mit dem Lästerer!“ Das Murren in der Gemeinde hatte sich etwas gelegt, als Arthur von der nicht zu leugnenden Unregelmäßigkeit, von der ganz rhythmuslosen Häufigkeit des katarrhalischen Uebels und von der Heimsuchung mit Frostbeulen sprach. Die Wahrheit seiner Worte war zu schlagend, als daß sie nicht ein gewisses Insichgehen der Gemüther bewirkt hätte. Nun aber, da der Eiferer mit seinen unzulänglichen Sprachmitteln Anstalt machte, die sittliche Welt in ihrer Strenge aus der Vermengung mit dem physischen Uebel zu scheiden, als er zur unbequemen Zumuthung der Selbsterkenntniß und inneren []Umkehr übergieng, wurden die Leute wieder bös, zürnten sich selbst, daß sie so lange geduldig zugehört, und warfen — nach Menschenart — diesen Zorn verdoppelt auf den Urheber der innern Unbehaglichkeit. Die erneuerten Scheltworte des heftigen Strafredners thaten das Ihrige und der Zuruf des Druiden traf daher auf eine Stimmung, die reif war, zum Handeln überzugehen.

„Bogen gerichtet, Pfeil auf, legt an!“ befahl der Priester. Im Nu lagen jetzt mit wenigen Ausnahmen die Männer der Gemeinde im Anschlag, alle nach dem verwegenen Jüngling zielend. Sein Hund verstand, brach in ein wüthendes Bellen aus, er mußte ihn am Halsband halten, gebot ihm Stille und schrie dann mit Donnerstimme:

„Halt, halt, halt sag' ich! noch Eines müßt ihr hören!“

Die Männer sahen fragend den Druiden an, der sich wie ein Kriegsbefehlshaber an ihre Front gestellt hatte. „Absetzen!“ kommandirte er. Es konnte nichts schaden, wenn der Verbrecher durch Weiterreden seine Schuld noch vergrößerte.

„Wißt ihr denn auch, was die drei Hauptstücke des wahren Frommseins sind? Die Gemeinde mehr lieben als sich, die vielen Gemeinden mehr als die eigene, und alle Gemeinden des Volks, das Eine Sprache spricht, so lieben, daß man Gut und Blut für sie []zu opfern all' Stund von Herzen bereit ist. Drei sind der Sümpfe, darin man nicht leben soll: der Sumpf der Seen, der Sumpf der Schlaffheit und der Sumpf des engen Pfahlsinns, der von keinem Vaterland weiß. Wißt ihr denn von einem Vaterland?“

Die guten Leute hörten das Wort wirklich zum ersten Mal. Dem Druiden war es in seiner Studienzeit nicht unbekannt geblieben, aber er hatte sich wohl gehütet, solchen weltlichen Gegenstand jemals in seinem Glaubensunterricht und seiner Seelsorge vorzubringen. Die Männer stutzten und für Arthur war dadurch eine Pause zum Weiterreden gesichert.

„Nun, ich will's euch sagen. Die fremden Männer, die uns über's Gebirg her die neuen Waffen und Geräthe gebracht, darunter ist mir der Ein' und Andere gut Freund geworden, weil ich gern von ihnen hörte und lernte und auch von ihrer Sprache mir Einiges merkte, so daß ich über mehr als nur den Kram mit ihnen verkehren konnte. Die haben mir vertraut, daß das Volk, von dem sie kommen, ein gar mächtiges und reisiges Volk sei und ringsum weithin schon alle Völker bekriegt und in seine Botmäßigkeit gebracht habe, und daß es, trunken von seinen Siegen, weiter und weiter seine Hand strecken und nun gar über die Alpen herübergreifen und unser Land, das unsere Väter uns vererbt, bekriegen und bewältigen wolle vom großen Gebirg hinwärts bis zum Podamursee und weiter, viel []weiter in die Gelände hinein, wo die breiten Ströme durch Berg und Thal fließen, und links weithin bis an den Leman- und meinen geliebten Nuburiksee und weiter und weiter bis über das große Wasser zum Eiland, wo die Kymren wohnen. Sie werden kommen, die Unersättlichen, die da meinen, sie müssen die Welt verschlingen! Und ihr? Was sind eure Kriege gewesen bis heute? Untereinander um nichts und wieder nichts habt ihr euch zerfleischt! Eure Gefangenen gepfählt, gekreuzigt, auf jede scheusliche Art gemartert als Opfer für euer Scheusal von Grippo! Jetzt droht euch allen der Fremdling! In eure schwebenden Holzhütten wird er die Brandfackel schleudern, mit seinen Erzwaffen, seiner Ueberzahl, seiner Kriegsordnung und festem Halt seiner Schaaren euch zu Tausenden in die Sümpfe eurer Seen hineinwürgen, eure Weiber und Töchter schänden und in die Knechtschaft abführen, eure Kinder wie Zicklein abschlachten! Schon seh' ich im Geiste die Feuersäulen, höre den Schlachtruf der Feinde, das Aechzen und Winseln der Sterbenden, der schmachvoll Mißhandelten! Auf! auf, so lang es Zeit ist! Einen festen Bund stiftet von Gemeinde zu Gemeinde, von Stamm zu Stamm! Dem unbekannten Gotte — o, bei allen Himmeln, er ist auch der Gott des Vaterlands! — ihm an seinem Altare schwört Treue dem Bunde bis auf den letzten Athemzug! Und fort mit den Steinwaffen! Meint ihr, ich sei gekommen, mit []dem kleinen Plunder von Schmuck, Spielzeug, Tischmesser euch Spaß zu machen? Waffen! Waffen! Greift zum Erze! Hier seht mein gutes Schwert! Es funkelt in der Nacht, ein feurig Bild und Zeichen sei es euch! O, bei dem Bilde schwört, schwört euch zu eigen dem schwer bedrohten Vaterland! O, heilig, heilig ist das Vaterland!“

Das Gewitter hatte inzwischen den Himmel mit Nacht bedeckt, wilde Blitze zuckten aus den übersatten Wolken, mit greller Helle wechselte rabenschwarzes Dunkel; soeben erscholl aus unsichtbarem Munde die mächtige, klangvolle Bruststimme des jugendlichen Redners, jetzt fuhr wieder ein Blitz über ihn hin, wie er stolz und hoch sich streckend das gezückte Schwert in der Rechten emporhielt, und wunderbar glühte die schlanke, ragende, wachsende Gestalt aus dem Schooße der Finsterniß heraus, daß sie von innerem Feuer zu lodern schien.

Den Druiden erschütterte nicht dieß große, geisterhafte Bild, die Rede vom Vaterland war es, die ihn mehr empörte, als alles Andere, so daß er jetzt beschloß, den Augenblick für gekommen zu erklären. Mit durchdringender Stimme rief er: „Vaterland? Wißt ihr, wo es ist? Im Himmelszelt bei Selinur und ihren Feen! Er leugnet das himmlische Vaterland wie die Götter! Die himmlische Seligkeit dem Schützen, der ihn herunterschießt! Halt, nein, noch höhere Wonne im Himmelssaal dem, der ihn lebendig fängt! Her []mit dem Lästerer, dem Götterleugner, dem Gripposohn, dem — dem —“ Er drückte und preßte, das stärkstmögliche Schimpfwort zu ersinnen und hervorzustoßen, endlich entrang es sich seinen Lippen: „dem Erzketzer!“ Hiemit ist die einzig wahre Ableitung unserer Vorsatzsylbe „Erz“ den Lesern, namentlich den philologischen, zur Kenntniß gebracht. Anm. d. Verf.

Wie aber sollte man den Uebelthäter lebendig fangen? Woher die Zeit nehmen, Aeste zu einer Leiter zu fügen? denn am Wagstein hinaufzuturnen, getraute sich Niemand. Ein Theil der Schützen beschloß so zu zielen, daß er nur verwundet herabfiele. Als der nächste der schnell sich folgenden Blitze ihnen ihre lebendige Scheibe und dem Bedrohten seine Gegner wieder zeigte, sah Arthur auf's Neue die ganze Männerschaar im Anschlag. Es war schon ein Bild, das Furcht einflößen konnte. Gegen dreihundert große Bogen, die Sehnen gezogen bis zum Halse der Schützen, die Pfeile aufgelegt: zwar nur rohe Feuersteinspitzen, aber Arthur wußte gar wohl, welche Wunden sie reißen — diese Waffen haarscharf auf ihn, den Einen, gerichtet: gar Manchem wäre wohl zu Muth geworden wie dem Verbrecher vor der Hinrichtung. „Das Schwert her!“ rief der Druide, ihm nach die nächsten Schützen; der Ruf pflanzte sich wie ein Lauffeuer schnell durch die Reihen fort; obwohl so überlegen und so aus der []Ferne den Einen bekämpfend, fühlten sie doch Grauen vor der Waffe und eine Art Bedürfniß, dem Verbrecher, ehe er gerichtet würde, erst seine Ehre, die Mannesehre des Waffentragens abzusprechen.

„Fürchtet ihr mein Schwert, ihr Tröpfe? Ich fürchte keinen von euch, auch ohne Schwert! Ringt mit mir! Hier bin ich!“ Mit diesem Rufe schleudert der Ueberkühne sein Schwert hinab und springt in einem weiten Satz ihm nach mitten unter die Männer hinein, mit ihm sein starker Hund, der wilde Tyras. Augenblicklich entsteht ein fürchterliches Raufen, Schreien, Fluchen, dazwischen das Geknurr und Gebell des wüthend um sich beißenden Thiers, man schlägt, man zerrt, man sticht mit Horndolchen zu, deren Stöße glücklicherweise fehlen oder am ehernen Gürtelschild des schwer gefährdeten Jünglings abgleiten, mit überlegener Kraft hat er Mehrere zu Boden geschleudert, aber lange kann der ungleiche Kampf nicht dauern; schon taumelt Arthur, da ist es dem Druiden gelungen, durch den rasenden Knäuel sich durchzuarbeiten und seine Stimme hörbar zu machen: „Die Hände, die Fäuste weg! Mir gehört er, mir, mich laßt sorgen! Die Bittel und Wächter her!“ Es gelang ihm, den schon so gut als Verlorenen zu befreien, um ihn — aufzusparen. „Fesselt ihn mit Stricken!“ Vergeblich sträubte sich der tollkühne Ringer noch mit seinen letzten Kräften. „Fort in's Verließ!“ Er wurde abgeführt. []„Erzketzer! Erzketzer!“ scholl es aus hunderten von Kehlen hinter ihm her, während die Schergen ihn über die Brücke zum Blockhaus führten, das als Gefängniß diente. Die Eifrigsten der Gemeinde begleiteten sie, Angus selbst gieng mit und ihnen nach wälzte sich der schreiende Schwarm. In schwerer Lage waren jene wenigen klarer denkenden Bürger, deren wir früher Einige beisammen gefunden, um die Berufung der Barden zu beantragen. Sie waren nachdenklich geworden bei Kallar's Rede, Arthur's Feuerworte ergriffen sie, wie er heftiger und heftiger sprach, wurde es auch ihnen zu viel, sie erhoben ihre Bögen zwar nur läßig und zum Scheine, aber sie erkannten, daß ihm nicht zu helfen sei. Rathlos standen die beiden Barden. Kallar hatte voll Theilnahme sorglich oft den Kopf geschüttelt, während Arthur sprach, Kullur's Augen hatten geblitzt und sich wieder verdunkelt, Beide hatten im Gemenge vergebliche Versuche gemacht, abzuwehren, Beide sahen nun kummervoll dem wilden Haufen nach, der sich hinter den Wächtern herdrängte. „Was thun?“ sagte Kullur. „Laß uns nachdenken,“ erwiderte Kallar, „es ist noch eine Frist; ganz rasch und auf eigene Faust kann der Druide nicht handeln.“ Er faltete gedankenvoll die Stirne, plötzlich schien ihm Rath aufzutauchen, er flüsterte seinem Genossen einige Worte zu, sie eilten nach den Sitzen, die sie vor und nach ihrem Auftreten eingenommen hatten, schienen []einen Gegenstand zu suchen, aufzugreifen und verschwanden dann im Dunkel.

Das Schloß des Gefängnisses war ein schwerer Holzriegel, der durch einen kunstreichen Knoten aus dem stärksten Seile so befestigt wurde, daß er als unlösbar gelten konnte. Nur durch Hiebe eines scharfen Steinbeils hätte ein Unkundiger ihn entfernen können; dagegen war durch die Wächter gesorgt, denen die strengste Hut eingeschärft wurde. Die karge Kost wurde durch eine enge Dachöffnung hinabgelassen; der Bittel, der hiezu den Auftrag hatte, war auf strenge Wachsamkeit besonders beeidigt.

Wo aber war denn Alpin? Er hatte sich während Kallar's Rede, das eintretende Dunkel benützend, hinweggeschlichen, hatte einen Korb voll Speise und Trank aufgenommen, den ihm Sigune an einem verabredeten Platz im Haine bereit gestellt, und war der Höhle zugegangen, den einsamen Freund besser zu laben, als ein Stück Brod, das er morgens beim Abschied ihm aus seiner Tasche gereicht, und die Beeren des Waldes es vermochten. Als er nach ängstlichem Suchen ihn nicht fand, befiel ihn zuerst die schreckliche Sorge, er möchte entdeckt, in den Wald fortgeschleppt, ermordet sein, aber eine schlimme, dunkle und dennoch bestimmte Ahnung trieb ihn zurück nach dem Festplatz; schon von Weitem hörte er Arthur's gewaltige Stimme von der Höhe herschallen, stellte sich unbemerkt bei den []hintersten Zuhörern auf und mußte nun, unfähig, dazwischenzutreten, Zeuge der tödtlichen Gefahr sein, in die den Freund seine wilde Begeisterung tiefer und tiefer hineinrieß. Als Arthur herabgesprungen, drängte er sich mit verzweifelter Gewalt in den Menschenknäuel hinein; was konnte er ausrichten mit aller Kraft seiner Arme? Nur Eines: mitten im Stoßen, Zerren, Ringen, Stampfen sieht er das Erzschwert am Boden auffunkeln, da eben ein neuer Blitz über die tobende Menge hinzuckt. Man hatte es, als Arthur so plötzlich der hinabgeschleuderten Waffe nachsprang, in der Wirrniß vergessen. Ein Geist gab ihm ein, es schnell aufzunehmen, unter seinem faltigen Festrocke zu verbergen und, während man den Ueberwältigten fortführte, mit seiner Beute Sigunen zuzueilen, die bei der Glut ihres Herdes saß, einsam, tief in Gedanken. Die Kinder schliefen, Vater Odgal war draußen in der Versammlung; sie hielt Alpin's Geschenk, die Halsschnur aus Bergkrystallen in der Hand, und ließ sie im röthlichen Scheine spielen und voll herzlichen Glücks redete sie mit ihr, als wäre sie ein belebtes Wesen. Alpin stürzt herein, mit wenigen Worten ist Alles erzählt, „— und nun, wie helfen? wie helfen?“ schließt er und wirft sich schluchzend an den Hals der Geliebten. In allem Unglück, in allem peinvollen Drange des Augenblicks, welch' ein Glück, sich nun ganz Eins zu wissen im glühenden Wunsche, den Jüng []ling, der ohne seinen Willen die beiden Herzen so düster entzweit hatte, zum andern Male zu retten! „Du bist gut, o, du bist gut,“ rief unter Thränen das entzückte Mädchen und legte, als er sich unter erneuten Klagen über die Rathlosigkeit der Lage auf den Sitz am Herde niederfallen ließ, vor ihn knieend das lockige Haupt in seinen Schooß. Schweigend verweilten sie manche Minute in dieser Stellung; auf einmal stand Sigune schnell auf, nahm die Bergkrystallschnur vom Herde, hielt sie Alpin vor Augen und sagte: „Wer das machen, die Krystalle schleifen, durchbohren konnte, der kann auch“ — Wir ziehen vor, nicht zu verrathen, was sie weiter sagte, noch was Alpin nach einigem Sinnen erwiderte; nur das Wort sei angeführt: „Ihr Weibsleute seid doch öfters gescheuter als wir.“ Er nahm das Schwert, der Abschied war so kurz als zärtlich, und dann eilte er nach Haus mit den Schritten eines Mannes, der keine Zeit zu verlieren hat.

Das Gewitter hatte sich verzogen, die Menge vom Festplatze sich verlaufen, Alles war zur Ruhe gegangen und der Mondschein lag still auf dem schimmernden See. In der kleinen Gemeinde — wie viele und verschiedene heftige Bewegungen wühlten bei stiller Nacht in den Gemüthern der Schlaflosen und der träumenden Schläfer! Arthur war übel gebettet in seinem „Ungemach“ (wie das Nibelungenlied den Kerker []nennt), sein Lager war ein Haufen alten Strohs, sterbensmüde streckte er sich nieder; Wasser und ein Brodlaib war ihm verabreicht; er aß einen Brocken, nahm einen Schluck, legte sich wieder zurück, starrte eine Zeitlang zur Strohdecke des Raums hinauf, sprach dann vor sich hin: „Nicht klagen, Schicksal ist Schicksal, bleib' fest, Herz!“ Dann seufzte er noch: „Armer! Armer!“ Das galt aber nicht ihm selbst, sondern seinem Hunde Tyras, den er im Getümmel verloren hatte. Die einförmige Musik der Schritte der Wächter, die draußen polternd auf und nieder giengen, und die grenzenlose Ermattung halfen zusammen, die verstörten Nerven zu beschwichtigen und er sank in tiefen, festen Schlaf.

Der Morgen des feierlichen Tages brach an. Auf den Vormittag war der erste Theil des Festes, das Pieisschießen, angesetzt. Alpin durfte um so weniger fehlen, da auf ihn als den großen Jagdhelden des vorigen Tages Aller Augen warteten. Ihm zu Ehren, zum Ruhme der Gemeinde, die einen solchen Jäger hervorgebracht, und zum Sporn für Alle, ihm nachzustreben, hatte der kunstfertige Bürger Bappabuk dießmal eine Festscheibe von ungewöhnlicher Pracht hergestellt. Auf eine große Fläche, die mühsam genug aus einigen rauh gehauenen Holztafeln gefügt war, hatte er das Bild eines Wisent gemalt. Das Braun des Fells war freilich dunkler gerathen, als die Naturwahrheit erlaubte; er hatte einfach ein Schwarz ver []wendet, das er sich aus Kohlenstaub zurecht gemacht; ein Kenner hätte den amerikanischen Bison, nicht seinen lichtern europäischen Verwandten zu sehen geglaubt. Aber mit entschiedener Sicherheit des Blicks und der Hand war nicht nur die Gestalt, sondern mehr noch die Bewegung erfaßt. Man sah das Thier in wildem Ansprung, den Kopf zum Stoße gesenkt; daß dieser von vorn, der Körper aber von der Seite genommen war, darüber durfte man billig wegsehen; man kannte und forderte Verkürzungen dortzulande so wenig wie im alten Egypten und später in Byzanz; übrigens kam die Kühnheit daher, daß es das Absehen des Künstlers war, die Augen beide in ihrer ganzen Schrecklichkeit wiederzugeben. Mit dem röthsten Röthel, den er auftreiben konnte, hatte er die blutrünstige Bindehaut, mit der schwärzesten Mischung von Kohlenstaub und Kienruß die Augensterne aufgetragen und in dieses Schwarz je ein Stück des findbar reinsten Bergkrystalls eingelassen. Mit Staunen und Grauen wurde das Meisterwerk begrüßt, als es aufgestellt war. Die Senkung des Kopfes erlaubte auch, das Centrum der Scheibe an der Stelle anzubringen, auf welche Alpin den tödtlichen Stoß geführt hatte: es war ein rundgeschnittenes Blatt von rothem Zeug, das zwischen Kopf und Nacken saß. Der erste Festpreis, von Alpin selbst gewidmet, war das kostbare große Fell des erlegten Thiers. Man säumte nach Betrachtung des []Bilds und dieser ersten aller Ehrengaben nicht länger, den Ueberwinder des Ungethüms, den edlen Schenker durch eine Abordnung in seinem Hause abzuholen, auf dem Festplatz wurde er als Schützenkönig in spe von jubelnden Stimmen begrüßt. Er sollte den ersten Schuß haben, er trat zurück, den Aelteren sollte die Ehre bleiben. Endlich half kein Zögern mehr; Alpin legte an, zielte unsicher, die Nachbarn schüttelten die Köpfe, Einer flüsterte: „O je, er verwackelt's!“ Alpin setzte ab, zielte wieder, schnellte ab und das Geschoß — saß in der Zottel des kurzen Schwanzes. Der Zeiger, der sich schon darauf gespannt hatte, zuerst mit närrischen Sprüngen dreimal um die Scheibe zu tanzen, dann mit seiner Kelle auf das durchschossene Centrum zu zeigen, hierauf gegen den Schützen drei grundtiefe Bücklinge zu machen, er war, als er vorsprang, in keiner kleinen Verlegenheit; ganz verblüfft stand der arme Bursch in seiner bunten Hanswurstjacke — denn so trugen sich die Zeiger schon damals — und seiner Mütze aus Fellstücken des weißen Berghasen und einem Fuchsschweif, er konnte sich nicht zu den Spottgebärden entschließen, die bei schlechten Schüssen üblich waren, zeigte wehmüthig nach dem Pfeil im Schwanzende und schliech mit trübseliger Miene hinter seine Schutzwand zurück. Alpin hatte sich zum Voraus nichts Gutes versprochen; er besann sich aber schnell, sich über sein Ungeschick viel mißmuthiger zu stellen, als er war, []schüttelte wie in einem Anfall grimmigen Verdrusses den Köcher aus, schleuderte den Bogen von sich und rannte hinweg. Man wollte ihn zurückzerren, gab es aber bald auf, denn die Mannen wußten als richtige Schützen gar wohl, daß man's nicht verzwingen soll, wenn man nicht seinen Tag hat, und so war für Alpin gewonnen, was er brauchte: Zeit und Verborgenheit. — Billig enthalten wir uns, den Verlauf des Schützenfestes zu beschreiben; es genüge, zu berichten, daß den ersten Preis ein Schütze jener Gattung herausschoß, die wir jetzt Kommißschützen zu nennen lieben, ein Mann, der des Gewinnes wegen auf alle Schützenfeste lief und dessen handwerkmäßig sicheres Auge und Hand nie eine innere Aufwallung irrte. Den zweiten Preis, ein Trinkhorn, aus der mächtigen Stoßwaffe des seltenen Ur mit der saubersten Glättung hergestellt, gewann ein Normalhuster, welchem Niemand ein Glück gönnte, das ihm so wenig anstand. Die weiteren Ehrengaben bestanden in Pfeilen, Köchern, Speeren, Aexten, auch lebendes Gethier, Gänse, Hühner, ein Schwein, Kalb, Ziege standen in einer Hürde als Gewinnste bereit. Der Preise waren viele, denn Jung und Alt schoß mit; Schützen waren Alle vom siebenzehnten Jahr an und zwar pflichtmäßig. Diese Verpflichtung war ein Stück der Religion und zwar, wie der Leser vielleicht mit uns findet, kein schlechtes.

Vom nahen Haine ließ während der Schießbe []lustigung ein Gesang heller Knabenstimmen, begleitet von Harfentönen und geführt von einer Mannsstimme, anfangs schüchtern, ungelenk und oft unterbrochen, dann melodischer und zusammenhängender sich vernehmen. Dort übte der Barde Kullur die Knaben des Dorfes zum Vorsingen seines Hymnus ein. Er war zwar, wie schon erwähnt, auf eine alte, heilige Melodie gesetzt, aber die Verbindung derselben mit einem neuen Texte wollte gelernt sein und zudem hatte der Dichter, vornämlich an den Schlüssen der Strophen, gewisse höchst stimmungsvolle neue Tonfiguren angefügt. Bei Festgesängen pflegte ein Knabenchor der Gemeinde vorzusingen und dießmal war denn hiezu eine besonders gründliche Einschulung vonnöthen. Dem Sänger Kullur assistirte bei diesem Geschäfte der Gelehrte Kallar und Beide wußten die Knaben mit so viel Liebe und Humor zu behandeln, daß sie höchst willig und heiter sich leiten ließen. Gleichzeitig aber hörte man von einer entfernteren Stelle des Hains mannigfache und verworrene Laute von eigenthümlich sonderbarer Beschaffenheit, theils Vokal-, theils eine Instrumentalmusik, wie man sie niemals vernommen. Woher diese Töne kamen, wußte man: es war der Druide, der geheimnißvoll mit den ständigen Musikern des Dorfes und einigen jüngeren Dilettanten sich an einen entlegeneren Ort zurückgezogen hatte, um den andern Hymnus einzuüben, den er gedichtet und neu komponirt hatte, aber []welche neue Tonwelt den Ohren bevorstand, das wußte man nicht, das konnte man aus den verlorenen Klängen noch lange nicht entnehmen.

Das Schießen wurde sonst mit einem starken Frühstück und Trunk beschlossen, wobei das Volk der Pfahlmänner mit schönen Trinksprüchen in gemüthlichem Selbstlob nicht Geringes zu leisten pflegte. Dießmal begnügte man sich mit einem kürzeren Frühtrunk, denn man wollte die Kraft der Kiefer und den Vorrath von Rednergeist auf den abendlichen Festschmaus sparen, der den Gästen zu Ehren noch viel großartiger als sonst ausfallen sollte. Man verfügte sich also, nachdem das große Trinkhorn einige Male gekreist hatte und den besten Schützen Hoch ausgebracht war, solid nach Hause und ließ sich zum Mittagimbiß gefallen, was die einzelne Küche vermochte. Was vereinigte Kräfte und ausgebildete Technik der Kochkunst zu leisten im Stande waren, das gedenken wir pflichtschuldig in's Licht zu setzen, wenn wir dieser bedeutenderen Entfaltung zusehen werden.

Die ersten Nachmittagsstunden brachten — nichts; sie blieben leer. Ein Theil der Mannen legte sich auf's Ohr und schnarchte, ein Theil und besonders die ledigen Bursche liebten es, wie heute noch unsere Bauern und das italienische Volk, am Sonntag Nachmittag einfach den Häusern entlang sich aufzupflanzen, zu gaffen und gar nichts zu denken. Es war reiner []Genuß des Seins ohne jeglichen Zusatz, vollendete Poesie der Langweile, gründliches Erschöpfen alles göttlich Schönen, was im reinen Blödsinn liegt. Da jedes Bestimmte endlicher Art ist, jedes Interesse den Geist in's Bedingte führt, so ergab sich hier dem regungslos brütenden Gemüthe ein reines Weben und Wiegen im Unendlichen und Unbedingten. Nur die Jüngeren waren solcher idealen Erhebung noch nicht ganz fähig. Eine Nelke hinterm Ohr ließ merken, daß sie gern gesehen wären. Sie zogen den inneren Gassen den Corso oder Jungfernstieg vor. Wohlhabendere Dörfer sparten sich nämlich einen freien Gang an der Seeseite längs einer Reihe der äußersten Hütten aus, den nach außen ein Geländer begrenzte; ein solcher Spazierweg fehlte auch in Robanus nicht, und hier lehnten sich denn die jungen Burschen gern an die Schranken oder setzten sich darauf, gampelten mit den Beinen und guckten, und die blühenden Töchter der Gemeinde waren nicht so pfahlhaft trocken von Gemüth, daß sie mit ihrer Erscheinung unbarmherzig gegeizt und nicht ihrerseits auch geguckt hätten.

Wo mochte wohl der Druide stecken in dieser schwülen, stillen Zeit nach Tages Mitte? Er war an einem Orte, wo er nach herkömmlich heiligem Brauch in der Stunde vor einer Opferhandlung zu verweilen pflegte, an einer Stätte der Schauer, die kein Fuß eines Ungeweihten je betreten durfte. In der Mitte des Eichen []hains, der sich hinter dem Dolmen ausdehnte, war in Kreisform ein Graben gezogen, der vom übrigen Gehölz einen dichteren Theil absonderte, einen Hain im Haine, worin die ältesten Eichen standen und ihre knorrigen Aeste zu einem so verschlungenen Dach ineinanderschoben, daß kein Strahl der Sonne das geisterhafte Dunkel durchdringen konnte. Der allgemeine Glaube war, hier wehe der Odem der Gottheit vernehmlicher, als draußen in der offenen Welt, und verrathe Urgeheimniß dem Ohre des Priesters; nur scheue Blicke wagte das Volk von Weitem in das verbotene Heiligthum zu werfen und eine dunkle Rede gieng um, man könne die weiße Gestalt der Selinur und die gräuliche Unform des Grippo erkennen, wenn es einem Mondstrahl gelinge, sich in diese Schattenwelt zu schleichen. An Festen, wo Menschenopfer fielen, trat der Druide mit einem heiligen Eimer in dieß Dunkel und beschüttete die uralten Stämme mit dem Blute der Geschlachteten als dem edelsten, den Göttern besonders wohlgefälligen Safte. Es war lange her, daß die Gemeinde kein Fest gefeiert hatte, wo diese werthvollsten aller Opfer gebracht wurden; sie war im Grunde mehr frieden- und erwerb-, als kriegliebend; zwanzig Jahre waren verflossen, seit sie an einem Kampfe mit Nachbarstämmen theilgenommen und ihre wenigen Gefangenen dem Grippo dargebracht hatte. Angus war damals noch auf einem Anfangsdienste []und seit er zu der hiesigen stillen Gemeinde versetzt war, hatte sich kein Kapitalverbrecher finden lassen, der an der Stelle von Kriegsgefangenen hätte bluten können. Es war theure Zeit gewesen für den Durst der Götter.

„Hochwürdiger Herr,“ flüsterte eine rabenartige Stimme. Der Priester trat aus dem Schatten näher an den Graben. „Bist du's, Hixi,“ sagte er, „du darfst herein, Niemand sieht es jetzt.“ Er schob das Brett herüber, das seinem priesterlichen Fuß als Brücke des Einfassungsgrabens diente, und führte die Alte an der Hand in's Dickicht. Sie erschrack vor einem Baumgerippe, das wirklich Grauen einflößen konnte; es war eine fast abgestorbene Eiche, deren Aeste so wild verkrümmt waren, daß sie wie im Wahnsinn umherzugreifen schienen, und an deren Stamm ein paar Risse und Astlöcher sich so zusammenfanden, daß man eine scheußliche Fratze zu sehen glaubte. Die Rinde war unten am Stamm kohlschwarz. „Das ist der Grippo,“ sagte gemüthlich der Druide, „das Schwarze kommt von altem Opferblut; ist lang nicht gegossen worden.“ Aber kaum beruhigt fuhr Hixi auf's Neue zusammen: „Dort, dort — ein Geist!“ rief sie. „Und das ist Selinur,“ schmunzelte der Druide, „sieh' dir's an!“ Es war eine Birke, die sich als Gast zwischen den Eichen befand und deren weiße Rinde ein schwacher Lichtstreifen traf, der sich durch das dichte Laubdach hereinstahl. „Nun sieh' auch dorthin,“ fügte er hinzu, []indem er auf eine Stelle im tieferen Dunkel hinwies, wo das Scheinholz eines verwesten Eichenstumpfes schimmerte: „da ist auch Strahlenstirn Taliesin.“ Sie sah sich jetzt beruhigt, neugierig staunend um wie ein Kind in einer hübschen Puppenstube. Angus führte sie hierauf an einen mit starken Farrenkräutern und Buschwerk bewachsenen Platz; „da such'!“ sagte er. Sie streifte die Stauden auseinander und fand einen großen Topf, auf's Haar gleich dem zertrümmerten Erbstück der Coridwen. Sie jubelte auf wie ein Kind, dem der Hase gelegt hat. — Es wurde verabredet, wie es einzuleiten sei, daß die Wundergabe gleich heut Abend beim Fest figuriere. Aber Urhixidur's Freude war flüchtig, sie wurde auf einmal sehr traurig und begann zu weinen. „Was ist dir, Durli?“ — „Ich möcht' eben weissagen lernen, ich bin ja nie dazugekommen.“ — „Noch kurze Geduld,“ sprach er, „bald ist Gelegenheit: er soll hübsch zucken und ich werde dich kunstgerecht informieren.“

Sie flüsterten noch Einiges, was der Leser aus den folgenden Ereignissen so klar erkennen wird, daß es für jetzt Geheimniß bleiben mag. Die Unterredung durfte nicht lange dauern, der Priester brachte die getröstete Alte zurück, bei der Fratzeneiche vorübergehend sagte sie: „Sollst bald wieder einmal begossen werden.“ Angus half ihr über den Graben zurück und sie schliech auf Umwegen bis zur Dorfbrücke.

[]

Endlich kam der Spätnachmittag und der Abend, auf den alle Welt sich freute. Wir geben vorerst in Kürze das Programm der Herrlichkeiten, die in Aussicht standen.

Erstens. Das Opfer. Zum Beginn: Singung des Hymnus, vielmehr der zwei Hymnen, denn es sollte ja nach dem Dichtwerke des Barden auch das Erzeugniß des Druiden zur Aufführung gelangen.
Zweitens. Ballet. Das Nähere wird uns seiner Zeit der Herold, dann der Anblick selber sagen.
Drittens. Großer Festschmaus mit Tafelmusik und Extrabeleuchtung.

Vom Aufzug am vorletzten Abend unterscheidet sich der heutige dadurch, daß an der Spitze die Musik geht. Sie ist ungewöhnlich stark vertreten, wir haben bereits gemeldet, daß zu den Künstlern vom Fach noch manche Kräfte beigezogen waren, welche das Spiel der Töne sonst nur zum Zeitvertreib übten und welche man in der Schnelligkeit noch etwas gründlicher durchzubilden gestrebt hatte.

Voraus schritten die größeren Blaswerkzeuge. Da marschirt selbstbewußt der schon berührte Gaisbub, der Virtuos auf dem langen Hirtenhorn. Es war zwar nicht Sitte, der Ziegenheerde den Kuhreigen vorzublasen, aber der Bursche hatte sich so begierig gezeigt, dieß Instrument zu lernen, und in Alpin's Unterricht so viel Eifer und Begabung entwickelt, daß man gern []darüber hinwegsah, wenn er nicht nur außeramtlich seinen Uebungen sich hingab, sondern auch seine Heerde eines musikalischen Genusses würdigte, der eigentlich dem ungleich vornehmeren Rinde vorbehalten war. Neben ihm stolziert ein Bläser auf dem Stierhorn; der größte Bullenstirnschmuck, den man auftreiben konnte, war zum Tonwerkzeug so glatt als möglich verarbeitet. Der dritte Mann in dieser ersten Reihe ist ein Trompeter, wobei zu wissen, daß dieß Instrument, ehe das Metall bekannt war, aus dickem Leder gebildet wurde.

Es folgen drei Pfeifer, doch nicht mit gleichen Werkzeugen: der eine bläst die kurze Querpfeife, die man Schwegel nannte; der zweite das Instrument, das bei den Griechen Syrinx, bei den Pfahlbewohnern Bündelpfeife hieß: Rohrpfeifen, nach der Tonleiter zu einer Gruppe geordnet; der dritte weiß einem ungleich entwickelteren, doch immer noch ursprunghaft unschuldigen Instrument eine Welt von etwas näslichen, doch innig rührenden Tönen zu entlocken: es ist der Dudelsack.

Die nächste Reihe bilden drei Krottler. Krott (der) hieß das Streichinstrument jener Völker: eine Geige mit drei bis vier Saiten. Kräftig führten die heiteren Künstler ihre derben Fidelbögen auf und nieder und ließen dem gezogenen Anstrich scharf gerupfte Risse folgen, die so recht mächtig an das Ohr der erbauten Hörer schlugen. Nicht daß diese biedere []vorgeschichtliche Fidel dem weichen Elemente verschlossen gewesen wäre, aber die Saiten waren immerhin etwas dick und die Roßhaarstränge des Bogens auch; ein schmelzendes Adagio, das doch wohl nicht fehlen wird, wäre für sie freilich eine schwierige Aufgabe gewesen. Da man sich zudem die Töne der Pfeifen auch nicht sehr flötenhaft vorstellen darf, so fühlte allerdings auch der Pfahlbewohner, daß das zärtere Tonreich einer doppelt starken Vertretung bedürfe.

So folgten denn zwei Reihen, also sechs Mann Blättler. Ihre Kunst war es, die in schönem Bunde dem Starken und Strengen das Weiche und Milde paarte, denn wirklich, sie wußten dem zwischen den Lippen erzitternden Buchenblatt Tonwellen abzugewinnen, denen der Nerv des Gehörs in der zartesten Schwingung nachzittern mußte. Diese Töne gliechen dem Summen und Surren schwärmender Bienen, aber wie arm ist diese zufriedene Musik der emsigen Thierchen gegen die melodischen Wechsel des lachenden Scherzes und sanften langen Weinens, wozu der seelische Menschenathem die grüne Pflanzenfaser bewegte! Alpin, den wir als Meister aller Blättler schon gerühmt haben, konnte sich dießmal der Mitwirkung nicht entziehen, er mußte vielmehr die führende Stimme übernehmen; es war ihm leid und lieb; wer gewußt hätte, was in ihm vorgieng, hätte sich leicht erklärt, warum heute sein Blättchen so besonders ergreifend, so bange und []wieder so wonnevoll erbebte, wenn man es zwischen den andern Stimmen und Klängen heraushören konnte.

Etwas auffallend war es, daß man in der Anordnung des Zuges dieß Weiche und Milde so unmittelbar neben das Stärkste des Starken gestellt hatte, denn hinter den Blättlern kamen, mit ziemlich behindertem Schritte, die Trommler gestiegen, vielmehr zwei Trommler und ein Pauker. Die Eselshäute waren natürlich nicht über Messing, sondern über ein Rund gezogen, das von Schefflerhand aus reinlich weißen Dauben gebildet und mit rothgefärbten Reifen umspannt war. Die Pauke muß man sich nicht wie die doppelte Kesselpauke unserer Orchester, sondern wie den gewaltigen Bau vorstellen, der bei der türkischen Musik quer wie ein Faß auf dem Bauche geschleppt und auf der einen Seite mit einem großen Schlegel, auf der andern mit einem Wedel bearbeitet wird. Eine Schaar Dorfknaben, die sehr fröhlich die Musikbande begleiteten und sich ihrem Geschmacke gemäß namentlich zu den Trommlern hielten, drängte sich am dichtesten um den starken Mann, der mit derben Fäusten auf dieß Ungethüm einwirkte. Sie schliechen sich ihm nahe, es gelang etwan einem der Schelmen, mit seinem Stecken auf das Paukenfell zu schlagen, er bekam einen Klaps mit dem Wedel und das gab denn nicht wenig zu lachen.

Zuletzt kam, einzeln für sich schreitend, ein Mann, []der ganz ausnahmsweise dießmal eine Rolle bei der Musik übernommen hatte. Es war der Dorfrätscher, das heißt das Gemeindemitglied, welches mit jenem Instrument, das man in einigen Gegenden Deutschlands eine Schnarre, in andern aber vermöge uralter Ueberlieferung aus der damaligen Zeit eine Rätsche nennt, zweierlei Verrichtungen vollzog. Als Ausrufer kündigte dieser nützliche Mann die öffentlichen Bekanntmachungen durch die Klapperlaute seines Werkzeuges an, wie seine Nachfolger in neuerer Zeit mit der Schelle, als Flurschütz verscheuchte er durch sein Geräusch die Vögel aus Obstpflanzungen und Aeckern. Die Rätsche war gewaltig groß, gut zwei Ellen lang; er hätte keinen Raum gehabt, sie zu drehen und zu treiben, wenn er zu Dreien gegangen wäre, so beschloß er den Zug als ungerader neunzehnter Mann. Er blickte stolz, er fühlte die Ehre, dießmal durch besondere Einladung des Druiden zur Kapelle gezogen zu sein. Bei der Einübung hatte er sich sehr gelehrig erwiesen und erprobte dieß schon jetzt durch richtiges und kräftiges Einfallen bei den stärkeren Stellen der uralten Marschmelodie, unter deren Klängen in gleichem Schritt und Tritt die Bande daher- und voranzog.

Nicht wenig reizte es die Neugierde der Knaben, die den Zug umschwärmten, daß einige der Musiker, namentlich die Bläser, stattliche, von unbekanntem Inhalt strotzende Taschen an der Seite trugen. Diese []lächelten zu den fragenden Blicken, der Gaisbub that besonders geheimnißvoll und schlug manchmal mit eigenthümlichem Augenzwinkern auf sein gefülltes Umhängsel.

Den Musikern schlossen sich, zunächst unthätig, die Singknaben an und hinter diesen gieng in dem Festanzuge und mit dem szepterähnlichen Stabe, den wir schon kennen, der Druide, sehr feierlich wandelnd, mit scharfgeschlossenen Lippen wie ein Mann, der eines Vorsatzes voll ist. Die sechs Gemeinderäthe fehlten auch heute nicht im Zuge, sie waren seine Assistenten und Zeugen bei der Opferschau. Die Ehrenstelle nach dieser Reihe nahmen die zwei Gäste, die Barden, ein; erst nach ihnen folgte dießmal der Weibel, der wieder dem Bittel und Ehegoumer vorangieng; ihm war jetzt das Amt zugefallen, dem Sängerbarden die große Harfe nachzutragen. Und nun erschien jenes Wesen, das schon im ersten Zuge nicht gefehlt hat: Urhixidur. Vor Jahr und Tag schon hatte der Druide seiner werthen Hausmeisterin auch das Ehrenamt einer Opferthierführerin, einer Opfernorne zuzulegen gewußt; nun war es verjährt und galt wie ein Brauch, der nicht anders sein könnte. Sie führte mit der Rechten ein schneeweißes Lamm an einem Rosaband, mit der Linken an schwarzer Leine ein schwarzes Böckchen. Beide Thiere waren mit einer Art von Schabraken geschmückt in denselben Farben und mit einem Saume von gelben Thonperlen und Fransen eingefaßt. Die Züge der []Greisin hatten heut etwas Entwölktes, sanft Heiteres, sie wendete sich mit weicher Beugung öfters zu den Thierchen, wenn sie nicht weiter wollten oder Sprünge machten, redete sie mit Kosenamen an und streichelte sie, namentlich das Böckchen, das, anfangs ganz munter, bald in eine Trägheit verfiel, ja so matt wurde, daß es sich zu Boden legen wollte. Die Alte konnte zwar nichts von klassischer Idylle wissen, wir aber, die wir davon wissen, können anders nicht sagen, als: sie fühlte und trug sich, ihr Alter schön vergessend, hold wie eine arkadische Schäferin. Ihr folgte, eine blutrothe Schürze angethan, der heilige Metzger: der Schlächter der Opferthiere. Auf der Schulter hielt er die Steinaxt, im Gürtel steckte ein scharfer, schmaler Meißel mit Hirschhorngriff. Die Klinge bestand aus einem Stein von ungewöhnlicher Farbe: grün mit graulichen Wolken durchzogen. Man fand diesen Stein nirgends im Lande, eine dunkle Sage gieng um, solche Opfermesser seien kein Naturerzeugniß, sondern eine Wundergabe der Götter selbst; er hieß daher heiliger Grünstein, während unsere profane Sprache ihm den Namen Nephrit gegeben hat. Der Gemeinde voraus, die dießmal, Männer und Frauen, Alt und Jung, am Zuge theilnahm, giengen heute die neu betuchten und durch Ritzung besiegelten Knaben und Mädchen, zu vier und vier marschierend wie die Gemeinde, und fleißig, obwohl meist unnöthig ihre frischen Tüchlein in Gebrauch []setzend. So wallte denn der Zug dahin. Als er über die Brücke war, fanden Alpin's Blicke in einer Gruppe von Mädchen am Ufer endlich die Eine, die sie suchten. Inniger und heißer hauchte er auf sein Blatt und entzückt sah Sigune herüber.

Der Zug langte am Opferplatz an; ein Flüstern des Staunens gieng durch die Reihen, je die Vorderen, am Dolmen Angelangten deuteten, rückgewendet zu den Folgenden, auf einen Gegenstand hin, der sich auf dem Steintisch befand. Es war Vielen aufgefallen, daß der heilige Metzger heute nicht wie sonst den Kübel trug, der das Opferblut aufzunehmen bestimmt war. Nun sah man auf dem Altar einen Topf stehen, zum Verwechseln ähnlich dem Coridwenhafen, dem Gegenstande scheuer Ehrfurcht nicht eben für Alle, doch für die Meisten in der Gemeinde. Der Priester hat, wie sich der Leser erinnert, die Zerstörung dieses geheimnißvollen Gefäßes „durch Frevlerhand“ öffentlich in der Versammlung beklagt. Unter den Vorbereitungen zum Festzuge hatten sich nun verschiedene Stimmen vernehmen lassen, man werde ein Wunder vorfinden, wenn man am Steinmal anlange. Sie giengen von einigen alten Männern aus, Mitgliedern des Gemeinderaths, und diese beriefen sich wieder auf ein paar alte Weiber und Kinder. Eine weiße Gestalt, hieß es, sei wie ein Nebelstreif aus dem heiligen Haine her zum Dolmen geschwebt und habe ein undeutliches Etwas auf ihn []niedergesetzt, das man, als sie verschwunden, als Coridwentopf erkannte. Eine Frau habe es gewagt, ihr hinkendes Kind naher zu führen, und ihm erlaubt, den Finger an die Wand des Gefäßes zu legen: kaum gethan, sei das Kind fröhlich aufgesprungen, das lahme Bein sei geheilt. Man zeigte das Kind, es war dem wirklich so. Und nun denn sah man wirklich den Topf da stehen! Als der Druide bei dem Altar anlangte, schien er zu stutzen, hemmte einen Augenblick seinen Schritt, betrachtete mit weit offenen Augen das Geräthe, gieng dann vorwärts und trat, nachdem der ganze Zug in der Ordnung eines Halbkreises aufgestellt war, feierlich vor den Pfeiler mit dem Steinbilde der Selinur. Er sprach ein uraltes Gebet, das die Weltenmutter anflehte, sich das Opfer gnädig gefallen zu lassen, und dem er heute mit tiefbewegter Stimme Dankesworte für das Wunder beifügte, das hier sichtbarlich den Augen des Volkes erscheine. „Du hast,“ sprach er, „o Göttin, das Gefäß neu geschaffen, in welchem einst jener geisterfüllte Brei gekocht wurde, durch dessen Genuß nach wunderbaren Wandlungen der Zwerg Gwyon zum Taliesin wurde, der unsern heiligen Orden gestiftet. Du selbst hast uns gewürdigt, in Lichtwolkengestalt diese Neuschöpfung als Göttergabe herbeizubringen und hier auf deinen Altar zu stellen, ja noch mehr, du hast seine Wunderkraft an einem unglücklichen Erdenwurm bethätigt!“ []In diesem Augenblick führte die Mutter das geheilte Kind hervor.

„Tanze und springe, du beglücktes Wesen!“ rief der Priester und das Mädchen umtanzte in rhythmischen Galoppsprüngen den Altar.

Er vollendete sein Gebet und jetzt führte Urhixidur das Lamm vor, es wurde am Altare festgebunden und fiel unter dem sicheren Hiebe des Schlächters. Das abfließende Blut wurde in dem Coridwentopf aufgefangen. Als das Thier ausgezuckt hatte, öffnete er mit dem Nephritmeißel seinen Bauch, zog die Eingeweide heraus, der Druide prüfte sie mit strengem Einblick, nickte dann mit froher Miene und besagte dadurch, daß das Opfer tadellos, glückverkündend und der Göttin willkommen sei. „Nimm es gnädig hin,“ rief er, „dieß zarte, gesunde Lammesherz! In ihm sind dir geweihet alle frommen Herzen dieser Gemeinde!“ Jetzt wurden die Eingeweide auf das Holz gelegt, das auf der Dolmenplatte gehäuft war, und das Feuer angezündet. Als es prasselte, hob der Schlächter den Topf auf und überreichte ihn feierlich dem Druiden. Langsam schritt dieser mit seiner heiligen Last hinweg, dem Haine zu und verschwand in dessen Dunkel. Lautloses Schweigen herrschte im Kreise. Alles Volk wußte, daß jetzt im Heiligsten des Waldes der Baum der Selinur mit dem Opferblute begossen wurde. Nach kurzer Zeit kam der Priester zurück, das Feuer brannte []noch und jetzt begann der Gesang des neuen Hymnus. Zur Begleitung hatte Kullur nur die Pfeifer und Blättler und für einige Stellen das Hirtenhorn beigezogen. Anfangs schüchtern, dann voller und freier folgte die Gemeinde der führenden Musik, den tragenden Stimmen der Knaben und älteren Männer, denen die Weise noch in Erinnerung war, das Gefühl des Ahnungsvollen in den traumhaft tiefen Worten ergriff sie stärker und stärker und bald schwoll ein Massengesang heran, so mächtig wogend, wie er aus Stimmen der heutigen Menschenwelt nimmermehr zu erzeugen wäre.

Als der Gesang ausgeklungen, trat der Druide vor und begann: „Ich erlaube mir nun, hochgeachtete Gäste und achtbare Gemeinde, euch den bescheidenen Versuch vorzuführen, dessen ich vorgestern Erwähnung zu thun mir die Ehre gab. Der Urheber eines Werkes ist ein parteiischer Zeuge für seinen Werth. Hört an, urtheilt, ich unterwerfe mich eurem Ausspruch! Nur die kurze Bemerkung schicke ich der Produktion noch vorauf, daß mir wohlbewußt ist, wie dieselbe vielleicht etwas länglich erscheinen dürfte. Dieß rührt daher, daß ich glaubte, ein Ganzes zunächst aus zwei Gliedern bilden und bauen zu müssen: das erste mehr lehrhaft, um dem Inhalt unseres heiligen Glaubens klaren, verständigen und verständlichen Ausdruck zu geben, das zweite Glied aber echt lyrisch, um dann auch der Empfindung ihr volles Recht zu gönnen, denn das Erste ist, daß die []Religion als strenge und deutliche Wahrheit feststehe, das Zweite, daß diese Wahrheit, nachdem sie den Menschen ganz durchdrungen, nun auch ganz in Gefühlsleben sich umsetze und verwandle. Uebrigens erwartet, wenn jemals, so gewiß auch dießmal, der große, furchtbare Grippo seinen besondern Fest- und Lobgesang. Dieser Pflicht wird mein Hymnus entsprechen und sich so zu einem dreigliedrigen gestalten. Noch bemerke ich, daß ich die achtbare Gemeinde für jetzt noch nicht zum Mitsingen aufzufordern für passend halte. Dem ersten Glied meiner Dichtung zwar ist eine alte strenge Weise zu Grunde gelegt, in welche die ehrenwerthen älteren Bürger schnell sich wieder einfinden werden; anders aber verhält es sich mit den folgenden Gliedern, wo Dicht- und Tonkunst zu ungewohnten Höhen kunstreicherer Bewegung sich aufschwingt und unter dem Mitgesang Ungeübter leicht die Feinheiten, insbesondere der Instrumentalbegleitung, leiden könnten. Ich schlage vor, ich rathe: singen wir gemeinschaftlich das erste, größere, einfachere Glied meiner Trilogie heute Abend zum Beginn des Festschmauses und überlassen wir es der Zukunft, ob nach öfterem Vernehmen das Gehör der Gemeinde auch in die schwierigeren, kunstvoller wechselnden Weisen der folgenden zwei Glieder sich so eingewöhne, daß sie zum Volksgesange werden können.“

Es erfolgte ein beifälliges Nicken, er hob die Hand []wie ein Kapellmeister, gab mit den ersten Worten den Ton an, die Knabenstimmen setzten hell und sicher ein, nur die Krottler begleiteten die ersten drei Strophen, bei der vierten und fünften wirkten die Trommler, der Pauker und der Rätscher mit, bei der letzten fielen die Blättler ein und ein Finale von Pfeifern und Hornbläsern setzte das Punktum. Da wir noch ganz andere Leistungen zu erwarten haben, so genüge es, zu bemerken, daß ohne Fehl und Mangel der Strom des Hochgesangs in Ohr und Gemüth der andächtig lauschenden Gemeinde sich ergoß.

Niemand soll die Nase rümpfen,
Daß wir zwischen Moor und Sümpfen,
Zwischen Schilf und Weidenstümpfen
Auf den Seen seßhaft sind!
Die du webst in Nebelhüllen,
Sanft erhaben in dem stillen
Mondschein thronest, deinem Willen
Folget fromm das Menschenkind.
Doch du hast uns auch belehret,
Deinen Willen uns erkläret,
Deine Gnade sei verehret,
Große Weltenspinnerin!
Du erlaubst, daß in die Zwecke
Unsre Einsicht sich erstrecke,
Zeigst uns, wo verborgen stecke
Deiner Vorschrift tiefer Sinn.
[]
Menschen pfleget zu befallen
Oft ein Uebel, das vor allen
Sie erfaßt mit scharfen Krallen,
Welches Pfnüssel ist benannt;
Kommt und wächst es ohne Regel,
Uebersteiget es den Pegel,
So wird davon Kind und Kegel
Bitterbös und wuthentbrannt.
Wenn es schleichet durch die Glieder,
Beißt und kitzelt hin und wieder,
Wenn es von der Nase nieder
Steigt bis in des Magens Schacht,
Aufwärts wieder dann erbrauset
Zum Gehirn, das gährt und sauset,
Dann im ganzen Menschen hauset
Grippo's finstre Herrschermacht.
Es erwachen, es entzünden
Sich dann in der Seele Schlünden
Alle Tücke, alle Sünden,
Bös Gelüste, dumpf und taub,
Wollust toll und ohne Schranken,
Zorn und Lust zu wüstem Zanken,
Mörderische Haßgedanken,
Diebstahl, Lug und Trug und Raub.
Diesem Uebel nun gebietet
Selinur, die uns behütet,
Die im grauen Seedunst brütet,
Ordnung, Ziel und Mäßigung;
[]
Regelmäßig soll es kommen
Und, ist es einmal entglommen,
Klar verlaufen und uns frommen
So sogar zur Läuterung.

Die Gemeinde hatte sich doch nicht ganz nur lauschend verhalten; einige gesetzte ältere Bürger und sogar einige alte Frauen hatten es sich nicht nehmen lassen, nachdem sie sich in die alterthümliche Choralmelodie wieder eingehört, bei der zweiten Strophe einzufallen, die Weiber nicht ohne den gewissen Näselton, der didaktischen Kirchenliedern im musikalischen Vortrag so gut ansteht, auch nicht ohne die Wagniß, bei gewissen Uebergängen angenehme Koloraturen anzubringen. Die übrige Gesellschaft aber verharrte allerdings in der Rolle des bloßen Zuhörers, der gesetztere Theil mit Gebärden und Mienen, die eine große Genugthuung kund gaben, ganz das Gefühl, wie wir es dem höchst einleuchtend Klaren gegenüber empfinden. Auf den jüngeren Gesichtern dagegen erschien ein gewisser Ausdruck, den man in Süddeutschland mit dem Worte zu bezeichnen pflegt: er hat den Glotzer. Dieser Ausdruck war so weit als möglich entfernt von irgend einem Zeichen des Urtheils, wir würden sagen: unbeschreiblich dumm, wenn wir geneigt wären, über gewisse Zustände, worin wir unfähig sind, zu irgend einem Gegenstand in ein inneres Verhältniß zu treten, ein herbes Gericht zu halten. Der Druide hatte []unausgesetzt die zwei Barden fixirt; sie kamen ihm jetzt entgegen mit sehr aufgeweckten Gesichtern, in denen sich zwar einige Verlegenheit spiegelte, wie sie zwischen Wahrheit und Höflichkeit durchkommen sollten, ohne doch allzu ironisch zu werden. Er ersparte ihnen die Schwierigkeit, indem er leuchtenden Auges bat, sie möchten ihr Urtheil noch zurückhalten und vorerst auch den poetischeren, lyrisch und musikalisch bewegteren Nachsatz hören, oder sozusagen den feineren Giebel seines Aufbaus betrachten.

Er wandte sich, gab wieder sein Zeichen. Ein Theil der Musiker war inzwischen beschäftigt gewesen, aus den mitgebrachten Säcken auf eine Schranne, die sie sich hatten hinstellen lassen, kleinere und größere Körper, Artefakte ganz unbekannter Art, sorgsam und geordnet hinzulegen. Wir geben zuerst den Text:

Sende, o Nebliche,
Mondenscheinschwebliche!
Sende das kitzliche,
Prickelnde, bitzliche,
kratzende, kritzliche
Uebel uns nur!
O Selinur!
Pfisala, Pfnisala, Pfeia!
Gleitende, Wehende!
Spindelumdrehende!
Hüte vor Stopfungen,
Stockungen, Pfropfungen,
Rasigen Knopfungen
[]
Gnädig uns nur!
O Selinur!
Pfuisala, Pfuiala, Pfuia!
Schenke, o Schimmernde,
Röhrichtdurchflimmernde!
Lästigen Fließungen,
Hustigen Niesungen
Läuternde Schließungen,
Schenke sie nur!
O Selinur!
Leiala, Fleiala, Fleia!

Die Musik begann je bei den zwei ersten Zeilen dieser drei Strophen mit einigen stimmungsreichen melodischen Sätzen, wobei die Blättler ihr Bestes thaten und nur von den Pfeifern unterstützt wurden. Das gewisse Helldunkle, Schwebende, Flüsternde, zart Geisterhafte in diesen Stellen kam wirklich zu gefühlter musikalischer Geltung. Bei den folgenden Zeilen aber sprang die Musik in ein Element über, welches die Welt bis dahin noch nicht gekannt hatte. Statt sich im Melodischen gedankenlos zu wiegen, wurde sie ganz nur ausdrucksvoll. Nicht nur, was jedes Wort, nein, was jede einzelne Sylbe, ja jeder Buchstab sagte, kam in Tönen, Tonbewegungen, Klangfarben zu unnachahmlich charakteristischer Offenbarung. Zu diesem Zweck nun bedurfte es auch neuer instrumentaler Mittel; in einer Reihe geheimgehaltener Berathungen mit dem Druiden hatte der Gaisbub unter seiner Anleitung []und inspirirt von seinem eigenen eminenten Talent eine Anzahl ungekannter Zuthaten zu den Tonwerkzeugen, kleine Kunstwerke für sich, geschaffen; für die Trommler hatte er verschiedene, feinere und gröbere, rund- und ovalköpfige Schlegelpaare zierlich hergestellt, die Syrinxpfeifen hatten Ansatzstücke nach Höhe und Tiefe aus Schilfrohr erhalten, die mittelst feiner Hornhaften schnell angefügt werden konnten; die Löcher der Schwegeln waren vermehrt, jede hatte zum Abwechseln drei neue Einsatzstücke bekommen; da es noch keine Drehbank, also auch keine Schrauben gab, so hatte es keine kleine Mühe gekostet, es zu bewerkstelligen, daß diese neuen Theile durch fein geschnitzte, wohl gerundete und geglättete Nüsse und Zapfen dem schnellen Wechsel mitten in der Produktion bequem und handlich dienten; so hatten ferner die Dudelsackpfeifen, das Stierhorn und die Ledertrompete verschiedene Mundstücke von breiterer oder schmälerer Oeffnung erhalten; die größte Sorgfalt aber hatte der junge Tausendkünstler auf sein eigenes Instrument, das lange Kuhreigenhorn verwendet: hier waren die Zuthaten am reichsten und die Arbeit die feinste, nicht nur verschiedene Mundstücke von ungleicher Weite der becherförmigen Oeffnung, sondern auch Endstücke von verschiedenem Durchmesser der Mündung waren bestimmt, als Mittel zu vielsagenden Tonschattirungen zu dienen. Nun begann diese Wunderwelt von neuen Bereicherungen []der Mechanismen ihre ganze Kraft und Fülle zu entwickeln bei den drei gleichreimigen Zeilen in der Mitte der Strophen, und noch unendlich mehr bei den aus der Tiefe des Wesens der Sache und der Sprache mit dunkelgewisser Symbolik des Klanggefühls geholten Lautfiguren je in der letzten Zeile. Diesem Schlusse gieng aber in jeder Strophe wieder eine Leistung der sanften Blättler voraus, denn ihnen war vorherrschend die Begleitung der Anrufungen der Göttin in der dritt- und vorletzten Zeile übergeben, schön lösten sie die Aufgabe, an dieser Stelle in die weichen Modulationen der Versanfänge zurückzulenken, und so bewegte sich denn die volle, mächtige Orchesterentfaltung zweimal in jeder Strophe durch eine Welt lebendiger Kontraste zum seelenvollen Schluß. Wie sollte man nun mit den Mitteln der Sprache sagen können, welchen Ausdruck das gewisse Spitzscharfe der I und Z in dem: „kitzliche, bitzliche, kritzliche“ durch die neuen Tonmittel fand! Mehrere Zuhörer mußten unmittelbar niesen und husten, es fuhr ihnen, wie vom Ohr in die Seele, so von der Seele flugs in die Nase. Bekannt ist, daß bei den schnuppigen Vorgängen in Nase, Rachen und Lippen neben anderen akuteren auch gewisse blasende Töne erscheinen; diese höchst feine Nüance kam in der Exekution des „Pfisala, Pfnisala, Pfeia“ zu ungeahnter, geradezu hinreißender Geltung. Im folgenden Vers das dumpf Verschlossene, Luftsuchende in []den Reimen „Stopfungen, Pfropfungen, Knopfungen“ — es erdrückte den Hörern fast den Athem, der hornund lederdunkle Ton des Stierhorns und der Trompete versetzte das Gemüth mitten in den Engpaß der bang versperrten Nasenhöhle, und wohlangebrachte Paukenschläge mit den größeren Schlegeln vermehrten die finsteren Schrecken dieser Gefangenschaft; knarrende Rätschenlaute, schrille Pfeifentöne, scharfe Fidelbogenrisse, näselnde Dudelsackschnarrungen dazwischen gaben den momentanen Oeffnungen der Einpressung, diesen kargen Befreiungen ihr wohlverdientes Recht. Jetzt folgte das mächtig beredte: „Pfuisala, Pfuiala, Pfuia!“ Hier that das lange Hirtenhorn sein Bestes, nicht ohne daß Stierhorn und Trommel wieder großartig mitgewirkt hätten; breite, fagotartige Klänge zogen sich mit gehaltener Energie zu gestreckter Dehnung aus, die Krottler giengen von ihren kurzen Rupfen zu lang getragenen Strichen über, Paukenschläge besagten ein Etwas wie verwerfenden Abscheu, aber gleichsam mit geistreicher Frivolität wurde dieses Pathos umspielt von kurzen, neckisch tanzenden Blatt- und Pfeifentönen. Dann nahmen diese weicheren Tonwerkzeuge einen Uebergang in's Schmelzende und Rührende, womit sie die letzte Strophe, diesen stimmungsvollen Ausdruck der Lösung, der Befreiung einleiteten. Zwar nicht sogleich erfolgte dieser Uebergang, gewisse rinnende und rieselnde Töne, bei den „lästigen Fließungen“ []hervorschlüpfend, hatten noch etwas Gehemmtes, Stockendes, Aengstliches, dann wieder Heftiges; als die „hustigen Niesungen“ folgten, wurde mit kurzen Paukenwirbeln, Knarrgeräuschen, punktuellem Pizzicatospiele auf den Fideln, mit einzelnen Hornschmetterungen noch einmal das nun fernab schwebende Uebel angedeutet, aber bei den „Schließungen“ begann nach einer Ruhepause ein himmlisch sanftes Adagio flötenartiger Mollklänge, das für seine völlige Entwicklung sich an den finalen Sylben-Ausklang: „Leiala, Fleiala, Fleia“ wundermild anlehnte; jetzt wurden ja nicht nur die hellen Vokale ei und a, sondern auch die weichen Konsonanten L und F aus Buchstaben zu musikalischen Tönen und offenbarten erst so den geheimnißtiefen Sinn ihrer Wahl; innige, seligmüde Auflösung, das war das Grundgefühl; die Mehrheit der Zuhörer, der Frauen insbesondere, ergossen sich in wehmüthig sanfte Thränen, ein kurzer Paukenschlag — und die Aufführung war geschlossen.

Langes Stillschweigen, dann ein gezogenes, tiefgeholtes „Ah!“ und hierauf brach ein Jubelsturm los ohnegleichen, — zwar nicht allseitig; einige Zuhörer verharrten in Schweigen, andere brummten, etliche wenige grunzten, aber diese Verstockten wurden überflutet vom Stimmengewoge der jauchzenden Menge. Man eilte auf den Schöpfer des Wunderwerks zu, man umarmte ihn, man rief: „Ueberweltlich!“ Aber er erwehrte sich; als er zu Worte gekommen, sagte er []sehr ernst: „Wir haben des ernsten Gottes Grippo noch nicht gedacht! Zuerst das Opfer! Dann das letzte Glied des Hymnus, den Schluß der poetischmusikalischen Triade!“

Er trat vor den Pfeiler mit dem Molchbild. Er schaute lang die rohe Steingestalt an mit bedenklich ernsten Blicken. Er sprach feierlich das Gebet an den Gott und rief dann Urhixidur zu: „Führe das Opfer vor!“ Sie stand bei dem Böcklein und schien es mitleidig anzusehen, denn es lag matt am Boden. Sie zog es in die Höhe, es stand schwank auf den Füßen, der heilige Metzger that wieder seine Pflicht, dann ward der Bauch des getödteten Thierchens aufgeschnitten, der Druide sah hinein und schüttelte bedeutungsvoll trüb den Kopf. „Der Magen entzündet! Milz und Leber geschwollen!“ sagte er in dumpfem Tone und erklärte: „Grippo verschmäht das Opfer, das Opferholz wird nicht angezündet! Der heilige Baum muß unbegossen bleiben!“

Eine bange Stille lag über allem Volk. „Seinen Hymnus aber wird er nicht verschmähen, tretet abermals vor, ihr Sänger und Musiker!“ Sie folgten, sichtbar erschöpft, am meisten der Gaisbub. Ehe sie begannen, sprach der Druide: „Ich ersuche die hochachtbare und achtbare Gesellschaft, zu bemerken, daß ich für angemessen erachtet habe, bei diesem dritten Gliede meines Dreigesangs, das ebensosehr auch als []selbständiger Hochgesang zu gelten hat, die uralt gewichtige Form des Stabreims anzuwenden, und zwar, was ich nicht zu übersehen bitte und was nicht sehr leicht war, in dreizeiliger, zum Theil selbst vierzeiliger Durchführung. Was ihre Klangverhältnisse ausdrücken, werdet ihr fühlen, wenn ihr mit offnen Sinnen hören wollt. Hebet an!“

„Du aber, Grippo!
Grimmiger Greifer,
Grunzender Lindwurm,
Dräuender Drache!
Jegliche Dumpfheit,
Dickung und Dämmung,
Die das Gehirn drückt,
Wenn sich der Pfnüssel
Sperret und pferchet,
Spare dem Pfahlmann,
Pfropfe dem Feind ein,
Daß er in Stumpfsinn
Stocke und starre,
Sticke und stiere!
Uns aber lasse,
Liegen im Krieg wir,
Lästigen Uebels
Einziges Gute,
Glühenden Wuthbrand,
Grinsende Zornwuth!
Laß von dem Schnupfen
Uns nur das Schnauben,
Schäumende Toben,
[]
Daß unter Streichen,
Stichen und Stößen
Sterbe der Feind! —
Wähle dein Opfer!
Wir bringen's willig!
Wär' es das Höchste:
Heiß schlagend Manns Herz,
Heische es immer!
Wir zucken Messer
Zwischen die Rippen,
Ziehen es zerrend
Rasch aus des Feinds Brust,
Wildfrechen Frevlers;
Feuer soll flammen,
Blutrothe Zacken
Hoch aus der Beuge
Brennender Scheiter!
Und in die Lohe
Werfen das leckre
Liebliche Mahl wir
Loblieder singend.
Griffolo, Griolo, Grio!
Gruffulu, Grugulu, Gruffu!“

Wir müssen hier jeden Versuch aufgeben, in Worten zum Ausdruck zu bringen, was bei dieser dritten Leistung nun noch den Singstimmen zugemuthet war und welches schäumende Meer von dumpfen, drohenden murrenden, aufzischenden, schrillen, zum Theil auch vermittelst grellen Pfeifens durch die Finger hervorgebrachten, dann donnernden, brüllenden, wirbelnden, []dann gedehnt anschwellenden oder wellig geschlängelten, dann wieder aufschreienden, bellenden, grellrätschenden Instrumentaltönen losgelassen wurde. Es war dem Dichter und Komponisten gelungen, ein höllisches Konzert, einen Hexensabbath zu entfesseln, dem in jetziger Zeit kaum der Gehörsnerv eines Ochsen gewachsen wäre. Das Unmögliche war wirklich gemacht: diese Musik erst war ganz und wahrhaft nicht nur entwickelter Vokal, sondern — wie es der Stabreim mit sich brachte — sogar entwickelter Konsonant. Die G, die D, die Pf, die St, die L, wieder die G, die Sch, von Neuem die St, die W, die H, die Z, die F, die B, die abermaligen L, endlich noch einmal die G als Gr wurden — weiß der Himmel, vermöge welcherlei unaussprechlicher Verwendung der aufgeführten Instrumente mit ihren neuen Zusätzen, wozu noch klappernde Büschel von Hölzchen, Säckchen voll kleiner Steine und aus dem Reiche der Fauna getrocknete Gansgurgeln mitwirken mußten, — alle diese Laute wurden bis zu vollendeter Charakteristik ihres tiefen Sinnausdrucks reproduzirt. Die wilde Musik der ungarischen Zigeuner sei, sagt man, in Noten nicht darzustellen — von solcher Schwierigkeit war der große Künstler Angus durch den Umstand befreit, daß es damals noch keine gab; — sagen wir aber nicht: Noten, sondern: Gesetz —: nur ein Prophet, der das Senkblei seines Geistes in den Abgrund noch verhüllter Weltordnungen niederzulassen []vermag, wäre fähig gewesen, dieser ungeheuren Tonwelt in die Tiefen ihres verborgenen Melodie- und Harmoniegesetzes nachzutauchen. Das Höchste war nun aber auch hier wieder in den Ausklangsylben geleistet. Die Musik war wilder und wilder geworden, als sich der Text zu der Stelle vom Menschenopfer fortbewegte, das dem Grippo, wenn er es verlange, bereitwillig geweiht sein solle. Dumpfe Trommelwirbel kündigten das Schreckliche an, ein plötzlicher Schlag schien zu sagen: jetzt wird dem Feind das Herz aus dem zerschlitzten Leibe geschnitten! Dann meinte man ein zischendes Reißen zu hören, tief, dunkel, todesbang klang es hervor, wo die Worte „wildfrechen Frevlers“ betont wurden, — dann fieng es an zu lohen, zu prasseln, es war, als würden Töne zu leckenden Flammenzacken, zu wirbelndem Rauch, plötzlich bei den Worten: „Das leckere liebliche Mahl wir, Loblieder singend“ drang, von den Blättlern und Schweglern vorgetragen, eine weiche Melodie dazwischen, doch nur um dem Grausen Platz zu machen, das nun eben bei den so bedeutungsvoll unsprachlichen Schlußlauten in die Seele des Hörers gepreßt wurde. In der ersten Reihe derselben, wo der Vokal I herrscht, sprangen aus dem schwarzen Hintergrunde der geblasenen Tieftöne der zweierlei Hörner und der Trompete noch eigenthümlich scharfspitze Klänge der höchsten Pfeifenregister hervor, stärker und schwerer intonirten diese Blaswerkzeuge, als in der zweiten Reihe (Gruffulu []u. ff.) nun das U in seine tiefsinnige Rolle eintrat. Schauriger und schauriger wuchsen diese Töne, jetzt mischten sich in anschwellenden Wirbeln wieder die Trommeln ein, dann furchtbar knarrend und schnarrend die Rätsche, nach und nach alle Instrumente und endlich schien der Höllenschlund selbst — „besinnungraubend, herzbethörend, des Hörers Mark verzehrend“ — alle seine Schrecken, seine Dämonen, seine Furien auszuspeien. Der Barritus, das Kriegsgeheul der Cimbern und Teutonen, vor dem die Legionen des Marius bebten, war ein Spaß dagegen. Ein langer, centnerschwer ahnungsvoller Stierhornton ließ als Finale alle Welt der Todesbangigkeit, die in diesen musikalischen Schrecknissen zum Durchbruch gekommen, zukunftdrohend in's Unendliche hinüberdröhnen.

Als die Zuhörer nach und nach zu sich kamen, war es, als ob man auf ein Schlachtfeld sähe. Die Sänger und Musiker lagen halb ohnmächtig am Boden, der Rätscher wirbelte taumelnd im Kreis, der Gaisbub wälzte sich, mit Todesschweiß bedeckt, in epileptischen Krämpfen, der Arme hatte sich des Guten zu viel zugemuthet. In ähnlichem Zustand befanden sich die Hörer und noch mehr die Hörerinnen. Nur ganz wenige unter den Männern waren ruhig geblieben und schienen einfach zu denken, was denn eigentlich das nun sei, was sie gehört hatten. Weit die Mehrzahl war außer sich. Von den Weibern lag ein Theil []von Weh und Entzücken geschüttelt halbtodt zappelnd an der Erde. Andere, im Verein mit der empfänglichen Mehrzahl der Männer, jubelten, jauchzten, klatschten sich die Hände fast blutig, schrieen, tobten, weinten, Einige waren vom St. Veitstanz ergriffen, Andere tanzten Figuren, die mehr dem Saltarello und der Tarantella gliechen, die Mehrzahl stürzte, von heiliger Wuth ergriffen, auf den Meister zu, ihn zu umarmen. Er aber stand ruhig, hielt sie ab und als er sich nothdürftig Stille geschafft, sprach er: „Ihr habt nun gehört, was wir können! An euch liegt es, ob es künftig eine Pfahlvolkmusik geben soll!“

Dieses große Wort brachte die Nerven zur Ruhe, indem es vor das innere Auge ein Zukunftsbild hinstellte, an welchem die Geister still hinaufstaunten. Als sie, so beschwichtigt, nach Möglichkeit zu sich gekommen waren, stieg in der Gemeinde die Erinnerung an das von Grippo verschmähte Opfer und hiemit die Frage auf, was nun in dieser Rücksicht geschehen solle. Die Frage wurde laut, durchlief die Reihen und gelangte durch einen Gemeindeältesten an den Priester. Er schwieg mit geheimnißvollem Ausdruck im Blick und, als hätte er gar nicht gehört, rief er dann in ganz gemüthlichem Tone: „Wir haben unsere Seelen zu tiefem, andachtsvollem Ernste gesammelt, haben sie hoch, höchst, zum Höchsten empor angespannt, laßt sie uns nunmehr abspannen! Laßt uns Kinder sein, uns []wie Kinder freuen! Dem Erhabenen folge das heitere Spiel. Auf zum Haine!“

Gern begleitete ihn die Schaar in eine Lichtung des Haines, wo sie eine einfache Bühne aufgeschlagen fand. Die Einfassung war aus Laubwerk, einem Geflechte blattreicher Zweige, hergestellt. Ueber das wenig erhöhte Podion weg sah man in den natürlichen Wald, dessen Boden hier etwas aufstieg, so daß sich der künstliche der Bühne an ihn anlehnte und das Waldstück bequem für die Handlung verwendet werden konnte. Ein paar Felsblöcke zwischen den Bäumen konnten dabei so oder so ganz gut mitbenützt werden. Was von Musikanten sich wieder emporgerafft hatte, war vor der Bühne als Orchester aufgepflanzt. Es war gut, daß eine Trauerkunde, die langsam sich verbreitete, erst gegen Ende der Aufführung das Ohr der Künstler erreichte: der Gaisbub war gerettet, hatte aber einen Leibschaden genommen. — Ein Hornsignal gab das Zeichen zum Anfang. Ein Herold trat auf die Bühne, lebendiger Theaterzettel; er blies auf seiner Ledertrompete eine Fanfare und ließ sechs sonderbare Töne folgen, zwei spitze und einen starkdumpfen, dann wiederholte er solche in umgekehrter Ordnung: ein Vorbild dessen, was der folgende Titel mit Worten besagte; er setzte ab und rief: „Wir werden heute die Ehre haben, unseren hochachtbaren und biederen Gönnern vorzuführen das Tanzspiel:

[]

Hu — hu — brum — brum — hu — hu! oder Entbehrung ist Entbärung,

erfunden und in Szene gesetzt

von

Hopp-Hoppodur.

Das Spiel begann. Ein mächtig großer Bär trat auf, in jeder Bewegung noch plumper, als Bären sonst sind. Er setzt sich auf einen Felsblock, streckt die Vorderfüße sehnsuchtsvoll in die Luft, drückt auf jede Weise das schmerzliche Gefühl des Alleinseins aus und ergießt sich in Thränen. In Ermanglung eines Sacktuchs wischt er sich die Augen und sofort auch die vom Weinen hörbar affizirte Nase mit den Tatzen, welche er hierauf an seinem Pelz abreibt. Heftiger wird das Weinen, es geht in Gebrüll über, heftiger werden die genannten Wischbewegungen. Plötzlich hält er inne, starrt in's Weite und verschwindet mit schwerfälligen Sprüngen von der Bühne.

Nach kurzer Zeit erscheint eine Bärin, ungewöhnlich glatt von Pelz, von rundlicher Hüftbildung und weich von Bewegungen. Hinter ihr Petz. Sie setzt sich mit vornehmem Anstand auf den Felsblock. Petz wartet vor ihr auf, ringt die Vorderfüße, fällt dabei ungeschickt um und wälzt sich wild brummend am Boden, die Bärin lacht. — Es war wie im italie []nischen Maskenspiel erlaubt, mit einzelnen Lauten die Stummheit der Pantomimen zu unterbrechen. — Petz richtet sich auf, bricht in Thränen aus, wiederholt die unanständige Art des Abwischens und will die so gebrauchte 'Pfote der Bärin reichen. Er erhält eine große Ohrfeige. Geht ab mit traurigem Grunzen.

Die Bärin drückt durch Gebärden aus, daß dieser Verehrer denn doch an sich eine brave, künftiger Tröstung nicht unwerthe Natur, vielleicht ein nur noch ungeschliffener Edelstein sein dürfte. Langsam, schüchtern, ganz niedergedrückt erscheint Petz wieder vor dem süßen Bilde. Sie fordert ihn auf, zu tanzen. Er versucht ein Solo auf den Hinterbeinen. Fällt wieder öfters und überkugelt sich mehrmals, läßt sich durch das Lachen der Dulcinea nicht verstimmen und versucht eine neue Methode. Er fängt an, sich wie in einem Menuet einfach, aber in durchaus reizender Weise nach der Angebeteten vorwärts und zurückzubewegen und bei jeder Annäherung, aufgerichtet, eine zierliche Verbeugung zu machen. Wir müssen hier einschalten, daß der darstellende Künstler diese Weise, den Hof zu machen, gründlich der Bärennatur abgesehen hatte und mit vollendeter Virtuosität wiedergab. Petz war unermüdlich in diesen Pas, wohl fünfzigmal bewegte er sich auf seinen rutschenden Sohlen hin und wieder. Endlich spiegelt sich Erweichung in den Zügen des so schmelzend angeschmachteten Weibs. Aber jetzt ereignet []sich leider eine Ungebührlichkeit. Der Bär muß vor Rührung niesen. Er fällt in seine Unbildung zurück und gebraucht wie vorhin die Pfoten. Petzin will zu einer zweiten unsanften Behandlung ausholen, besinnt sich aber, trabt plötzlich hinweg und erscheint nach einer Pause, in welcher sich der Verlassene trostloser Verzweiflung hingegeben, unter dem Jubel der Zuschauer mit einem schneeweißen, roth gesäumten Tüchlein. Mit Grazie zeigt sie ihm den Gebrauch, mit Grazie reicht sie es hin, sinnend betrachtet es Petz, man sieht, daß ein radikaler Prozeß in seinem Geist und Gemüth vor sich geht und — zum ersten Mal im Leben — schnäuzt er sich — kräftig, vernehmlich, laut!

Lebhafter Beifall. Der erste Akt ist vorüber. Mit kühnem Geistesfluge nimmt der Tanzdichter an, eine geraume Zeit, Monate, Jahre seien in der kaum viertelstündigen Pause verstrichen. Hornstöße verkünden den Anfang des zweiten Aktes; ihnen folgt eine lustige Melodie von Pfeifen und Blättlein, unter deren Klängen eine glückliche Bärenfamilie auf die Bühne tritt. Vier muntere Kinder folgen dem zärtlichen Elternpaar. Der kleine Bruder und das Schwesterchen Sigunens mit zwei Nachbarkindern stacken in den Pelzen. Wer je den Galopp von Bärenjungen gesehen und bemerkt hat, wie drollig sie dabei mit dem rechten Hinterbein nachschieben, der mußte staunen, mit welcher Meisterschaft die klugen Kinder das vorstellten; schon in ihrem []Alter zeigte sich die Schärfe der Beobachtung, die Geschicklichkeit der Nachahmung charakteristischer Thiertypen, wie sie Naturvölkern eigen ist; man weiß, mit welch' treffender Wahrheit die Indianer in ihren Tänzen diese naive Kunst üben; kein moderner Pantomime, der den Joko spielt, wird diese Kinder erreichen. Nun entwickelte sich in diesem Familienkreise ein herzgewinnendes Bild von sorgsamer Erziehung. Die Jungen wurden von Vater und Mutter gelehrt, das Tüchlein richtig zu brauchen, einer der Söhne, als er ein Schwesterchen zauste, vom Papa mit einer Ruthe gestrichen, wobei er ihn elegant zwischen die Beine nahm und ihm hinten aufmaß; ein Sturm von Gelächter brach im Publikum, namentlich unter den Frauen und Mädchen los, als in einem kritischen Moment die Mama hinaustrabte, mit einem Topfe wiederkam und die kleinere Tochter zierlich darauf setzte. Nach solchen Handlungen erziehender Thätigkeit erfolgte orchestischer Unterricht, der nach einigen drolligen Vorübungen so beschleunigte Früchte trug, daß die Familie zu einem ordentlichen Tanze schreiten konnte. Es war ein Landler, was sie aufführten, das heißt jener Tanz, wovon unser Walzer nur ein geistlos weggebrochenes Stück ist: zuerst walzte Papa mit Mama, dann je ein Brüderchen mit einem Schwesterchen, hierauf lösten sich die Paare, jeder Tänzer schien sich mit der Tänzerin zu entzweien, eilte ihr nach, fieng sie, faßte sie an beiden Händen, hielt ihr die []eine hoch und sie schlüpfte, während Beide sich zugleich drehten, unter den gehobenen Armen durch, dann ließ er sie wieder los, Tänzer und Tänzerin kreisten jetzt jedes selbst wieder wirbelnd, umeinander, dazwischen machten die Tänzer allerhand Kunststücke, sprangen hoch, patschten sich in der Luft mit den Händen auf die Fußsohlen, juchzten dazu, ergriffen ihr Diendl wieder und endlich wurde die allgemeine Wiederfindung und Beglückung mit einem rasenden Schlußwalzer besiegelt. Inzwischen hatten sich aber nach und nach auf der Bühne selbst Zuschauer eingefunden: ein Wolf, ein Fuchs, ein Dachs, ein Füllen, ein Wildschwein, eine Gemse, ein Steinbock, ein wilder Kater, ein Murmelthier, ein Auerhahn und noch mehreres Waldvolk; sie schienen die Feindschaft unter sich zu vergessen, fiengen an, das Tanzen nachzuahmen, anfangs täppisch, unglücklich, dann geschickter, behender, die Musiker waren längst wieder erwarmt, bliesen und schlugen, was das Zeug hielt, die Thiere wurden sämmtlich so charaktertreu gespielt wie die Bären und fügten sich unbeschadet dieser Besonderheit immer glatter in das Gesetz, das die Tanzverschlingungen beherrschte. Endlich vereinigte sich Alles zu einem großen — Cotillon würden wir sagen, Volltanz sagten die Pfahlleute, und dieser Volltanz schloß mit einer höchst korrekt und zierlich durchgeführten Schnupftuchtour.

Der dritte Akt trat ein ohne eigentliche Pause, doch []nicht ohne nachdrücklichen Einschnitt. Man vernahm plötzlich ein furchtbares Grunzen, ein eigenthümliches Schnarchen, Speien, Prusten. Der Tanz stand augenblicklich still. Aufgerichtet horchten die sämmtlichen Thiere. Ein Drachenungethüm wackelte auf die Bühne, es spie Feuer, glutroth funkelten seine Augen, ein rother Kamm bekrönte schrecklich seinen krokodilähnlichen Kopf, kurze Flügel schwankten auf seinem Rücken, lang hin starrte sein schuppiger Schwanz. Die Thiere stieben auseinander, der Drache wirbelt auf der leeren Bühne um seine Axe, zuerst die Bären sind es, die vorsichtig wieder den Kopf hereinstrecken, sie wagen sich herbei, der Petz wirft sich dem Ungethüm rittlings auf den Hals und bearbeitet seinen Kopf mit den Tatzen, die Bärin, ermuthigt, steigt auf seinen stachligen Rücken, die Jungen setzen sich auf seinen Schwanz, in wilderen und wilderen Kreisen wirbelt das Scheusal. Jetzt geschieht ein kleiner Unschick. Die Drachenmaske war mühsam und sinnreich genug, doch eben nicht allzu haltbar aus Leinwand und Bast zusammengestoppelt und mit dem Nöthigen ausgestattet, um Feuer zu speien, — der Künstler war derselbe Bappabuk, der die Festscheibe erbildet hatte. Bis dahin war es nun ganz ordentlich gegangen, jetzt aber fieng der Drache auf einmal an, ganz menschlich zu husten, gleichzeitig fiel ein Kohlenbecken aus seinem Rachen, und eine Hand fuhr heraus und griff darnach. Dank der Höhe, []auf welcher die Bildung der Pfahlbewohner angekommen war, hatten sie bereits das Bärlappenmehl erfunden; der eine der zwei in dem Balg verborgenen Bursche, der vordere, dessen Beine in den Vorderfüßen stacken, hatte neben dem Prusten, Brüllen, Grunzen, das er im Verein mit seinem Hintermann besorgte, das Feuerspeien in's Werk zu setzen; er blies den genannten Staub aus einem Federkiel über die Kohlen; jetzt verschluckte er sich im Einathmen des Rauchs und stieß den schwachbefestigten Kohlentopf hinaus. Der hintere Bursche, unbequem auf dem Bauch liegend, um dem Rumpfe des Unthiers mit seinem Leib eine Füllung zu geben, hatte überdieß zwischen seinen Füßen hindurch, welche die Hinterbeine vorstellten, nach rückwärts ein schwankes, schlankes Weidenstämmchen zu regieren, das den Grat des Schwanzes bildete; es war keine Kleinigkeit, diese Stange festzuhalten, als die Bärchen sich darauf setzten, sie entfiel ihm, zerrieß die Wandung der künstlichen Form, der Schwanz brach ab, die kleinen Petze kugelten um. „Thut nichts, thut nichts!“ schrieen ein paar muntere Bursche aus der Mitte der Zuschauer, hemdärmelig, die Wämser resolut über die linke Schulter geworfen; „nur lustig weiter, kleiner Meilyr, kleiner Cynddelw!“ Man ordnete den Schaden mit Schnüren so gut es gieng, die zwei munteren Grippospieler halfen sich weiter so gut sie konnten, die übrigen Thiere erschienen, nun ebenfalls []ermuthigt, wieder auf der Bühne und es erfolgte ein rasendes Zausen zwischen dem Drachen und der ganzen Gesellschaft, dem jedoch gewisse Töne ein so plötzliches Ende setzten, wie vorhin die Erscheinung des Drachen dem Rundtanz. Die Töne waren nicht stark, es war ein feines, hochstimmiges Wimmern; man erkannte den klagenden, weichen Laut des Kibitzes. Ein paar erlegte Exemplare der Gattung wurden über die Bühne so geworfen, daß sie fliegend scheinen konnten; das Wimmern wußte ein Meister im Nachahmen aller Vogelstimmen, wie Hopp-Hoppodur, hinter der Szene täuschend genug hervorzubringen. Jetzt aber läßt sich ein Ton ganz anderer Art vernehmen, ein Ton, der schwer zu beschreiben ist. War es ein Heulen, ein Schnarren, Bellen, ein Brüllen? Gewiß war nur, daß der Ton eine Stärke hatte, als käme er aus dem Hals eines großen Vierfüßlers. Die Laute waren, in Sylben dargestellt: „Hu! Hu! Brum!“ Dann folgte zuerst „Brum“ und die „Hu, hu“ wurden jetzt zum ausund nachtönenden Schlußklang. Das waren denn die Töne, welche den Titel des Tanzspiels bildeten, wo sie nur zugleich nebenher dem Brummen des Bären galten. Die Thiere standen wie versteinert, der Drache saß aufrecht auf der Wurzel seines nothdürftig wieder befestigten Schwanzes, der vordere Insaße hatte sich auf die Schultern des hinteren gesetzt, des letzteren Beine trugen und hielten mühsam das Ganze und der Schwanz []legte sich zwischen ihnen hervor wie ein langer Frack über die Bühne. Im damaligen Publikum gab es keinen Zuschauer, der den Ton nicht ganz gut kannte; von unsern heutigen Lesern kennen wohl nur wenige den Ruf der Rohrdommel so gut, sie hätten erst warten müssen, bis dieser Wasservogel, der Selinur heilig, nun in Person auf der Bühne erschien und seinen unheimlichen Geisterruf wiederholte, nicht in Einem nur, sondern in sechs Exemplaren, die gravitätisch wie Soldaten eintraten, sich in drei und drei theilten und nun wie beorderte Leibwachen freien Raum für eine noch unsichtbare, ehrfurchtsvoll erwartete Persönlichkeit herstellten. Die übrigen Thiere drängten sich willig hinter diesen lebendigen Spalieren zusammen. Die gelben, schwarzgefleckten Bewohner des Röhrichts ließen hierauf wieder ihren seltsamen Brüll- und Klageruf vernehmen, reckten dabei die dicken Hälse lang vorwärts, zogen sie dann ein und stellten die Köpfe, die jetzt halslos auf dem Rumpfe zu ruhen schienen, steil aufwärts, daß der Schnabel zum Himmel sah, und so standen sie nun als unbewegte Schildwachen, allerdings nur auf Einem Bein oder vielmehr „Ständer“, wie der schulgerechte Jäger sagt. — Stumme, erwartungsvolle Pause. Da wandelt aus dem Wald eine schneeweiße Kuh hervor und stellt sich mitten in die Oeffnung der zwei von hier in die Breite der Bühne auslaufenden Spalierradien. Sie blickt sanft und groß. []Alle Thiere stehen jetzt tief gebückt, der Drache kriecht vor sie hin und winselt. Sie brüllt weich, lieblich, mit mütterlichem Tone. Auf einmal erscheint ein munteres Kalb, ein Scheck; es vergnügt sich in schwerfälligen, ungeregelten Sprüngen. Das wurde wiederum ganz meisterlich agirt; der Künstler wußte sich mit ganzer Seele in das gründlich Unvermittelte, jedes runden Uebergangs Entbehrende der Scherzbewegungen des Kuhsöhnchens zu versetzen; bei der Herstellung der Maske hatte Bappabuk sogar nicht vergessen, in der Mitte des Schwanzes jenen knopfigen Bug anzubringen, vermöge dessen dieß Organ des jungen Rinds wie halbgebrochen aussieht. Wie ward der Sinn dieser Erscheinung von den Zuschauern verstanden! Da war keiner so gedankenlos, daß er nicht begriffen hätte, der Scheck sei die Welt und die plumpen Sprünge seien die noch bildungslosen Urzustände der Menschheit. Nun aber richtete sich die Kuh auf, trat auf den Hinterfüßen hervor, faßte mit dem einen Vorderhuf ihr Kind am Ohr, mit dem andern den Drachen am Kamm, stellte sie in die Mitte, bedeutete ihnen, wohl aufzumerken, holte dann zwei der jungen Bären hervor und forderte sie auf, eine Galoppade zu beginnen, indem sie ihnen die Tanzschritte vormachte. Die Bärchen machten ihre Sache so hübsch ordentlich, daß nun die Kuh sie dem Drachen und Kalb als Muster empfehlen durfte. Das neue Paar umfieng sich mit den []Vorderfüßen, trat an und versuchte seine Kunst. Es gieng zuerst holperig, das Paar fiel sogar zu Boden, aber es raffte sich auf, schliff glatter und glatter, gieng in einen Hopswalzer über, jetzt begannen die übrigen Thiere mit den Beinen zu zappeln, konnten sich nicht länger halten, faßten sich zum Tanz an und die ganze Gesellschaft umkreiste nun die aufrecht thronende Kuh; rascher und feuriger erscholl die Musik, die Thiere fiengen an, den Tanz mit den verschiedenen Rufen ihrer Gattung zu begleiten: der Wolf heulte, der Fuchs ließ sein heiseres Bellen hören, der Dachs knurrte, das Füllen wieherte, das Wildschwein grunzte, Gemse und Steinbock mischten zwischen Mäckern ihren pfeifenden Warnlaut, der Kater rallte, das Murmelthier pfiff ganz fein, der Auerhahn gab gestoßene, tiefe Krächztöne von sich wie beim Balzen, die Rohrdommeln blieben nicht zurück, tanzten mit und ließen ihre durchdringenden U-Laute wieder vernehmen, die Bären brummten, der Drache fauchte, das Kalb muhte und selbst die ehrwürdige Mutter stimmte anmuthvoll in das allgemeine Konzert mit ein; die Jugend unter den Zuhörern sang Schnaderhüpfel dazu, es war lustig. Es war nun aber auch genug. Bis zur Sättigung der Geister war es begriffen, daß hier die Unbildung, ja das Böse dargestellt war, zuerst als Störenfried der in schöner Entwicklung begriffenen Humanität, dann überwunden, ja zum dienenden Moment herabgesetzt []von der Weltordnung selbst, die schon durch ihre Inkarnation als Kuh es erklärt hat, daß sie mit der Grundlage aller Gesittung, dem Ackerbau, auch die Bildung, die sanfte, schöne Menschlichkeit gewollt hat. Ein Paukenschlag bezeichnete wiederum das Finale, alle Thiere standen plötzlich still, jedes, die heilige Kuh voran, schlug zuerst eine Pirouette und ließ dieser Kreiselbewegung eine rein wagrechte Ausstreckung des einen Beines folgen. Ungeheurer Jubel, als das eigentliche Punktum der Handlung, erlöste nun die Müden aus dieser Stellung. Stürmisch wurde der sinnreiche, liebenswürdige Urheber der Schöpfung, der Tanzdichter Hopp-Hoppodur gerufen. Mit ein paar lustigen Tanzsprüngen hüpfte der philosophische und doch so heitere Künstler aus den Büschen des Hintergrundes auf die Bühne, ließ sich hochpreisen, war mit einem Satz unter den Zuschauern, ergriff die hübsche Gwennywar, die wir schon kennen als die Schelmin, welche Alpin das schweißaustreibende Wort Sigunens von Arthur's schönem Nacken hinterbracht hatte; er zog die gern Folgende auf die Bühne, führte sie zu einem Landler auf, das schlanke Fratzenmädel war die erste Tänzerin des Dorfes und entsprach den Künsten des Meisters mit reizenden Wendungen, Schritten und Beugungen, Alles folgte, was junge Beine hatte, ja selbst ein paar Graubärte konnten nicht widerstehen, ein Tanzlebtag gieng los, wie ihn Dorf Robanus noch selten []gesehen, die müden Thiere wurden jetzt aus Spielern Zuschauer und unter behaglichem Gucken erlabten sie mit kräftigen Methzügen die durstige Kehle und die vielgebrauchten Glieder; der Drache soff beträchtlich.

„Wo steckt denn Alpin?“ fragte ein Bursche Sigunen, die theilnahmlos, gedankenvoll unter den Mädchen stand. „Weiß nicht,“ versetzte sie, „er wird beim Tischzurichten helfen.“ — „Nun, komm' her, so tanz' mit mir,“ sagte der Frager und bot ihr den Arm, bekam aber einen Korb und unter dem Vorwand, nach dem kleinen Schwesterchen sehen zu müssen, gieng sie nach Hause. Auch Gwennywar hatte lang nach dem Vermißten umgeschaut, jetzt aber vergaß das junge Quecksilber Alles im Arm ihres bewunderten Tänzers.

Die Greise, mit Ausnahme der erwähnten paar lustigen alten Knaben, auch die Mehrzahl der Männer hatte sich nach dem Ende der Aufführung verlaufen, und diese Müßigen hatten zuerst wieder Zeit, des Gefangenen zu gedenken, den man unter Schützenfest, Morgenimbiß und Tanzspiel fast vergessen hatte. Der Druide, der sonst an Festen beim Schaustück auf seinem Ehrensitze so behaglich lachend bis zum Schluß verweilte, wie wohl einst der hohe Priester des Dionysos auf seiner Marmorbank im Theater zu Athen, er war dießmal bald nach Beginn verschwunden. Heimgekehrte fanden sein Haus geschlossen. Es hieß, man habe die Gemeindeältesten hineingehen sehen. Man munkelte []von einem unbekannten Etwas, das gegen den Erzketzer im Werk sein müsse. Was sollte es mit ihm werden? Strafen bis zu einer gewissen Höhe zu verfügen, lag in der Macht des Oberhirten. Sollte aber — weiter gegangen werden, so war, wenn es sich nicht um Kriegsgefangene handelte, aus denen das Loos die Opfer für Grippo bestimmte, die Gemeinde zu befragen. Nun — es war Festtag; man schlug sich's aus dem Kopfe; es hatte ja weiter keine Eile, auf alle Fälle konnte es um den Sünder nicht viel Schade sein, wenn er in seinem Käfig einige Tage oder Wochen tüchtig brummte.

Inzwischen waren vereinigte Kräfte längst beschäftigt, den Festschmaus vorzubereiten. Tische und Bänke waren im nahen Haine schon aufgeschlagen, Köche und Köchinnen an einer Reihe von Feuern in voller Thätigkeit. Wir glauben uns verpflichtet, den Speiszettel zu geben; menu dürfen wir ja nicht sagen, die Pfahlmänner hätten sich geschämt, das wälsche Wort zu gebrauchen, wenn sie es gekannt hätten, sie verabscheuten alle unnöthige Entlehnung aus fremden Sprachen. „Speiszettel“ ist natürlich auch nur poetische Licenz; das Kunstwerk der Komposition dieses Schmauses stand klar entfaltet nur vor dem Geiste des Oberkochs Sidutop, minder klar, in gewissem Helldunkel vor dem Innern seines Gefolges von Köchen und Köchinnen, und das Publikum befand sich in blindem Autoritäts []glauben, man wartete, man vertraute unbedingt und dachte, es werde schon recht werden; nur Angus, der Druide, hatte durch Hülfe Urhixidur's einen hellen Einblick in das wohlgegliederte Ganze gewonnen. Dieses Ganze überblicke man nun und man wird nicht mehr glauben, daß die Pfahlbewohner schlecht gegessen haben! Diese irrige Vorstellung zu widerlegen, das ist es, was wir für Pflicht halten, darum geben wir in formell präzisirter Ordnung hiemit die Gedankenreihe Sidutop's, wie sich solche an jenem Abend in der Körperwelt verwirklichte. Um diesen logischen Zusammenhang nicht zu unterbrechen, lassen wir die Beleuchtung einzelner Punkte, die vielleicht dem Leser dunkel sein dürften, in Anmerkungen folgen.

Zuvor ist nur noch von der Beleuchtung zu melden. In dieser Festnacht sollte es nicht an den Pechfackeln genügen, die rings um die Tische, in hohe Pfähle eingelassen, ihr röthliches Licht verbreiteten; zwischen je zweien derselben loderte in irdenem Becken eine zartere Flamme von Kienholz und an den Stämmen der nächsten Eichen hiengen Kränze von Schüsselchen, worin ölgetränkte Döchte brannten. Knaben waren aufgestellt, sorgsam diese dreierlei Lichtquellen zu unterhalten, deren Harzgerüche sich angenehm mit dem Dufte mischten, der aus den Kochkesseln emporstieg. — Und nun mag denn die Beschreibung ihres reichen Inhalts folgen.

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Anmerkungen.

Ad I, 2. Daß die Menschen der Steinzeit große Liebhaber von Mark waren, geht aus der Menge gespaltener Knochen hervor, die man in ihren Niederlassungen findet. In der Kunst des Spaltens hatte zwar Jedermann Uebung, doch auch hier war bereits eine gewisse Theilung der Arbeit eingedrungen. So exakt, so glattweg verstand es nicht Jeder zu machen, wie der Techniker in diesem Fach, der Knochenschlitzer, der hinten in der Feldküche schon seit ein paar Stunden seine Virtuosität in diesem Zweige der feineren Arbeit entfaltete. Den Knochen senkrecht stellen, den Feuersteinmeißel haarscharf auf die Axe ansetzen, einen mathematisch geraden Schlag mit dem Holzhammer darauf führen: es gieng wie gehext; wer ihm zusah, konnte nur wünschen, es möchten verwickelte politische Fragen einen solchen Schlitzkünstler finden, wie es der wackere Meister Binuschnidur war.

Ad I, 2, e. Elch oder Ellen (nicht: „Elenn“, noch weniger „Elend“; Ellen hieß Kraft, also: das Kraftthier, der besonders starke Hirsch) war nicht selten, obwohl weit seltener, als der gewöhnliche Hirsch und das Reh, die auf unserer Liste fehlen, weil sie für ein Festessen zu gewöhnliche Speise waren. Das Thier ist von ochsenartig starkem Leibe, auch der Geschmack seines Fleisches schwebt in einer feinen Mitte zwischen ochsenhaft und hirschähnlich.

Ad I, 3. Die Beliebtheit des edlen Gerichts Kuttelfleck erkennt der geneigte Leser daraus, daß es nicht nur hier, []sondern auch unter II, 2, A, e, ferner II, 2, B, d auftritt. Eine der Gassen von Robanus hieß zu Ehren dem Hause, worin die Gekröse kochfertig zubereitet wurden, Kuttelgasse. Starke Spuren dieser Beliebtheit bemerkt man noch heutzutage bei den Enkeln der Pfahlbewohner jener Gegenden, wie sich der Durchreisende bei Lesung der Speisezettel selbst feinerer Garküchen überzeugen kann.

Ad I, 4. Das Früchte-Einmachen verstand zwar auch die Hausfrau, aber auch in diesem Gebiete gab es schon Techniker, gab es Fachmänner. Wir werden den Künstler nennen, wenn unsere Erläuterungen erst bei seinem Meisterwerk angelangt sein werden. Nicht genannt ist die damals höchst beliebte Speise Haselnuß, denn sie trat nicht eingemacht auf, sondern wurde einfach im Naturzustand immer mit dem Brod aufgetragen und mit ihm gegessen, um ihm feineren Beischmack zu geben. — Eine Zeile ohne Eintheilungszeichen nennt als begleitendes Getränke des Voressens: Methbock. Es war sehr starker Doppelmeth, bestimmt, in zierlichen Holzkelchen zum Voressen nur genippt zu werden, um den Appetit zu schärfen; eine diätetische Bemessung, an die man sich doch nicht ängstlich zu halten pflegte.

Ad II, 1, d. e. Es mag Verwunderung erregen, daß außer Forellen und Aal keine Fische auftreten. Die Erklärung ist einfach: die Pfahlbewohner aßen jahraus jahrein so viel Fische jeder Sorte, daß sie bei Festmahlzeiten wenig Werth auf diese Speise legten. Nur die Forelle und der Aal genossen ein Vorrecht, jene nicht bloß wegen der Feinheit ihres Geschmacks, sondern wegen der großen Schwierigkeit, sie zu fangen. Dieses blitzschnelle und höchst vorsichtige Floßenthier ließ sich ja durch die plumpe beinerne Angel nicht täuschen, in die Reusen, so grob wie sie damals waren, äußerst selten verlocken, gleich selten mit der Hand fangen, wenn sie schlum []mernd in den Höhlungen am Ufer schwamm, und nur ab und zu gelang es einem sehr geschickten Schützen, — nicht, den Fisch zu treffen, aber den Pfeil so unter ihm durchzuschießen, daß er aus seinem Waldbach an's Ufer geschnellt wurde. Den Aal mit Salbei umwickelt zu braten, war eine neue Erfindung und man wußte den Werth dieser leckeren Zubereitung allerdings zu würdigen.

Ad II, 2, A, b, δ. Boragen: Borago officinalis, mit bläulichen Blumen, haarigen Blättern, jetzt fast für Unkraut geltend, hat einen sehr angenehm häringähnlichen Geschmack. Durch ihren Genuß gaben sich die Pfahlmänner die Vorahnung der Gaumenfreude, die der ihnen noch unbekannte Meerfisch im eingepöckelten Zustande uns späteren Geschlechtern bereitet.

Ad II, 2, A, d, α. Es darf nicht unterdrückt werden, daß die Bohnen unentfasert auf den Tisch kamen. Die Schüsseln mit diesem Gerichte sahen daher aus wie eine borstige Perrücke. Pietät gegen die Altvordern hat diesen Brauch bis heute in der bürgerlichen Küche jener Gauen fromm erhalten.

Ad II, 2, A, d, β. Erbsen mit Landjägern: Die Erbsen, wie man sich denken kann, nicht zerrieben, große gelbe Gattung, hart wie Bleikugeln. Die Verdauung war eben eine vortreffliche. „Mit Landjägern.“ Der Verfasser bedarf Nachsicht. Diese Würste hießen damals wegen ihrer gediegenen Härte Lederwürste; er hat den modernen Namen vorgezogen, um dem Kenner das Objekt rascher zu vergegenwärtigen. Der Ursprung der letzteren Benennung ist von der Philologie noch nicht erforscht. Schreibt man den Landjägern etwa besonders gute Zähne zu? Oder vergleicht man die länglich hagere, flache Gestalt der Wurst mit der Dürrheit, welcher die Figur der Landjäger durch ihre Streifstrapazen wohl häufig verfällt?

[]

Ad II, 2, A, d, γ. Rüben mit Schübling. Schübling heute noch in ganz Süddeutschland bekannte Wurst, nahe Verwandte der Knackwurst. Fischart beehrt sie mit Aufführung, wo er Gargantua's Speisekammer beschreibt.

Ad II, 2, A, d, δ. Daß das beliebte Sauerkraut schon jenen Zeiten bekannt war, ergibt sich keineswegs nur aus dem sicheren Schluß, den man aus der Gemüthlichkeit der Zustände ziehen darf, sondern auch aus verbürgter Ueberlieferung. „Blunse“: was wir jetzt Blutwurst nennen, war unbekannt; in die Blutwurst gehört außer Blut Gewürze mit Speckwürfeln; dieß wäre jenen körnigen Menschen zu künstlich erschienen, auch wenn sie Gewürze gekannt hätten. Die Blunse, ein Darmhautrund einfach mit Blut gefüllt, entsprach besser der Biederkeit ihres Wesens. Doch verschmähten sie nicht, durch Hinzunahme geräucherten Murmelthierfleischs der Zunge gleichzeitig einen schärferen Reiz zu bieten.

Ad II, 2, B, a, δ. Gesulzte Spansau: besonders beliebt, hatte einen gebratenen Apfel zierlich im Maul stecken.

Ad II, 2, B, b, α. Wir haben nur hier die Brühe erwähnt, weil sie bei dieser Speise extrafein war, und fügen bei dieser Gelegenheit eine sprachliche Bemerkung bei. Wir sagen jetzt Sauce, weil wir uns des guten Worts Brühe dadurch beraubt haben, daß wir es verächtlich von unsauberer Flüssigkeit gebrauchen. Diese Einschränkung hatten sich die Pfahlbewohner noch nicht beikommen lassen, daher sich auch nicht in die Lage gebracht, für ein ganz ausreichendes eigenes Wort ein Fremdwort zu entlehnen.

Ad II, 2, B, b, β. Hase, gespickt. Es war nur Einer. Lampe war damals außerordentlich selten; er hatte zu viele Feinde, deren nicht die geringsten die Adler und Geier waren, die auch als Räuber der kleinen Lämmer den Hirten nicht wenig zu schaffen machten. Das Exemplar, in einer Schlinge []gefangen, war etwas alt, desto neuer die Kunst des Spickens, die sich am zähen Stoff siegreich bewährte. Der seltene Bissen, der nicht für Alle sein konnte, war den Gemeindeältesten vorbehalten.

Ad II, 2, B, b, γ. Wir gestehen, daß der Wisentbraten, obwohl von einem Stier in den besten Jahren, ziemlich hart war, allein das andere Fleisch war nicht viel weicher. Die Pfahlbürger liebten das Weiche, Kätschige nicht, die prächtigen Zähne jener Geschlechter hatten Jahrhunderte hindurch den schädlichen Einflüssen der Seenebel bis dahin noch fest widerstanden und insofern war Arthur's Behauptung in seiner Rede ein Vorgriff. Zu ββ ist zu wissen, daß die Pfahlleute den Namen: Cotelette noch nicht kannten. Hat doch der Berichterstatter mitzutheilen, daß manches Jahrtausend später, nämlich in seiner Knabenzeit, noch kein Mensch Cotelette, alle Welt nur Ripplein sagte. Jenes waren nun freilich keine Ripplein, sondern Rippen. Sie waren mit Speckstückchen und Petersilie höchst appetitlich belegt, und wurden zuerst nur als Schaustücke, dann zerlegt zum praktischen Gebrauch ausgesetzt. Der Wisentschwanz (γγ) galt als großer Leckerbissen; auf ein genußreiches Benagen folgte ein genußreicheres Aussaugen. Das war denn natürlich nicht für Alle, sondern Vorrecht des Druiden; dieß Hauptstück wurde also ihm allein vorgesetzt und kunstgerecht machte er sich an die Arbeit.

Ad II, 2, B, c, δ. Armer Arthur! Niemand gedachte deiner bei den zwei Schnepfen! So sind die Menschen! Während der Geber im Gefängniß schmachtet, wird unter Scherzen seine Gabe herausgeknöchelt und mit Schmatzen von den Gewinnern verzehrt! Arthur hatte auch einige Pfeilspitzen von Erz mitgebracht, in Robanus auf Schäfte gesetzt, war mit ein paar Burschen auf den Schnepfenstrich gegangen und hatte den einen Vogel durch den Kopf, den andern unter dem Flügel []in die Seite getroffen. So etwas war mit Steinpfeilspitzen begreiflicherweise nicht, aber auch so nur einem Falkenauge wie dem seinen und einer Hand so flink und zugleich so stet wie die seine möglich. Schnepfen wurden sonst, und natürlich schwer und selten genug, wie auch die Rebhühner, nur in Netzen gefangen.

Ad III, 2. „Schnitzli“ war ein Lieblingsgericht, wie schon früher angedeutet. Das Wort wurde in engerer und weiterer Bedeutung gebraucht, in jener bedeutete es Apfelschnitze, gedämpft mit Speckwürfelchen, und so ist der Ausdruck hier gemeint. Es darf nicht verschwiegen werden, daß die Schnitze nicht geschält waren. Auch diese Speise pflegen in Ehrfurcht vor alter Sitte heute noch die späten Enkel der Pfahlbürger als Nachtisch gern auf ihre Tafel zu setzen.

Ad III, 3, a. Riniturleckerli. Leckerli sind die heute noch wohlbekannten Leb- oder Honigkuchen. Sie wurden besonders schmackhaft in der Stadt Rinitur, dem jetzigen Basel, bereitet. Die Pfahlniederlassungen waren nicht so außer Verkehr, daß nicht wandernde Händler ein Produkt der Küche, worin eine Gemeinde die andere überflügelt hatte, weit ringsum verbreitet hätten. Bald aber wurde dieses Backwerk nachgeahmt und der Name bezeichnete nicht mehr die Herkunft, nur die Güte.

Ad III, 3, b. Hutzelbrod. Welcher Kenner der deutschen Literaturgeschichte weiß nicht, daß Schiller noch in späten Jahren dieß Gebäck aus gedörrten Birnen, Mehl, Cibeben, Mandeln von einer schwäbischen Köchin sich bereiten ließ, Gästen zu versuchen gab und verlangte, daß sie es loben? Man sieht nun aus unserem Berichte, daß es uralt ist und sich von jenen Gegenden über den Podamursee nach Schwaben verbreitet haben muß. Die Stelle der Mandeln vertraten damals Haselnüsse, die der Cibeben Brombeeren.

Ad III, 3, c. „Wähen“: uralter Name für Kuchen; Ableitung dunkel.

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Ad III, 3, e, α. Der Leser hat wohl längst die Frage auf den Lippen, wo denn das Zahmgeflügel bleibe? Hier, bei diesem Gipfel der Küchenkunst, bei der Pastete, hat er die Antwort. Im Bauche dieses Prachtgebäudes befanden sich butterweich gebettet die Mäglein, Leberlein, Herzlein von Hühnern, Enten, Gänsen, nicht minder Flügel, Schlegel, Pfaffenschnitze, und zwar vereinigt mit „Milken“ (was wir jetzt Brieschen nennen, die drüsenartigen Knollen am Halse des Kalbs) und mit Mausschlegeln. Mausbraten wird jetzt infolge thörichten Vorurtheils vernachlässigt. Warum sollte eine Maus unappetitlicher sein als eine Ente, eine Sau? Mausfleisch, insbesondere Schlegelstück, verbindet in feiner Einheit Wildfleischgeschmack mit dem zarten Geschmacke des Nußkerns. Etwas salzig Prickelndes enthält dagegen der Eidechsenschwanz, man möchte sagen, er bewirke ein gewisses wuseliges Gefühl auf der Zunge. — Zu β: „Form“, nämlich zu der plastischen Gruppe, welche den Deckel des reichen und wohlgefälligen Ganzen bildete, haben wir nur die Eine Bemerkung, und auch diese nur für Kenner der Kunstgeschichte: Die Stylgebung des Künstlers stand auf einer Stufe ganz parallel mit dem Style der Metopen von Selinunt.

Der Name des Künstlers darf so wenig im Dunkel bleiben, als der des Kochs und des Knochenspalters. Er hieß Schababerle und nannte sich Hofzuckerbäcker. Es gab freilich in Robanus keinen Hof, aber der Mann schuf und bildete an festlichen Tagen für die Tafel des Druiden und dieser ließ es gerne zu, daß er sich darum den Titel beilegte. Es ist nachzubringen, daß auch Sidutop auf denselben Grund hin ähnlich verfuhr; er nannte sich Hofkoch oder Hochwürdlicher Koch; den Knochenspalter Binuschnidur nicht zu vergessen: er betitelte sich gern Hofknochspalter oder Seiner Hochwürden Leibschlitzer.

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Zur bestimmten Zeit erschien pünktlich der Druide mit den Gemeindeältesten und den Singknaben. Er lud die Gemeinde feierlich ein, seinen Hymnus nun vollstimmig als Tischgebet zu singen, — nur das erste der drei Glieder, wobei der einfacheren Melodie wegen die Vorsänger genügten. Die Musiker waren schlechtweg zu sehr erschöpft, das zweite und dritte Glied vorzutragen, und ohne ihre Mitwirkung war es unmöglich, diese kunstreichen Gefüge mit ganzer Gemeinde zu singen. Alles Volk hatte sich die alte Weise schnell wieder im Gedächtniß aufgefrischt und mit wenig Anstoß wurde das ebenso verständige als fromme Festlied abgesungen. Gern setzte man sich jetzt und hob zum leckeren Mahle die Hände.

Wir überlassen nun die thatlustige Gesellschaft im Glanze dreifacher Beleuchtung dem Genusse dieser Herrlichkeiten. Es ist lustig, im grünen Haine umstrahlt von feenhaftem Lichte zu speisen, und unsere Pfahlmänner bedrängte es wenig, daß die drei langen Tafeln eigentlich keine Tafeln, sondern aus quergelegten Prügeln nicht allzu eben hergestellte Flächen waren; lagen doch Bastdecken darüber gebreitet, welche das so ziemlich ausgliechen und den Schüsseln einige Standfestigkeit gönnten. Nur die Männer sehen wir vereinigt; das Frauenvolk mußte zu Hause bleiben; ihnen wurden je nach einem Gang des Festschmauses die übrig gebliebenen Brocken zugetragen, woraus sich []denn auch die Frage beantwortet, ob denn der Speiszettel für die bloße Hälfte der Gemeinde nicht zu reichlich sei. Die schönere saß in den geräumigeren Häusern des Dorfes zusammen, unter heiteren Gesprächen auf die willkommenen Abhübe wartend, und zwar an solchen Abenden beim Thee. Chinesischer war das freilich nicht, vielmehr ein Sud aus Schlüsselblumen-, Holder- und Schlehblüte, der mit Meth ausreichend versüßt wurde. Da war denn der Genuß der schwatzenden Zunge fast gleich hoch geschätzt, wie der schmeckenden, das Gespräch fiel schnell auf dankbare Stoffe, wie die halb bekannten, halb geahnten Vorgänge in Odgal's Haus, Sigune, Alpin, der eingethürmte Fremdling, und man kann sich denken, daß schnell genug der Mythus sich beeilte, aus dem Einfachen und dem Dunklen sein buntes und glänzendes Gewebe zu spinnen. In einem dieser Theezirkel erwartete man vergeblich die Nachbarin Sigune. Eine Frau gieng in ihr Haus, sie herbeizuholen, und fand sie mit Packen beschäftigt; sie wickelte eben einige Speisen: Schinken, Wurst, Brod mit einer wohlgepfropften Holzflasche zu einem Päckchen zusammen. „Was machst?“ sagte die Nachbarin, „was packst da?“ — „Es ist für Alpin,“ erwiderte sie, „der morgen weit hinaus in den Wald gehen muß nach einem verlaufenen Rind suchen, auch nach den Wolfsgruben sehen will, ob keiner sich gefangen hat.“ Auf die Einladung, []gleich zur Gesellschaft mitzugehen, sagte sie mit befangener Stimme, das Kleine sei so unruhig, sie fürchte, der Scharlach breche aus; wenn das Kind ruhig werde und ordentlich schlafe, komme sie wohl nach. Mit einem fragenden Blick entfernte sich die Nachbarsfrau. — Wer nicht nachkam, war Sigune.

Bei den Männern draußen kam über der ernsteren sächlichen Thätigkeit nur langsam das Gespräch in Fluß; erst als man beim Mittelpunkte, ja eigentlich erst als man bei dessen zweitem Abschnitt, dem Bratenstadium, angekommen, wurde es warm und lebhaft, dann aber schnell anwachsend so mächtig laut wie die brüllende See; denn die Pfahlbewohner hatten gar kräftige Stimmen; man hätte sie Luftstimmen heißen können, weil sie in der That für geschlossene Räume nicht angethan waren; sprachen hier auch nur Zwei oder Drei, so hätte ein Menschenkind unserer Zeit mit seinem gezähmten Organ nicht mehr daneben aufkommen können und bei dem bloßen Anhören der tief geholten Rachentöne einen Hustenanfall erlitten. Die Getränke thaten das Ihrige, die Seelen und Kehlen zu befeuern, und da jegliches Ding, das sich ohne Einhalt steigert, einen Grad erreichen muß, wo es umspringt und überschlägt, so trat nun eine Erscheinung ein, die wir am passendsten schildern, wenn wir am Bilde von der bewegten See festhalten.

Wenn man dem Spiele der Meereswogen zuschaut, []so wird das Auge besonders von der Art gefesselt, wie sie, auf ihrer Höhe angekommen, sich auflösen. Die Welle hat zuerst einfache stumpfe Kegelform, dann wächst sie auf der Seite, woher der Wind weht oder die Flutbewegung geht, zu einem Schwanenhals an und bildet auf der entgegengesetzten eine Hohlkehle; jetzt, wenn sie reif ist, fällt der Kamm des Halses schäumend über diese Hohlkehle herunter und die furchtbare Tönewelt eines Seesturms rührt nicht zum geringsten Theile von dem Donner dieser niederbrausenden Wasserfälle. Die Auflösung der Wogen beginnt bald an einer Stelle, die dem Auge des Zuschauers so entfernt liegt, daß sie ihm als das Ende erscheint, bald in der Mitte, bald aber auch an zwei Enden und so, daß die Bewegungen des Zerschäumens nach der Mitte zugehen und hier zusammentreffen.

So nun begann am einen Ende des mittleren der drei Tische, an welche die Gesellschaft vertheilt war, das Gespräch der Männer, auf der Höhe seiner Kraft angekommen, sich in eine Kraftäußerung anderer und zwar jener thätigen Art aufzulösen, welche wir durch das Wort Keilerei zu bezeichnen pflegen; gleichzeitig nahm derselbe Umsprung seinen Ausgang am andern Ende, beide Bewegungen wälzten sich fort nach der Mitte, wo der Druide saß und neben ihm die zwei Barden die Ehrenplätze einnahmen, und rießen auch diese würdigen Personen in ihre Wirbel. Die Ursache []des Umsprungs war eine andere am obern, eine andere am untern Ende. An jener Stelle hatte sich ein Gespräch über den Werth der beiden Hymnen zum Zank erhitzt. Dort saß Gwalchmai, den wir bereits als ein Mitglied jenes Kreises kennen, welcher vom Druiden die Einladung der zwei Barden von Turik erwirkte. Er kam mit einem Normalhuster, der ihm gegenübersaß, einem alten, aber heftigen Manne, in Streit über den Hochgesang Kullur's. Dieß war Morbihan, den wir als einen der Zeugen wider Arthur schon im Hause des Druiden gefunden haben. Derselbe nahm sich eifrig des dreigliedrigen Dichtwerks von Angus an und ließ sich von der Leidenschaft hinreißen, seinen Gegner einen Narren und Schwindelkopf zu schelten, Gwalchmai gab es heim mit: langweiliger und doch dazu giftiger Normalhuster. Dieses Wort, das wir bisher ohne Fährde gebraucht haben, war in der damaligen Gegenwart ein gar hartes und hatte oft genug die Losung zu Schlägereien gegeben; der Beleidigte ballte die Faust und schlug den Gegner derb über den Kopf, der war nicht faul und gab es mit einer Maulschelle heim. Die Zwei saßen sich schief gegenüber; nun wollte es das Unglück, daß neben Morbihan Griffith saß, ebenfalls einer aus jener Gruppe, die wir als eine Art Linke bezeichnen, und wiederum diesem schief gegenüber Avagddu, ein Mann der Partei, die wir nun folgerichtig als Rechte be []stimmen dürfen; wir werden ihn wie Morbihan in unserer Geschichte noch weiterhin betheiligt finden. Diese Zwei hatten sich über die Rede Kallar's ereifert, Griffith hatte ihn einen zweiten Merlin genannt, was Avagddu so empörte, daß er den Barden einen tuckmäuserischen Grippodiener schimpfte, hier war der Mann der Linken der zornigere Theil, schlug mit der knochigen Faust hinüber und Avagddu blieb den Schlag nicht schuldig. Nun hatte es aber bei dieser Aktion zweier Paare, die sich über's Kreuz schlugen, nicht sein Bewenden, die Nachbarn wollten zuerst Einhalt thun, bekamen dabei Püffe weg, wurden darüber aus Friedensstiftern Mitprügler und so lief es denn fort wie der ununterbrochene Schaumstreifen der überstürzenden Woge.

Am andern Ende war der Ursprung desselben Aufruhrs nicht ebenso geistiger Art. Hier war einem biedern Holzhauer ein Unschick begegnet. Wir müssen eine kulturhistorische Bemerkung voranschicken. Das Fleisch wurde zerschnitten aufgesetzt. Es gab ja, wie wir längst wissen, keine ordentlichen Messer und von fassenden Gabeln konnte ohnedieß nicht die Rede sein. Ein Vorschneider nahm in der Küche die Zerlegung vor mit einer der äußerst seltenen Klingen, die beim Zerschlagen des Feuersteins lang und scharf genug ausgefallen war, um dieß Geschäft damit zu versehen; auch so bedurfte es noch besonderer []Kunst und demnach gab es denn auch in diesem Gebiete Techniker. Auf großen Holztafeln wurde die Flucht der Vorschneidarbeit aufgesetzt und jeder Gast nahm sich seinen Bissen mit dem Naturwerkzeuge der Hand. Löffel aber gab es, aus Horn und feinem Holze gar nicht übel geschnitzt, wiewohl etwas groß. Man bedurfte sie doch zu Suppe und Gemüs; gewöhnlich holte sich Jeder seinen Schub aus der gemeinschaftlichen Schüssel und führte ihn geradlinig zu Munde. Bei Festschmäusen aber hatte ausnahmsweise, um die würzreiche Brühe, die zu den auserlesenen Fleischspeisen gehörte, mit Ruhe und Verstand genießen zu können, auch der Einzelne seinen Teller, d. h. seine mit schwerer Schnitzkunst erträglich konkav gebildete Holzscheibe. Das Abtropfen des Fetts, wenn der Esser seinen Bissen aus der gemeinschaftlichen Schüssel zum Mund herüberhob, hatte zu dieser Neuerung den Anlaß gegeben. Nun aber kam es überdieß auf, daß man sich auch den Fleischbrocken erst auf eine eigene kleinere Holzplatte nahm und nach persönlichem Geschmack noch etwas mehr in's Spezielle bearbeitete, als der vielbeschäftigte Vorschneider es gethan. Dieß geschah mit dem Steinmeißel, den Jeder sich mitbrachte. Ueber das Verfahren haben wir unsern modernen Leser bereits aufgeklärt: das Werkzeug wurde am Hirschhorngriff gefaßt, auf das Fleischstück aufgesetzt und die Hand war hart genug, um als Hammer zu dienen.

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Leicht wird man jetzt den Zufall begreifen, der dem guten Holzhauer begegnete. Seine schwere Faust schlug etwas zu stark, stieß Meißel und Fleischklumpen über den Teller hinaus und die Brühe spritzte dem Nachbar Zimmermann in's Gesicht. Der fuhr auf und schrie: „Kaib!“.

Der reißend schnelle Hergang muß einen Augenblick mit einer erläuternden Bemerkung unterbrochen werden, die der Leser billig erwartet. Das Wort Kaib war Entstellung eines hohen Ehrennamens. Der oberste Druide hieß, wie man sich erinnert, CoibhiDruid, Druidenhaupt. Es kam auf, dieß Wort ironisch anzuwenden, so daß es das Gegentheil seines Sinns bezeichnete; um den Frevel zu mindern, sprach man es unrichtig aus, wie wir heute noch mit Wörtern heiligen Sinns verfahren, wenn wir sie zu Fluch oder Schimpf mißbrauchen. Man begreift, daß es in einer Zeit, wo dieser sein Ursprung noch bekannt war, für ein sehr starkes Scheltwort galt. Kein Wunder denn, daß dem bespritzten Zimmermann zu der Brühe alsbald noch eine Ohrfeige in's Gesicht flog. Des Zimmermanns nahm sich thatkräftig der Nachbar Fleischer an, des Holzschlägers der nicht so leibstarke, aber behende Schneider und das Weitere ergibt sich durch Vergleichung mit dem Hergang am andern Ende: die Handlung war im Gang und bewegte sich mächtig in der entgegengesetzten Richtung.

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Wir können also sagen: die Wogenschäumung gieng von zwei Polen aus, dort einem idealen, hier einem realen. Noch ehe aber diese zwei Sturzbewegungen die Mitte erreicht hatten, wurden sie durch zuwachsende seitliche Strömungen noch wesentlich verstärkt. An dem einen der zwei übrigen Tische saßen die ledigen Bursche. Sie waren bereits nicht besonders nüchtern zum Schmause gekommen und hatten sich dennoch den Meth und Obstsuser tüchtig schmecken lassen. Die Unterhaltung galt den Ereignissen des Schützenfestes, den besten Schüssen, den Gewinnen. Manches Hoch wurde ausgebracht, man rühmte sich gegenseitig in blühenden Trinksprüchen; das Andenken sagenhafter Schützen aus der Vorzeit wurde gefeiert, in deren Ruhm die späten Enkel gerne sich sonnten. Aber man neckte sich auch mit verfehlten Schüssen und der Neid um glückliche glostete als verborgenes Feuer in manchen Gemüthern. Dabei entzündete sich anderweitiger Brennstoff: Eifersucht um Mädel, die unter der Decke glimmte und gelegentlich zum Ausbruch kam. Einer der Bursche, Dubrach mit Namen, hatte gar ungern gesehen, wie der Tanzdichter Hopp-Hoppodur die reizende Gwennywar zum Tanz aufzog, denn sie war seine Flamme. Der heitere Künstler hatte sich als Junggeselle zu den Burschen gesetzt, obwohl er um etliche Jahre über sie hinaus war. Dubrach fieng an, mit Scherznamen wie Tänzerling, Hüpfmeister, Flederwisch herauszurücken, bei []letzterem Wort sprang der behende Mann auf, war mit einem Satz über dem Tisch, mit einer flinken Schwenkung saß er dem breiten Spötter auf den Schultern, hatte die Hände an seinen Ohren, und zog und zwickte ihn scharf in die Läppchen. Man lachte, aber es blieb nicht lang beim Scherz, Dubrach wurde wild, da er den festeingeklemmten Reiter nicht abzuschütteln vermochte, fand Bundesgenossen, andere sprangen dem Tänzer bei, die Aufregung pflanzte sich auf die Uebrigen fort, es gab ein Gezerre und schnell gieng der Spaß in Ernst, in Thaten über. Nun brach es aber auch hier noch auf einem zweiten Punkte los. Zwei Jägdler, schon bejahrtere Hagestolze, die sich aber ebenfalls zu den Burschen gesetzt hatten, ereiferten sich in einem Gespräch über die Frage, was als wesentliches Merkmal der Hirschlosung zu bestimmen sei. Der rothhaarige Caractac behauptete, das wesentliche Kennzeichen sei die Gestalt, bestehend in einer Reihe verbundener nußförmig runder Körper, wogegen der spitznasige, schwarze Llywelin festhielt, das wichtigere Merkmal sei der weißliche Schleim, womit dieses Gebilde netzartig wie mit Spinnwebe überzogen sei. Man sieht, es war eigentlich ein Gegensatz von plastischer und malerischer, oder eigentlich zeichnerischer Auffassung. Da Keiner den Andern überzeugte und Keiner nachgab, so war der Streit zwischen dem Plastiker und dem Pittoresken oder Skizzisten bald []nahe daran, zu schließen wie der Disput der Völker zu schließen pflegt, wenn die Gründe und Gegengründe erschöpft sind. Auf diesem Punkte standen denn eben die beiden Gruppen, als das Brausen der Schlacht am mittleren Tisch anhub. Beide vergaßen augenblicklich den eigenen Spahn, dort verlor der Reiter den Schluß, sprang ab, hinüber mitten in's Gewühl, nicht minder beeilten sich die Nächsten, die geballte Kraft vielmehr dorthin zu entladen, die zwei Jägdler machten es ebenso, dann nacheinander, wie Eisen vom Magnet angezogen, flogen sämmtliche jugendliche Ansaßen dieser Tafel ebenfalls nach der Mitte hinüber und schlugen blind darauf, wo es nur hingieng.

Am dritten Tisch saßen Verheirathete, so viel ihrer am mittleren Tische nicht Platz hatten, ältere, jüngere durcheinander. Hier hatten sich, kühn genug, einige Stimmen des Mitleids mit Arthur vernehmen lassen; zuerst der verständige Massikomur, der Finder der uralten Pfahlzeitreste im Seegrund, hatte es gewagt, den vermessenen Redner mit seiner Jugend zu entschuldigen; er hatte in ein Wespennest gestochen, eine milde Rede hatte eine wilde, eine wilde eine wildere gegeben und so stand auch hier Alles in Feuer und Flammen, als der Krieg am mittleren Tisch ausbrach und schnell den zweiten in seinen Krater hineinrieß. Da war denn auch für Gesetztere kein Widerstehen mehr und in wenigen Augenblicken die ganze Gesell []schaft aller drei Tische nur ein ungeheurer Knäuel wild bewegter, klopfender und klatschender Glieder, worin eine deutliche Form, ein deutlicher Ton nicht mehr zu unterscheiden blieb. Man sah gehobene Arme, man sah auftauchende Köpfe, in der Luft baumelnde Beine, man sah breite Rücken und darüber dreschende Fäuste, aber jegliches Gebilde verschwand blitzschnell vor dem schwindelnden Auge, das in die Schlünde der Charybdis zu sehen glaubte.

„Wessen Auge? Da gab es ja keinen Zuschauer!“ O ja, doch! — Wir haben noch keinen Augenblick gefunden, des Näheren zu erzählen, wie die Wirbel der Doppelbewegung am mittleren Tische nun dessen Mitte ergriffen, wo zwischen den zwei Barden der Druide saß. Der würdige Mann war nicht so überzart, nicht gegenzuwirken, als er von links und rechts Püffe erhielt; in der That erfreute sich jenes ganze Zeitalter noch eines hinreichend frischen Natursinnes, um es nicht gar so fürchterlich zu finden, wenn ein Druide oder Barde einmal in die Wechselwirkungen einer Prügelei hineingerissen wurde. Es konnte als Zufall gelten, daß der Barde Kullur einen seiner ersten Hiebe zu fühlen bekam, dieser jedoch nahm es — aus Irrthum oder nicht, bleibe dahingestellt — als Absicht, zog mit der gedrungenen Kraft seiner kurzen, stämmigen Glieder den großen, etwas fetten und eben nicht abgehärteten Mann über die Bank herüber und []bearbeitete gründlich seinen breiten Rücken, gründlicher seinen fetten Sitzmuskel. Es geschah eigentlich nicht aus Ummuth wegen der Hymnenkonkurrenz, vielmehr im Grund einfach, weil er ihn und seinesgleichen überhaupt nicht leiden konnte. Des Weiteren aber verschwanden Beide in die allgemeinen Wogen des Getümmels und waren als einzelne Wellen nicht mehr zu unterscheiden. Anders der Barde Kallar. Er wußte sich mit großer Gewandtheit nach den ersten Zerrungen und Stößen aus dem Gewirre zu entwinden, beiseite zu treten, stand, da Niemand Zeit hatte, ihn zu bemerken, ganz ruhig an einem Eichstamm und beobachtete mit übergeschlagenen Armen, gelassen lächelnden Lippen das Schauspiel wie ein merkwürdiges Naturereigniß. Das ist die Ruhe, welche die Wissenschaft gibt! Er genoß sie rein, wolkenlos, ohne den geringsten Verdruß über das heißere Blut seines Collegen.

Jedes Drama hat sein Ansteigen, seine höchste Verwicklung, aber auch seinen Ablauf, seinen Schluß. Die Kämpfer sättigten sich, wurden müde, die Schläge fielen seltener, Ausruf und Schrei begann sich zu legen und endlich trat Meeresstille ein.

Koch, Knochenschlitzer, Vorschneider mit ihren Gehülfen traten jetzt aus der Schußweite der Küche hervor; sie hatten ein solches Schauspiel nicht zum ersten Mal gesehen und beeilten sich nun, die zerzauste Matte wieder zu ordnen, die zerbrochenen Schüsseln und []Krüge wegzunehmen, neue aufzutragen, inzwischen verschnauften die Kämpfer und setzten sich dann geruhig wieder an ihre Plätze. Sie hatten eine Erfrischung genossen, die zum jährlichen großen Opferschmaus in Wahrheit niemals fehlen durfte. Wer möchte sie verdammen? Ist nicht das Essen eine träge Art von Genuß, der es gar wohl ansteht, in einer Beigabe mannhafter und aktiv bewegter Art ihre Ergänzung, ihren höheren Schmuck zu finden? Auch waren sich die Pfahlbewohner wohl bewußt, daß dieser bewegungsreiche ornamentive Zusatz zugleich ein Ersatz sei für eine Einrichtung, die ihnen fehlte: gymnastische Uebung; ihr Speiseplatz wurde so ihr Turnplatz; ihre Körper, eckig und schwerfällig von harter Arbeit, wurden durch diese Knetungen (jetzt: massage) geschmeidigt; die Schlägerei hatte eine muskelbildende — sage griechisch: myoplastische — nebenbei zu erwähnen auch eine entschieden verdauungsfördernde Wirkung; man darf hinzusetzen: sie vertrat durch den gesunden Schweiß, den sie mit sich brachte, die Stelle von römisch-irischen Bädern, welche die Pfahlmänner noch entbehrten; sie badeten in ihren Seen, aber der Mensch bedarf von Zeit zu Zeit auch ein Dampfbad. Ja ungleich Höheres noch dürfen wir behaupten: die Wirkung war auch eine seelenbildende, denn ein gewisser sanfter Friede, ein calmo di mare pflegte nach diesen Stürmen auch auf die Gemüther sich zu senken, und dagegen kamen ein paar Schrammen []und Beulen doch wirklich nicht in Anschlag. Unbedingt war freilich solcher Ruhe des Meeres nicht zu trauen. Oft folgt ja auf einen Sturm ganz unerwartet ein zweiter; eine müde, scheinbar erstickte Granatkugel fährt oft noch einmal empor, zerplatzt und tödtet rings, was ihr begegnet. Nicht bei allen Mitgliedern der Gesellschaft hatte sich Einnahme und Ausgabe in der Prügelrechnung befriedigend ausgeglichen. Wer konnte wissen, ob es nicht da und dort unter der Asche noch unheimlich nachglimme!

Vorerst sollte sich zeigen, daß dieß wenigstens beim Druiden der Fall war.

Körperlich war zwar auch ihm die Motion im Allgemeinen ganz gut bekommen. Wir wollen nur verrathen, was wir bisher noch rücksichtsvoll verschwiegen haben: sein letzter war nicht so musterhaft verlaufen, wie es für einen voranleuchtenden Druiden sich ziemte; er hatte ihm einen rheumatisch krummen Hals zurückgelassen. Die Durcharbeitung, die gründliche Walkung hatte ihn jetzt kurirt: sein Kopf stand wieder gerade auf seinem Rumpf. Aber sein Inneres war nicht gerade, nicht still und weich geworden. Er hatte vor der motorischen Episode wenig gesprochen, starr vor sich hin gesehen; jetzt, obwohl er die passive und aktive Theilnahme an der Kraftäußerung der Gemeinde im Ganzen als eine wohlthuende nachfühlte, verhielt es sich doch anders mit einem Bruchstück derselben: im allge []meinen Durcheinander hatte es sich doch seiner Wahrnehmung nicht entzogen, wer es war, der ihm auf seine Sitzgegend so tüchtig aufmaß; das brannte nun empfindlich nach, eine prickelnde Glut stieg aus dem untern Theil seines Organismus empor und traf oben, in Herz und Hirn, mit dem verhalten gährenden Grolle zusammen. „Wartet, ihr Barden,“ dachte er, „Schlag gegen Schlag! Kann ich euch nicht treffen, euern Freund, euern Gesinnungsgenossen werde ich zu erreichen wissen!“ Er schwieg, bis Alles wieder saß; er selber zog vor — wie ihm dieß ohnedem der eben bemerklich gemachte Zustand der Basis seiner Persönlichkeit anrieth — sich nicht niederzulassen. So stand er, nicht schmunzelnd wie sonst. Die kleinen Augen waren in die Höhlen zurückgesunken, erst wie erloschen, dann fiengen sie an, sich krebsaugenartig hervorzutreiben und wieder zu funkeln. Die Haarstränge, die von hinten über seine Glatze herübergezogen und festgeklebt waren, hatten sich losgemacht und ragten unter der hohen Pelzmütze, die nach den Körperübungen Morbihan wieder aufgelesen und ihm aufgesetzt hatte, lang und fetzig, ein verrückter Zackenkranz, hervor. Er hatte sich das große Trinkhorn mit Methbock füllen und reichen lassen; es war ein altes Erbstück der Gemeinde aus der Stirnwaffe eines Urs, das an hohen Festen umgieng. Er hob es, er rief: „Der großen Göttin!“ stieß ringsum an und that einen tiefen Trunk. „Den []zweiten dem großen, finsteren und heilig zu scheuenden Urwurm Grippo!“ Er that einen zweiten, noch tieferen Zug, reichte das Horn weiter und sah dann, als störte ihn etwas im Fortsprechen, hinter sich nach der Feldküche. Hier gab es eine Bewegung, der Koch Sidutop kam jetzt herbei und flüsterte ihm etwas in's Ohr. „Er komme und melde!“ sagte Angus, der Koch eilte zurück und gleich darauf trat ein Mann vor, todesbleich, zitternd an allen Gliedern, in voller Bewaffnung, der Speer schwankte hin und her in seiner schlotternden Rechten. „Sprich!“ befahl Angus. Es war einer der zwei Wächter an Arthur's Gefängniß. Er stammelte daher: „Seit einer starken Stunde — dort — unten — oben — neben — in den Lüften — wo? was? ein Ton — Töne — entsetzlich — ein Fauchen — Prusten — Schnarren — Rumpeln — Krähen — lautes Heulen — Brüllen — dumpfes Murren — o! o! au!“ Die Sprache versagte ihm, er taumelte an einen Eichenstamm, preßte den Rücken daran und hielt mühsam so die lummelnden Glieder aufrecht. Einige kritische Augen meinten zu bemerken, es sei nicht bloß Entsetzen und Angst, was seine Organe lähme. Der Druide ließ diesen Zweiflern keine Zeit zu näherer Prüfung. Er richtete sich steiler auf und begann feierlich:

„Ihr habt es gehört. Die finstere Gottheit zürnt, verlangt ihr Recht, schwebt grollend um den Kerker []des Frevlers! Der gewaltige, dunkle Grippo hat zu lang ein Menschenopfer entbehrt. Darum hat er unser Böcklein verschmäht. Wunderbares Wehen und Rauschen habe ich verspürt, Geisterstimmen habe ich vernommen heut Abend im heiligen Innersten des Haines. ‚Geuß mich mit Sünderblut!‘ rief hohler Tiefton aus den Aesten des Räthselgebildes. ‚Versöhne ihn!‘ lispelte es aus zitterndem Birkenlaub. Fromme Mitheiden! ein Unheiliger, ein Götterfeind, ein Lästerer weilt in unserer Mitte. Ihr kennt mich, ihr wißt, ich bin eigentlich ein Mann der Billigkeit. Ich lasse der denkenden Vernunft einen Spielraum. Zweifel ist bis an gewisse Grenzen erlaubt. Wir haben Köpfe in der Gemeinde, welche an den heiligen Zahlen fünfunddreißig und neunundvierzig zu rütteln wagen, betreffend die Feen der Göttin Selinur und die Zwerggeister des Grippo. Ich habe diese Grübler nie verfolgt, nur sanft gewarnt. Ich selbst habe mich durch Zweifel zum Glauben durchgekämpft. Aber zu viel ist zu viel. Es darf nicht an den Kern, an die Wurzel, nicht an die Hauptkapitel gehen. Dieser Fremdling hat aber unsere allerheiligste Religion in ihren Grundwahrheiten verspottet, schon ehe er in die wildfrechen öffentlichen Reden ausbrach. Er hat unsere ehrwürdige, hochwichtige Betuchungs- und Ritzungsfeier belacht; er hat giftscharfe Worte fallen lassen, dahin zielend, daß unser Glaube keine Kraft mehr habe, die Völker []zu erziehen; sie sind mir von treuen Seelen hinterbracht worden. Ich weiß mehr: er hat einem ehrsamen Jüngling der Gemeinde nach dem Leben gestrebt in höllischer Eifersucht, da er eine Tochter unserer Gemeinde zu verführen, zu entführen trachtete, die dieser edle, gottesfürchtige Sohn Odgal's lieb hat und freien will.“ —

Man schaute umher, Aller Augen suchten Alpin. Stimmen ließen sich hören: „Wo ist er?“ Die ledigen Bursche riefen: „Er fehlt schon den ganzen Abend.“ — „Ja, seit dem Festschießen schon.“ — „Halt, er wird ermordet sein!“ rief eine spitze Stimme aus der Männerschaar. Ein Murren, ein Flüstern gieng durch die Versammelten, das sich zu tumultuarischer Unruhe steigerte. Vergebens rief Odgal: „Mein Sohn ist gesund und wohl vom Schützenfest zurückgekommen und hat zu Hause gegessen um Mittag; wer sollte ihn denn in der Zwischenzeit ermordet haben, Arthur ist ja gefangen!“ — „Der Gauner kann verborgene Helfershelfer haben,“ schrie eine heisere alte Kehle. Kurzes allgemeines Stillschweigen, dann neues Flüstern, dumpfer, dunkler, unheimlicher als das vorige; Wechselblicke des Verdachts, gehässige Aufregung von Nachbar gegen Nachbar, anzügliche Reden unter einander, Alles zu einem Getöse anschwellend, worin die Mahnungen einiger Nüchternen, namentlich der Barden, man solle doch erst nach dem Vermißten suchen gehen, rein über []hört wurden. Ein ruhiger Zuschauer hätte bemerken können, daß eine zusammenhaltende Anzahl von Hetzern geschäftig war, zu schüren und durch wiederholte Ausrufe: „Mörder! Mörder!“ die aufgescheuchte Phantasie noch wilder in das dunkle Bild eines vorgestellten Verbrechens, einer geheimen, schleichenden, bösen Macht hineinzuverwickeln. Schon fiengen die Vernünftigeren an, selbst beirrt zu werden, sonst hätte sich doch müssen eine Minderheit zusammenthun, die stark genug war, durchzusetzen, was die Barden verlangt hatten: daß nach Alpin gesucht werde.

Es war der Druide, dem es gelang, mit gebieterischem Befehl sich eine Stille zu erzwingen. „Vielleicht auch Mörder!“ rief er, „aber er ist gerichtet auch ohne das! Er hat in seiner schamlos frechen Rede, den heiligen Wagstein schändend, indem er ihn zu seiner Kanzel machte, unsere Obergöttin zwar gelten lassen, aber nur in bedenklichem, hinterhältischem Sinn. Den furchtbaren Grippo hat er geleugnet. Die Lehre vom unbekannten Gott hat er wahnsinnig ausgedeutet, sich vermessen, uns eine undenkbare neue Gottheit aufdrängen zu wollen. Und das Abscheulichste: wißt ihr noch, was er gesprochen von drohendem Ueberfall fremden Volkes, das unsere Hütten plündern, sengen, unsere Kinder niedermetzeln, unsere Weiber und Töchter schänden, in Gefangenschaft führen werde? Da sprach []er von Widerstand durch Menschenkraft ohne Grippo's Hülfe! Was? Wie? Wer ist der, der uns des Beistands der Gottheit entblößen will, wenn unser Hab und Gut und Leben und das Leben von Weib und Kind bedroht ist? Nicht nur ein Ketzer, ein Hochverräther ist er! Ihn, ihn fordern wie die Geistertöne im heiligen Hain, so die furchtbaren Laute, die über den Wassern um sein Gefängniß Luft und Ohr erschüttern!‚ Gebt ihn mir' ruft Grippo, gebt ihn uns,' seine Geister! Verloren seid ihr, wenn ihr das Opfer weigert, gerettet, wenn ihr es bringt! Ihr wißt, daß aus eurem Seelenhirten nicht Leidenschaft spricht, der Verbrecher ist in aller Form abgeurtheilt; reiche mir, Dyfuwal, du rechtgläubig Frommer, der du mir zuerst jene Hohnworte des Erzketzers getreulich hinterbracht hast!“

Einer der Alten in seiner Nähe erhob sich, ein hohläugiger Greis, groß und dürr, vom Alter gekrümmt, mit langem, doch sparsamem weißem Barte, der in zwei Strängen vom spitzen Kinn niederhieng; er trat an einen hohen Busch, über den eine Bastmatte gebreitet war, hob sie, wollte hineingreifen, fuhr aber wie von Scheu überwältigt zurück, denn aus dem Busche erhob sich eine Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet, ein Weib mit gelbem Gesicht, mit starr, weit aufgerissenen Augen, hoch in der Hand einen weißen Stab haltend. Geheimnißvolle Zeichen, eingeschnitten, []mit Roth bemalt, waren darauf zu sehen. Es war Urhixidur. Dyfuwal überließ ihr ohne Widerrede, was eigentlich sein Geschäft war. Sie reichte den Stab dem Druiden, zog eine der Fackeln aus der Klamme, die sie am Pfahle festhielt, und beleuchtete den Stab in Angus' Hand. Man konnte jetzt sehen, daß das Roth der Zeichen aus Blut bestand.

„Hier ist das Urtheil!“ rief der Druide, den Stab hoch emporstreckend. „Wer sind die Richter?“ riefen gleichzeitig die zwei Barden, „nur ein Beschluß der Volksgemeinde kann Todesurtheil fällen.“ — „Das ist nicht Gesetz, nur Brauch“, rief Angus. „Ererbt, verjährt, durch die Jahre geheiligter Brauch!“ entgegnete Kullur. Jetzt trat schnell Sigunens Vater, Odgal, vor und sprach: „Er war mein Gast, verklage ihn, wenn du willst, förmlich vor der Gemeinde, er soll nicht ungehört, nicht unvertheidigt gerichtet werden!“

„Das gemeinschaftliche Amt,“ erwidert der Druide, „ist befugter Vertreter der Gemeinde, ich habe zu den zwei Aeltesten, die mir in Sachen des Gottesdienstes zur Seite stehen, vier weitere beigezogen, die vom Volke gewählten, dem obersten Haupt und Richter, dem Druiden, an die Hand gegebenen Berather und Verwalter der weltlichen Dinge — lies, Urhixidur! lies das Urtheil, das nun dem Verbrecher soll verkündigt werden!“ []Sie sagte zuerst in trockenem, litaneiartigem Tonfall das Urtheil her, als läse sie es vom Runenstabe herunter; in der That war sie sehr schwach in der Kunde dieser Schriftzeichen, konnte aber Eingelerntes sehr gut auswendig behalten.

„Im Namen des Coibhi-Druid und kraft der von Seiner Heiligkeit uns übertragenen Gewalt, zu herrschen und zu richten, und auf Grund genauer und gesetzlicher, unter Mitwirkung der für Berathung geistlicher und weltlicher Dinge uns beigegebenen Aeltesten unserer Gemeinde Robanus vorgenommener Untersuchung, auch in Uebereinstimmung mit dem Wahrspruch dieser unserer Beisitzer erkennen wir dich, Arthur von Nuburik, schuldig der Lästerung unserer heiligen Religion, der Leugnung der Götter und zugleich des Hochverraths, und sprechen das Urtheil, daß du alsbald nach Verkündigung aus dem Kerker an den heiligen Dolmen sollst geführet und zu Ehren der furchtbaren Gottheit Grippo und gemäß dem bejahenden Willen der Weltgöttin Selinur vermittelst Aufschlitzung der Brust und des Bauches vom Leben zum Tode gebracht werden, und es soll aus den Zuckungen deiner Eingeweide die Zukunft unserer Gemeinde Robanus geweissagt und es soll hierauf dein Leib, todt oder noch lebendig, zu Asche verbrennet werden.

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„So beschlossen in der Gemeinde Robanus und gezeichnet mit Blut des Böckleins.

Gemeinderath:

Dyfuwal.

Morbihan.

Avagddu.

Gueyrydd.

Gwrtheyrn.

Galgak.“

Angus, Druide,

Pfarrer.

Die Vorleserin verstärkte jetzt ihre Stimme und gieng in einen andern Ton über, denn sie gelangte an die poetische Fassung des Urtheils, die nach damaliger Sitte und Gesetz der prosaischen folgen mußte. Die Anstrengung trieb ihre Stimme in die Höhe, laut und grell wie ein krächzender Nachtvogel kreischte sie in gesangartig gezogenen Tönen:

„Fest steht Stabspruch:
Sterbe Frevler!
Steche, schlitze
Scharfe Schneide
Langen Leibschnitt,
Daß man Lung und
Herz und Leber
Zukunftkündend,
Zeichenbringend
Zucken sehe!
Züngle, Flamme!
Zische, zehre
Ihn zu Asche!
Wehe! Wehe! Wehe!“
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Diese drei Ausrufe, den hergebrachten Schluß eines Todesurtheils, stieß sie mit einem Laute aus, so wild grausig gellend, wie man sich den Schrei des blutigen Kindes im „Macbeth“ denken muß, das aus dem Hexenkessel steigt; es ruft dreimal seinen Namen so entsetzlich, daß er sagt: „Hätt' ich drei Ohren, hört' ich dich!“

Kaum war sie zu Ende, so rieß Angus, den Augenblick benützend, wo Schauer alle Zungen band, eine Fackel vom nächsten Pfahl, schwang sie, rief: „Vorwärts!“ setzte sich in Bewegung, ihm nach das geisterhafte Weib, in der einen Hand den Runenstab, in der andern die Fackel, die sie vorhin ergriffen hatte und nun in Kreisen über dem Haupte drehte; an sie schlossen sich rasch die Gemeindeältesten und hinter diesen drängte sich Alles, was streng und feindlich gegen Neuerungen gesinnt war; dagegen die Barden, die Männer, die wir als eine Art von Linker schon kennen, die Unentschiedenen, die sich gern einige Nüchternheit bewahrten: sie Alle bedurften nur wenige Minuten, sich vom lähmenden Grausen zu erholen, dann stürzten sie sich nach, abmahnend, klagend, heftig bemüht, die vorwärts Stürmenden aufzuhalten. Durcheinander schreiend, ziehend und stoßend, zerrend und gezerrt, wälzte sich der wirre Menschenknäuel über die Opferstätte hin, wo vor Grippo's Bild ein Scheiterhaufen aufgerichtet stand und röthlich im Fackellicht aufglühte, wo auf dem Dolmen schon der Corid []wentopf bereit stand, das Blut des Menschenopfers zu empfangen, dann weiter der Brücke zu, worüber zuerst Urhixidur hinraste, die sich auch vor Angus den Vortritt errafft hatte. Mit sausenden Flechten stürmte sie über die polternden Planken, immer die Fackel schwingend, deren Flamme nun auf den dunkeln Spiegel des Sees ihren feuerrothen Schein umherstreute — eine Eumenide, ein höllischer Dämon —, ihr nach der Druide, die sechs Aeltesten, dumpf erkrachte unter der wild bewegten, stampfenden Last des nachdrängenden Gewühles der ganze hohle Unterbau des Wasserdorfes, von fern hörte man das Geheul eines Wolfes, aufgescheuchte Nachtvögel umflatterten krächzend das wilde Heer; — jetzt sind die Vordersten am Gefängniß angelangt, der eine der zwei Wächter, der auf seinem Posten geblieben, liegt schnarchend am Boden, Angus schwingt eine Steinaxt, die ihm unterwegs schnell gereicht worden, zerhaut den Knoten am Riegel, reißt die Thüre auf, rennt hinein, ihm folgt augenblicklich Urhixidur und die Aeltesten. —

Ein dumpfes, klatschendes Geräusch wird vernommen, es wiederholt sich schnell und öfters und rasch vereinigen sich diese schlagartigen Laute zu einer dunkeln, verworrenen Masse von Gehörseindrücken, die nur von zappelnden, heftigen Bewegungen im plätschernden, schäumenden, spritzenden Elemente des Wassers herrühren können. Dazwischen erschallt mehrstimmiges Ge []schrei, verzweifeltes Hülferufen; die Nächsten, die den Eindringenden hatten folgen wollen, machen wohlweislich Halt, drehen sich um, schreien nach Kähnen, die Nachdrängenden, die noch nicht wissen, was vorgegangen, schieben und stoßen vorwärts, so erleiden noch mehrere Personen das Schicksal der Zugführer; nach und nach lichten sich die Geister zum Verständniß, man eilt nach Einbäumen, kann sie nicht schnell genug lösen, Dieser und Jener springt aus freien Stücken in's Wasser, um schwimmend die Hineingestürzten zu retten, Andere wirft im Gedräng und der Hast um die Kähne der Zufall in die Wellen und endlich befindet sich der ganze männliche Theil der Gemeinde in dem wogenden See, die Frauen sind inzwischen aus den Hütten gestürzt, wehklagen wie ein antiker Chor an den Geländern, eines derselben bricht vom Drucke der Menge und ein Haufen von Müttern und Töchtern stürzt hinab, weit und breit ist nun die Wassermasse bedeckt, durchschossen, durchrauscht von einem dunkeln Getümmel schwimmender, kähnerudernder, drängender, zappelnder, lautschreiender Gestalten; aus dem Schlaf aufgeschreckt flattern schneeweiße Möven über dem tollen Schauspiel und sagen durch Wimmern und fahrige, verrückte Zickzackflüge ihr Erstaunen über den unbekannten Anblick. Nur drei Menschen stehen unbemerkt ganz ruhig oben und schauen auf das Getrieb hernieder; es sind die zwei Barden und ein Jüngling, der sich so eben erst, stark er []hitzt wie von raschem Marsche, zu ihnen gefunden hat und den wir nicht zu nennen brauchen. Sie flüstern; kaum vernimmt man die Worte: „— und Tyras hat sich auch eingestellt, ist mit.“

Anderswo liegt in ihrem Kämmerchen eine Jungfrau mit geschlossenen Augen, mit dem innern Auge Alles sehend, was sich begibt, und Alles verstehend und von Lust und von Bangen zitternd zieht sie die Decke ihres Lagers über sich her und versteckt darin ihr schönes Lockenhaupt.

Nach und nach wird die Fläche des Sees wieder sichtbar und ruhig, Lärm und Menschengedräng zieht sich in's Dorf hinauf, hier beginnt ein Laufen, Poltern, Herbeischleppen wärmender Pelze, in den Küchen ein Wasser- und Methsieden, auch diese Unruhe legt sich allmälig und endlich ist es stille.

Ruhig scheint der Mond auf den befreiten glatten Wasserspiegel. Nichts ist mehr zu sehen von all' der Menge von Menschen und Dingen; nur eine Zipfelpelzmütze, der Hauptschmuck des Druiden, treibt einsam, träumerisch auf den Wellen dahin. —

Drei Jahre sind seit dem Ereigniß vorübergegangen. Am Ufer sitzt ein junger Mann, neben ihm ein bildschönes Weib. Sie sehen einem Kinde zu, einem kräftigen Knaben, welcher im Grase mit Blumen spielt []und abwechselnd einen alten Schäferhund an Fell und Ohren zaust, der es geduldig sich gefallen läßt. Er hat des Vaters blonde Locken, aber ganz die dunkelblauen Augen und das schelmische Lächeln der Mutter.

Die Beiden sitzen lange schweigend beisammen.

„Wo er wohl sein mag, was wohl aus ihm geworden ist?“ sagt endlich, in Gedanken verloren, Alpin.

„Ach,“ antwortet Sigune, „es ist besser, ich sage dir's, als daß du es durch Andere erfährst. Gestern kam mir ein Gerücht zu Ohren, Männer vom Podamur-See, die mit Waaren zu uns gekommen, haben es herübergebracht; sie sagen, ihnen selbst sei es auch durch waarentauschende Leute zugetragen und diesen ebenso aus weiterer Ferne. Es lautet traurig.“

„Sag' nur, ich ahn' es wohl.“

„Weit, weit weg in einem wilden Lande sei er, so heißt es, von grausamen Menschen erschlagen worden, weil er ihnen ihre Götter nehmen wollte. Ach, wenn's so ist, du hast ihn umsonst gerettet!“

Alpin ließ das Haupt sinken, zog dann sein Weib an seine Brust und unterdrückte ein Schluchzen. Dann hob er sich und sagte: „Doch nicht umsonst, lieb Herz! Was er ausgestreut, wird aufgehen. Ist ja bei uns auch aufgegangen; nicht zu viel, doch Manches. Der neue Druide haßt und verfolgt die Leute nicht, die nicht gerad' Alles so glauben.“

„Dem Alten hat doch noch etwas geschwant, als []er an der argen Verkältung mit seiner Alten so hinstarb und ich die Beiden eben doch pflegen mußte; er richtete sich im Fieber einmal auf, blickte starr nach oben und stöhnte: ‚Schau' nicht so schwer auf mich hernieder, Geist! vergieb mir.’ Die Alte aber starb unter Flüchen, die hat mich nicht gedauert.“

„Mich Beide nicht.“

„Du bist im Herzen doch eigentlich auch für's Neue.“

„Weißt, ich kann freilich die Steckköpfe und Mucker nicht leiden. Was Arthur gemeint, hat mir stückweis wollen einleuchten, ja sind mir auch schon fast ähnliche Gedanken gekommen, wenn ich so auf meine Schippe gestützt in's Weite hinaus schaue oder wenn ich im Regen unterstehe dort in der Höhle, wo Arthur sich verbarg. Da fällt mir immer ein, was er gesagt hat in der Nacht, als ich ihn über den See setzte. ‚Warum bist du denn eigentlich aus deinem Versteck heraus?’ frag' ich ihn. ‚Ich weiß selbst nicht recht,’ sagt er, ‚und doch, ich weiß. Als ich in der hohen dunklen Höhle so dasaß, da kam es über mich; es wehte mich an; es rief etwas über mir hoch herab vom grauen Felsgewölbe und doch in mir: drüben am Dolmen reden sie jetzt, rief es, gehe hin, zeuge vom neuen Gott, den du nicht kennst und doch kennst, sprich, zeuge laut vor allem Volk! Da ließ es mich nicht; ich brach aus’ Sieh',“ fuhr Alpin fort, „wenn ich nun in der Höhle sitze, da muß ich dieser Worte gedenken, da meine []dann auch ich ein Rauschen, ein Klingen zu hören und eine Stimme, die da sagt: eure Götter sind nicht die rechten und euer Sinn und Leben soll erneuet werden, wie die Welt erneuet ist, seit dunkle, wilde Menschengeschlechter gewohnt und gehauset in diesen Kammern. Aber mein Geschmack ist eben nicht, zu schieben und zu treiben an solchen neuen Gedanken. Ich denk' halt: manches Alte ist doch auch gut und stille Hirten muß es doch immer geben, und ich denk' halt: wer immer Recht behalten mag, es ist immer gut, wenn ein Theil Leute noch stät, aber ohne Gift am Alten hängt.“

„Ja, drum hältst du's auch mit denen, die sich so stark gegen die Einführung des Erzes sperren“. Sigune lächelte zu diesen Worten; nachdem Alles gut geworden, hatte sie, schelmisch wie sie war, ihren Alpin öfters mit der bewußten Szene geneckt.

Alpin stand auf, hob das Kind auf seine Arme, beugte sich zu Sigunen nieder, hielt ihr das kleine Haupt nah unter die Augen und sagte: „Lieb Weib, ist das nicht ein schönerer Spiegel?“

Sigune bedeckte das Kind und dann den geliebten Mann mit Küssen.

Als sie wieder aufschauten, sahen sie im Hintergrund den Ehegoumer eilig über die Wiese laufen.

„Gelt du,“ sagte Sigune, „den brauchen wir nie und nimmer!“

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Die Fundstücke, die man aus dem Robanus-Seegrund ausgegraben hat, gehören der Steinzeit an, doch befinden sich auffallenderweise zwei Ausnahmen darunter: ein Erzschwert, dessen Schärfe so gezahnt ist, daß es offenbar als Säge gedient haben muß, und ein großer eiserner Bohrer, beide stark vom Rost angefressen, doch mit Sicherheit noch bestimmbar. An einigen Dielen, die man an einer Stelle noch ziemlich erhalten beisammen fand, lassen sich Spuren von Bohrlöchern und von da auslaufend starke Eingriffe eines rauhdurchschneidenden Werkzeugs erkennen.


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TextGrid Repository (2023). German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-deu). Auch Einer 1 : ELTeC ausgabe. Auch Einer 1 : ELTeC ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-F50F-D