[5]

1

An der Anhöhe über dem Dorf Haldenegg steht an der Straße, die ins Bergland führt, das große, holzgeschindelte Bauernhaus »zum Freihof«, früher als vortreffliches Gasthaus weit bekannt. Mit vielen klaren Fenstern und einer Holzgalerie, auf der in der schönen Jahreszeit rotblühende Geranienstöcke nicken, schaut es unter einem breiten Dach hervor sonnig und behäbig in die Landschaft, bis auf ein fernes Stück Bodensee.

Vor dem Haus saß eine Gesellschaft junger Stickerinnen, die sich bei Gertrud, der Tochter des Freihöflers, freundschaftlich zusammengefunden hatten. Sie trugen die für den Werktag übliche Halbtracht des Berglandes, den dunklen, in kleinen Vierecken gemusterten Rock, das mit silbernen Röschen geschmückte Mieder, den gestreiften, blühweißen Brusteinsatz, im Haar den Silberpfeil. Eifrig ließen sie die blitzenden Nadeln durch den in runde Rahmen gespannten Musselin fahren. Den Blumen, die sie stickten, wuchsen die Blätter, den Vögeln die Flügel. Lange Zeit hörte man nur den Ruf eines Finken, der seinen Jubel aus den noch unbelaubten Zweigen eines Apfelbaumes in den schönen Tag sang.

[6]

Es war linder März. Am Himmel zogen die Silberschiffe der Frühlingswolken, und auf der großen Wiese blühten die ersten Schlüsselblumen und die stahlblauen Enzianen.

Da schritt auf der Straße der Senne Hanstöni heran, der im Herbst, Winter und Frühling in Haldenegg, im Sommer auf den Alpen die Käserei betrieb und nun wohl von Einkäufen in den höher gelegenen Dörfern kam.

Als der junge Mann im Lederkäppchen, roter Weste, messingbeschlagenen Leibgurt und mit einer Blume hinter dem Ohr die Mädchen erblickte, rief er fröhlich: »Grüß Gott alle zusammen! Sind die Mieder und Flügelschappen auf Ostern bereitet?«

»Grüß Gott, Hanstöni!« erwiderten die Mädchen wie aus einem Mund.

Gertrud, die Tochter des Freihöflers, hob den blonden Kopf von ihrer Arbeit. »Weiß Gott, das drängt nicht, es sind ja noch volle vierzehn Tage bis Ostern. –Und wenn der Rechte kommt,« fügte sie lachend hinzu, »so haben wir Mieder und Kopfflügel bald gerüstet!« Die weißen Zähne blitzten ihr aus dem roten Mund, und der Mutwille spielte ihr über das frische Gesicht.

»Ja die Mädchen sind gar wohlfeil hierzuland,« spottete der etwa dreißigjährige, kraftgedrungene Senne.

Die Stickerinnen aber lachten: »Nach Eurem Beispiel würde man's nicht glauben! Ihr seid doch immer noch ledig.«

[7]

Sie kicherten, und eine Weile spann sich das Kreuzfeuer der Schelmereien hin und her.

Da wandte Hanstöni das Gespräch: »Habt ihr die Neuigkeit von Röbi Heidegger gehört? Kommt er wohl auf Ostern heim, um uns seinen Schmiß zu zeigen?«

»Darüber erwarten wir von ihm Tag um Tag einen Brief,« erwiderte Gertrud, leicht errötend. »Mit gutem Gewissen wird er nicht kommen. Mein Vater ist zornig und hat das Donnerwetter für ihn schon im Sack!«

»Nun, mit oder ohne Schmiß findet er doch eine Frau,« neckte der Senne, »jede von euch könnt' er haben. Aber dort kommt ja das Vieruhrbrot. Gott gesegn' es euch allen zusammen!«

Er lüpfte das Käppchen, stieß einen Juchschrei aus und schritt die Straße bergab in den weiten, offenen Talgrund, in dem zwei Bäche zu einem größeren Wasser zusammenschäumen und malerisch verstreut drei hübsche Dörfer liegen: Haldenegg, Buchen und Büchlisberg.

Von ihren rotbehelmten Türmen klangen die Vieruhrglocken.

Vree, die ältliche Wirtschafterin des Freihofs, eine Base Gertruds, deckte den Stickerinnen unter dem Apfelbaum den Tisch. Bald tafelte das Sechsblatt bei Kaffee, Brot, Butter und Honig und sprach von Hanstöni, dem Schelmen, dem das Salz lustiger Redensarten nie ausging.

Gritli Geißmann, die Pfarrerstochter, unterbrach das lose Gespräch mit der ernsten Frage: »Ist's wohl [8]wirklich wahr, daß sich Röbi aus reinem Mutwillen von einem anderen Studenten das Gesicht hat zerhauen lassen? Ich könnt's von ihm nicht fassen. Doch muß etwas mit Röbi los sein. Seine Großmutter kam zornig und böse ins Pfarrhaus und hatte eine lange Unterredung mit meinem Vater.«

Ihr Wort sollte gleichgültig klingen, durch ihre Stimme aber spürte man die Sorge, die rehbraunen, glänzenden Augen verrieten die innere Unruhe, und das Stück Brot bebte ihr zwischen den feinen Fingern.

»Ja eben, der Tunichtgut!« schmollte Gertrud, während sie die Butter im Kreise herumreichte. »Vorgestern traf Anwalt Eberli aus Buchen Röbi in der Stadt. Der Fürsprecher brachte dem Vater die Nachricht, unser Student trage eine schwarze Binde quer über die Nase und die linke Wange, und es werde ihm von dem Schmiß lebenslang eine Narbe bleiben.«

»Lebenslang!« stieß Gritli hervor. »Und er hat ein so sauberes, freies Gesicht gehabt!«

Das unterdrückte Lachen der anderen schreckte sie auf. Sie wurde rot, wie eine, die sich verraten fühlt.

Jede aus dem Kranz wußte, daß des Pfarrers Gritli von Kindheit an tief, doch hoffnungslos in Röbi verliebt war, die Neigung des Studenten dagegen derjenigen Gertrud Freihofers begegnete.

»Röbi hatte natürlich den Fürsprecher ersucht, daß er ihn vor meinem Vater verteidige,« nahm Gertrud wieder das Wort. »Das hat Eberli auch mit vielen Reden von Studentenbräuchen getan, aber der Vater, der ja Röbis ehemaliger Vormund ist, hat über das [9]Vorkommnis doch furchtbar gewettert. Studentenehre hin oder her! Für Röbi, den künftigen Schweizer Rechtsgelehrten, bleibe der Schmiß eine Schande sein Leben lang.«

Sie schwieg mit großen, nachdenklichen Augen, und das Leuchten wich aus ihrem lebhaften Gesicht.

»Ein Rechtsgelehrter, ein Jurist wird Röbi, ja, der will hoch hinaus!« rief Liseli Suter, das Mesnerkind, um deren leichtsinniges Gesicht ein Sonnenschein roter Flieghaare spielte.

»Der wird einmal Großrat, Kriminalrichter, ja sogar Landammann,« erwiderte ihr Gertrud mit aufsteigender Wärme. »Wir haben im Ländchen keinen Überfluß an studierten Männern, sagt mein Vater, und gerade weil Röbi eine so schöne Zukunft winke, sollte er seinem Ruf und seiner Ehre Sorge tragen.«

»Und du würdest Frau Landammann!« lachte die Mesnerliese unbesonnen heraus.

Gertrud und Gritli, beiden stieg das Blut jäh in die Wangen, einen Augenblick herrschte das Schweigen der Verlegenheit im Kreis der Jugendfreundinnen. Gertrud brach es mit der Bemerkung: »Wenn ihr töricht zu reden anfangt, so wollen wir doch lieber wieder an die Arbeit gehen!«

Ihr Wort galt. Nicht bloß, weil sie heute Gastgeberin der Gesellschaft war, sondern aus einer unbewußten Anerkennung ihres Wesens, des offenen und verständigen Sinnes, den sie von ihrem Vater ererbt hatte.

Der Tisch mit dem Abendbrot stand leer, die Stickerinnen [10]lehnten wieder über ihre Rahmen, und geraume Weile hörte man wieder nur das Zischen des Werkzeuges in dem Musselin.

»Aber Gritli, du zerbrichst ja eine Nadel um die andere,« unterbrach Rosine Zumsteg die Stille.

Gritli gab keine Antwort, sie beugte sich nur tiefer auf ihre Arbeit nieder.

»Was kommen denn dort für zwei die Straße herauf?« fragte die grauäugige Babette Schacher.

Alle spähten.

»Ach, das ist der Schreiner- und Glasermeister Hildebrand mit seinem Gesellen, der Vater erwartet sie,« versetzte Gertrud. »Sie kommen zur Untersuchung der Hauswände, die schlechten Schindeln sollen herausgenommen und ersetzt werden. Überhaupt will der Vater auf Ostern den Freihof erneuern und streichen lassen. Es ist viele Jahre nichts daran geschehen, nun soll das Haus wieder schmuck werden!«

Sie erhob sich und ging, um die Handwerksleute anzumelden. In sinnender Traurigkeit schaute Gritli der ebenmäßigen, kräftigen Gestalt nach.

Wie prächtig saß Gertrud das von blonden Zöpfen umwundene Haupt auf dem schönen Hals! Dafür hatte natürlich auch Röbi Augen. Nein, gegen ihre Freundin vom Freihof, die sich zu einem so frischen und stolzen Mädchen entwickelt hatte, konnte sie nicht aufkommen, obgleich es lange schien, daß sich die Liebe Röbis ihr zuwende. Schmerzlich überflogen ihre Gedanken die Erinnerung an den wilden Nachbarbuben. Er hatte dem Lehrer und dem Pfarrer manche saure [11]Stunde, aber auch viel Freude bereitet und es schon in seinen Schuljahren verstanden, mit einem drolligen Wort oder einem lachenden Augenaufschlag diejenigen, die er durch sein heißes Blut verärgert hatte, wieder für sich zu gewinnen. Und je älter er wurde, desto stärker kam sein überlegenes Wesen zur Geltung. Die anderen Jungen folgten freiwillig seiner Schwungkraft, und alle Mädchen hatten ihn lieb.

Sie selbst am meisten.

Weiter kam sie mit ihren trüben Gedanken nicht.

Mit seiner Tochter trat der Freihöfler aus dem Hause, eine knorrige Gestalt, um eine Fingersbreite kleiner als Gertrud. Er lobte den Fleiß der Mädchen, wußte für jedes ein Scherzwort und ließ dabei das Gesicht, in dem eine kurze, scharfe Bogennase stand, aus dem halbergrauten Kranzbart leuchten.

Nun waren Schreiner Hildebrand und der Geselle mit ihren Werkzeugen zum Freihof herangestiegen. Die Mädchen konnten ein Lachen über das ungleiche Paar nicht unterdrücken. Der Meister war kurz und dick und hatte ein breites, schwammiges Gesicht, der Geselle dagegen, der ein paar Schritte hinter ihm ging, war übermäßig hoch aufgeschossen und von einer Magerkeit, die schier nach Erbarmen schrie.

Die beiden grüßten den Freihöfler und die Mädchen. Wie der Geselle den Arm regte, um seine Mütze zu lüften, da war es, als ob sich ein umständliches Hebelwerk oder die langen Beine einer Spinne rührten. Unter den Mädchen blieben nur Gertrud und Gritli ernst.

[12]

Vor Gertrud Freihofer aber ging es dem langen, dünnen Gesellen seltsam. Der Anblick der blühenden Gestalt gab ihm durch die Höhe seines Körpers einen Ruck, in den bleichen Kopf hoch oben stieg das Blut, seine warmen Augen, das einzige Gewinnende an der lächerlichen Gestalt, hefteten sich wie gebannt auf das Mädchen.

Gertrud war gewohnt, daß sich junge Männer nach ihr umblickten, aber so wie dieser lange, sonderbare Geselle –nein, das war zu stark!

Sie war froh, als der Meister, der sich mit dem Vater unterhielt, den wie angewurzelt Stehenden mit dem Befehl hinwegrief, eine Leiter zu holen.

»Gottlob!« versetzte sie halb entrüstet, halb scherzend und mit einem Seufzer der Erleichterung. »Was habe ich denn an mir, daß mich der lange Balz so anstarren muß? Anlaß hab' ich ihm nie gegeben und noch nie ein Wort mit ihm gesprochen.«

Die anderen lachten.

Gritli aber, die für ihn Verständnis aus ihren eigenen Schmerzen schöpfte, verteidigte den Gesellen: »Nimm es ihm nicht übel! Balz ist wohl ein seltsamer Mensch, aber so gut, daß man ihn für ein freundliches Wort um den Finger wickeln kann. Als Nachbarn des Tischlers kennen wir ihn. Er ist seit vielen Jahren der erste Geselle, der es bei Hildebrand aushält. Alle anderen sind dem Grobian bald wieder davongelaufen. Balz aber bleibt und ist ein Segen für die Familie: für den Meister, der ohne den tüchtigen Arbeiter vielleicht schon in die Zwangsversteigerung gekommen wäre, [13]für die schwächliche Frau, der er am Feierabend die härtesten Dienste abnimmt, und für die vernachlässigten Kinder, die er kämmt und striegelt und denen er wunderschön auf der Ziehharmonika vorspielt.«

Die Mädchen horchten ernsthaft.

»Ihn jetzt aber vierzehn Tage –mit diesen sonderbaren Augen auf dem Hof haben,« warf Gertrud ein, »nein, ich danke.«

»Schreiner Hildebrand würde mit der Arbeit nicht fertig ohne Balz,« versetzte Grit«. »Der ist mit seinen langen Fingern in allen Hantierungen merkwürdig geschickt und immer fleißig, ob der Meister bei ihm steht oder nicht.«

»Wenn aber der lange Balz ein so ordentlicher Geselle ist,« fragte Liseli Suter, »was bleibt er denn bei dem Lotter? Da fände er doch einen besseren Meister!«

»Ich glaube, dem Balz gefällt es deswegen, weil er bei Hildebrand allein Geselle ist,« erwiderte Gritli. »Er hat eine Krankheit, über die ihn Mitgesellen auslachen würden –von Zeit zu Zeit Anfälle von Heißhunger. Und die Hildebrands machen sich nichts daraus.«

»Heißhunger?« kam es fragend von den Lippen der anderen. »Was ist das?«

»Eine krankhafte Gier, von manchen Speisen mehr zu essen, als vernünftig und anständig ist. Balz weiß recht wohl, daß es gegen die Sitte geht und ihm schwer schadet, aber wenn er angefangen hat, kann er nicht anders,« erzählte Gritli.

[14]

»Und bleibt bei dem vielen so dünn!« lachte die Liese.

Plaudernd spähten die Mädchen nach dem Gesellen, der auf einer Leiter die schadhaften Stellen am Haus untersuchte, die gesprungenen oder morschen Schindeln im Schuppenkleid löste und den Freihöfler wie den Meister auf mancherlei Schäden von Wind und Wetter hinwies.

Da kam von einem Wiesenweg der Landbriefträger in den Freihof eingeschwenkt und trat auf die Stickerinnen zu. »An Fräulein Gertrud Freihofer zum Freihof bei Haldenegg« las der Alte die Aufschrift eines Briefes und reichte ihn Gertrud mit humorvoller Umständlichkeit.

»Er ist von Röbi!« rief sie freudig, und ihre Wangen färbten sich mit rosigem Rot. »Briefträger, geht doch in die Stube und laßt Euch von der Vree einen Schoppen geben!«

Die Mädchen hatten plötzlich den langen Balz vergessen und waren auf den Brief des Studenten neugierig. Das vorhin so gesprächige Gritli aber beugte ihren Kopf voll dunkler Zöpfe tief auf die Arbeit. Warum hatte nicht sie von Röbi den Brief bekommen?

Gertrud las ihn still für sich und mit wachsender Freude.

»Er will wirklich die Osterferien hier verbringen,« unterbrach sie sich. »Und dazu schreibt er: ›Von meinem Schmiß habt Ihr, Dein Vater und Du, wohl durch den Fürsprecher Eberli gehört; Buße für die Torheit, wie Ihr in Haldenegg die Mensur nennt, habe ich vor dem Spiegel, im stillen Kämmerlein getan. Pfui [15]Teufel, Röbi! mußte ich selber sagen, schöner bist du durch den roten Striemen nicht geworden, und eine Freude werden die Haldenegger an dir nicht haben. Wenn ich an Deinen Vater denke, Gertrud, so würde ich mir lieber die Haften noch einmal durchs Gesicht ziehen lassen, als ihm mit dem blutigen Strich vor die Augen treten. Ich finde aber keine Ruhe, bis der Streit mit ihm ausgetragen ist, und leide am tiefsten Heimweh nach Euch allen.‹«

Hier verwirrte sich die Stimme Gertruds, man spürte, daß sie Zeilen überschlug.

Nur eine Stelle las sie noch vor: »›Was für ein Donnerwetter Dein Vater für mich bereithält, in aller Lebenslust der Stadt denke ich doch nur an die Heimat. Jodeln und jauchzen will ich wieder einmal von unseren hellen Bergen! Darauf freue ich mich wie ein junger Zeisig. Mitten in meinen Schmerzen hab' ich mir auch überlegt, wie wir, die Jugend von Haldenegg, Ostern schön feiern wollen. Ich plane die Wiederholung des Eierfestes auf dem Wiesenplan des Freihofs, das vor drei Jahren so prächtig verlief. Hanstöni soll wieder werfen, und unter den Bauernburschen werden wir schon einen Reiter finden, der uns den nach Amerika verschwundenen Dolf Guggi ersetzt.‹«

Heller Jubel brach unter den Mädchen aus. »Das ist Röbi! Nun wissen wir, daß wir die Flügelhauben rüsten müssen!«

»Arnold Röthlisberger, der Sohn des Fuhrhalters, kann ja Osterreiter sein,« warf Rosine Zumsteg, das jüngste der Mädchen, in das Gespräch ein.

[16]

»Ich weiß nicht, ob der Vater ein Fest auf dem Freihof mag,« dämpfte Gertrud die Freude der anderen. »Er ist, je älter er wird, um so weniger ein Freund von lauten Anlässen.«

Sie beachtete es nicht, wie der Brief, den sie in den Gürtel zu stecken meinte, auf den Boden glitt.

Gritli hob ihn auf, sie wandte sich mit flehender Gebärde an Gertrud, als ob sie um die Erlaubnis bitte, ihn lesen zu dürfen.

»Nein,« flüsterte diese erschreckt und nahm den Brief mit einer hastigen Bewegung an sich.

Da rollten Gritli stille Tränen aus den Augen.

Gertrud verstand. Wie aber hätte sie Gritli den Brief geben können, in dem Röbi so viel Liebes schrieb, nicht für Gritli, sondern für sie, Worte jauchzenden Glücks und stürmischer Liebesfreude über das baldige Wiedersehen!

»Was hast du, Gritli?« fragte Rosine Suter.

»Es ist nichts –mir ist nur dunkel worden vor den Augen –ich hab' mich bei der Arbeit etwas überanstrengt. Das ist mir schon ein paarmal geschehen!«

»Wir machen nun wohl alle bald Feierabend,« entschied Gertrud, vom Leid der Gespielin beklommen, »die Sonne ist ja schon im Sinken, und es wird kühl.«

So kam das Ende des schönen Tages.

Während Gertrud auf dem Freihof zurückblieb, stiegen die anderen Mädchen ins Dorf hinab.

Bald wurden Schreiner Hildebrand und sein seltsamer Geselle mit der Untersuchung des Hauses fertig, sie rüsteten auch zur Heimkehr, und der Meister trat [17]zu Gertrud. »Es sind mehr Schäden da, als man auf den ersten Blick glaubt. Erschrecken Sie am Morgen nicht, wenn wir zu klopfen anfangen. Dafür schaut der Freihof zu Ostern wieder wie eine junge Braut ins Land!«

Sie hörte des Schreiners Worte nur halb. Denn hinter dem Meister stand wie ein Gerippe der lange Balz und staunte sie mit verzückten Blicken an, als ob sie irgend etwas Wunderbares an sich hatte. Ihr war, sie müsse die glänzenden Augen mit einem unwilligen Stoß von sich abschütteln.

Doch da gingen die beiden, der kugelige Meister mit den Blinzelaugen und sein langer, närrischer Geselle fort.

Von Haldenegg herauf klang die Abendglocke.

Während Gritli Geißmann niederwärts dem Dorf zuschritt, hatte sie kaum Ohr für das Gespräch der anderen Mädchen. Ihre Gedanken hingen völlig an Röbi.

Damals, als sein Vater nach einem Unglücksfall im Wald hoffnungslos darniederlag, lebte der Siechende im lichten Glauben, sie würde mit Röbi einmal ein Paar. Mit den Freunden, die ihn besuchten, beriet er sich oft über den künftigen Beruf des vielversprechenden Jungen. Am liebsten hätte er gesehen, wenn Röbi auf dem eigenen schönen Besitztum Bauer geworden wäre. Der halbwüchsige Bursch aber wandte sich mit dem Bekenntnis an den Vater, daß er am liebsten studieren würde, und erwirkte von ihm noch die Erlaubnis, ein Gymnasium zu besuchen. Als der wie ein Bolz heranwachsende Jüngling schon auswärts weilte und nur noch die Sonntage und die Ferien in dem von der Großmutter geführten elterlichen Haushalt [18]verbrachte, da war sie stets noch die Vertraute seiner Träume und Hoffnungen und seines in vielen Überlegungen gefaßten Entschlusses, Rechtsgelehrter zu werden.

O, die selige Zeit, da sie miteinander die höchsten Gedanken austauschten, die das Menschenherz bewegen können! Da wuchs sie selber neben dem feurigen Röbi und mußte, um gegen seine Verstandesschärfe gewappnet zu sein, in ihrem Tun und Denken tiefgründiger werden!

Dann kam die Enttäuschung. Für ihr ehrliches Streben hatte er kaum ein anerkennendes Lauschen, häufig dagegen einen leichten oder scharfen Spott. Anreden wie »Gritli Blaustrumpf« kränkten sie, aus ihrem verletzten Mädchenstolz gab es Verstimmungen, und Röbi, der manchmal sehr ungerecht war, schürte dieselben. Ihre Liebe wurde in den Schmerzen des Sichmißverstehens nur größer, er aber glitt, als er eben zur Universität hinübertrat, von ihr ab –hinüber zu ihrer Freundin Gertrud Freihofer. Und jetzt war es sicher, daß die beiden, wenn es auch keines von ihnen offen zugab, im stillen verlobt waren.

Jedermann im Dorf vermutete es. Daher auch das Wort der leichtsinnigen Liese Suter zu Gertrud hinüber: »Und du würdest also einmal Frau Landammann!«

Gritli seufzte herztief.

Nachdem sich die anderen Mädchen schon von ihr verabschiedet hatten, erreichte sie den Pfarrhof und überlegte, wie viel Arbeit ihrer noch an diesem Abend warte, denn sie war die Älteste in einem lebensvollen und kinderreichen Haus.

2

[19]

Um sechs Uhr des Morgens begannen Meister Hildebrand und sein seltsamer Geselle am Freihof die Arbeit und klopften zunächst bis in Mannshöhe die morschen Schindeln ab.

Sie weckten mit ihrem Hämmern niemand mehr.

Die Ärmel zurückgestreift, war Gertrud schon mit dem Reinigen der Fenster beschäftigt. Das lief mit manchem Hin- und Herwenden des Kopfes und nachprüfenden Augen flink, doch gründlich. Oft fiel der Strahl der Sonne auf die reichen, braunblonden Zöpfe der eifrig Schaffenden und ließ sie goldig erschimmern, am reizendsten, wenn ihr die Sonne zugleich mit den Zöpfen die hohe, freie Stirn traf.

Der Freihöfler, der sich zum Gang auf das Feld rüstete, schaute ihr mit verstohlener Vaterfreude zu.

Nachdem er vor Jahren den ihr nachgeborenen Stammhalter, einen lieben Buben, der eben in die Schule treten sollte, durch Scharlach verloren hatte, war sie sein einziges Kind, und ohne daß er es je laut ausgesprochen hätte, seine Herzensfreude, das Gottesgeschenk in seinem sonst einsamen Witwertum und sich meldenden Alter.

An Gertrud war etwas wie junger Tag und Frühling. [20]Die Frische ihres lieben und gescheiten Gesichts erinnerte ihn an ihre verstorbene Mutter, die in den jungen Jahren auch das Urbild gesunder, schlichtstolzer Weibesschönheit gewesen war. In einigen Zügen übertraf Gertrud sogar ihre Mutter, die Augen waren größer und hatten ein tieferes, wärmeres Blau, die schmale Nase einen feineren Schwung, und neben den mütterlichen Vorzügen der Raschblütigkeit, des unmittelbaren Denkens und Tuns ging ein Einschlag seines eigenen schweren Blutes durch ihr Wesen und stimmte ihre jugendliche Fröhlichkeit aus den Grundton eines körnigen Lebensernstes.

Sie war wie von selber rechtschaffen und tüchtig herangewachsen, und er hätte in all ihren Jugendjahren für sie keinen ernstlichen Tadel gewußt –bis auf die jüngste Zeit!

Jetzt war ihm ihre frühe, der Öffentlichkeit allerdings noch vorenthaltene Verlobung ein noch nicht ganz verwundener Schmerz. Was hatte es ihm geholfen, daß er, um möglichst lang Freier von ihr fernzuhalten, den Freihof aus einem gutgehenden Gasthaus in ein stilles Bauerngehöft umgewandelt hatte? Der Freier war ja doch gekommen, sein Mündel, der Student Robert Heidegger. Er hatte für den hoffnungsvollen und reichbegabten jungen Mann schon deswegen manches übrig, weil der schon vor zehn Jahren verstorbene Vater Röbis sein liebster Freund und Militärkamerad gewesen war. Zugleich aber ärgerte er sich stets wieder über ihn, weil die brausende Jugend oft über die Stränge schlug; so neuerdings mit der [21]leichtsinnigen Mensur, die wohl nicht die erste gewesen war.

Etwas tiefsinnig holte der Freihöfler die Hacke aus der Scheune und schritt ins freie Feld hinaus.

Da hielt Gertrud, die eben auf einem Stuhl stand, in ihrer Arbeit inne und las noch einmal den Brief Röbis durch.

Ob der Vater wohl ein Eierlesen auf dem Freihof bewilligen würde?

Ja, das von der Haldenegger Jungmannschaft vor drei Jahren veranstaltete Osterfest hatte einen prächtigen Verlauf genommen und war beim Volk im schönsten Gedächtnis. Wie viel hatte sich aber seither durch den Tod der Mutter auf dem väterlichen Besitz geändert! Nachdem die als vorbildliche Wirtin landbekannte Mutter an einer raschen Krankheit dahingeschieden war, hatte der Vater ohne langes Besinnen das altertümliche Wirtschaftsschild von der gegen die Straße gewendeten Mauer entfernt und das Haus zu einem einfachen Bauerngehöft umgestaltet.

Wenn ihn Freunde und Bekannte mit Ausdrücken des Bedauerns fragten, warum er es getan habe, erwiderte er mit lächelndem Humor: »Meine Frau war wohl eine Wirtin, ich aber nie ein Wirt, das wißt ihr!«

Ja, die Mutter war leichtblütiger gewesen, doch hatten sie sich beide verstanden und sich gegenseitig in der vornehm ehrbaren Wirtschaftsführung ergänzt.

Seit ihrem Tod trat die Anlage zu sinnendem Ernst beim Vater noch stärker hervor, und seinem nach [22]innen gewandten Wesen entsprach der Umgang mit der Scholle, mit den Tieren im Stall, mit den Bäumen in Feld und Wald und der großen freien Natur besser als mit vielerlei Leuten. Soweit sein Menschenbedürfnis reichte, genügte ihm der Verkehr, den die beiden Ämter, das eines Gemeinderates und das des Friedensrichters von Haldenegg, mit sich brachten.

Ob Röbi wohl wünschte, daß sie, Gertrud, mit dem Vater über das geplante Osterspiel und das Überlassen der Wiese spreche?

Vielleicht lag die Bitte zwischen seinen Zeilen; es war aber wohl klüger, wenn er zueist den Vater mit dem Schmiß versöhnte und ihm dann das Anliegen selber vortrug.

Wenigstens wollte sie dem Vater eine Stunde ablauschen, in der er guter Laune war.

Die gute Laune des Freihöflers gab sich jedoch nicht so bald. Tag um Tag hatte er einen scharfen Ärger auf Hildebrand. Der Tischler arbeitete auf den Gerüsten, die jetzt den Freihof umgaben, je nur ein paar Stunden, worauf er unter irgend einer Ausrede und mit dem Anschein dringender Geschäftigkeit fortlief und sich in einem Wirtschäftchen unten im Dorf die Zeit vertrieb. Das erbitterte den Vater gegen den unzuverlässigen Mann, und dann regte sich seine Sinnlose und sträubte sich wie ein Federchen empor, ein Zeichen verhaltenen Zorns, das Gertrud von früher Kindheit an kannte.

Der Geselle aber gefiel dem Vater.

Balz werkte mit den langen, behenden Gliedern [23]in stiller Unverdrossenheit, ja die einsame Arbeit schien ihm lieber zu sein als die gemeinsame mit dem Meister. Der Freihöfler ließ ihn merken, daß er seine Geschicklichkeit und seinen Fleiß schätze, und ihm durch Vree Imbiß und Trunk reichen, soviel sich Balz wünschen mochte, und jeden Tag nahm sich der Bauer eigens eine Viertelstunde Zeit, um mit ihm zu plaudern, entweder im Freien oder in der Stube.

Dann ging eine, rührende, strahlende Freude über das Gesicht des hochaufgeschossenen Gesellen, der wohl noch nie so gute Zeiten wie auf dem Freihof erlebt hatte.

Er pfiff bei der Arbeit wie ein Vogel, in einer Art, auf die sich in der Gegend von Haldenegg niemand anders verstand, und verfügte über eine Menge von Melodien. Einige davon kannte auch Gertrud, und sie überraschte sich manchmal, daß sie die von ihm gepfiffenen Lieder leise mitsummte.

Vielleicht lag es daran, daß etwas von dem Wohlwollen des Vaters für Balz auf sie überströmte. Doch was sollte sie mit dem tollen Menschen anfangen, der, wenn er sie sah, seine Verliebtheit nicht verbergen konnte, zu zittern begann und vor Aufregung die Werkzeuge fallen ließ? Mußte sie nicht befürchten, er stürze ihretwegen einmal vom Gerüst? Sie bemitleidete ihn wegen der hoffnungslosen Leidenschaft, kam aber nicht über die Lächerlichkeit seiner Gestalt und seines Betragens hinweg. Wie sich gegen ihn helfen? Sie mied ihn, und wenn er einmal, durch den Vater aufgefordert, in die Stube trat, setzte sie das [24]hochmütigste und abweisendste Gesicht, das ihr geraten wollte, gegen ihn auf und gönnte ihm kaum einen Gruß, viel weniger ein Wort.

Der Vater aber behauptete, in seiner Art sei Balz ein gescheiter Bursche, belesen und voll Ideen, ein Mensch, mit dem er sich lieber unterhalte als mit manchem im Dorf.

Auch Pfarrer Geißmann, der in diesen Tagen wegen eines Streitfalles in der Gemeinde beim Vater vorsprach, erzählte Merkwürdiges von Balz: »Denkt euch, der fremde Geselle, mein Nachbar, ist ein musikalisches und mechanisches Genie. Im Dorf Aue im Unterland, wo er im vorigen Jahr bei einem Meister in Stellung stand, war die Orgel in der Kirche fast seit Menschengedenken unbrauchbar. Als Balz das Instrument sah, an das lange keine Hand mehr gerührt hatte, bat er den Pfarrer von Aue um die Erlaubnis, es auseinandernehmen, reinigen, erneuern und stimmen zu dürfen; ohne Entgelt von der Gemeinde wolle er es wieder in Ordnung bringen, nur bitte er um Geduld, da er sich dieser Arbeit bloß am Feierabend widmen könne. Jedermann hielt den langen Balz für einen verrückten Großhans. Doch warum ihm das Instrument, das nur das alte Eisen wert schien, nicht überlassen? Vom Frühling bis zum Herbst hantierte er auf irgend einem Dachboden still und heimlich daran herum, setzte es in der Kirche wieder auf, und in der Weihnacht spielte er auf der Orgel Lied um Lied zum Gottesdienst, voll, schön, rein, so daß die von Aue staunen mußten. Das war aber dort im Dorf sein [25]letzter Tag. Der Pfarrer und ein paar Herren von der Kirchenpflege luden ihn aus Anerkennung für sein Werk zum Abendessen in ein Gasthaus ein. Da überfiel ihn der Heißhunger, sinnlos aß er, soviel ihm geboten wurde, und man bot dem Orgelbauer sehr viel und stets mehr. Plötzlich erwachte er aus seinem Eßtaumel, die Tränen der Scham stürzten ihm über die Wangen, er lief aus der Gesellschaft hinweg und ward in Aue nicht mehr gesehen. Als aber die Kirchenpflege erfuhr, daß er in Haldenegg arbeite, ließ sie ihm durch ihren Pfarrer als Dank für die Wiederherstellung der Orgel ein Geschenk von hundert Franken in Gold überbringen, und bei diesem Anlaß hat mir mein Amtsbruder von der Kunst des langen Balz erzählt.«

Der Pfarrer, ein schwarzbärtiger, ernster Mann, auf den die Last der großen Familie drückte, hatte am Freihöfler und an Gertrud aufmerksame Zuhörer, doch verabschiedete er sich bald wieder.

Gertrud wurde nach dem Besuch den Gedanken nicht los, sie habe in seinen gequälten Augen etwas wie einen stillen Vorwurf gelesen. Wohl wegen Gritli und Röbi!

Um ihn zu vergessen, sprach sie mit dem Vater über Balz: »Was hat es denn mit dem Heißhunger für eine Bewandtnis? Kann man dem armen Burschen nicht dagegen helfen?«

Der Freihöfler antwortete nicht gleich; die Hände auf dem Rücken, ging er die Stube auf und ab.

Dann begann er: »Diejenigen, die stets Brot genug hatten, nennen den Heißhunger ein Laster; in Tat und [26]Wahrheit ist er eine Schande für jene, die einen Jungen bei leeren Schüsseln großziehen. Balz hat wohl eine Jugendzeit hinter sich, während deren er in die Länge schoß, aber rundum nichts zuzusetzen bekam. Da wächst einer auf wie eine Erdäpfelranke im dunklen Keller, lang, aber blöd, und es ist ein Wunder, wenn er für ein Handwerk tauglich wird, die Verdauungsorgane bleiben auch später verdorben. Selbst wenn ein Heißhungriger nach den schlechten Zeiten an eine gute Kost gerät, hat er nie ein rechtes Gefühl der Sättigung; aber manchmal, besonders wenn er eines seiner Lieblingsgerichte erblickt, ist es, wie wenn sich die Nerven plötzlich an den früheren Hunger und Mangel erinnerten und sich dafür entschädigen wollten. Die leidenschaftliche Gier erwacht, das Schlingen ist da, und nachher spottet man über den armen Teufel.«

»Läßt sich für Balz gar nichts tun?« fragte Gertrud wieder.

»Deine Großmutter hat einmal ein Knechtlein, das an Heißhunger litt, geheilt, aber sie brauchte dazu mehr als ein Jahr. Wenn der Junge Brot erblickte, stürzte er manchmal vor Verlangen wie ein Fallsüchtiger zusammen. Nun richtete es die Großmutter so ein, daß er seine Arbeit stets an ihrer Seite oder in ihrer Nähe hatte, und steckte ihm vom Morgen bis zum Abend jede Stunde ein kleines Stück Brot zu, und dadurch, daß er in regelmäßigen Abständen einen Bissen bekam, genas er nach und nach. Zu einer solchen Heilung bedarf es aber eines geordneten Lebens und der Aufsicht durch andere. Leider sind nicht alle Meistersfrauen [27]so verständig wie deine Großmutter. Wie mancher Knecht oder Geselle, der sich unter den Fremden herumtreiben muß, genießt kein Zusorgen, wenn er nur für die Meistersleute schafft wie Balz für seinen Lotter. Wir rühmen uns der Bildung, aber es ist doch manches in der Welt himmeltraurig bestellt; die einen müssen den Hungerriemen enger ziehen, und die anderen schlagen sich vor Übermut die Säbel über die Köpfe.«

Nun geht's gegen Röbi, ahnte Gertrud. Sie hatte aber über die Torheit des Liebsten schon genug väterliche Schelte gehört und grämte sich selber über den Schmiß. Wozu wieder darüber sprechen? Listig sagte sie: »Vater, vergissest du es nicht, daß du dem Förster versprochen hast, ihn diesen Nachmittag im Kahlschlag zu treffen, wo die Leute für die Gemeinde junge Tannen setzen?«

Der Freihöfler fiel auf die Mahnung herein.

»Du hast Recht,« sagte er, stieg in den oberen Stock und kam nach ein paar Augenblicken zum Ausgang gerüstet wieder. »Ich glaube, es fängt noch einmal zu schneien an! Die Vree soll Balz das Abendbrot in der Stube geben.«

Damit ging er.

Gertrud setzte sich an den Stickrahmen beim Fenster unter eine von der Decke hängende Blumenampel, in der ein paar Alpenveilchen ihre roten Knospen öffneten. Ja, das Wetter war rauh, windig und wolkig. Balz hatte kalte Arbeit auf seinem Gerüst. Und sie dachte an ihren Vater. Mochte er vielleicht über Röbi zu scharf urteilen, –was er über Balz und seinen Heißhunger [28]gesprochen hatte, stellte sein mildes Wesen ins schönste Licht. Freilich hatte er auch im ganzen Lande den Ruf dafür, wie warmherzig er sich in die Verhältnisse anderer hineindenken könne, wie redlich er in seinen Ämtern zum Frieden helfe, oft sogar mit eigenen Opfern, wenn es galt, Gegner, die er selber achtete, zu versöhnen. Ein gleicher Mann, nur in höherer Stellung, sollte Röbi werden!

Bei der emsigen Arbeit liefen ihr die Träume emsig dahin.

Als sie die Vieruhrglocke lauten hörte, rief sie Balz zur Vesper in die warme Stube und war neugierig, selber einmal mit dem Burschen zu sprechen, dessen Klugheit der Vater stets wieder rühmte.

Nun saß der seltsame Geselle im langen Schurz am Tisch, meisterte sein verliebtes Wesen, verzehrte bescheiden das Abendbrot, und wie er so friedlich aß, hätte niemand eine Ahnung seines Heißhungers bekommen.

Heimlich prüfend ließ sie die Augen über seine Gestalt gleiten. Dabei entdeckte sie, daß Balz, abgesehen von seinen spinnenartig auseinandergezogenen Gliedern, gar nicht so häßlich sei. Auf der Stange von Leib saß ein leidlich hübscher Kopf. In dem eckigen und blassen Gesicht lag der Ausdruck eines sinnenden Verstandes, und in den Augen spielte ein starkes Leuchten.

Sein Blick ruhte auf einem Doppelwappen, das die Mitte der vom Alter dunkel gefärbten, nußbaumenen Decke schmückte. »Das ist schöne Arbeit,« bemerkte er schier andächtig, »da war ein Tüchtiger dran –ein Künstler!«

[29]

»Ihr sollt ja auch einer sein,« lenkte sie das Gespräch mit schelmischer Absichtlichkeit auf ihn selber hinüber.»

Ihr erfindet, wie man im Dorfe hört, Geduldspiele aus Holz oder Draht und bringt nicht nur alte Uhren wieder zum Gehen, sondern Ihr setzt auch verrostete Orgeln wieder instand, daß sie schön wie neue klingen. Gewiß wäre es Euch ein leichtes, ein solches Wappen zu schnitzen!«

Balz wurde purpurrot. »Fräulein, so schöne Aufträge bekomme ich nicht. Aber ich will Euch die Bergveilchen dort in der Ampel getreu auf eine Schatulle von Lindenholz schnitzen. Darf ich? –Es wäre ein Geschenklein für Euch!«

»Nein! Wohin denkt Ihr?« erwiderte sie lebhaft.

»Wenn ich von Eurer Kunst sprach, so tat ich es, weil man gern etwas von einem geschickten Menschen hört.«

Und sie ließ die blauen Augen zu ihm hinüberstrahlen.

»O Fräulein, was redet Ihr gütig zu mir,« stotterte er, »und –Ihr seid doch so schön!«

»Und Ihr redet so dumm!« lachte sie hell. »Sagt Ihr denn allen Mädchen, die mit Euch sprechen, gleich Artigkeiten?«

»Die meisten reden nicht mit mir oder machen sich lustig, weil ich der lange Balz bin,« erwiderte er. »Ihr aber habt gleich im Ernst mit mir zu sprechen angefangen.«

Sie tat, als ob sie seine Worte überhörte, und fragte ihn mit rascher Wendung: »Wo stammt Ihr denn eigentlich her, Balz?«

[30]

»Wenn ich wüßte, daß Euch meine Geschichte zu Herzen ginge!« antwortete er zweifelnd. »Solange ich denken kann, war ich ein vater- und mutterloser Mensch. Ich weiß nicht einmal: bin ich von Geburt Schweizer oder aus dem Reich? Meine Mutter war eine arme wandernde Magd. Als ich zur Welt kommen sollte, schlich sie sich zu Gerhardszell in eine Scheune, und darin bin ich geboren, wie das Jesuskindlein, nur viel elender. Denn als die Bäuerin dazu kam, konnte meine Mutter bloß noch sagen, sie suche ihren Geliebten, den Musikanten Balz. Darauf starb sie, und da keine Schriften bei ihr gefunden wurden, auch der Aufenthalt und der Heimatort des Musikanten nicht zu ermitteln waren, wurde ich Findling der Gemeinde Gerhardszell, die mich nach dem Namen und Beruf meines unbekannten Vaters Balz Bläser taufen ließ und einem alten Weibe im Armenhaus zur Aufzucht übergab.

»Doch das habe ich noch niemand als Euch erzählt!« unterbrach er sich. »Wenn man einmal als Geselle durch die Welt zieht, wer fragt, wie man darauf gekommen ist, gern oder ungern?«

Den Arm lang auf dem Tisch ausgestreut, den Kopf vornübergebeugt, versank er in ein brütendes Schweigen.

Ein Ton in seiner Erzählung, in seinem Wesen hatte Gertrud gerührt. Freundlich versetzte sie: »Nun seid Ihr aber doch ein tüchtiger Tischler geworden. Und Ihr sollt ja, wie man erzählt und wie ich aus Eurem kunstvollen Pfeifen merke, auch in der Musik ein Meister sein?«

[31]

Ein Sonnenstrahl ging über sein Gesicht.

»Das Orgelspiel war mein Knabentraum,« sagte er zögernd. »Das Geld, das ich die Gemeinde Gerhardszell kostete, mußte ich schon als zehnjähriger Junge damit abverdienen, daß ich beim sonntäglichen Gottesdienst den Blasbalg der Orgel trat. Organist war mein lieber Schullehrer, und wenn er am Samstagabend die Choräle für den Sonntag einübte, durfte ich selber ein wenig auf dem Instrument hantieren, manches zeigte er mir, manches erriet ich von selbst und war auf den Tasten und in den Registern bald daheim. Als der Lehrer krank wurde, spielte ich selber der Gemeinde die Choräle vor zu Gottes Ehr'!«

Er stockte und warf einen Blick ins Freie. »Nun muß ich wieder an die Arbeit.« Und er reckte die langen Glieder.

»Nein, bleibt,« bat Gertrud. »Es dunkelt schon wieder für einen neuen Schauer. Ich höre Euch gern zu. Wie ging es Euch denn später?«

»Schlecht,« bekannte er versonnen. »Ich bildete mir ein, mein Lebensberuf müsse der eines Orglers von Gerhardszell sein, und als ich mit fünfzehn Jahren aus der Schule entlassen war, trug ich, durch manche Lobsprüche auf mein Spiel ermuntert, den Herzenswunsch dem Armenpfleger vor. Der aber erschrak: ›Aus dir redet das nichtsnutzige Blut deines Vaters, des Landstreichers. Dir muß man die Nähte eintun.‹ Ich kam als Knechtlein auf eine Steigerung unter den Bauern, doch hatte keiner große Lust nach mir. Schließlich erbot sich der Schreinermeister Guntli, ein Mucker [32]und Sektierer, daß er mich um Christi Blut und Wunden willen vier Jahre unentgeltlich als Lehrbub zu sich nehme. So wurde mich die Gemeinde los. Guntli, der in einem einsamen Tälchen abseits vom Dorf wohnte, war der geschickteste Tischlermeister weit und breit, seine Möbel gingen durch Zwischenhändler bis nach Paris und London, aber aus mancherlei Ursachen kam er mit seiner Familie doch nicht vorwärts, namentlich nicht wegen der Sektiererei. Fast jede Nacht war bei ihm oder anderswo eine Versammlung Gleichgesinnter, oft las er, bis der Tag anbrach, geheimnisvolle Schriften über die Hölle, war dann bei der Arbeit übernächtig und aufgeregt und hatte es stets mit dem Teufel zu tun. Wehe mir, wenn ich einmal lachte oder aus Versehen ein Liedchen pfiff. ›Jetzt sitzt der Böse in dir drin!‹ fuhr er auf, zog sich den Gurt vom Leib und hieb unbarmherzig auf mich los. Darauf bat er: ›Verzeih, Bub, es ist meine christliche Pflicht! Aus dir hat der Teufel gepfiffen!‹«

»Schrecklich! –Und der Armenpfleger?« warf Gertrud ein.

»Er kümmerte sich nicht, was in dem abgelegenen Hause vor sich ging. Ich selber beklagte mich auch nicht, denn Guntli meinte es im Grunde gut mit mir, auch war ich selber von seinem religiösen Wahn umsponnen, weil ich oft Monate von nichts anderem sprechen hörte und an den Wänden der Werkstatt eine Menge Bilder klebten, die nichts als die Qualen der Hölle schilderten. Der Meister behauptete, mit Essen und Trinken fahre der Teufel in den Leib. Deswegen fastete er manchmal [33]bis zur Ohnmacht und verlangte es auch von seiner Frau, seinen Kindern und mir. Er ordnete Übungen in der Enthaltsamkeit an, legte, wenn wir vor Hunger fast umfielen, ein frisch angeschnittenes, duftendes Brot auf den Tisch, doch nicht zum Essen, sondern nur um die Schmerzen zu erhöhen. ›Betet ohne Unterlaß!‹ befahl er und ging im Anblick des Brotes mit eigenem eifrigen Beispiel voran, oft bis ins Morgengrauen. Schon hatte ich bis auf ein paar Tage meine Lehrzeit vollendet, da kam die furchtbare Wendung. Der Älteste Guntlis, ein hübscher und hoffnungsvoller Junge von dreizehn Jahren, stahl vor Hunger und Verzweiflung aus dem Korb einer auf dem Acker beschäftigten Bauernfamilie einen Laib Brot. Die Geschwister, mit denen er die Beute teilte, verrieten den Knaben. Guntli warf sich mit dem Stemmeisen auf ihn. Die Bluttat war geschehen, und er wurde wegen religiösen Wahnsinns durch Gerichtsurteil in ein Irrenhaus eingewiesen.

»Es war meine Rettung,« fuhr Balz sinnend fort.

»Schon als Zeuge vor Gericht merkte ich, daß ich mich unbewußt von Guntli in eine falsche Welt hatte einspinnen lassen, daß der Mann durch den religiösen Hungerzwang auch an mir ein Verbrechen begangen hatte, –sonst –sonst hieße ich vielleicht nicht der ›lange Balz‹, und an meinem Leben wäre manches besser.«

Ein weher Herzenston zuckte aus seinen Worten.

Gertrud nickte nachdenklich und zustimmend. Die Erzählung des Gesellen fesselte sie, und sie war über das Schneegestöber froh, das wieder ein leichtes [34]Winterkleid über die angrünenden Matten vor dem Fenster warf.

Sie ging zu ihm an den Tisch hinüber. »Da habt Ihr wohl eine recht schlechte Meinung von der Welt?«

»O nein,« erwiderte Balz und ließ die Augen leuchten. »Nach dem schrecklichen Abschied von Gerhardszell ging ich auf die Wanderschaft und sah an vielen Orten, wie schön Gottes Erde ist. Ich kam auch nach Köln am Rhein. Dort habe ich im Dom die Orgel singen und brausen hören, daß es in mir selber ganz selig und heilig geworden ist, daß ich jeden Teufelsglauben abgelegt und Gott gedankt habe für mein Leben, wie arm es auch manchmal gewesen ist. In Osnabrück nahm mich ein Meister in Stellung und schickte mich zur Arbeit aufs Land. Einem reichen Bauer war das Jahr zuvor das Haus vom Blitzstrahl niedergebrannt worden, und ich hatte in das neuaufgebaute aus Holz, das der Besitzer selber lieferte, Möbel und Gerät zu verfertigen. Vom Frühling bis zum Winter blieb ich dort, und der Sohn des Bauers wurde mein Freund. Klaus Hanneke heißt er und ist der liebste und treueste Mensch, den ich in meinem Leben gefunden habe. Denkt Euch, er schreibt mir noch jetzt jedesmal auf Weihnachten einen Brief, obgleich er nun verheiratet und schon Vater von zwei Kindern ist. Mit meinem lieben Klaus habe ich die schönsten Abende und Sonntage verbracht. Auf einer Handharmonika, die ich in Basel gekauft hatte, spielte ich ihm viele Lieder aus der Heimat vor und erzählte ihm manches aus unserem Land, von seinen Bergen und [35]Firnen. Dafür durfte ich mit ihm jeden Abend und Sonntags ausreiten.«

»Was, Ihr seid nicht bloß Schreiner und Musiker, sondern auch ein Reitersmann!« lachte Gertrud. »Wirklich, Ihr könnt reiten? Wer das gedacht hätte!«

»Leiht mir Euer Pferd!« warf er sich in die Brust.

»Ihr werdet sehen, kein Bauernbursch in Haldenegg sitzt so sicher im Sattel wie ich.«

Er erging sich in sonnigen Erinnerungen.

»Mit Klaus auszureiten, war meine höchste Freude. Nach seinem Wunsch hatte ich stets das Instrument mit mir. Oft warfen wir uns zum Spiel ins blühende Heidekraut oder in den Schatten eines der großen Wacholderbüsche, die es dort gibt, oder wir ließen die Rosse einfach laufen, und ich musizierte im Sattel.«

Als Gertrud sich dieses Bild vorstellte, konnte sie das Lachen kaum verbergen.

»Es war ein wunderschöner Sommer, und noch jetzt ist mir manchmal, ich sei wieder in Westfalen bei meinem Klaus, wir reiten im Mondschein heim auf seinen Hof und es schimmern die Moorwasser, es flüstern die Birken und es wiehere mein Pferd in die große Nachtstille.«

»Am Ende habt Ihr Euch gar in ein westfälisches Fräulein verschaut!« scherzte Gertrud.

Da wurde er rot.

»Erzählt doch!« bat sie lustig.

»Nein, draußen auf dem Land,« stotterte er, »hatte ich an der Freundschaft meines Klaus genug, aber wie die Arbeit auf dem Gehöft fertig war und ich wieder [36]in die Stadt Osnabrück kam –doch nein, Fräulein Freihofer, davon spreche ich lieber nicht –Ihr hättet sonst ein Recht, mich auszulachen –und seht: dort steigt der Meister die Straße heran! Ich gehe jetzt.«

»Ach, der ist noch weit weg und geht langsam,« hielt sie ihn fest. »In Osnabrück also hattet Ihr eine Liebschaft?«

»Bloß sechs Wochen,« gestand er.

»Wie hieß denn das Mädchen?«

»Ricke Wishelm! Sie war in einer Plätterei beschäftigt, sie brachte mir jeden Samstag das frisch gerüstete Sonntagshemd und lachte mich dann mit kugelrunden Augen an, die mich vergessen ließen, daß sie pockennarbig war und schon ein Kind hatte. Wir sind abends etwas miteinander gegangen, doch ich merkte bald, daß ich ihr nur recht war, den Wäschekorb zu tragen, und sie es mehr auf mein Geld als auf mich abgesehen hatte. Sie steckte es dem Soldaten zu, von dem sie das Kind hatte. Da hatte ich genug. Ich kündigte meinem Meister, nach einem letzten Besuch bei meinem lieben Klaus führte mich das Heimweh wieder den Rhein hinauf, und nachdem ich noch vierzehn Tage in Straßburg gearbeitet hatte, kam ich wieder ins Land! ––Aber nun danke ich Euch vielmals, Fräulein Freihofer,« schloß er, die Glieder zum Aufstehen reckend.

»Nein, es ist an mir, daß ich Euch danke, Ihr seid ein Mensch, den man gern plaudern hört!«

Bei diesem Lob heftete er wieder seinen brennenden Blick auf sie, aber sie bemerkte es nicht.

[37]

»Was zog Euch denn heimwärts?« fragte sie.

»Nichts! Ich habe ja keine Angehörigen, vielleicht wollte ich nur die Kinder Guntlis, die ich sehr liebgewonnen hatte, einmal wiedersehen und erfahren, wie es ihnen gehe, -oder ich denke, der Schöpfer hatte sonst einen Plan für mich. Wie wäre ich ohne seine Fügung nach Haldenegg gekommen!«

»Findet Ihr denn Haldenegg so schön?« scherzte Gertrud.

»Nein, aber Euch, Fräulein!« stieß er hervor. »Ihr seid die schönste, die ich je schon gesehen habe!«

»Ach was! Ihr seid ein Kindskopf,« schalt sie. »Was sollte denn Besonderes an mir sein?«

»Für mich seid Ihr wunderbar,« sagte er mit erstickter Stimme, »ich könnte Euch den ganzen Tag ansehen und würde doch nicht müd. Ihr seid so schön wie das Maiglöcklein im Wald, und das ist doch die schönste Blume, die Gott erschaffen hat. Ihr seid aber noch schöner als das Maiglöcklein!«

»Schweigt!« befahl sie ihm in raschem Zorn und mit einer verächtlichen Kopfbewegung. »Gott hat wohl auch keinen größeren Toren erschaffen als Euch!«

»Warum sollte ich ein Tor sein?« fragte er einfältig.

»Weil es Euch nichts angeht, ob ich hübsch oder häßlich bin!« Lachen und Ärger stritten sich in ihrem Gesicht.

»Nein, es geht mich nichts an, aber ich muß Euch doch bewundern und lieben, seit ich Euch das erste Mal gesehen habe. In der Kirche war's,« sprach er mit eigenartig gedämpftem Ton. »Und wie sonderbar, [38]Tag und Nacht wünschte ich bloß, daß ich einmal auf dem Freihof arbeiten dürfte, um Euch näher zu sein. Nun ist es so gekommen. Und ich dachte: wenn ich nur einmal mit Euch ungestört reden könnte. Nun habe ich's gekonnt! Ist das nicht wunderbar?«

»Es ist aber auch das letzte Mal!« rief Gertrud erregt. Balz war ihr unheimlich geworden.

»Je mehr Ihr mich mit Euren blauen Augen anblitzt, desto schöner erscheint Ihr mir,« rief er schwärmerisch, »und erzürnen habe ich Euch, weiß Gott, nicht wollen, Fräulein. Nein, nein, ich bitte Euch tausendmal um Entschuldigung und danke Euch!«

Damit ging er in zitternder Aufregung.

Hinter ihm lachte Gertrud ärgerlich und rief, obgleich sie allein in der Stube war: »Hat man je einen solchen Hansnarren erlebt!« Zornig klopfte sie mit dem Fuß auf den Boden.

Nach dem Ärger auf Balz kam das Erbarmen mit ihm. Wie bös hatte ihn das Schicksal als Findelkind in die Welt und später zu dem Teufelsseher Guntli geschleudert! Da ließ sich sein Heißhunger begreifen und daß irgend ein Rädchen in seinem Kopf nicht richtig lief. Und die armselige Liebschaft in Osnabrück! Gewiß, er verdiente Mitleid, er war aber doch ein Narr, allerdings ein armer unschuldiger Narr. Das ging daraus hervor, wie er zu ihr gesprochen hatte. So töricht! Wenn er auch nur einen klaren Funken im Hirn hätte, so müßte er doch das Zwecklose seiner Verliebtheit einsehen! Sie wollte ihm nie wieder Gelegenheit geben, mit ihr allein zu sein! Sie regte sich, wie wenn sie [39]etwas Unangenehmes von sich schütteln wollte, und zwang ihre Gedanken hinüber zu Röbi.

Der mußte nun doch bald kommen!

Sie horchte von der Arbeit auf. Der Vater war wieder zurück, draußen unterhielt er sich lebhaft mit Meister Hildebrand, bald aber trat er grüßend in die Stube, lieh sich, von dem Gang in den Wald hungrig, einen Imbiß reichen, notierte sich von der Nachschau im Kahlschlag manches in ein Taschenbuch, spottete auf Hildebrand und lobte Balz.

Gertrud erzählte ihm noch unter dem frischen Eindruck des Gehörten die Lebensgeschichte des seltsamen Gesellen, doch wenig von seinen tollen Redensarten. Wozu ihm die gute Meinung von Balz verderben?

Plötzlich stand er auf. »Ich erinnere mich noch an das Trauerspiel von Gerhardszell. Es wurde auch in unserer Gegend viel davon gesprochen. Wie lang ist's her? Vier Jahre! Ohne Balz zu kennen, dachte ich schon damals, es schreie zum Himmel, daß eine Gemeinde einen Jungen bei dem kranken Mann untergebracht hatte. Da leben ja unsere Kühe wie Königinnen im Stall!«

Gertrud mußte über das Wort lachen.

»Es ist eine Wahrheit,« bestätigte er seinen Satz. »Denke einmal, Balz hätte liebevolle Eltern besessen, sie hätten auf die Talente gehorcht, die in dem Knaben schliefen, und ihn bilden lassen. Was wäre aus ihm. geworden! Doch spricht es für die Unverwüstlichkeit des Guten im Menschen, daß er bei dem verrückten [40]Meister ein so vorzüglicher Arbeiter geworden ist. Im übrigen, Gertrud, es ist viel Leid auf der Welt! Auf dem Weg nach dem Wald war ich noch im Dorf, du weißt, der Pfarrer rief mich zu Metzger Stahl, der in einem Zornanfall wieder einmal Tische, Stühle und Spiegel in seinem Haus zusammengeschlagen hat. Nun, ich sprach dem Wüterich ins Gewissen –mit welchem Erfolg, weiß ich nicht. Auf dem Rückweg aus dem Schlag trat ich noch rasch ins Pfarrhaus, um Geißmann über meinen Besuch bei Stahl zu berichten. Da traf ich zuerst Gritli und plauderte ein wenig mit ihr. Gott, was sieht sie elend aus! Es ist mir noch nie aufgefallen wie heut'. Sie war wohl stets etwas zart, hat aber doch die letzten Jahre geblüht wie eine Heckenrose. Jetzt ist sie so durchsichtig, daß ein Windhauch sie umblasen könnte. Es täte mir leid, wenn dem Mädchen etwas geschehen müßte. Sie ist ein so braves Kind. Ich riet dem Pfarrer, daß er ihr eine Luftveränderung verschaffe. Aber er meinte, es fehle Gritli nicht an guter Luft, sondern an einer Stelle, wo ihr keiner helfen könne! Er spielte damit, glaube ich, auf Röbi an.«

Der Tag war dem Zwielicht gewichen, und das war gut, sonst hätte der Freihöfler sehen müssen, wie blaß seine Tochter am Fenster saß.

Um ihre Liebe zu Röbi spürte sie Stich um Stich im Herzen.

»Röbi hat gegen Gritli nichts auf dem Gewissen!« zitterte ihre Stimme.

»Ich beschuldige ihn auch nicht,« knurrte der Freihöfler. »Was aber Röbi dem Mädchen nicht hinter [41]das Ohr setzte, tat seine Großmutter. Man sprach hüben und drüben zu viel über Dinge, die man still hätte wachsen lassen sollen, aber ich fürchte doch, daß es nun vor den Leuten den Schein habe, als ob du Gritli den Geliebten entfremdet hättest.«

»Oh, das denkt wohl niemand,« versetzte Gertrud zaghaft.

Da streckte Knecht Wälti, der struppige Eigenbrödler, den Kopf in die Tür und rief den Vater wegen einer Kuh in den Stall.

Gertrud blieb in der einfallenden Nacht am Fenster sitzen, und ihr war, das Herz flattere ihr wegen des verhärmten Gritli in der Brust.

Wie Röbi unter der männlichen, genoß Gritli unter der weiblichen Dorfjugend von jeher das Ansehen eines Vorbildes. Von der Mutter, die aus einem vornehmen, doch verarmten Hause stammte, hatte sie die gewählten Sitten, vom Vater den lebhaften Bildungstrieb ererbt. Mit gutem Sinn fügte sie sich in die bescheidenen Verhältnisse ihres Elternhauses, auf dem mancherlei Sorgen lasteten, so der Unterhalt von zwei auf dem Gymnasium studierenden Söhnen und viel anspruchsvoller Besuch von seiten der Verwandten der Pfarrerin. Ein wesentlicher Teil der täglichen Arbeit lag auf Gritli. Sie, die eher zur Zierde eines Herrenhauses als für geringe Dienste geboren schien, nähte und flickte, wusch und plättete und scheuerte die Fußböden, hielt aber, wie tief sie manchmal im Staub und Schmutz kniete, stets Kopf und Seele hoch, ja es schien, als litte ihre weiße Haut nichts Unreines auf sich und als [42]kämen ihre Kleider stets frisch aus dem Schrank. Dabei sprach sie vor den Freundinnen kaum je von ihren harten Arbeiten, sondern am liebsten von Büchern und anderen Bildungsangelegenheiten, wie wenn ihr die Zeit in frei gewählter Tätigkeit dahinflösse.

So war etwas Sonntägliches in der Erscheinung und im geistigen Wesen der Pfarrerstochter, aber einen Schmuck aus früheren Tagen hatte sie verloren: den feinen Mutwillen und das silberne Lachen, die ihr entzückend gestanden hatten.

Erkennbar zitterte in ihrem nicht ganz regelmäßigen, doch lieblichen Gesicht, um das sich das blaudunkle Haar in Zöpfen und Locken wand, ein Zug heimlichen Leides, der nun ja auch dem Vater aufgefallen war.

Hatte Röbi vielleicht doch unedel an Gritli gehandelt?

Gertrud erschrak über die Frage aus ihrem Innern, aber sie tröstete sich. Sie wußte es ja von Röbi selbst: was ihn mit Gritli verbunden hatte, war eine reine Jugendfreundschaft gewesen, nicht die Liebe, sondern nur das Vorspiel der Liebe, wie es sich tausendfältig unter Nachbarskindern ereignet, ohne daß sie sich dann wirklich fürs Leben finden. Nie hatte Röbi zu Gritli ein verpflichtendes Wort gesprochen, und das ältere Recht, das sie auf ihn zu haben glaubte, bestand nur in Gritlis eigener Einbildungskraft. Nein, daran, daß ihre Herzenswunde nicht narben wollte, trug sogar jemand anders die Schuld: die Großmutter Röbis, die herbe Bäuerin!

Die dicht beim Pfarrhaus wohnende, eigensinnige [43]und etwas schwermütige Frau hatte von vielen Jahren her Gritli so sehr in ihre Liebe geschlossen, daß sie ihr stets wieder einredete, sie und leine andere sei die berufene Frau für Röbi. Zum großen Verdruß ihres Enkels! Selbst jetzt, da sie wußte, an wen er seine Hand vergeben hatte, tröstete sie die junge Nachbarin noch Tag um Tag: »Und er kommt wieder zu dir, so gewiß es einen Gott im Himmel gibt, kommt er wieder zu dir!«

Was Wunder, daß das von ihr stets ausgehetzte, bemitleidenswerte Gritli nie zu seinem inneren Frieden kam!

Gertrud seufzte tief.

Gewiß hatte Röbi schon wegen seiner Großmutter keine leichte Heimkehr. Sie würde stets wieder die Beredsamkeit ihrer hohen Jahre aufbieten, um ihn zu seiner Jugendfreundin zu bekehren.

Jetzt aber lächelte Gertrud.

Trotz allen Widerwärtigkeiten kam Röbi über die Osterferien heim! Und er kam nur ihretwegen und war der Mann, der, was er einmal wollte, kraftvoll durchsetzte –auch seine Liebe!

So träumte sie in die ahnungsreiche Frühlingsnacht.

3

[44]

Nicht nur Gritlis, sondern auch Balthasars wegen hatte Gertrud manche Sorgen. Obgleich sie sich stets wieder vornahm, gegen den Gesellen, der in seiner Jugend so viel Trauriges erlebt hatte, nachsichtig und geduldig zu sein und sein verliebtes Wesen schweigend zu übersehen, ging es nicht so leicht.

Als sie am Morgen vor dem Palmsonntag an das Fenster trat, an dem sie zu arbeiten pflegte, lag auf dem Sims ein kleines Paket mit ihrem Namen. Sie schöpfte gleich Verdacht auf Balz, daß er ihr das Geschenk zugetragen habe. Als sie es öffnete, kam daraus ein aus Lindenholz sauber und kunstvoll gearbeitetes Schatullchen hervor. Sein Deckel trug zwei nach der Natur geschnitzte Bergveilchen, eine offene Blume und eine Knospe, und die zierlich verschlungenen Anfangsbuchstaben ihres Namens. Sie drehte das reizende Kunstwerk um und um und untersuchte es, ob es nicht auch eine Namensspur seines Schöpfers trage. Umsonst! Doch kam es selbstverständlich von Balz.

Mit ihrem durch die Stickerei geweckten Sinn für das Künstlerische freute sie sich an dem Kästchen, und der Gedanke, daß er seit ihrem Gespräch gewiß die halben Nächte an die schöne Arbeit geopfert habe, [45]rührte sie. Zugleich aber empfand sie die Verlegenheit, in die sie das Geschenk setzte. Durfte sie, die reiche Bauerntochter, es überhaupt von dem armen Gesellen annehmen? Nein! was bildete sich der wunderliche Mensch ein! Wie aber das Truhchen ihm zurückgeben, ohne daß sie ihn kränkte? Und kränken wollte sie ihn nicht. Das Geschenk kam aus einem guten Herzen, und wie lästig ihr die Verehrung Balthasars auf der Seele lag, wollte sie ihn doch mit Achtung behandeln.

Noch sann sie, da trat der Freihöfler, der schon ein Amtsgeschäft erledigt hatte, in die Stube.

Auch er äußerte sein Gefallen an dem Schnitzwerk, und als Gertrud über die Ablehnung mit ihm beraten wollte, sagte er kurz: »Mach ihn mir nicht kopfscheu, ich mag ihn.«

»Ein Geschenk verlangt ein gelegentliches Gegengeschenk,« warf sie ein. »Ich kann ihm aber doch nichts schenken. Sonst wachsen ihm die Mücken im Kopf erst recht groß. Doch halt, Vater, ich habe die Lösung. Balz hat mir den Wunsch geäußert, einmal auf unserem Braunen reiten zu dürfen. Überlassen wir ihm das Tier morgen Sonntag nachmittag, da hat er die Anerkennung für die kleine Truhe; auch sage ich ihm noch mündlich meinen Dank, das genügt!«

»Balz reiten?« Das war auch für den Freihöfler eine so wunderliche Vorstellung, daß er lachte wie selten; dann aber nickte er zu. »In die Sprünge kommt der Braune wohl nicht mehr. Es sind schon fünf Jahre, seit er bei der Kavallerie gedient hat. Dem Gesellen [46]aber mag ich das Vergnügen wohl gönnen. Er soll reiten!«

Gertrud gefiel es, daß sie auf diese Art das Schnitzwerk ohne Bedenken behalten durfte.

In Hinsicht auf den morgigen Festtag war auf dem Hof früher als sonst Feierabend. Als Balz die Werkzeuge niederlegte und sich am Brunnen die Hände wusch, ging sie zu ihm hinaus und sagte ihm mit einem Klang schelmischer Bewunderung, der ihr fast unfreiwillig unterlief, den Dank für das Kästchen. »Da sieht man wieder, was Ihr für ein feiner Künstler seid!«

Sie reichte ihm freimütig die Hand. Seine langen, dünnen Finger zitterten darin, seine Augen brannten ihr wie aus tiefster Herzensnot entgegen. »Fräulein, was seid Ihr gütig!«

Sie erschrak über die Stärke seiner blinden Leidenschaft. Aus dem Gefühl halben Mutwillens und halber Angst heraus drängte es sie, ihm einen Kaltwassersturz zu bereiten.

»Wißt Ihr, wozu ich Eure schöne Truhe verwenden werde?« fragte sie, und als er nicht gleich antwortete, lachte sie: »Ich lege künftig meine Liebesbriefe darein.«

Die Blässe flog auf das Gesicht des Gesellen; er stammelte: »Seid Ihr denn verlobt, Fräulein Freihofer?«

»Bald,« lachte sie, »mit dem schönsten Burschen im Land.«

Balz nahm es gläubig hin.

»Wenn er Euch nur genug in Ehren hält,« stotterte [47]er. »Der muß sich ja wie ein König fühlen. Wenn es mich anginge, zerspränge mir das Herz vor Glück. Ich bin aber schon froh, daß ich Euch ansehen darf, und werde mich vor Heimweh nach Euch nicht fassen können, wenn ich mit der Arbeit an Eurem Haus fertig bin. Ich hätte keinen Wunsch, als immer da zu leben, wo Ihr lebt –und wäre es nur als der geringste Knecht!«

»Was redet Ihr wieder töricht!« schalt sie ihn heftig.

In ihren Ohren aber klang die verzichtende Wehmut, die Hoffnungslosigkeit, mit der er seine Worte vorgebracht hatte, und sie wurde das Feuer seiner Augen nicht los.

»Ihr glaubt es doch selber nicht, Balz, daß ich in Eure schöne Truhe einmal meine Liebesbriefe legen werde. Das war nur ein Scherz! Dagegen gefällt mir Euer Geschenk so gut, daß ich und mein Vater Euch dafür auch eine Freude bereiten wollen. Ihr mögt morgen nachmittag unseren Braunen reiten und damit Eure freundlichen Erinnerungen aus Westfalen auffrischen. Über das Reitzeug sprecht mit Wälti!«

Er stand wie ein selig überraschtes Kind. »Reitstiefel habe ich selber noch, ich habe sie einmal bei einem Trödler in Osnabrück gekauft!« rief er. »Fräulein –Fräulein!«

Sie aber grüßte ihn lächelnd und ging ins Haus.

Als er in sonniger Verträumtheit vom Hof schritt und mit dem Meister gegen Haldenegg hinunterstieg, blickte sie ihm voller Gedanken nach. Sie kam über die [48]besondere Empfindung nicht hinweg, was für ein kindlich lauteres, inniges und bescheidenes Gemüt in dem armen, oft mißhandelten und mißbrauchten Gesellen wohne, und ihr Herz war selber voll Freude, daß sie dem von jeder Liebe Verlassenen ein kleines Palmsonntagsglück bereiten konnte.

4

[49]

Noch schaute Gertrud sinnend in den Abend und dachte an den wunderlichen Gesellen.

Da schritt ein Wandersmann von dem im Frühlingsfrieden ruhenden Dorf die Bergstraße heran. Nachdem er kaum an den niederwärts ziehenden Handwerksleuten vorübergegangen war, begann er zu jauchzen und zu jodeln. An den eigenartigen Modulationen erkannte sie die Stimme. Ihr Herz sprang hoch: »Das ist Röbi!« Sie schnellte empor, lief ins Freie, stieß auch einen Jauchzer aus, ließ ihr Tüchlein wehen und eilte rasch entschlossen bergab, dem Geliebten entgegen.

Ja, dort kam Röbi, das Urbild elastischer, stolzer Jugend. Jetzt verdoppelte er den leichten Schritt, warf den Hut in die Luft, und wieder lief ein Jauchzer aus tiefster Brust über die Bergmatten und ein heller Ruf: »Grüß dich Gott, Trudi!«

»Röbi, willkommen!«

Da lag sich das Paar in den Armen, küßte sich innig, wieder und wieder, und schritt nun, die Arme eng verschlungen, bergan.

Obgleich Gertrud selber eine stattliche Gestalt war, überragte sie der junge Mann mit schlanker, spannkräftiger [50]Erscheinung um den halben Kopf. Er weidete sich an ihrem frischen Wesen.

Ihr Blick hing forschend an seinem freien Gesicht, über das sich die frischrote Schmarre des Säbelhiebes wie ein blutgetränktes Bündchen bis gegen das Ohr hinzog.

»Du –schön ist der Schmiß nicht,« sagte sie mit einem Lachen, das einem Seufzer glich.

»Magst du mich nicht mehr?« Er ließ siegesbewußt die Augen blitzen.

»O du,« erwiderte sie zärtlich und drückte ihm einen sanften Kuß auf die Narbe. »Was müßte alles geschehen, bis ich dich nicht mehr möchte, du Böser –du Lieber!«

»Gelt!« erwiderte er freudig. »Aber dein Vater ist wohl recht zornig auf mich?« setzte er ernst hinzu. »Wie man in Haldenegg über den Schmiß denkt, davon habe ich bereits durch die Großmutter, bei der ich den Mantel abwarf, eine Vorprobe bekommen. Nun, auf den Universitäten und in den Städten überhaupt beurteilt man dergleichen eben anders als hier auf dem Dorf. Ihr werdet euch drein finden müssen!«

Plaudernd und kosend erreichte das Paar den Freihof.

Röbi hielt den Schritt an. Er setzte sich auf die Bank. Ihre Augen schweiften hinaus in die abendlichen Lande und auf die von Goldrauch überschwebte Silberplatte des Sees. Er zog Gertrud zu sich heran. –»Heimat. –Heimat! Wer hat eine schönere Heimat als wir!« Er sprang begeistert auf, lachte [51]Gertrud mit flammenden Augen glückselig zu und umarmte sie. »Und du, du bist das edelste Kleinod der Heimat! Was ich in der Stadt für ein Heimweh nach dir gehabt habe, süße Trudi! Und bei Gott, nicht umsonst! Wenn ich dich ansehe, ist mir, ich atme in einer reineren und besseren Welt, ich müsse wieder fromm werden, wie ein Knabe, der sein Abendgebetchen spricht. Weißt, du bist mein Sonnenstrahl, ich kann mich nicht satt an deinen blauen Augen schauen. Nein, an dir ist nichts vom Geklügelten der Stadt –und blickst doch so klug in die Welt –warmblütig und klar und frisch wie der Frühlingsmorgen –Trudi –Trudi -«

»O Röbi -« hauchte sie selig und fuhr ihm mit zager Hand durch die kurzgeschnittenen, dunkeln Locken. Wie die Flur den warmen Lenzregen, ließ sie seine stürmische Wiedersehensfreude über sich ergehen.

Im Drang, im Gären und Brausen der Jugend fuhr er fort: »Es ist um deinet- und meinetwillen mein fester Vorsatz, meine Studien von jetzt an ohne Ablenkung durchzuführen. Ich bin mir über meine Zukunft klar geworden. Sie ist hier in Haldenegg, hier auf dem Freihof! Anderthalb Jahre noch, schlimmstenfalls zwei Jahre, dann habe ich die Universität hinter mir. Und ich werde gewiß kein Advokat, der alle möglichen sauberen und unsauberen Prozesse führt, sondern ein Anwalt des natürlichen und wirklichen Rechts, ein Fürsprecher namentlich für jene, die aus mannigfaltigen Gründen des Lebens zu schwach sind, ihr gutes Recht selber zu verteidigen.«

[52]

In einem Strom jugendlichen Feuers floß ihm die Rede vom Mund.

Gertrud hing mit bewundernden Blicken an ihm.

Als er Atem holte, lachte sie: »Du, Röbi, mir ist, du verschwendest hier vor dem Haus das Schönste und Beste, was du in der Seele hast. Sprich drinnen vor Vater so! Wenn er hört, daß du deine Studien beschleunigen willst, was für gute Vorsätze du für deinen künftigen Beruf in dir trägst, so ist es gewiß der sicherste Weg, daß er seinen Groll gegen deine Mensurgeschichte aufgibt und wieder in einen herzlichen Frieden mit dir kommt. Ein wenig ducken mußt du dich vor ihm, das geht nicht anders!«

Röbi lächelte verständnisvoll und schmerzlich zu ihrer Weisheit. »Ja, wir wollen ins Haus –vors Gericht!«

Als sie in die Türe traten, rief Vree: »Der Friedensrichter ist oben, er hat noch für eine außerordentliche Gemeinderatssitzung, die diesen Abend stattfinden soll, zu tun.«

»Nein, ich komme gleich hinunter,« hörten sie die Stimme des Freihöflers.

Da war er schon!

Röbi ging mit jugendlicher Mannhaftigkeit auf ihn zu: »Vater, grüß Gott!«

Gertrud aber erkundigte sich: »Was, du hast eine Sitzung am Vorabend des Palmsonntags?«

»Wir haben irgendwo Wasserbruch in der Leitung, welche die Dorfbrunnen speist. Da ist die Beratung dringend,« warf der Alte hin und benutzte das kurze [53]Gespräch, um die dargestreckte Hand Röbis zu übersehen.

Nun erst wandte er sich zu dem jungen Manne, schleuderte einen vorwurfsvollen Blick auf sein durch die Narbe entstelltes Gesicht und begann schwer: »Grüß dich Gott, Student! Wenn du nur nicht glaubst, ich hätte eine Freude an dir, wie du vor mich hintrittst. Dein Vater würde sich im Grabe drehen, wenn er sähe, wie sich sein Einziger das ihm von Gott gegebene Gesicht übermütig hat schänden lassen. Ich habe stets gemeint, daß Leute von Bildung dem gewöhnlichen Volk mit dem guten Beispiel der Gesittung und der Achtung vor den Gesetzen vorangehen sollen. Du aber tust das Gegenteil: du pflegst einen vom Ausland in unsere akademische Jugend herübergeschleppten, gesetzwidrigen Unfug. Studenten, die sich mit dem Säbel zerschlagen, stehen in meiner Achtung nicht höher als Alpknechte, die sich mit Holzscheitern verprügeln. Sperrt man jetzt einen Raufbold wegen Friedensbruch ein, kann er seinen Richter mit Recht fragen: Wo bleibt die gleiche Elle? Röbi Heidegger läuft doch frei herum!«

Der Freihöfler gebot über eine Beredsamkeit, die im Klang der Stimme noch mehr als in den Worten zum Ausdruck kam, und das Spiel der Züge im ehernen Bauerngesicht unterstützte sie mächtig.

»Das geht zu weit!« knirschte Röbi.

Gertrud bat ihn mit den Augen, daß er jetzt den Vater nicht reize.

Der Freihöfler aber nahm das Wort auf. »Zu [54]weit!« höhnte er mit gesträubter Stirnlocke. »Nein, Röbi! Wer sich heute auf eine so fragwürdige Sache wie einen Zweikampf einläßt, wohin führt den morgen die Unbesonnenheit und das wilde Blut? –Ehe er daran denkt, kommt durch einen unüberlegten Streich ein Flecken auf Gewissen und Ehr'. Nur das nicht, Röbi! Du hast an diesem einen Schmiß genug. Du wirst ihn in deinem Leben noch oft bereuen müssen, namentlich, wenn du einmal nach Ehren und Ämtern trachtest. Unser Volk ist in derlei Dingen empfindlich, und deine Gegner werden die Narbe stets gegen dich ausnützen: Trüge er sie, wenn er in seiner Jugend nicht ein Rohling gewesen wäre, wenn er seine Studienzeit nicht verbeutelt hätte? –Und es wird dir schwer fallen, das Gegenteil zu beweisen. Hierzulande ist unter den Männern von Ansehen, von Amt und Würden, von denen einige doch auch die Universität besucht haben, keiner, der sichtbar die Spuren einer wilden Jugendzeit mit sich herumträgt. Sie alle haben ganze Gesichter. Nur hinten im Dorf Irschen sitzt einer, der hat allerlei Mensurnarben aus Leipzig heimgebracht.«

»Nein, mit dem geringen Doktor Löhl in Irschen lass' ich mich nicht vergleichen!« brauste Röbi gekränkt auf.

»Wenn ich es nicht tue, so werden es doch andere tun,« erwiderte der Freihöfler fest. »Du kannst dir nicht helfen, du stehst vor der Volksmeinung mit deinem Schmiß im Schatten jenes verbummelten Arztes, der wegen Pflichtvernachlässigung und verbotener Handlungen schon im Gefängnis gesessen hat.«

[55]

Röbi, der sich bis dahin tapfer gehalten hatte, machte eine Bewegung, wie wenn er zur Türe hinausstürmen wollte.

Auch Gertrud weinte laut auf.

Da brach der Freihöfler sein Donnerwetter ab. »Du kennst jetzt meine Meinung über die Mensur,« wandte er sich milder an Röbi, »jetzt können wir uns Grüßgott sagen. Wenn ich es dir auch ein bißchen scharf gemacht habe, so kommt es doch aus einem redlichen Herzen. Ich bin dir die Vorwürfe nicht nur wegen deines verstorbenen Vaters schuldig, sondern auch Gertruds wegen, da ihr nun doch im stillen versprochen seid. Sie ist mein Letztes und Einziges auf der Welt, und es kann mir nicht gleichgültig sein, auf was für Wegen mein künftiger Schwiegersohn wandelt.«

Seinen Zorn noch um eine Stufe senkend, wandte er sich an die Tochter: »Hole mir und Röbi eine Flasche Apfelsaft. Wir wollen immerhin auf das Wiedersehen anstoßen, ehe ich in die Sitzung gehe. –Also, Röbi, willkommen in Haldenegg und auf dem Freihof!« Er ließ die Gläser aneinanderklingen. »Ich spreche nie wieder von dem Schmiß –ich vertraue dir, daß du die Scharte auswetzest. –Kopf hoch, Röbi!«

Seine starken Augen strahlten den jungen Mann mit väterlich überredender Güte an.

Röbi mußte dem Alten den Sieg lassen, aber der Vergleich mit dem pflichtvergessenen Kurpfuscher blieb ein Stachel in seiner Seele.

»Ich hätte nun gern noch manches mit dir geplaudert,« [56]versetzte der Freihöfler, »doch die Sitzung ist dringend. Wir haben seit ein paar Tagen einen zunehmenden Wasserverlust an unseren Brunnen; wo aber der Bruch steckt, wissen wir nicht recht. Wahrscheinlich weit hinten im Runstal, dort, wo der Abhang jeden Frühling ins Rutschen kommt. Nun hat der Brunnenmeister die Leitung untersucht und gibt uns heute noch seinen Befund ab.«

Damit ging er, und die Jugend zürnte ihm nicht.

Als aber Vree das Abendbrot brachte, sagte Röbi: »Nein, ich kann nicht essen –den Schimpf überwinde ich nicht!«

Auch Gertrud rührte das Essen kaum an.

»Komm, Röbi!« flüsterte sie lind und zog ihn auf die mit schwarzem Leder überzogene Ruhebank im Hintergrund der Stube. »Der Vater hat es dir allerdings zu scharf gemacht, wir wollen uns aber freuen, daß wir wieder einmal beisammen sind!«

Sie fuhr ihm mit den Fingern weich über die verfinsterte Stirn. »Du bist ja doch mein alles, Röbi! Und ich habe die Gewißheit, daß unsere Zukunft gut wird. Wo wäre ich geborgen wie bei dir! Das weiß auch der Vater!« -

Die Hände über den Knien gefaltet, saß Röbi mit gesenktem Kopf und ließ die tröstenden Worte Gertruds über sich ergehen.

»Röbi –mein Röbi!« schmeichelte sie ihm liebevoll. »Mir ist keine Spur angst um dich. Was du diesen Abend vor dem Haus von deiner Zukunft gesagt hast, das hat mich ja bis ins Herz gefreut. Und wie [57]tief! –Schau mich an!« Mit sanfter Kraft nahm sie sein Gesicht in beide Hände: »Röbi –Röbi!« und sie drückte einen Kuß auf seinen Mund, lind wie ein bloßer Hauch.

Da sprang er auf und umarmte sie stürmisch.

»Wer kann dir widerstehen, du Süße, du Liebe! Du hast Recht, wir wollen uns freuen, daß wir wieder beisammen sind!«

Er lachte herzlich, ein wundersames Glück strahlte ihm aus den Augen. »Nein, bei Gott, wer dich sein eigen nennt, der darf den Kopf nicht hängen lassen!«

Er zog sie an die Brust und küßte sie feurig auf das blonde Haar, so feurig, daß sie sich ihm unter Erröten und Lachen zu entwinden suchte.

Dabei entglitten ihrem Scheitel die Schildpattnadeln und Kämme, und die Zöpfe rollten in ihren vollen, starken Strähnen über Brust und Rücken, über die Knie hinab.

Nun ließ er die noch tiefer Errötende los und betrachtete sie strahlend. Als sie die Zöpfe mit flinken Händen wieder auf das Haupt stecken wollte, bat er: »Nein, laß! Nur ein paar Augenblicke laß! Du bist in dem offenen Haar schön wie die Eva –du weißt nicht, wie schön, Trudi!«

Seine Blicke bettelten.

»Du bist aber ein Wilder!« zürnte sie und blitzte ihn mit den Augen halb schämig, halb lustig an. »Im übrigen, wenn ich wüßte, Röbi, daß du deine guten Vorsätze hieltest, so würde ich mich schon ein wenig [58]zu dir hinsetzen, wie ich da bin, –ich gehöre ja doch einmal dir.«

»So komm!« rief er, war wieder der fröhliche Röbi mit dem fast kindlichen Mutwillen, und mitten im Liebesgekose erging sich das Paar in hohen Hoffnungen und Wünschen der Zukunft.

»Wirklich, ich bin mit ganzer Seele Jurist,« sagte Röbi mit freudigem Ernst, »nur kein Freund des Formalismus, des abstrakten Rechtes, sondern ein Freund des lebendigen Rechtes, das aus den Erfahrungen, aus der Seele des Volkes selber hervorgegangen ist. Und auf diesem Gebiet sind wir hierzulande doch etwas rückständig, in unseren Gesetzen ist viel Formelkram und wenig warmes Blut. Einmal neueren, lebensreicheren Anschauungen zum Sieg zu verhelfen, das wird mir eine schöne Lebensaufgabe sein. Doch werde ich mich nicht zu früh an eine Richterstelle und in die Räte drängen; das nächste Ziel meines Ehrgeizes ist, ein tüchtiger Anwalt zu werden. Seit ich ein paar äußerst fesselnden Verhandlungen in der Stadt beigewohnt habe, träumt mir fast jede Nacht, daß ich schon als Verteidiger vor dem Schwurgericht plädiere –doch horch!-«

Er fuhr empor. »Da spielt ja einer auf der Straße Ziehharmonika! Und wie schön! Sogar sehr schön! Kennst du das Lied?«

»Nein!«

»Es ist der Chor aus der Oper ›Das Nachtlager von Granada‹: ›Schon die Abendglocken klangen‹.« Er öffnete das Fenster, Gertrud steckte die Zöpfe empor, [59]und sie schauten beide in die mondklare Nacht. Die Straße lag aber hinab gegen das Dorf und hinauf gegen die Berge menschenleer. Die Töne schienen aus dem durchs Fenster nicht sichtbaren Baumgarten oder von dem ferner gelegenen Waldesrand zu kommen.

»Ach, das ist wohl der lange Balz,« sagte Gertrud etwas gezwungen. Im Grunde lag ihr das Spiel und die Störung nicht recht. »Ich habe hier nämlich einen wunderlichen Verehrer, den Gesellen, der tagsüber an unserem Hause arbeitet. Er ist in seinem Handwert ein gewissenhafter, tüchtiger Mensch, den der Vater schätzt, und in manchen Dingen seltsam geschickt –schau, heute morgen hat er mir diese zierliche Schatulle geschenkt -, doch von Grund aus häßlich, eine Gestalt wie ein Weberknecht, der auf dem Wasser herumläuft, dabei ein armer Querkopf, der nichts hat als ein gütiges Herz.«

»Und von dem lassest du dir ein Ständchen bringen?« fragte Röbi in einem Ton, der Überraschung, Scherz und Ärger zugleich verriet.

»Nun, sei bloß nicht eifersüchtig. Er ist ein äußerst unschuldiger Nebenbuhler, ein Kind, doch habe ich mit seiner Bewunderung für mich die liebe Not, und du solltest sie durch deine Empfindlichkeit nicht größer machen!«

»Nein,« lachte er, »ich glaube, ich sah das Langbein schon heute abend vor dem Dorf, einen Kerl, dem man nur ein Leintuch überzuwerfen brauchte, und man hätte das schönste Gespenst! –Ich will ihm doch etwas Geld als Spiellohn bringen!«

[60]

In den Augen und um die Mundwinkel zuckte Röbi, der die Vorwürfe des Freihöflers schon wieder vergessen hatte, der Übermut.

»Nein, das nicht!« bat Gertrud. »Wozu den Menschen in seiner Einfalt beleidigen!« Sie hatte die unbestimmte Befürchtung, wenn er Balz überrasche, so spiele er ihm irgend einen Schabernack.

Unterdessen drang ein getragenes Lied nach dem anderen aus der Frühlingsnacht in die Stube herein.

»Das Gespenst hat in der Auswahl Geschmack, und was es seinem Instrument an musikalischen Schönheiten ablockt, verdient wirklich Achtung. Horch, das ist das Lied ›Zu Augsburg steht ein hohes Haus‹, ein altes, wunderschönes Volkslied!«

Röbi lauschte ernsthaft und sang das Lied halblaut mit.

»Zu Augsburg steht ein hohes Haus
Nah bei dem alten Dom,
Da tritt am hellen Morgen aus
Ein Mägdelein gar fromm;
Gesang erschallt,
Zum Dome wallt
Die liebe Gestalt.
Dort vor Maria heilig Bild
Sie betend niederkniet,
Der Himmel hat ihr Herz erfüllt,
Und alle Weltlust flicht:
›O Jungfrau rein,
Laß mich allein
Dein eigen sein!‹
Alsbald der Glocke dumpfer Klang
Die Betenden erweckt.
Das Mägdlein wallt die Hall' entlang,
Es weiß nicht, was es trägt:
Auf dem Haupte, ganz
Von Himmelsglanz,
Einen Lilienkranz.
Mit Staunen sehen all die Leut'
Dies Kränzlein licht im Haar,
Das Mägdlein aber wallt nicht weit,
Tritt vor den Hochaltar:
›Zur Nonne weiht
Mich arme Maid!
Stirb, Lieb' und Freud!‹
Gott, gib, daß dieses Mägdelein
Ihr Kränzlein friedlich trag'!
Es ist die Allerliebste mein,
Bleibt's bis zum Jüngsten Tag.
Sie weiß es nicht. -
Mein Herz zerbricht -
Stirb, Lieb' und Licht!«

Als Röbi geendet hatte, schwieg Gertrud ergriffen und sann tief in sich hinein.

»Das Lied ist wunderbar schön, aber furchtbar traurig,« sagte sie wie aus einem Traume erwachend. »Ich könnte meine Liebe nie lassen, ich glaube, ich stürbe daran!«

Dafür gab er ihr einen heißen Kuß.

Als aber Balz nach einer Pause zu einer neuen Melodie anhob, gewann in dem Studenten die Neugier wieder die Oberhand.

[62]

»Ich möchte nur wissen, wo der Bursche sitzt!« Das Gesicht verriet seine innere Unruhe.

Gertrud war froh, als sich das Spiel des Gesellen mit den Klängen des Liedes »Der du von dem Himmel bist« vom Freihof entfernte und über den Abhang hinab gegen das Dorf verlor. Sie erzählte Röbi die Lebensgeschichte des Musikanten und hoffte auf sein Verstehen für die Art des fremden Gesellen, des Findelkindes, das eine so armselige Jugend hatte durchleiden müssen.

»Und nun geh auch du,« fügte sie bei. »Der Vater sieht es nicht gern, wenn wir es spät werden lassen. Er kann jeden Augenblick kommen. Seinetwegen gräme dich nicht. Er meint es ja doch herzensgut mit uns beiden! –Gehst du noch in den Sternen?«

»Ja, Hanstöni und die anderen Kameraden erwarten mich. Sie möchten gern wissen, ob es am Ostermontag ein Eierspiel gibt oder nicht. Doch weiß ich es auch selber nicht. –Ich bin heute abend um allen Humor gekommen.«

Das Paar plauderte schon unter der Haustüre.

Händedruck, Flüsterworte, Kuß –nun schritt auch Röbi gegen das Dorf hinab.

Gertrud blieb noch eine Weile stehen, spähte dem Liebsten, solange es gehen mochte, nach und träumte in die linde Nacht.

Der törichte Balz mit seiner Musik!

Nein, sie wollte jetzt nur an Röbi denken. Gewiß hatte er es verdient, daß ihn der Vater wegen des Schmisses abgekanzelt hatte. Doch traute und [63]baute sie auf seine und ihre Zukunft. Wie schön lag das Leben vor ihnen! Röbi hatte wohl ein rasches Blut, aber bei allem Feuer lag im Untergrund seines Wesens ein männlicher Ernst, der sich stets wieder auf das Lebenstüchtige und die hohen Ziele besann. Jedermann, der Röbi kannte, war überzeugt, daß er, wenn erst die Jugend in ihm ausgebraust hatte, ein hervorragender Mann seiner Heimat, durch Bildung und Charakter einer ihrer Führer werden würde, so, wie er nach den Gesprächen dieses Abends selber den Beruf in sich spürte.

Und sie seine verstehende Lebensgefährtin!

Ihre Träume verloren sich im Mondschein und Sternenglanz der Frühlingsnacht, die licht und geheimnisvoll, wie stumme Erwartung, Tal und Höhen umspann.

5

[64]

Der Palmsonntag war mit strahlender Sonne und tiefblauem Himmel heraufgestiegen, aus den angrünenden Saaten schwangen sich die Leichen in die klare Luft –höher –höher und schlugen ihre Triller.

Der Freihöfler und Gertrud hatten sich in großen Sonntagsstaat geworfen. Er trug den schwarzen Frack mit den langen Schwalbenschwänzen und den hohen steifen Hut, die ihm die Würde eines Patriarchen gaben. Sie hatte die große Mädchenfesttracht des Berglandes angelegt, das vielgefältelte Kleid aus hellblauer Seide. Um das zartgetönte Mieder und den blühendweißen Brusteinsatz liefen die Silberschnallen und Silberketten, um den Hals das aus durchbrochenen Goldplättchen gefügte Kollier, ein altes, kunstreiches Erbstück. Auf dem Haupt schwankten ihr zwei steife, halbdurchsichtige Flügel, als hätte sich ein duftiger Schmetterling darauf gesetzt. In den blonden Zöpfen stak der große Silberpfeil, auf dessen ziselierter Feder geschliffene Steine glänzten, und in den Händen, die von kunstreich geknüpften, durchbrochenen Handschuhen bedeckt waren, ruhten das silberbeschlagene Gesangbuch und ein duftiger Veilchenstrauß.

Ein vornehmes und demütiges Kind ihres Berglandes, [65]schritt sie neben dem würdevollen Alten die Straße nach Haldenegg hinab.

Sie wechselten nur dann und wann ein Wort über den Glanz des Tages, manchmal aber gab der Freihöfler seiner Tochter einen verstohlenen Blick, und der Ausdruck seines Gesichts verriet etwa den Gedanken: Röbi Heidegger, du bist wahrhaftig nicht auf den Kopf gefallen, auch andere hätten sich in das liebe Menschenkind verschauen können!

Indem er sich vaterstolz an der Jugend seiner Tochter sonnte, gedachte er in Wehmut seines verstorbenen Weibes. Wie doch in der Welt alles aufblüht, welkt und vergeht!

Die Glocken von Haldenegg erhoben ihr feierliches Spiel, diejenigen von Buchen und Büchlisberg mengten ihre Klänge darein, es war, als sängen Erde und Himmel ein seines Frühlingslied. Auf den Wegen und Stegen, die aus der Höhe und Tiefe gegen das stattliche Dorf führten, bewegten sich einzeln und in Gruppen festliche Kirchgänger. Andere traten im sonntäglich aufgeräumten Dorf aus den Türen, die Männer und Burschen ernst und feierlich, die Frauen und Mädchen in der anmutigen Landestracht mit den sich wiegenden Flügeln.

Wo man sich traf, war ein herzhaftes Grüßen.

In der Mitte des Dorfes, bei der alten Steinbrücke, die über den tief eingegrabenen Runsbach springt, kamen eben der Pfarrer Geißmann im dunklen Amtskleid und Gritli aus dem efeuumsponnenen, von zwei mächtigen Linden beschirmten Pfarrhaus. Da die [66]Männer ein paar Augenblicke stillstanden und über die gebrochene Brunnenleitung sprachen, gab es sich, daß die beiden Freundinnen unabsichtlich einen Vorsprung vor ihren Vätern gewannen.

»Gelt, er ist da?« flüsterte Gritli hastig.

»Röbi –ja!« versetzte Gertrud beklommen.

So schön festlich Gritli in ihrem Trachtenkleid aussah, in ihrem schmalen Gesicht trug sie die Spuren der Übernächtigkeit und der vergossenen Tränen.

Schweigend legten sie den kurzen Weg zu der Kirche zurück, die sich mit hohem, schlankem Turm altväterisch und in schlichter Blankheit auf einem Hügel jenseits der Brücke aus einer Tannengruppe erhob und das Dorf freundlich beherrschte.

Es war Sitte in Haldenegg, daß sich die Kirchgänger, ehe sie die Kirche betraten, auf deren Vorplatz aufhielten, die Männer und Frauen in je zwei Gruppen von alt und jung. Gemessen plauderten die verschiedenen Häuflein untereinander, und die Burschen schielten mit verhaltener Neugier nach den Mädchen.

Röbi war mitten unter ihnen.

Wie gut er in dem schönsitzenden schwarzen Kleid aussieht! dachte Gertrud. Etwas männlich Reifes, Gesetztes kam in seinem Wesen zur Geltung, etwas, das vorteilhaft mit seiner geistigen Lebhaftigkeit und dem Feuer seines Blickes zusammenging. Wenn nur die häßliche Narbe nicht wäre! Sie verunzierte ihn eben doch und gab ihm einen Stich ins Bübische und Raufboldhafte.

Er hatte nach allen Seiten zu grüßen, Hände zu [67]schütteln, Fragen zu beantworten und benahm sich dabei frei und leutselig, doch mochte es für ihn wegen der Narbe ein heimliches Spießrutenlaufen sein. Auf sie richtete sich die allgemeine Neugier.

Hier und da hatte auch einer ein kurzes Wort für seine Gedanken, doch schlug Röbi die Bemerkungen lächelnd in den Wind und tat, als spüre er auch die stumme Mißbilligung nicht, die auf den Gesichtern der älteren Männer stand.

Als er Gertrud und Gritli erblickte, kam er zu ihnen hinüber und reichte erst jener, dann merklich kühler und etwas verlegen auch dieser die Hand: »Ei tausend, was habt ihr euch schön gemacht!«

»Röbi!« tönte es wie ein leiser, wehvoller Schrei vom Munde Gritlis. Die Tränen über das schmerzliche Wiedersehen stürzten ihr unaufhaltsam über die Wangen, sie erbleichte und schwankte.

Gertrud stützte die vom Schwindel Befallene, und auch ein paar Nachbarinnen nahmen sich Gritlis an.

Nein, den Gottesdienst konnte sie nicht besuchen. Die Nachbarinnen brachten sie nach Hause.

Röbi und Gertrud wechselten nur tief erschreckte Blicke.

Da hörten die Glocken zu läuten auf. In die Menge der Kirchenbesucher kam Bewegung, sie traten in das Gotteshaus, die Frauen links hin, die Männer rechts hin in die Stühle, die Jungmannschaft auf die Empore.

Die plötzliche Ohnmacht Gritlis war von manchen Leuten, namentlich Frauen, beobachtet worden. Gertrud, die auf der Weiberseite des Schiffes ungefähr in [68]der Mitte saß, hörte das Geflüster der Nachbarinnen: »Die Ärmste, der bricht es noch das Herz, daß Röbi Heidegger sie so treulos im Stich gelassen hat. Man muß ihr nur recht ins Gesicht blicken, so sieht man, wie sie in kurzer Zeit gealtert hat. Was der Student nur denkt! Aber er ist eben ein Leichtsinn. Das sieht man an seiner roten Schramme!«

»Still –still,« mahnte eine andere Stimme, »dort ist die Tochter des Friedensrichters, die hält's ja jetzt mit Heidegger!«

Gertrud saß wie auf Dornen. Sie wagte es nicht, sich nach den Schwätzerinnen umzublicken, und schaute in großer innerer Unruhe, doch bewegungslos auf das Gesangbuch und den Veilchenstrauß in ihrem Schoß, plötzlich aber hob sie das Haupt in die Höhe und warf einen Blick des Vorwurfs, der Strafe und der Verachtung in den Kreis der tuschelnden Weiber.

Da wurden sie still. Einen Augenblick später begann der Gottesdienst, der heute wegen der Konfirmation einer Schar Knaben und Mädchen ein besonders feierliches Gepräge trug.

Pfarrer Geißmann war ein vorzüglicher ländlicher Redner. Die etwas vornübergebeugte Gestalt straffte sich auf der Kanzel, das von einem dunklen Bart umrahmte schmale Gesicht bekam eine kräftige seelische Wärme, und der anfänglich ein wenig zögernde und stockende Vortrag wurde zum fließenden Feuer, das von Herzen zu Herzen ging.

Die Konfirmanden vor sich, sprach er heute herzbewegend von den Pflichten der Menschen untereinander, [69]von den Versuchungen und Gefahren der jungen Liebe, die zwar locke wie blühender Frühling, unter deren Blumen aber doch manchmal eine Schlange verborgen liege, die mit ihrem Biß ein Menschenkind für immer arm und unglücklich werden lasse.

»Ihr künftigen, jungen Männer,« mahnte er eindringlich, »nehmt die Liebe ernst. Täuscht keinem Mädchen Gefühle vor, die in euch selber nur ein Strohfeuer, doch ohne Wahrhaftigkeit, Tiefe und Dauer sind! Wägt und prüft und wählt im stillen. Wo ihr aber euer lebensgroßes, heiligstes Manneswort gesprochen habt, da seid mit jedem Tropfen eures Herzblutes treu, bis euch das Alter mit weißem Scheitel krönt. Der Mann, der seine Liebe wegwirft, wirft sich selber weg und fällt aus der Gnade des Schöpfers. Gott, der in alle Kammern sieht, hat im Schicksalsspiel Fäden genug, die Lose der Menschen so zu lenken, daß jeder –der eine früher, der andere später, der dritte eist im Sterben –spürt: er ist mit seiner Güte nur denen treu, die selber treu gewesen sind –treu auch in ihrer jungen Liebe!«

Gertrud, die zuerst durch das Geschwätz der Weiber hinter ihr jede Andachtsstimmung verloren hatte, geriet allmählich in den Bann der Predigt und ließ sich von ihr ergreifen und erschüttern.

Als Pfarrer Geißmann sie im stillen Studierzimmer schrieb, hatten ihm wohl Röbi und Gritli vorgeschwebt!

Sie sah mit quälerischer Deutlichkeit das blasse, zerstörte Gesicht der Freundin, wie sie in ihrem Kämmerlein [70]vor ihrem Bett kniete und ihr Leid mit verkrampften Händen vor sich hin schluchzte.

Wo saß Röbi?

Ihr war, sie müsse sich bei ihm Hilfe für ihr aufgeregtes Innere holen, und ihre Augen suchten ihn verstohlen auf der Empore; er hatte sich aber, wohl mit Absicht, so tief in den Hintergrund gesetzt, daß sie ihn beinahe nicht fand.

Dafür saß ihr gerade gegenüber im Vordergrund der Höhe der lange Balz, und sie konnte die Blicke nicht heben, ohne den seinen zu begegnen, die unablässig auf ihr ruhten.

Der Narr –der Narr! Sie ärgerte sich über ihn, zugleich aber spürte sie einen leisen Lachreiz darüber, wie schön sonntäglich sich der einfache Geselle vom Werktag ausstaffiert hatte. Wie ein heimlicher Geck! Er hatte das Haar auf das sorgfältigste gescheitelt, den Anflug von Schnurrbart in Spitzen wie zwei wagrechte Nadeln gedreht, im Halsknoten von Schillerseide eine Nadel mit glänzendem Stein und an einem seiner dünnen Finger irgend einen Ring. An seiner, wie es schien ganz neuen, dunklen Samtjoppe blinkten große Perlmutterknöpfe, und über die hell daraus hervorstechende Weste lief eine silberne Uhrkette, an der in zierlichen Miniaturen die Abzeichen seines Berufes hingen: kleine Hobel, Sägen, Bohrer und Stemmeisen, ein aufgereihtes Büschel von Werkzeugen.

Was half es ihm aber, daß er seine Eitelkeit spielen ließ, der Sonntagsstaat vermehrte nur den lächerlichen Eindruck seiner Erscheinung, und wenn er sich eigens [71]für sie so sorgfältig geschmückt hatte, war seine Mühe verloren.

Sie getraute sich nicht mehr, ihn mit einem Blick zu streifen, sie sah die Unruhe, die ihn dabei überkam. Was war er doch für ein Tor!

Sie sehnte sich nach dem Schluß des Gottesdienstes, und endlich war die Konfirmationszeremonie vorüber, ertönte der Schlußgesang der Gemeinde, läutete die Glocke und begann sich die Kirche zu entleeren.

Sollte sie auf den Vater und auf Röbi warten? Nein! Jeder von ihnen hatte auf seine Art zwischen Gottesdienst und Mittagessen noch etwas im Dorf zu tun, der Vater einen alten kranken Vetter zu besuchen, Röbi Plane mit der Jungmannschaft für Ostern zu schmieden.

Dort stand er ja schon in lebhafter Unterhaltung mit Hanstöni, dem Sennen. Leis seufzend löste sie den Blick von ihm. Nachdem sie ein paar Augenblicke an dem mit Frühlingsblumen bekränzten Grab ihrer Mutter gestanden hatte, trat sie mit ein paar anderen Mädchen den Heimweg an. Durfte sie am Pfarrhaus vorübergehen, ohne nach dem Befinden Gritlis zu fragen?

Sie überlegte noch, da trat die Großmutter Röbis, die hohe, hagere Alte, deren faltig zermürbtes Gesicht und weiße Haarsträhnen zur Ehrfurcht zwangen, aus dem von einer Buchshecke umgebenen Pfarrgarten und wollte sich in das eigene, stattliche Haus begeben.

Gertrud erreichte sie mit ein paar raschen Schritten: »Wie geht es Gritli?«

[72]

Frau Heidegger grüßte die Liebste ihres Enkels mit kühler Zurückhaltung und forschendem Blick aus den tiefliegenden, geheimnisvollen Augen. »Kommt etwas zu mir herein,« sagte sie herbhöflich. »Es ist eine schwere Geschichte! Röbi stellt lauter Böses an.« Und mit einer Herzenskraft, die man ihren Jahren nicht zutraute, schalt sie über den Schmiß in seinem Gesicht.

»Oder wir können uns gerade ein bißchen setzen,« bemerkte sie und deutete in den Garten, der, durch einen Stechpalmenhag vor den neugierigen Blicken der Straßengänger geschützt, an der Frühlingssonne lag.

»Gritli hat sich erholt,« erzählte sie, »aber gut wird es mit ihr nie wieder. Sie muß wie eine Pflanze leben, die man an einem sonnenlosen Ort eingegraben hat. Und geht halt langsam zugrund! Daß Röbi sie auf dem Gewissen hat, ist mir ein Nagel zum Sarg!«

>»Röbi war doch mit Gritli nie versprochen!«

»Das kann man nehmen, wie man will,« versetzte die Greisin bitter. »Wir alle glaubten, die beiden würden einmal von selber ein Paar. Gritli war der Liebling meines Sohnes, des Gemeindeschreibers. Als er nach dem Unglück beim Holzfällen, das zu seinem Tode führte, acht Monate an einem Rückenmarkleiden siech in der Stube lag –es sind nun zehn Jahre -, da waren die beiden Kinder sein Trost und sein Sonnenstrahl. Das damals etwa dreizehnjährige Gritli vor allem! Sie brachte ihm Blumen, sie sang die Schullieder an seinem Bett, sie erzählte ihm aus den Büchern, die sie las, und tat ihm Handreichungen, so viel in ihrer schwachen Kraft lag. Niemand hatte sie geheißen, [73]niemand sie angeleitet. Ihre Gegenwart und ihr Beispiel wirkten auf Röbi, der nicht so geduldig war, und so hatte der Kranke wenigstens die Kurzweil der Kinder. Und in einer seiner großen Bangigkeiten, die ihn gegen das Ende manchmal überfielen, bat er Gritli, daß sie Röbi nie verlasse, und ebenso sprach er Röbi zu, daß er treu an Gritli hangen möge. Den Weg, den er ihnen wünsche, fanden sie dann von selbst. Mir band er es noch in seiner letzten Stunde auf die Seele, daß ich, solange ich lebe, die Hüterin seines Willens sei. Und ich war's aus Treue gegen den Verstorbenen und aus der eigenen Überzeugung, daß das wahre Glück Röbis nur bei Gritli sein kann. Aber wie ging's? Gritli hielt die Worte des Sterbenden heilig in Fleisch und Blut, und Röbi, sein eigener Sohn, schlug sie, als er auf die Universität kam, in den Wind! –Da hat man die Bildung. Wäre er doch Bauer geworden!«

»Mir tut es ja um Gritli auch leid,« erwiderte Gertrud mit besorgter Teilnahme. »Aber sagt, der selige Gemeindeschreiber Heidegger hat meinen Vater zu Röbis Vormund bestellt, aber ihm diesen Herzenswunsch nie verraten. Das ist sicher! Sonst hätte der Vater wohl sehr ernst mit Röbi darüber gesprochen, als er um meine Hand anhielt. Löst mir dieses Rätsel, Frau Heidegger!«

»Nein, dein Vater wußte nichts davon, nur ich und die Kinder!«

Die strengen, grauen Augen der Alten forschten im Gesicht der Verlobten ihres Enkels.

[74]

Gertrud hatte das Gefühl, sie sei ihre besondere Feindin.

Als ob Frau Heidegger den Gedanken in ihrer Seele lese, versetzte sie: »Ich weiß wohl, daß du an diesem Unglück nicht schuld bist, sondern Röbi. Der Trotzkopf wird es aber schon einmal bereuen, daß er Gritli, das liebe, gute, plötzlich wie ein unwertes Geschöpf verworfen hat. –Und du wirst mit ihm leiden! –In seinen Träumen wird er den Arm nach dir ausstrecken, aber er wird nicht ›Gertrud‹, sondern ›Gritli‹ flüstern. –Denn sie hat er zuerst geliebt!«

Die Worte der leidenschaftlichen Greisin klangen Gertrud wie die Verwünschungen ihres künftigen Liebesglückes ins Ohr. Sie erhob sich, und als sie nach Hause kam, wußte sie vor Verwirrung selber nicht mehr, wie sie bergan gegangen war.

Kein Wunder, daß sich Röbi zuweilen tief über die Bosheit seiner Großmutter beklagte!

Sie hatte gedacht, sie würde wegen der Erlebnisse am Morgen den ganzen Tag nicht mehr lachen. Nun aber, da nach dem Mittagessen der lange Balz gestiefelt und gespornt auf den Hof kam, kicherte sie doch: »Ein seltsamer Reitersmann, wie man noch keinen gesehen hat! Der Braune wird sich darüber verwundern.«

»Der Braune nicht einmal,« erwiderte der Freihöfler. »Balz und er haben bereits Freundschaft geschlossen. Der Geselle geht jeden Tag in den Stall, tätschelt ihn und teilt mit ihm das Brot. Er muß viel von Pferden verstehen. Das sagt Wälti!«

[75]

Damit ging der Vater hinaus, um ihm das Tier zu geben. Und nachher besorgte er die Einträge in sein landwirtschaftliches Tagebuch.

In einer einsamen Stunde hing indessen Gertrud auf der Bank vor dem Hause ihren Gedanken nach. Sie waren so trüb und schwer, daß sie es nicht beachtete, wie Röbi kam und sie eine Weile teilnahmvoll betrachtete.

Nun ging er sacht zu der auf den Boden Blickenden und weckte sie mit einem sanften Kuß auf die blonden Zöpfe.

»Röbi!« fuhr sie schreckhaft zusammen.

Sie staunte über sein helles Lachen. Er war so munter und froh gestimmt, als habe er das ohnmächtige Gritli schon vergessen.

Es war keine Zeit zur Aussprache.

Der Vater kam zum Nachmittagskaffee, und nachher machte er mit dem jungen Paar einen Gang durch die Wiesen, Felder und Wälder seines Besitztums, in dem sich überall der Frühling regte, und stellte mit dem scharf beobachtenden Auge des Bauern seine Betrachtungen über die Mannigfaltigen Bilder am Wege an.

Röbi folgte dem Gespräch aufmerksam und machte dazu manche kluge Bemerkung, die das alte Bauernherz heimlich erfreute. Als der Freihöfler sagte, daß er morgen in das Runstal zu gehen gedenke, um selber nach dem Wasserbruch zu sehen, erbat Röbi die Erlaubnis, ihn begleiten zu dürfen, und gab ihm auch sonst noch manche Beweise, daß in ihm kein Groll wegen der scharfen Vorwürfe von gestern abend zurückgeblieben sei.

[76]

Das gefiel Gertrud. Aber ihr selber war die Sprache wie verschlagen, und unter Selbstvorwürfen blieb sie bei den Gesprächen der beiden Männer die stumme Lauscherin. Sie brachte Gritli nicht aus dem Sinn.

Dann und wann gab ihr Röbi wegen ihrer Schweigsamkeit einen sorgenden Blick.

Nein, sie konnte nicht sprechen, ihm nicht einmal mit einem Lächeln danken, als er ihr einen Strauß Schneeglöckchen ins Mieder steckte.

Sie erreichten eine Anhöhe am Waldrand, von der man den Freihof und fast den ganzen zugehörigen Besitz überblickte, dahinter das in Hügeln, Bergen und Tälern bewegte Land. Neben einer alten breitkronigen Buche lag ein großer, zum Sitzen geeigneter Findlingsblock.

»Da wollen wir eine Viertelstunde Rast halten,« sagte der Freihöfler, »und dann heimgehen. Ich muß heute abend den Stall selber besorgen; Wälti, der seinen freien Tag hat, ist auf Verwandtenbesuch nach Rütiboden gegangen. Da wird es schon neun Uhr, bis er zurück ist. –Das ist mein Lieblingsplatz! Du erinnerst dich, Gertrud, daß ich hier oft mit deiner verstorbenen Mutter saß und mit dir. Wir haben dann zusammen gesprochen, was der Freihof doch für ein schönes Heimwesen sei, und uns daran gefreut. Es ist ja auch eine Pracht, wie er in das Land hinausschaut. Und manchmal fragten wir uns, wer einmal als Tochtermann drauf zu sitzen komme. Wir meinten, daß es ein junger Bauer aus gutem Haus sein müsse. Nun, Röbi, bist du es! Ich kann mich je länger desto leichter in den Gedanken finden, aber nur, wenn ich erwarten darf, [77]daß du deine Anwaltstube einmal auf dem Freihof einrichtest, denn ich möchte nie ein einsamer alter Kracher werden, der einzig mit Magd, Knecht und Vieh zusammenlebt, nein, ich möchte mich an euch und an kommenden Enkeln freuen und dabei die Landwirtschaft fortführen, solange die Knochen halten. Ich gebe ja zu, daß irgend eine große Ortschaft für dich Vorteile hätte, aber wenn du ein tüchtiger Fürsprecher bist, so wird man dich auch auf dem Freihof finden, und es wird dem Haus nicht schlecht anstehen, wenn an der Wand gegen die Straße hinaus ein weißes Täfelchen angeheftet ist, auf dem steht: ›Dr. jur. Robert Heidegger, Rechtsanwalt‹. Besonders, wenn der Anwalt im Volk Vertrauen und Ansehen genießt!«

So erging sich der Freihöfler in sonnigen Zukunftsbildern.

Gertrud vermochte die Stimmung zur Mitfreude daran noch nicht zu finden.

Zum Glück entging es dem Vater, der jedenfalls auch nichts davon erfahren hatte, daß Gritli Geißmann an der Kirchentür ohnmächtig geworden war.

Nun schritt er mit der Jugend bergab und gegen den Hof. Früher als für manchen anderen war für ihn das Palmfest zu Ende, noch bei hellem Tag begab er sich werktäglich gekleidet in den Stall und besorgte das Vieh.

Röbi und Gertrud hatten nun den schönen Abend für sich allein.

Sie setzten sich auf die Bank vor dem Hause und blickten in die Sonne, die sich zwischen weißen Wolkenburgen zum Untergang rüstete, da und dort ein goldenes [78]Strahlenbündel auf die Landschaft warf und im weitausgedehnten Getäfel der Felder und Wälder die vielgeschlungenen Flußläufe und einen Streifen des Sees aufblitzen ließ.

Plötzlich begann Gertrud mit gesenktem Kopfe: »Röbi, ich bin so traurig wegen Gritli Geißmann. Ihre Ohnmacht, die Predigt ihres Vaters find mir furchtbar zu Herzen gegangen, am stärksten ein Gespräch mit deiner Großmutter, die just aus dem Pfarrhaus trat, als ich von der Kirche kam.«

»Mit der hättest du allerdings nicht sprechen sollen,« grollte er auf. »Sobald es sich um Gritli Geißmann handelt, ist sie ein Unglücksweib.«

Der Ärger lief über sein Gesicht und färbte die Narbe dunkelrot.

Im nächsten Augenblick aber ließ er ein mächtiges Gelächter erschallen, sprang auf und klatschte in die Hände, als wollte er einer Theatervorstellung Beifall zollen.

»Don Quichotte de la Mancha ist auferstanden!« rief er. »Das ist ja ein Reiter zum Totlachen, der muß im Kalender abkonterfeit werden!«

Der lange Balz ritt auf dem Braunen in den Freihof ein, und obgleich Gertrud ein trauriges Herz hatte, mußte sie selber ein wenig über den langen, dünnen Reitersmann lächeln, der den Kopf des Pferdes hoch überragte und dem die Spindelbeine fast auf den Boden hingen.

Nun war er vor der Stalltüre abgestiegen und liebkoste den Braunen.

[79]

Als das Tier sein Heim wiehernd begrüßte, kam der Vater aus der Scheune und unterhielt sich mit Balz.

Röbi, der sein Gelächter immer noch nicht gebändigt hatte, wollte zu den beiden hinüberlaufen.

Gertrud aber hielt ihn zurück: »Wozu willst du dem Gesellen die Sonntagsfreude verderben? Der Spott über ihn steht dir ja auf dem Gesicht!«

»Nein, ich werde ihm sagen, daß er ein vorzüglicher Reiter ist,« versetzte Röbi, seine Heiterkeit dämpfend. »Wie hat er hier die Schwenkung genommen! Das tut ihm nicht jeder nach, der vorgibt, auch reiten zu können. Das Lächerliche liegt ja nur an seiner Gestalt!«

Balz hatte das Tier in den Stall geführt und verabschiedete sich vom Freihöfler mit vielem Dank und strahlender Freude. Als er in seinen Sporenstiefeln über die Hofstatt ging, entdeckte er das Paar, das er beim Einreiten nicht bemerkt hatte, und warf einen verwunderten und etwas bestürzten Blick auf Röbi; er faßte sich aber rasch, grüßte höflich und zögerte sogar einen Augenblick, als erwarte er von Gertrud, daß sie sich nach seinem Ritt erkundige.

Sie war aber nicht zu einer Unterhaltung mit ihm aufgelegt, nickte ihm nur freundlich zu und ließ ihn gehen.

Auch Röbi grüßte den Gesellen achtungsvoll und ernsthaft.

Das überraschte Gertrud.

»Du siehst, wenn es gilt, kann auch ich mich zusammennehmen. Aber wunderliche Menschen seid ihr auf dem Freihof. Wer sonst als ihr leiht einem zufällig [80]auf dem Hof tätigen fremden Arbeiter ein Pferd zu einem Sonntagsritt?«

»Nun, das haben sie doch in Westfalen auch getan, sonst hätte Balz nicht reiten gelernt!« gab Gertrud zurück.

»Ihr habt nun einmal an dem Don Quichotte den Narren gefressen, du wie der Vater,« lachte Röbi mit offenem Spott.

»Den Namen hast du vorhin schon einmal gebraucht –wer ist denn das?« fragte sie leicht gereizt.

»Ein berühmter spanischer Ritter, ich will dir seine lustige Geschichte erzählen.«

Da brach ihr der Faden der Geduld. »Nein,« sagte sie mit verhaltener Heftigkeit. »Ich mag es diesen Augenblick nicht. Was kümmert mich der Ritter? –Röbi, spürst du es denn nicht, daß mir um Gritli Geißmann todesbang ist, daß du von ihr mit mir sprechen sollst? Dort bei dem Stein unter der großen Buche, wo wir heute mit dem Vater saßen, hast du mir den ersten Kuß gegeben. Was war das für ein goldiger Herbsttag! Ich fürchte, Röbi, du hast mir damals über dein Verhältnis zu Gritli nicht die volle Wahrheit gesagt. Du hast mir nicht gesagt, daß euch schon dein Vater auf dem Sterbebett halb verlobt hat! Nun weiß ich's von deiner Großmutter. Und es ist eine ernste Sache, weil sich die Liebe Gritlis darauf beruft.«

Ein tiefes Leid stand ihr im Antlitz.

Vor ihrer Gewissensnot mußte Röbi sprechen.

»Gewiß waren Gritli und ich jugendlang gute Freunde,« warf er in dumpfem Zorn hin. »Ich hatte [81]einen knabenhaften Gefallen an dem zarten, doch lebhaften Mädchen und dachte in meinem Bubensinn oft, wir müßten ein Paar werden. Gritli ebenso, ja vielleicht haben wir dadurch in kindlicher Unschuld den Sterbenden auf den verhängnisvollen Gedanken geführt, daß aus den Kinderträumen eine Art Vermächtnis und Gebot entstand. Das scherte mich manche Jahre nicht groß, und Gritli war mir recht. Es kam aber eine andere Zeit. In mir erwachte die innere Auflehnung gegen die Unnatur, daß ich schon als Junge gebunden sein und auf mein Selbstbestimmungsrecht verzichten solle. Diesen inneren Kampf spürte die Großmutter, das eigensinnige Weib, das ich beinahe hasse. Sie fing jedesmal Händel mit mir an, wenn ich von einem anderen Mädchen als Gritli sprach, und in der Nacht betete sie so laut und lange für Gritli und mich, daß ich den Verdacht schöpfte, ihre Worte seien mehr für mich als den Herrgott bestimmt. Da kam mir der Trotz. Am Morgen nach einem der Gebete sagte ich ihr: ›Von diesem Wurmzucker hab' ich genug, ich will von Gritli nichts mehr wissen –ich liebe Gertrud Freihofer!‹ Das war wenige Tage, bevor ich die Universität bezog, also lange ehe ich dir meine Liebe bekannte.«

»Hast du mit Gritli je von Liebe gesprochen –habt ihr euch ein Treuwort gegeben –euch geküßt?« forschte Gertrud mit gequälten Augen.

»Nicht bis zum Vorabend meines Abganges zur Universität. Noch spät machten wir in sternenklarer Herbstnacht einen Gang auf einsamem Weg. Vielleicht [82]hatte die Großmutter mich verraten, –ich spürte an Gritli ein zitterndes, fieberndes Wesen, sie sprach zum erstenmal wieder von unseren Jugendtagen, und als wir unter einem Weidenbaum am Runsbach umkehrend den Weg zurückgehen wollten, bat sie mich um einen Kuß. Als ich ihr den Kuß gab, wußte ich: es war der einzige. Auch sie merkte es. Wir gingen schweigend gegen das Dorf zurück. Sie begann zu weinen, die Tränen stießen mich ab, und als sie sagte: ›Röbi, du hast eine andere lieb, ich spüre es,‹ da erwiderte ich: ›Ja‹! –Einen Namen nannte ich nicht. Das Ende unserer Jugendfreundschaft war da, wir haben uns später nie mehr unter vier Augen gesehen. Ich hatte überhaupt nur noch Gedanken für dich!«

Gertrud war überzeugt, daß Röbi die volle Wahrheit sprach, fand aber den inneren Frieden bei seinen Worten nicht.

»Nur noch Gedanken für mich,« versetzte sie langsam und träumerisch. Schwer kam es aus ihrer Brust. »Also bin ich doch diejenige, die Gritlis Glück im Wege stand –und steht! Jede schöne Stunde, die ich mit dir erlebe, muß mir als ein Raub an ihr erscheinen, und bei jedem Kuß, den du mir gibst, muß ich denken: ohne mich gehörte er Gritli. O Röbi! du wußtest, wie heiß sie dich liebte, und nahmst den Weg doch zu mir. Warum –warum?«

Den Kopf voll blonder Zöpfe tief gesenkt, die Hände gefaltet, saß sie in, Schmerzen da.

»Warum?« nahm Röbi nach einem Weilchen das Wort auf. »Weil nicht Gritli, sondern du das hochsinnige [83]Weib bist, dessen ich einmal im Lebenskampf bedarf. Es ist ja wahr, wie du noch ein Kind warst, da habe ich mir nicht zu viel aus dir gemacht. Wohl weil du zwei Jahre jünger bist als ich. Das zählt in jenen Tagen. Und ich sah nur das seine in Pfarrhausluft aufgewachsene Gritli. In den Gymnasialjahren aber kam das anders. Wenn ich deinem Vater meine Quartalzeugnisse brachte oder sonst in Mündelsachen mit ihm zu sprechen hatte, sah ich dich, ich sah von Mal zu Mal, wie deine blauen Augen tiefer, sinnender wurden, deine Lippen röter, dein Wesen holder und voll natürlicher Würde. Ich sehnte mich nach den Gelegenheiten, auf den Freihof kommen zu dürfen, und wenn du dem, was ich mit deinem Vater sprach, in schweigender Klugheit zuhörtest, schlug mir stolzem Jungen das Herz manchmal so stark, daß ich fürchtete, ihr müßtet es hören.«

»Ja, das war eine selige Zeit!« flüsterte Gertrud. »Mir war bei deinen Besuchen stets, ich sollte dir davonlaufen. Und dann blieb ich doch.«

Die Erinnerung an die erwachende Liebe tat ihrem beschwerten Gemüt wohl.

»Nein, du bist mir davongelaufen,« lachte Röbi hellauf, »ein paarmal, wenn ich mit dir nur Alltägliches sprechen wollte. Und ich wußte, es war für mich ein glückliches Zeichen. –Doch nicht davon wollte ich dir erzählen, sondern wie ich damals in innerer Angst und Beklemmung zwischen Gritli und dir zu vergleichen begann. Ich konnte mir lange sagen, daß Gritli dir in Wissen und Künsten, in dem, [84]was ich die äußere Bildung nennen will, überlegen sei, –mein Herz flog dir zu! Garten- und Waldblume: so empfand ich den Unterschied eures Wesens. Und meine Seele jubelte der Waldblume zu, der Blume, die sonnig und kraftvoll aus der Scholle, dem Licht und dem Tau, den Tagen und Nächten der Heimat gewachsen ist. Denn, Trudi, in mir selber steckt ja doch am allerstärksten der Bauernbub, und dessen freue ich mich!«

Gertrud war tief still geworden, ihre Hand, die in der seinen ruhte, umfaßte seine Finger fester, in ihrem Druck lag es wie eine Bitte: »Laß mich schweigen, du aber sprich!«

»Ich glaube nicht, daß ich mit Gritli unglücklich geworden wäre,« sagte er. »Aber wenn ich mich voll entfalten, all das Schöne und Gute, das vielleicht in mir ist, entwickeln soll, bedarf ich deiner. Ich brauche dich in den Stürmen des Lebens, in jenen Zeiten, da mir Gritli zu sanft wäre und mir nichts zu sagen hätte. Du bist das größere, du bist das stärkere Weib! An dir kann ich mich, wenn ich in mir selber verwirrt bin, und in allen Lebenslagen halten –an deiner Seelenklarheit, an deiner großdenkenden Klugheit, jenen Urkräften menschlichen Wesens, die nicht anerzogen oder herangebildet werden können, sondern geheimnisvolle Gaben der innersten Natur sind. Du bist mein guter Stern, Trudi, keine andere!«

»So viel Glauben verdien' ich nicht, doch danke ich dir,« flüsterte sie mit heißem Atem. »Ich werde so trostreich bei dir!«

[85]

Und was hätte Röbi für sie nicht noch Süßes und Hohes gewußt in seinem Liebesdrang!

Ihnen beiden war, sie feierten noch einmal Verlobung in der stillen, sternenreichen Frühlingsnacht.

Da öffnete sich über ihnen das Fenster.

»Was treibt ihr denn, Trudi und Röbi?« rief der Freihöfler. »Zu Nacht gegessen hab' ich allein! Jetzt gehe ich zur Ruhe, und ihr findet hoffentlich dem Faden auch ein Ende! –Gute Nacht, Röbi, du brauchst nicht mehr hereinzukommen. Wenn du aber morgen mit mir ins Runstal gehen willst, sei um sechs Uhr bereit!«

Das Paar erhob sich, Röbi rief seinem künftigen Schwiegervater ein helles »Gute Nacht!« empor. Hände suchten sich in Zärtlichkeit, und Lippen bebten im Kuß.

Als Röbi gegangen war, ließ Gertrud ihren Tränen freien Lauf.

Sie waren die große Ausspannung des bewegten Tages –Tränen des Glücks! Wie war sie kleinmütig gewesen! –Wenn einer aber spricht wie Röbi, welche junge Seele soll da nicht an ein Glück glauben, hoffen und mutig werden? –Wie war er groß! Und sie wollte nicht kleiner sein als er.

6

[86]

Es war heute Wäsche im Haus. Ein paar Weiber hantierten in der Küche und am Brunnen.

Gertrud suchte ihren Arbeitsteil draußen, wo die Seile von Obstbaum zu Obstbaum gespannt waren. Da konnte sie, während sie die Leinwandtücher mit den Kluppen heftete, still ihren Gedanken nachhängen. Die Vögel, die ihre Lieder laut, fast aufdringlich aus den Kronen in den herbfrischen, glanzvollen Frühlingsmorgen schmetterten, störten sie nicht. Sie waren ja nur die Sänger der Freude, die sie selber im Herzen trug. Was ist es Wonniges und Seelenerquickendes um einen lachenden Frühlingsmorgen! Jedes Wesen denkt: Ich bin –ich bin! –und jeder Laut ist ein Dankgebet zur Sonne.

Drüben an der Hauswand auf dem Gerüste stand Balz in seinem Arbeitskittel und pfiff seelenvergnügt in die blaue Luft, als freue er sich noch über den gestrigen Ritt.

Was kümmerte sie Balz? Sie dachte an Röbi.

Früh um sechs Uhr war er mit dem Vater ins Runstal gegangen, wo etliche zwanzig Mann an der Hebung des Wasserbruches arbeiteten, und der Gedanke, daß sich die beiden wieder in herzlichem [87]Frieden gefunden hatten, war ihr eine Quelle des Glücks.

Ihre Seele überflog die letzten zwei Jahre. In der schweren Zeit, da sie mit dem Vater um den Verlust der tapferen Mutter trauerte, war es wie eine Offenbarung über sie gekommen, daß Röbi seinen Vormund doch nur ihretwegen fleißiger besuchte, als Anhänglichkeit und Notwendigkeit erforderten. War die Entdeckung für sie eine Freude oder ein Schreck? –Beides zugleich, jedenfalls eine große Überraschung, die wie ein Wunder in ihr Leben trat. Ihr Herz schlug ihm stürmisch entgegen, aber ihr war, sie müsse sich vor Gott und Menschen, selbst vor den Bäumen und Blumen des Waldes ihrer Liebe schämen. Am meisten vor dem Vater! Und leicht ließ sie Röbi die Werbung nicht werden. Sie wies ihn stets wieder mit einer Anspielung auf seine Nachbarin Gritli Geißmann zurück –zwei-, dreimal so heftig, daß einem anderen die Lust vergangen wäre, wiederzukommen. Jedesmal aber weinte sie hinterher bitterlich, daß sie aus unbegreiflichem Trieb, einer Wehrhaftigkeit, die sie selber nicht begriff, herb und hart gegen ihn sein mußte! So bis in den letzten Herbst.

Als der Vater zu einer landwirtschaftlichen Ausstellung in ein Bodenseestädtchen hinuntergefahren war, kam Röbi. Am Waldrand verlobten sie sich, draußen beim Stein unter der großen Buche gaben sie sich den ersten Kuß. Sie hatten einander so viel zu sagen, daß schon Stern an Stern am Himmel stand, als sie den Heimweg einschlugen und ihnen halbwegs vom [88]Freihof der Knecht Wälti entgegenkam, der sie suchen sollte.

»Aha, ist das alles?« knurrte der weise Junggeselle und lief ihnen voran im Eilschritt auf den Hof zurück.

Nach der Verlobung am Waldrand kam der Kampf mit dem Vater. Er war grollig und wußte eine Menge Einwendungen gegen Röbi, der doch sein ehemaliges Mündel war und ihm trotz der großen Lebhaftigkeit viel mehr Freude als Verdruß bereitet hatte. Was waren ein paar Lausbubereien in der Jugend Röbis? –Nur zweimal hatte ihn der Vater ernstlich züchtigen müssen: einmal wegen Fischfrevels im Runsbach; das zweite Mal, weil er mit anderen Buben beim heimlichen Rauchen ein schönes Stück Gemeindewald angezündet hatte. Auf diese alten Untaten griff der Vater zurück, wenn er gegen ihre Verlobung mit Röbi wetterte, im Grunde kränkte ihn aber bloß der Gedanke, daß die Tochter jetzt einem anderen Manne mehr anhange als ihm selbst.

Um Weihnachten hatte er sich mit dieser Tatsache versöhnt, Röbi als künftigen Schwiegersohn anerkannt und sich seither mit ihm –die Mensurgeschichte abgerechnet –aufs beste vertragen.

Wie schön lag vor ihr und Röbi das Leben! Nein: läge es, wenn die Erinnerung an Gritli Geißmann nicht wie eine offene Wunde schwärte. Wie klein hatte Röbi dieses Hindernis bei der Verlobung dargestellt! Nun lag es wie ein großer Stein nicht in Röbis, aber in ihrer Seele. Sie suchte das Bild der um ihr Lebensglück Betrogenen hinwegzuscheuchen.

[89]

Da fuhr sie aus ihrer emsigen Arbeit und ihrem raschen Sinnen empor.

Balz hatte aufgehört, am Haus zu klopfen. Es war schon Mittag. Sie konnte es kaum fassen, wie schnell ihr der Morgen vergangen war.

Der Vater und Röbi kamen heim.

»Grüß Gott, Trudi! –Wir haben Hunger und Durst!« rief ihr Röbi von weitem zu. Er war in strahlender Laune und schäumte vor Leben. »Entzückend schön war es in der Schlucht bei den vielen kleinen Wasserfällen und an den Felsenmulden, in denen sich der Bach sonnt. Auch das Angrünen der Lärchen und Buchen ist ein herrlich zartes Spiel. Da nimm eine Nase voll Waldluft!«

Er streckte ihr einen mächtigen Strauß goldiger Trollblumen entgegen und neigte das Gesicht selber darein. »Doch nun eine große, frohe Neuigkeit, Schatz! Am Ostermontag findet hier auf dem Freihof ein Eierlesen statt! Der Vater ist damit einverstanden und überläßt uns dazu die Wiese vor dem Haus.«

»Das heißt alles unter deiner Verantwortung, Röbi,« schränkte der Freihöfler die jubelnde Mitteilung ein, »und unter der Voraussetzung, daß du Zucht und Ordnung unter der Jungmannschaft hältst.«

»Das versteht sich ja von selbst!« sprudelte Röbi. Sogar beim Mittagessen lebte er in der Vorfreude des Spiels. »Hübsch soll die Veranstaltung werden. Ein paar Wagen voll junger Tannen, um den Platz einzufrieden, werden wir vom Gemeindeförster schon bekommen; von dir, Vater, die Seile, die wir von [90]Tanne zu Tanne spannen. Auf die Galerien des Hauses laden wir die Mädchen des Dorfes ein. Wenn sie in ihrer Tracht erscheinen, wird es sich wie ein lebendiger Blumengarten ansehen. Ich will auch dafür sorgen, daß das Zipfelmützendoppelquartett aus Buchlisberg auf dem Platz spielt. Es gibt doch stets Stimmung, wenn ein paar Trompeten, ein paar Geigen, ein Baß und ein Hackbrett bei einem Volksfest sind. An Hanstöni haben wir einen alterprobten Werfer, Uli Kübler wird sich wohl auch wieder als Wannenhalter gewinnen lassen, und wir haben nur Dolf Guggi, den verschwundenen Abenteurer, als Reiter zu ersetzen. Da ist Arnold Röthlisberger, der Sohn des Fuhrhalters, mit seinem jungen, schönen Militärfuchsen der gegebene Mann. Ich habe auch an Albert Ruchegger, den Trainfurier, gedacht. Aber der war schon in unserer Bubenzeit ein Spielverderber. Arnold Röthlisberger soll reiten. Dem Spiel folgt der Festzug vom Freihof nach Haldenegg hinunter, im Sternen ist gemeinsames Nachtessen der Jungmannschaft mit ihren Liebsten, wobei es uns sehr freuen würde, wenn Männer wie du, Vater, überhaupt aus den Behörden, uns die Ehre der Teilnahme erweisen wollten. Nachher ist Tanz und Fröhlichkeit, bis die Hähne krähen.«

Der Freihöfler lachte: »Du hast ja schon das richtige Advokatenmundwerk! Ich gehe jetzt mit Wälti die Obstbäume ausschneiden.«

»Und ich will diesen Nachmittag ein paar Briefe schreiben und die Jungmannschaft zur Besprechung des Eierlesens auf morgen abend in den Sternen einladen.«

[91]

Als der Freihöfler gegangen war, schlang Röbi den Arm um den Nacken Gertruds. »Gott sei gepriesen, daß man endlich wieder einmal etwas Fröhliches zu denken hat! Im übrigen habe ich mit dem Vater ernst gesprochen. –Wenn er manchmal auch derb und zornig sein kann, er ist doch ein bewundernswerter Mann und hat in seinem Wesen einen großen Zug, den man bei Dörflern selten findet.«

»Und hat es gern, wenn ihm ein Junger die Ehre gibt,« fügte Gertrud schelmisch hinzu.

»Ja, das habe ich gespürt!«

»Was habt ihr denn Ernstes verhandelt?«

»Ich habe ihm eingehend von meinen Studien und Plänen erzählt, wie dir am Samstag. Das hat ihn erfreut. Und dann redeten wir darüber, ob du und ich unser Verlöbnis nicht bald öffentlich anzeigen dürften.«

»Ei tausend, da hör!« Gertrud hob den Kopf.

»Was sagte der Vater darauf?«

»Er wollte die Anregung in sich selber prüfen. Zuerst sollen wir fröhlich Ostern feiern.«

»Du, Röbi, wie kam dir der Plan?« fragte sie in nachdenklicher Neugier.

»Dem Vater sagte ich, daß ich als öffentlich Verlobter gegenüber meinen Kommilitonen einen einwandfreien Grund habe, mich von den studentischen Zerstreuungen zurückzuziehen und mich der ernsten Arbeit zu widmen. Auch könne dir und mir im Dorf wohler sein, wenn wir mit der Heimlichtuerei aufhören dürfen. Sie nütze nichts mehr, da die Spatzen von [92]Haldenegg unsere Liebe doch von den Dächern pfeifen. Dir, Trudi, will ich den tieferen Grund gestehen. Nach dem gestrigen Vorfall würde ich Gritli, die Großmutter und alle, die mir Gritlis wegen in den Ohren liegen, gern vor eine Tatsache stellen, mit der sie sich abfinden müssen.«

Seine Augen blitzten in Entschlossenheit.

»Gelt, Röbi, das blasse Gesicht Gritlis quält dich doch auch!«

»Weil es dich quält! Ich bin auch gegen den Wunsch des Vaters, daß ich einmal meine Advokaturstube im Freihof einrichte, sondern ich möchte mit dir an irgend einem hübschen größeren Ort unseres Ländchens wohnen, wo uns Gritli nicht in den Weg tritt. So finden wir unsere Ruhe leichter, und sie die ihre.«

Gertrud erbleichte. »Vom Freihof fort! Wer hätte gedacht, daß diese Frage je entstehen könnte? Und wegen Gritli Geißmann! Das ist ein Unglück! O Röbi, mir ist manchmal so schwer ums Herz, daß ich denke: wenn wir uns nur nie kennen gelernt hätten!«

Ein feuchter Glanz trat in ihre Augen.

Da wurde er wild. »Wenn du nichts Gescheiteres zu denken weißt, so gehe ich,« warf er herrisch hin.

Sie forderte ihn nicht auf, zu bleiben. Schweigend, bis in den Grund der Seele getroffen, sann sie vor sich hin.

Er zögerte einen Herzschlag lang. Dann verließ er in jäher Wallung des Mißmutes die Stube und wandte sich gegen das Dorf hinab. Doch was wollte er im Dorf? Zur Großmutter heim? Am allerwenigsten! [93]Seine Freunde aus der Jungmannschaft aber waren wohl in Feld und Wald bei der Arbeit. Nachdem er schon ein Stückchen Weg zurückgelegt hatte, ging er wieder auf den Freihof zurück. Es zog ihn zu Gertrud, er konnte nicht im Unfrieden mit ihr leben. Der Stolz erlaubte ihm jedoch nicht, schon wieder dort ihr zu erscheinen. Unentschlossen und schlechter Stimmung trieb er sich um den Hof herum. Was half ihm das Osterspiel, das seine Freude erregt hatte, wenn er sich nicht in lebenswichtigen Fragen mit Gertrud einig wußte?

Da erblickte er unter dem breiten Vordach der Scheune den langen Balz, der eben zugeführte Bauvorräte an die Wand speicherte.

Er trat mit einem leichten Gruß zu ihm hin und schaute eine Weile seinen Hantierungen zu, als ob er in Bauangelegenheiten Sachverständiger wäre.

Trotz seiner ärgerlichen Laune hatte er seinen Spaß daran, daß die langen Glieder des Gesellen wie ein geschicktes Hebelwerk arbeiteten, noch mehr an der Vorstellung, daß dieser wunderliche, häßliche Mensch sterblich in Gertrud verliebt sei. Plötzlich reizte es ihn, mit Balz anzubändeln.

Aus seiner schlechten Stimmung wurde eine wilde, übermütige.

Balz beobachtete ihn mißtrauisch.

»Das ist mir just recht, daß ich Euch kennen lerne,« begann Röbi das Gespräch mit ziemlichem Ernst. »Der Friedensrichter und seine Tochter haben mir viel Schönes und Achtungswertes von Euch erzählt, und obgleich [94]ich erst seit Samstag hier bin, weiß ich, daß Ihr ein ebenso vorzüglicher Musiker wie Reiter seid.«

Da horchte Balz doch empor und fragte vorsichtig: »Ja, wer seid Ihr?«

»Robert Heidegger, Student, jetzt hier bei den Verwandten in den Ferien,« erwiderte Röbi im Tone vollkommener Wahrheit. »Nach meiner Ankunft hatte ich gerade das Vergnügen, mit meinem Bäschen Gertrud das Ständchen anzuhören, das Ihr dem Fräulein dargebracht habt. Ihr seid auf Eurer Ziehharmonika ein großer Künstler, ich glaube, niemand spielt so schön hierzulande und weiß so viel prächtige Melodien. Ihr hättet Musiker von Beruf werden sollen!«

Das Lob traf Balz an seiner schwächsten Stelle. Die Augen leuchteten ihm auf. Nein, das hatte er nicht erwartet, daß der vornehme Student so freundlich zu ihm sprechen würde.

Leichtgläubig, wie es in seinem Wesen lag, faßte er Zutrauen und fragte mit zitternder Stimme: »Haben die Lieder dem Fräulein ein wenig gefallen?«

»Wie Ihr fragen könnt!« erwiderte Röbi mit guter Verstellung, und die ausgelassene Laune riß ihn zu immer kühneren Worten hin. »Ihr müßt es doch selber wissen, daß sie an allem, was Ihr tut, einen großen Gefallen findet: an den Erzählungen aus Eurem Leben, an dem kleinen, reizenden Schnitzwerk, das sie mir von Euch gezeigt hat ...«

»Sie hat es Euch gezeigt?«

»Sie denkt ja die ganze Zeit nur an Euch und spricht nur von Euch. Ich weiß durch sie vieles aus [95]Eurem Leben, wie es Euch bei einem Teufelseher schlecht ging und daß Ihr in Aue die Orgel wieder herrlich instand gesetzt habt. Ich sage Euch ja, sie bewundert Euch, Eure Geschicklichkeit und Eure Künstlergaben!«

Der lange Balz lachte selig wie ein Kind, das ein Märchen erzählen hört.

»Recht glauben kann ich's nicht,« versetzte er sinnend. »Mich hat es Fräulein Freihofer noch nie merken lassen, daß sie mich mag. Im Gegenteil! –Sie geht, mir aus dem Weg.«

»So tun alle verliebten Mädchen!« erwiderte Röbi mit Kennermiene. »Ich weiß das von meinem Schatz in der Stadt, –und ein wenig stolz ist ja Fräulein Freihofer; sie darf es auch sein, sie ist die Tochter des Friedensrichters und ein schönes Mädchen dazu. Das laßt Ihr doch gelten!«

»Ja,« sagte Balz andächtig und mit verzücktem Gesicht.

Röbi konnte das Lachen kaum mehr verhalten, doch beherrschte er sich. »Also könnt Ihr auch nicht erwarten, daß sie Euch die Liebe gleich zu merken gibt oder Euch gar nachläuft. Das tut sie sicher nicht.«

»Nein,« erwiderte Balz verständnisvoll und zitternd vor Aufregung. »Ich habe ja so etwas auch nie gedacht!«

»Ihr seid vielleicht nur zu bescheiden,« reizte ihn Röbi, der sich auf einen Scheitstock gesetzt hatte und vergnüglich die Beine schlenkerte. »Bei einem Mädchen kommt man mit etwas Frechheit am besten vorwärts. [96]Überhaupt in der Liebe muß sich jeder selber helfen. –Tanzt Ihr gern?«

Balz lachte über die Frage.

»Da ist nichts zu lachen –am Ostermontag ist im Sternen Tanz. Wir haben an diesem Tag ein Fest, ein Eierlesen hier auf der Wiese des Freihofs. Kennt Ihr das Spiel? –Nicht! Nun, die Jungmannschaft stellt durch das Los zwei Parteien auf, die eines Reiters und die eines Werfers. Während dieser zweihundert Eier in ein Ziel wirft, eilt der Reiter vom Freihof hinab nach Haldenegg, von Haldenegg hinüber nach Buchen, von Buchen nach Büchlisberg, von da nach Haldenegg zurück und wieder hinauf zum Freihof. Wer seine Aufgabe zuerst gelöst hat, der hat für seine Partei den Sieg errungen und erhält von der Eierkönigin einen Kranz aufs Haupt. Und den ganzen Abend darf sie ihm keinen Tanz abschlagen! Die unterlegene Partei aber bezahlt der sieghaften das Abendbrot.«

Balz hatte spannungsvoll zugehört. »Und wer ist die Eierkönigin?«

»Das erratet Ihr doch,« lachte Röbi. »Die Jungmannschaft wählt keine andere als Fräulein Freihofer! Und gestern habe ich gesehen, daß Ihr ein vortrefflicher Reiter seid.«

»Nun, ich habe in Westfalen Reiten gelernt.«

»Das weiß ich von Fräulein Freihofer und habe einen Einfall: –Wenn Ihr in die Jungmannschaft eintreten und als Reiter an dem Spiel teilnehmen wolltet!«

Röbi blickte ihn mit verführerischem Lächeln an.

[97]

Auf dem Gesicht des Gesellen stand die große Überraschung und das Verlangen. »Wenn ein Fremder aufgenommen wird,« versetzte er bescheiden.

»Warum nicht? Wir Burschen von Haldenegg mögen jeden leiden, der einen guten Ruf hat –und den habt Ihr ja durch Eure Künste und könnt ein angesehenes Glied unserer Gesellschaft werden, indem Ihr unsere Zusammenkünfte mit Eurer Musik verschönt.«

Das gefiel Balz mächtig.

»Wenn Ihr an unserem Fest die Rolle des Reiters übernehmen wolltet, hübsch angetan, Bänder auf dem hohen Hut und an den Schultern, an den Füßen Rohrstiefel und Sporen, müßtet Ihr meiner Base doch sehr gut gefallen. Und wenn Ihr als Sieger auf den Platz kämet, wenn sie Euch den Kranz auf den Kopf setzte und den ganzen Abend neben Euch oder Euch gegenüber säße, ließe sich schon ein freundliches Wort mit ihr reden, –und es ist dann Eure Sache, daß Ihr die Freundschaft des Fräuleins noch mehr für Euch gewinnt als bisher!«

Balz nickte und lachte in sich hinein, plötzlich aber fragte er: »Woher nehmen wir ein gutes Reitpferd? –Der Braune hier auf dem Freihof taugt nicht mehr viel!«

»Das laßt meine Sorge sein. Ich weiß im Dorf einen schönen, jungen Fuchsen.«

Ein Ausdruck trat in das Gesicht Balthasars, wie wenn ein Kind nach einem Spielzeug zittert.

»Nur eins bedenkt,« fuhr Röbi fort, »das Straßendreieck zwischen den Dörfern ist nicht leicht zu reiten, es geht in drei Bachschluchten hinab und wieder steil [98]hinauf in die Felder! –Es sind die untere und die obere Runsschlucht und zwischen Buchen und Büchlisberg das Brummibachtobel.«

»Ich fürchte mich nicht,« erwiderte Balz mit einem mutigen Strahl der Augen. »Wir sind in Westfalen, wo es manchmal beim Tanz ziemlich spät geworden ist, noch in dunkler Nacht über Stock und Stein geritten. Nicht nur auf Ackergäulen, auf dem Hof standen auch zwei Husarenpferde!«

»Husarenpferde! Ausgezeichnet! Nun seht bloß dazu, daß Euch keiner in der Rolle des Reiters zuvorkommt. Es sind noch andere, welche die Gelegenheit gern benützen möchten, sich vor Fräulein Freihofer hervorzutun, so der Sohn des Fuhrhalters Röthlisberger, aber am liebsten sähe sie gewiß Euch, da sie doch im stillen schon Eure Freundin ist. Meldet Euch, und wir werden Euch dem Fräulein Freihofer zulieb wählen!«

Das Gesicht des langen Balz lachte, als er den Namen Gertruds so manchmal hörte, und er war vor Wonne ganz verwirrt.

Da kam Vree mit dem Abendbrot für ihn, Röbi sprang von dem Scheitstock, den er sich als Sitzplatz erwählt hatte, herunter. »Ich muß nun gehen. Besinnt Euch gut. Und noch eins! Niemand darf von dem Plan etwas merken, am allerwenigsten Fräulein Freihofer. Das ist Übung der jungen Leute von Haldenegg, daß vor dem Spiel alles Geheimnis bleibt! Wir zählen auf Euer Schweigen.«

»O, ich kann still sein wie ein Fisch!« rief Balz mit strahlendem Blick.

[99]

Röbi ging.

Balz aber blieb in einem so mächtigen Taumel zurück, daß er nicht mehr auf die Leiter steigen und kein Werkzeug mehr halten konnte. Was war dieser Student für ein herrlicher Mensch, so freundlich, lieb und gütig! Wie schön, daß er seinen Schatz in der Stadt und selber keine Begierde nach Fräulein Freihofer hatte!

Glückselig lachte er vor sich hin, –er lachte, als Meister Hildebrand zur Nachschau auf den Platz kam, und lachte, als der Friedensrichter gegen Abend Prüfung über den Tagesfortschritt der Arbeit hielt.

Verwundert schüttelte der Freihöfler den Kopf. Als er in die Stube trat, fragte er Gertrud: »Weißt du, was Balz in die Krone geschossen ist? Wohl der gestrige Ritt! Er hat den Verstand verloren. Wenn nur die Arbeit am Haus auf Ostern noch fertig wird!« Tiefsinnig schritt er die Stube auf und ab.

»Wo ist Röbi?« fragte er nach einer Weile.

»Ich denke, er ist ins Dorf hinabgegangen, um wegen des Eierspiels mit den anderen Burschen zu beraten.«

Der Freihöfler nickte: »Röbi gefällt mir bei seinem jetzigen Besuch recht gut. Die Mensurgeschichte hat ihn doch merkbar ernster gestimmt. Er hat jetzt manchmal eine schöne Männlichkeit, die Tüchtiges verspricht.«

»Ja, ich spür's auch, daß er über manches gründlicher denkt als früher,« stimmte Gertrud zu.

»Wir sind heute morgen vortrefflich zusammen gewandert,« erzählte der Friedensrichter. »Es freut mich an ihm, daß er nicht nachträgerisch ist. Obgleich [100]ich ihn am Abend seiner Heimkehr scharf genug abgekanzelt habe, war er heute auf dem Weg so zutraulich, wie es ein Alter von seinem Schwiegersohn wünschen kann. Insbesondere hörte ich gern von seinen Studien, und die Wärme und Klarheit, mit der er über das Verhältnis des Rechts zum Volksleben sprach, tat mir wohl. Wir verstehen uns in vielen öffentlichen Fragen wie selten jung und alt! Und was mir auch Freude bereitet: er prahlt nicht mit seiner Bildung und seinen Wissenschaften, er hat, wenn er unter die Leute tritt, ein volkstümliches Benehmen, spricht mit den Bauern über die Landwirtschaft und mit dem Förster über den Wald. Dabei merkt man, daß er schon als Bub für alles, was um ihn war, offene Augen besessen und sich trotz der Studien die Liebe und das Verständnis für unsere Anliegen behalten hat. Ich hoffe, an ihm noch viel Freude zu erleben. Deswegen bin ich seiner Bitte, der Jungmannschaft für das Eierlesen die Wiese vor dem Haus zu überlassen, entgegengekommen. In einer anderen Angelegenheit aber habe ich mir die Prüfung vorbehalten.«

Gertrud spitzte die Ohren.

»Du weißt es wohl schon von ihm selber. Er wünscht euer stilles Verlöbnis möglichst rasch in das öffentliche zu verwandeln. Das geht mir nun gegen den Strich. Die Jugend plant stets anders, als ein Alter für sie denkt. War es nicht mein Wunsch, daß du einen Landwirt heiratest? Nun hast du dir einen Juristen erwählt. Und ich dachte, der Jurist müsse zuerst sein Staatsexamen und den Doktor ablegen, ehe ich in den neuen [101]Schritt willige. Nun hat aber Röbi mit Gründen, denen ich die Triftigkeit nicht absprechen kann, um Beschleunigung gebeten. Ich glaube selber, daß die öffentliche Verlobung einen Studenten von allerlei geselligen Verpflichtungen entbindet, die ein Hemmnis auf dem Weg zu seinen höheren Zielen sind. Und ich will in der Angelegenheit kein Rabenvater gegen euch sein!«

»Da wird sich Röbi freuen!« rief Gertrud in großer Überraschung.

»Das Ausgeben der Karten auf Ostern läßt sich nicht mehr richten, denn da haben wir ja seit langem meiner Schwester Elisabeth und dem Schwager in Egelsdorf am See unseren Besuch versprochen. Ich möchte das nicht ändern, ich bin jedesmal froh, wenn eine Verwandtschaftspflicht erledigt ist. Dazu ist am Ostermontag Eierlesen, da wünsche ich nicht, daß die Nachricht so neu in das Volksfest hineinfällt.«

»Du hast Recht, Vater!«

»Also kauft euch die Ringe auf Pfingsten! Damit bin ich einverstanden.« Und der Freihöfler schaute seiner Tochter warmherzig ins Gesicht.

In diesem Augenblick trat Röbi in die Stube. Frisch, fröhlich kam er vom Dorf herauf und dachte kaum mehr daran, daß er im Zorn von Gertrud hinweggegangen war.

»Mit dem Förster ist die Angelegenheit beredet,« berichtete er. »Wir dürfen die nötigen Jungtannen zum Schmucke des Festplatzes schlagen. Hanstöni, Konrad Erb und ich besorgen es morgen, und der junge [102]Röthlisberger übernimmt die Fuhre. Ich freue mich auf die Arbeit im Wald!«

Mit kräftigen Armen ahmte er die Bewegung des Axtschwunges nach, Gertrud und der Freihöfler lachten unwillkürlich zu seinem Eifer.

»Röbi, hör! Ich habe dir auch eine Neuigkeit!« rief sie ihm schalkhaft und freudig zu. »Rate!«

Einen Augenblick spannte sie seine Neugier, dann sagte sie: »Denke dir, der Vater gestattet, daß wir auf Pfingsten unsere Verlobungskarte herausgeben.«

»Trudi!« jauchzte er auf und schlang seinen Arm um ihre Hüfte. »Ich habe nicht nur die beste Braut im Land, sondern auch den besten Vater. –Du und ich! –Komm, wir wollen ihm die Hand reichen und ihm gemeinsam danken.«

Vergessen war der kleine Streit vom Nachmittag, und zwischen den drei Menschen waltete ein stilles, reines Glück.

7

[103]

Da man in Haldenegg in diesen Tagen nichts von Belang erlebte, sprach man dorfauf, dorfab von dem kommenden Eierspiel auf dem Freihof. Was die Burschen über ihre Pläne verrieten, war Schelmerei und Ulk, doch galt bei den Dörflern so viel als sicher, daß Röbi Heidegger, der Student, die Obmannschaft über das Fest führen und unter seiner Leitung schon etwas Sehenswertes zustande kommen werde.

Sein Name, sein Schmiß und die Ohnmacht Gritlis vor der Kirchentür waren in aller Mund, man sprach auch von einer bevorstehenden Verlobung auf dem Freihof.

Er selbst aber war mit seinen Gedanken vollständig bei den Vorbereitungen für das Spiel, er ergötzte sich im voraus an dem komischen Bilde, das der lange Balz als Reiter gewähren würde. Da werde sich ja in Haldenegg ein Gelächter erheben wie noch nie, seit das Dorf steht, ebenso drüben in Buchen und Büchlisberg. Und im stillen war er noch besonders gespannt, wie es Gertrud aufnehmen und sich aus der Verlegenheit ziehen werde, wenn Balz ihr als verliebter Ritter nahte. Mit ihrem seinen weiblichen Sinn gewiß in einer Art, die ein sonniges Schauspiel gewährte und [104]Balz schonte, –das war sicher; und Röbi freute sich, dabei Zeuge ihres klugen Wesens zu sein.

Auf dem Gang in den Jungwald sprach er seinen Freunden von Balz, und Hanstöni, der Senn, dem jede Schelmerei gefiel, war sogleich einverstanden.

Konrad Erb aber, ein buckliger junger Bauer, von scharfsinnigem Blick und ruhigem, nüchternem Wesen, äußerte Bedenken. Ihm lag es nicht recht, daß ein fremder Geselle bei dem Spiel mitwirken solle, auch warf er Zweifel auf, ob Balz überhaupt reiten könne. Das sei wohl nur eine Großtuerei des halbnärrischen Menschen.

Da erzählte ihm Röbi von den Erlebnissen Balthasars in Westfalen.

»Und trotzdem gefällt mir der Plan nicht,« gab ihm Erb zurück. »Ich denke an Arnold Röthlisberger, der sich wohl schon freut, daß er sich mit seinem schönen Militärpferd als Osterreiter in den Dörfern zeigen darf. Triffst du ihn in guter Laune, so läßt er sich vielleicht von dir bereden, daß er auf die Rolle Verzicht leistet. Hinterher ärgert er sich aber doch heimlich, und wenn er es nicht tut, so sein Vater. An Leuten, welche die beiden aufstacheln, fehlt es im Dorf auch nicht. Dann haben wir in der Gesellschaft, die jetzt friedlich und einig ist, die Verstimmung, die Händel und den Streit.«

Die kluge Rede machte Eindruck auf Röbi. Während er mit den anderen die jungen Tannen schlug, war er fast geneigt, dem Rate des Freundes zu folgen. Im Grund seines Herzens lag es ihm ja nicht so sehr an Balz, [105]und in manchen Augenblicken dachte er mit Unlust an die Bären, die er dem leichtgläubigen Gesellen in überkecker Laune aufgebunden hatte. Und wenn der Freihöfler, dem jede kleine Unwahrheit zuwider war, davon erfuhr, war ihnen das Osterspiel verdorben.

Woher im Grunde der Drang, den harmlosen Menschen durch den ihm zugedachten Ritt lächerlich zu machen? Das wußte Röbi selber nicht so deutlich. Wegen der Komik seiner Gestalt? Nein, weil Balz es wagte, Gertrud seine törichte Verliebtheit zu zeigen, ihr Geschenke anzubieten, ihr Ständchen zu bringen, und weil Vater und Tochter auf dem Freihof den Halbtollen in fast unbegreiflicher Güte verzogen.

Da saß seine Spitze gegen Balz, sie saß in einer ihm selber nicht klaren, vor seinem Verstand unbegründeten kleinen Eifersucht aus dem hintersten Winkel der Seele.

Doch wozu diese Bedenken in der frühlingshaften Schönheit des Waldes, in dem der Sonnenduft zitterte, die Knospen schwollen, die goldenen Himmelsschlüssel blühten, die Schmetterlinge über lichtfreudige Wipfel flatterten und der Kuckuck rief!

Arnold Röthlisberger, ein starker, breitschultriger Bursche, mit knolliger Stirn und derbem Gesicht, der von seinem Vater die Gewohnheit angenommen hatte, daß er stets ein Weißdornzweiglein zwischen den Zähnen hielt, kam mit dem Wagen in den Schlag gefahren, und bald war auch Ruchegger mit seinem Fuhrwerk da, der Sohn eines reichen Hofbauern, in seiner militärischen Stellung Furier beim Train, doch allgemein [106]etwas als Querkopf bekannt und in seinen Ansichten meistens das Widerspiel der anderen.

Röbi gelang es, beide für seinen Plan zu gewinnen. Röthlisberger versprach ihm sogar, Balz den Militärfuchsen für den Ritt zu überlassen.

Der ruhige Konrad Erb hatte ihrer Abmachung schweigend zugehört.

Als er und Röbi, beide die Äxte auf den Schultern, hinter den Tannenfuhren gegen das Dorf schritten, gab er ihm einen langen, stummen Blick des Vorwurfs.

»Ich halte ja deine Ansichten gewiß in Ehren,« begütigte ihn Röbi, »aber wir anderen haben kein so schweres Blut wie du.«

»Und ich bin nicht so blind wie du,« war die kurze Antwort des Buckligen.

Röbi begegnete wegen der Balz zugedachten Rolle noch manchem Widerstand der Burschen des Dorfes, aber die Überredungsmühen hatten für ihn den Reiz der geistigen Stärke. Weder Worte noch Zigaretten reuten ihn.

Dabei schoß es ihm einen Augenblick doch durch den Kopf: Erb hat Recht! Die Geschichte ist gefährlich. Heute noch könnte ich sie rückgängig machen, –ein Wink, und ein anderer als Balz wird Reiter! Morgen ist es zu spät!

In seinem Wesen wallte aber noch allerlei Leichtsinn aus der Jungenzeit.

Gegen acht Uhr stand er auf dem Dorfplatz von Haldenegg, in dessen Mitte ein zweiröhriger Brunnen in ein großes, altertümliches Steinbecken plätschert, [107]und vor dem Sternen, der, ähnlich wie der Freihof gebaut, mit der Kirche und anderen hübschen Gebäuden den an ein Landstädtchen erinnernden Kern des Dorfes bildet.

Hanstöni kam, von allen Seiten langten die Jungburschen an, und bald saßen sie, über die zwanzig, in der heimeligen Hinterstube, die mit den Fahnen, Ehrenbechern und inschriftlichen Erinnerungszeichen der Vereine des Dorfes geschmückt ist.

Stets kamen noch einzelne, halb sonntäglich staffiert, und fast als letzter auch der lange Balz.

Die schon da waren, stießen sich mit den Ellenbogen, manche konnten ihr Lachen kaum unterdrücken. Röbi aber reichte ihm schier freundschaftlich die Hand, und nach einigem Hin und Her wurde der Geselle auf den Antrag des Obmanns gegen die Stimmen weniger Hartnäckigen in die Jungmannschaft aufgenommen.

Er dankte errötend für das ihm erwiesene Vertrauen.

Da erhob sich Röbi, klingelte an sein Glas, und als die Stille eingetreten war, sagte er: »Wir haben also ein Eierlesen auf Ostermontag beschlossen, und ich habe euch die erfreuliche Mitteilung zu machen, daß uns Herr Friedensrichter Jakob Freihofer für das Spiel seine Wiese vor dem Haus überlaßt. Das ist der schönste Festplatz, den wir uns wünschen können! Damit das Spiel einen schönen Rahmen bekommt, sind Hanstöni und ich an der Arbeit, dafür allerlei Gruppen aus unserem Volksleben und unseren Volksbräuchen zusammenzustellen, auch einen Alpaufzug.«

[108]

Die Burschen hoben die Köpfe. »Ei, da hört! Ja, wenn Röbi Heidegger eine Sache in die Hand nimmt!«

Die Gesellschaft geriet in den Bann seiner Beredsamkeit, den wärmsten Bewunderer aber hatte er an Balz.

Dem erschien der Student wie ein junger Gott, er hing an jedem Wort seiner Lippen und empfand das Glück, in eine so lebensfrohe Runde junger Leute aufgenommen zu sein, mit einem sonntäglich schönen Gefühl.

»Wir kommen nun zu den Wahlen für das Spiel und bestellen nach Brauch zuerst die Eierkönigin, die es übernimmt, die Mädchen des Dorfes dazu einzuladen. –Ich gewärtige Vorschläge!« fuhr Röbi fort.

Sein Blick traf den langen Balz.

Einmütig wurde Gertrud Freihofer zur Eierkönigin berufen und nachher ebenso einmütig Hanstöni als Werfer. Der Gewählte, der wegen seiner trockenen und derben Späße bei alt und jung beliebt war, erhob sich, streifte seine Ärmel zurück und ließ mit einer raschen Bewegung seine mächtigen Muskeln springen, mit denen er einen Käselaib von zwei Zentnern leicht aus dem Kessel hob. »Ich glaube, sie tun's noch einmal zum Eierschwingen!«

Wannenhalter wurde Uli Kübler, ein kleiner, hagerer Junggeselle, der mit breit ausgelegten Ellenbogen aus einem kurzen Pfeifenstummel tabakte und nur dünne Arme hatte, dafür hart wie Drahtseile.

Von allen mit großer Spannung erwartet, kam nun die Wahl des Reiters.

[109]

»Wer meldet sich?« fragte der Obmann mit unverbrüchlichem Ernst.

Da stand nach einer Verabredung mit ihm Arnold Röthlisberger auf, der selbst während des Sprechens an einem Weißdornzweiglein kaute: »Ich habe mich verpflichtet, das Pferd für das Spiel zu stellen, meinen schönen Fuchsen. Ein solch wertvolles Tier gibt man natürlich nicht gern in fremde Hände. Deswegen schlage ich mich selber als Reiter vor!«

Balz wurde es bange. Hatte ihm Heidegger nicht gesagt, daß der Fuhrhaltersohn darauf laure, sich bei dieser Gelegenheit vor dem Fräulein Freihofer hervorzutun?

Röbi gab ihm einen ermunternden Blick und fragte: »Wer meldet sich noch?«

Balz, der Neuling in der Gesellschaft, war aber zu schüchtern, als daß er sich vorgedrängt hätte.

Dafür erhob sich Albert Ruchegger, der Vierschrötige, und klopfte mit der Faust leicht auf den Tisch: »Ich melde mich auch und habe zwischen zwei eigenen Pferden die Wahl!«

Seine grauen Augen trafen Balz mit einem halb verächtlichen Blick.

Röbi aber wandte sich leise und lächelnd an den Gesellen: »Nun, Bläser?«

Noch einen Herzschlag lang besann sich Balz. Dann schnellte er in der ganzen Länge, die ihm Gott gegeben hatte, empor und stammelte verlegen: »Wenn sich niemand als Reiter angeboten hätte, so hätte ich es getan.«

[110]

Seine Gestalt und seine Worte erregten die Heiterkeit der Gesellschaft.

Röbi aber sagte gelassen: »Also, Balz Bläser, ich nehme Euch auch auf die Liste.« Und um ihn vor dem lachenden Spott der anderen zu schützen: »Ich mache daraus aufmerksam, Bläser hat in Westfalen unter jenen Bauernburschen reiten gelernt, die nicht wie ihr erst vor dem Militärdienst ein wenig Proben, sondern mit ihren Tieren verwachsen sind. Er ist selbst auf Husarenpferden geritten!«

Röbi besaß die Fähigkeit, im Tone redlichen Ernstes zu sprechen, wenn er doch selber innerlich lachte.

»Wir haben also drei Anmeldungen.«

»Nein, es sind nur noch zwei,« rief Albert Ruchegger, »ich habe mich anders besonnen. Ich ziehe die meine zurück, ich bin bei dem Spiel lieber Zuschauer und möchte sehen, wie man in Westfalen reitet.«

Dabei gab er dem Gesellen wieder einen spöttischen Seitenblick.

»Ich auch!« rief Arnold Röthlisberger. »Bläser, Ihr seid ja leicht wie ein Schneider und werdet meinen Fuchsen nicht überlasten. Es ist mir ganz recht, wenn Ihr reitet, –mir liegt nicht viel dran.«

Balz staunte ihn an.

Er war vor Neugier wie auf die Folter gespannt und merkte das von Röbi, Ruchegger und Röthlisberger abgekartete Spiel nicht.

Die Verhandlungen drohten in eine breite Unterhaltung hinüberzulaufen, da klingelte Röbi und rief: »Zur Sache! –Wer verlangt das Wort?«

[111]

»Ich!« schnellte Röthlisberger empor. »Ich mag anderen auch etwas gönnen –und schlage Balz Bläser als Eierreiter vor.«

Beifall ertönte, und als Röbi rief: »Also –wer stimmt für Balz Bläser?« da flogen die Hände der Gesellschaft unter Scherzen bis auf einen Rest empor.

Die Widersacher Röbis schwiegen.

»Also, Balz Bläser, Ihr seid gewählt,« verkündigte ihm Röbi mit einem freundschaftlichen Lächeln. »Macht Eure Sache gut!«

Balz erschrak beinahe, daß der Abend die ersehnte Wendung genommen hatte.

»Ich danke –ich danke,« stotterte er mit rotem Kopf, ließ die Augen leuchten und achtete kaum auf die lustige Laune, die im größeren Teil der Runde ausgebrochen war, auch nicht, daß es stille Unzufriedene gab, die es unter der Würde der Jungmannschaft hielten, daß er, der fremde und abhängige Geselle, bei dem Fest eine Rolle spielen sollte.

Aus seinem süßen Taumel erwachte er erst, als Röbi sich die Parteien durch das Los scheiden und jeden aus einem Zinnbecken einen gefalteten Zettel nehmen ließ.

Nun waren die Zettel geöffnet.

»Die Partei des Werfers soll sich erheben!« befahl Röbi, und nach einer Weile: »Niedersitzen!-die Partei des Reiters steht auf!«

Die des erprobten Hanstöni und des gewandten Kübler rechneten heimlich sicher auf den Sieg, und die dem Balthasar Zugelosten kratzten sich still in den [112]Haaren; er aber erwiderte den mißtrauischen und zweifelnden Gesichtern mit einem mutigen und herausfordernden Strahl seiner braunen Augen und wandte sich an Röthlisberger: »Dürfte ich heute abend noch Euren Fuchsen sehen? Ich bin furchtbar neugierig auf das Tier!«

»Wenn's nicht zu spät wird, freilich!«

»Am Samstag vor Ostern ist noch einmal Versammlung,« erklärte Röbi. »Verlangt noch jemand das Wort? Nein! So, ich danke euch für euer Erscheinen, und wir wollen uns auf einen schönen Ostermontag, an dem wir durch unser Spiel Ehre einlegen, freuen!«

»Ja, mit einem solchen Reiter!« tönte eine Stimme aus dem Hintergrund.

Da ärgerte sich Balz.

Röbi aber fuhr unentwegt fort: »Wir rechnen auf den guten Willen und die Unterstützung aller, insbesondere auch darauf, daß jeder zu Anstand und Frieden sehe und daß keine Roheiten vorkommen. Wir wollen in Ehren fröhlich sein, damit es bei unseren Alten und in der gesamten Gegend heißt: Ja, die Haldenegger Jungmannschaft versteht es, ein schönes Fest zu veranstalten!«

Damit schloß er die Versammlung.

Ein paar mit der Wahl des Reiters Unzufriedene gingen rasch weg, die anderen aber rückten näher zusammen, tranken und speisten oder sangen sich volkstümliche Neckverse zu, häkelten die Finger ineinander und suchten sich gegenseitig über den Tisch zu ziehen [113]oder zeigten ihre Kraft im Gegeneinanderstoßen der Fäuste, bis die Adern auf den Handrücken hochsprangen.

Hanstöni forderte Balz auf, daß er am Samstag die Ziehharmonika mitbringe und nach der Sitzung der Gesellschaft ein paar Lieder vorspiele.

Das tat dem Gesellen wohl, und er versprach es.

Da fuhr aber Arnold Röthlisberger in die Unterhaltung der beiden hinein.

»Es ist bald zehn Uhr! Wenn Ihr noch in den Stall blicken und den Fuchs sehen wollt, Bläser, so ist es höchste Zeit. Die Rosse, die morgen wieder streng arbeiten müssen, haben die Ruhe nötig. Wenn der Vater über dem Besuch erwacht, gibt es sowieso ein Donnerwetter.«

Seine Mahnung gab fast allen den Anlaß zum Aufbruch.

Auch Röbi; doch war ihm noch nichts am Heimgehen gelegen, und er begleitete mit zwei oder drei anderen Röthlisberger und Balz durch das nur noch von spärlichen Lichtein erhellte Dorf nach der Fuhrhalterei an einer in die Wiesen verlaufenden Nebenstraße.

Im Laternenschein traten sie behutsam in den Stall, in dem acht Pferde der Ruhe pflegten und sich mit faulen Augen nach den Störenfrieden umsahen.

Röthlisberger ergriff den jungen, schönen Fuchs an der Halfter und führte das verwundert widerstrebende Tier aus dem Stall.

»Dort ist der Sattel!« wandte er sich an Balz. »Reitet gleich links in die Wiese hinein, sie dämpft den Hufschlag. Ich mag nicht, daß der Vater etwas merkt.«

[114]

Fast lautlos schirrten sie das Pferd, und jeder mußte sehen, daß es für Balz eine vertraute Hantierung war.

Gewandt und schnell saß er im Sattel, tätschelte das ausschlagende Tier, das sich rasch beruhigte und den sicheren Reiter spürte.

Wie ein Nachtgespenst galoppierte er in die Wiese hinein.

»Tatsächlich –der kann's,« urteilte Röthlisberger.

Während sie sich im Flüsterton unterhielten, erwarteten sie die Rückkehr Balthasars.

Da ging die Haustüre der Fuhrhalterei, schwere Schritte kamen –Vater Röthlisberger!

Sie waren doch nicht leise genug gewesen, der wegen seiner aufbrausenden Heftigkeit bekannte Alte hatte sie gehört. Der nur Halbbekleidete polterte sie mit rauher Stimme an: »He, ihr jungen Leute, was gibt es denn da? Seit wann bricht man zu nachtschlafender Zeit in einen Stall und holt mir nichts dir nichts ein Pferd heraus? He –he?«

Der Sohn legte sich ins Mittel: »Ich hab's noch zugegeben, wir proben nur fünf Minuten. Die Sitzung war nicht früher zu End'!«

»Du bist ein Kalb,« zürnte der Vater. Ein Weilchen dauerte der Wortwechsel.

Da kam Balz über die Wiese zurückgesprengt, hielt ahnungslos vor den anderen Burschen und fragte eitel: »Nun, kann ich reiten oder nicht?«

Der dicke, struppige Vater Röthlisberger lachte eine zornige Scholle auf, als er den seltsamen Reiter erblickte. »Himmelherrgottsakrament!« schrie er. »Den Fuchs in [115]den Stall! Da werden wir schon noch ein Wörtchen miteinander reden, ehe der Lange sich auf unser schönes Pferd setzen darf. Seid ihr alle Trottel geworden, ihr jungen Leute von Haldenegg?«

Der auf seine Reiterkünste stolze Balz war aus dem Sattel gestiegen und stand wie begossen vor dem schimpfenden Fuhrhalter.

Der Sohn Arnold führte das Tier in den Stall, die anderen baten etwas kleinmütig um Entschuldigung und wünschten Vater Röthlisberger höflich gute Nacht.

Dann säumten sie noch eine Weile auf der Dorfstraße und plauderten.

Balz war nach dem groben Empfang kläglich zumute, Röbi aber tröstete ihn: »Ich kenne den alten Röthlisberger, morgen läßt er vernünftig mit sich reden. Das besorge ich, und Ihr braucht keine Bangnis zu haben, daß Ihr den Fuchs nicht bekommt. Ich bürge Euch dafür!«

Balz staunte Röbi an, der es unternahm, den wilden Fuhrhalter zu zähmen. Das »Gute Nacht, Heu Heidegger« kam ihm fast verehrungsvoll von den Lippen.

In seinen Träumen schwang er sich auf den Fuchs und erlebte alle Wonnen des Ostermontagrittes im voraus, seine siegreiche Ankunft auf dem Festplatz, den Kranz aus der Hand der Fräulein Freihofer. Ihm träumte so glückselig wie einem Freier von der eben gewonnenen Braut.

8

[116]

Am anderen Tag erhielt Gertrud ein höfliches Schreiben der Jungmannschaft, die sie ersuchte, bei dem kommenden Osterspiel das Amt der Eierkönigin zu übernehmen und nach ihrem Belieben die Gespielinnen im Dorf dazu einzuladen. Aus dem ritterlichen Stil spürte sie die Urheberschaft Röbis. Der Schalk lief ihr über das Gesicht, als sie für die ihr erwiesene Ehre dankte und schrieb: »Sehr geehrter Herr Obmann«. »Lieber Röbi« wäre doch einfacher.

Schon war sie daran, die Liste der Mädchen, die sie mit Einladungen bedenken wollte, aufzustellen.

Da trat der Vater in die Stube, das Gesicht rot vor Zorn, die Stirnlocke aufgesträubt.

»Jetzt glaub' ich, weiß Gott, muß das Gerüst am Haus über Ostern und während des Eierspieles stehen bleiben!« polterte er grimmig. »Hildebrand, der Lotter, laßt sich kaum mehr blicken, und was Balz schafft, muß ich auch schier mit dem Vergrößerungsglas suchen, er ist –mir unbegreiflich –ein völliger Taugenichts geworden, geht herum und lacht wie ein Narr vor sich hin. Der Teufel soll Meister und Gesellen holen! –Jetzt aber steige ich nach Haldenegg hinunter und schleppe [117]Hildebrand, den ich schon bei seinen Karten finden weide, am Halskragen zur Arbeit.«

»Ich komme mit dir ins Dorf, Vater,« versetzte Gertrud, »ich will Gritli Geißmann doch mündlich zu dem Eierlesen bitten.«

Auf dem Weg rieten sie hin und her, warum wohl Balz den früheren schönen Eifer für die Arbeit verloren habe; bevor sie aber die Erklärung fanden, erreichten sie im Dorf die Runsbachbrücke und trennten sich.

Schon im Garten des Pfarrhauses traf Gertrud die Pfarrerin und bei ihr die Großmutter Röbis. Die beiden hatten wohl eben über Gritli gesprochen und empfingen den Besuch ziemlich verlegen. Irgend eine Spannung lag in der Luft. Die Miene der zarten und seinen Frau Pfarrer war sauersüß, aus der der alten Frau Heidegger sprach der Verdruß.

»Gritli ist am Montag ins Berner Oberland gefahren,« rückte jene endlich mit der Sprache heraus. »Der Herr Pfarrer, der heute abend zurückkehren wird, hat sie dort bei einem ehemaligen Studienfreund untergebracht, bei dem sie zur Kräftigung ihrer Gesundheit über den Sommer bleiben soll.«

»Ja gelt, Gertrud, du wirst bleich! Wer hat es auf dem Gewissen, daß die Gute nicht in der Heimat hat bleiben können?« brach nun der Zorn der Alten los, »und daß sie vor Weh und Tränen fast nicht in den Wagen zu steigen vermocht hat, der sie hinaus zur Bahn führte? –Doch nur Röbi und du!« In ihren tiefliegenden Augen sprühte der Haß.

Da legte sich die Pfarrerin ins Mittel und gab der [118]Überfallenen die Gelegenheit, sich in äußerer Ruhe zu verabschieden.

Als Gertrud nach dem ebenso kurzen wie verfehlten Besuch den Heimweg antrat, pochte ihr das Herz, daß sie ein paarmal auf der Straße stillstehen mußte.

Gritli, mit der sie jugendlang Freundin gewesen war, ohne ein Wort des Abschiedes aus der Heimat fort! –Das war doch ein qualvoller, schmerzender Vorwurf! –Und warum hatte Röbi, der gewiß um die Reise wußte, ihr nicht davon gesprochen? –War er wirklich der Leichtsinn, dem das Schicksal der treuen Kindheitsgefährtin vor lauter Sorge um das flüchtige Osterspiel gar nicht zu Gemüt ging? Ihr war Gritlis wegen die Eierlese schon halb verdorben.

Als sie daheim angelangt war, raffte sie sich doch zusammen und schrieb mechanisch die Einladungen an die übrigen Mädchen des Dorfes.

Ungewollt warf sie einen Blick durchs Fenster auf die Straße. Dort keuchte im Schweiße seines gedunsenen Angesichts Meister Hildebrand heran, mit ihm Balz und zwei fremde Gesellen; hinter ihnen ging gemächlicher der Vater, dessen Besuch im Dorf also besseren Erfolg gehabt hatte als der ihre.

Nach einer Weile trat er in die Stube: »Ja, mit dem Schreiner hätte ich's im Blei, er hat sich auf meine Fürsprache hin bei Zimmermeister Suterli zwei Arbeiter leihen können. Nun aber, Gertrud, eine ganz verrückte Neuigkeit –rate einmal, wer soll Eierreiter werden?«

Durch seine ehernen Züge zitterte ein heimliches Wettern.

[119]

»Doch wohl Röthlisberger,« erwiderte sie.

»Nein, –Balz!« lachte der Freihöfler zornig auf. »Damm hat er den Verstand verloren. Vater Röthlisberger, den ich beim Langholzführen traf, hat mir die Abmachung verraten. Röbi hat heute mit dem Fuhrhalter noch eigens eine Unterredung gehabt, daß er dem Gesellen das Militärpferd überlasse. –Ich bin aber der gleichen Meinung wie Röthlisberger, es sei eine Schande für die Jungmannschaft, wenn ein fremder Geselle der Spielleiter sein muß.«

Gertrud ließ vor Überraschung die Feder fallen, sie rief mit beklommener Stimme: »Nein, das darf nicht sein, Vater! So sprich doch mit Balz.«

»Was hab' ich von dem eitlen Kerl, der so windig ist wie sein Meister!« stieß der Freihöfler in herzlichem Ärger hervor. »Aber wo ist Röbi? –Der Obmann, der zu diesem Stück die Hand bietet!«

»Er ist wegen der Vorbereitungen für das Spiel über Land gegangen,« erklärte ihm Gertrud kleinlaut.

Da erhob sich der Freihöfler: »Ich mag nicht bei den Affen Hildebrands bleiben, ich will sehen, wie Wälti und die Taglöhner die Drainage in der Rohrwiese vorwärtsbringen. –Wer alt wird, erlebt viel, sagt das Sprichwort. Aber ein Mensch wie Balz Eierreiter in Haldenegg! Das ist noch nicht erlebt worden.« In tiefem Mißmut ging er.

Hinter ihm seufzte Gertrud. Wo hatte Röbi den Verstand? –Sie ahnte gleich, daß in der Wahl Balthasars zum Eierreiter nichts als ein übermütiges Spiel mit seiner Leichtgläubigkeit und Eitelkeit steckte. Sie [120]wollte den üblen Scherz von sich aus verhindern und ihm selber die Augen öffnen.

Als sie den ersten Zorn über die Nachricht des Vaters in sich niedergekämpft hatte, ging sie hinaus zu Meister Hildebrand und bat ihn, daß er ihr einen der Gesellen mitgebe, am liebsten Balz, den sie kenne, damit er ihr helfe, einen schweren Korb auf den Dachboden schaffen.

In seiner Verliebtheit an allen Gliedern zitternd, folgte ihr der Geselle, und sie führte ihn in die Stube.

»Der Korb war nur eine Ausrede,« sagte sie, »ich rief Euch, weil ich mit Euch unter vier Augen ernst zu sprechen habe.« In ihrem Ton lag es wie mütterliche Besorgnis.

Da meinte Balz in der Überspannung seiner Seele nichts anderes, als daß ihm Fräulein Freihofer jetzt ihre Liebe gestehen wolle. Seine Augen wurden groß und glänzend und flammten wie im Fieber.

»Wie ich mit Kummer höre,« zitterte ihre Stimme, »wollt Ihr am Ostermontag den Eierreiter spielen. –Hat man Euch zu dieser Rolle überredet –oder habt Ihr Euch freiwillig dafür gemeldet?«

»Freiwillig und Euch zu Ehren,« rief Balz mit einer vor Leidenschaft halb erstickten Stimme. »Macht Euch keinen Kummer um mich, ich reite sicher! Aber wie selig bin ich, daß Euer Mund von Kummer spricht –von Kummer meinetwegen!«

»Ihr mißversteht mich!« zürnte Gertrud, und eine Blutwelle stieg ihr in die Wangen.

Der Verzückte hörte sie nicht.

[121]

»O, Fräulein Freihofer,« rief er wie ein Berauschter, »redet doch endlich ein Wort von Eurer großen Liebe zu mir!« -

Gertrud hatte vor Überraschung noch keine Antwort auf sein überspanntes Reden gefunden, da glitt er vom Stuhl auf den Boden, kniete, die langen Arme und Hände wie ein Betender zu ihr erhoben, vor sie hin und flehte: »Fräulein Freihofer, laßt den Engel der Liebe aus dem Himmel Eurer Stirne zu mir herniedersteigen!«

»Kein Wort mehr, Hansnarr, steht auf –oder -!« In bebendem Zorn hob sie die Hand unbewußt zu einem Schlag auf seine Wange.

»Schlagt nur zu!« rief der Liebestolle. »Es tut von Eurer Hand nicht weh, und ich weiß es: Ihr liebt mich ja doch! -«

Da verlor Gertrud die Fassung. Ohne daß sie selber klar darüber war, fuhr ihr die Hand auf die Backe Balthasars hernieder. Sie bereute den Schlag im gleichen Augenblick.

In der Türe aber stand als Zeuge dieses komischen Schauspiels Röbi und brach in ein helles Gelächter aus.

Sein Erscheinen setzte der Liebeswerbung des Gesellen ein Ende. Umständlich rappelte sich Balz mit den langen Gliedern empor und suchte in grenzenloser Verwirrung an Röbi vorbei den Weg ins Freie.

Der aber drängte sich in fröhlicher Laune zu Gertrud; indem er sie umarmen wollte, lachte er: »Sie leben immer noch, die Heldinnen aus der alten Zeit!«

Sie schüttelte ihn zornig von sich.

»Über dich, Röbi, bin ich grad' so empört wie über [122]Balz –nein, noch mehr!« schalt sie, und betroffen spürte er ihren bitteren Ernst.

»Was ist denn geschehen?«

»Ich begreife nicht, wie ihr –ich meine vor allem dich –Balz zum Eierreiter berufen könnt!« grollte sie verächtlich.

»Woher hast du die Neuigkeit?«

»Das wird dir vielleicht der Vater sagen!«

Röbi warf sich in großer Verlegenheit auf einen Stuhl. »Ich bin vom vielen Laufen todmüde,« versetzte er. »Warum wir Balz gewählt haben? –Weil er um die Aufnahme in die Jungmannschaft gebeten hat, weil er sich selber als Reiter meldete, woran wohl der Palmsonntagsritt mit eurem Braunen nicht unschuldig ist, und weil es in allen Dörfern ein Mordsspaß wird, wenn er wie der auferstandene Ritter von der traurigen Gestalt und doch fix auf dem Fuchsen Röthlisbergers einhersaust. Da wird mehr gelacht werden als sonst in einem Jahr, und die Feste sind doch zur Erheiterung der Menschen da.«

Gertrud hatte sich gefaßt, der Ärger aber brannte auf ihren Wangen.

»Besser hättest du dich nicht verraten können, Röbi,« erwiderte sie ihm bitter. »Also Balz ist euch in seiner leiblichen und seelischen Verkümmerung ein Spielzeug, das ihr für den Spott der Menschen eine Stunde braucht und dann wegwerft! Das begreife ich zur Not an den Haldenegger Bauern- und Fuhrhaltersöhnen, aber an dir nicht, du gebildet sein wollender Obmann und Student des Rechts.«

[123]

Ihr Hohn weckte den seinen. » Obwohl du dem langen Balz eine Ohrfeige gegeben hast,« lachte er, »scheint er doch in deinem Herzen einen warmen Winkel zu besitzen.«

»Ja,« erwiderte sie ihm mit blitzenden Augen und kampfbereit, »ich liebe ihn wenigstens so sehr, daß ich ihm wünschte, sein glücklicher Nebenbuhler wäre vornehm genug, ihn vor einer offenbaren Lächerlichkeit zu warnen und zu behüten.«

Der Hieb saß. Beschämt suchte Röbi das Gespräch abzulenken: »Ich habe einen Durst, daß mir die Zunge am Gaumen klebt. Darf ich dich um einen Trunk Apfelsaft bitten?«

Sie stieg in den Keller und brachte ihm den Perlenden Most.

Er trank begierig. Als er das Glas absetzte, sagte er dankbar: »Gertrud, du wirst einmal eine ausgezeichnete Frau. Du bist sogar lieb, wenn du zornig bist.«

In zärtlicher Aufwallung versuchte er sie zu küssen.

Sie aber wehrte ihn ab. »Nein, Röbi, erst wenn du mir Bericht bringen kannst, daß die Wahl Balthasars rückgängig gemacht worden ist. Sonst lege ich auch das kaum übernommene Amt der Eierkönigin nieder. Ich bin gewiß nicht gern dein Quälgeist, aber was hat man für Sorgen mit dir, du großer Junge! Da ist auch Gritli Geißmann! Weißt du, daß sie ins Berner Oberland verreist ist –deinet- und meinetwegen?«

»Jetzt kommt auch das noch!« ächzte Röbi unwirsch. »Ich wollte mich bei dir ein Stündchen von den vielen Laufereien ausruhen, nun soll ich mich verantworten und wieder verantworten. Freilich weiß ich um die [124]Reise. Ich wünsche, daß Gritli sich dort in den Bergen bald mit einem Führer oder Gemsjäger verlobt und ihn heiratet, so haben wir unsere Ruhe.«

»Wie herzlos sprichst du! Mir ist, Röbi, dir sei es im Leben zu gut gegangen, sonst würdest du tiefer mit den anderen fühlen und denken.« Die Sorge beschattete ihre Stirn.

Röbi zog die Uhr und sprang empor. »Herrgott, ich sollte ja wegen Spielverabredungen schon wieder bei Hanstöni sein!«

In diesem Augenblick aber kam der Freihöfler von der Arbeitsschau aus der Rohrwiese zurück. Es war kein guter Blick, den er seinem künftigen Schwiegersohn gab. Um so mehr spürte Röbi die Pflicht, zu bleiben und noch einmal das feurige Eisen in der Schmiede zu sein.

Vor dem Vater verteidigte er die Wahl Balthasars glücklicher als vor Gertrud.

»Ich habe die Schwierigkeiten, einen Reiter zu gewinnen, gar nicht gekannt, als ich vor der Jungmannschaft das Eierlesen in Anregung brachte,« erklärte er, »und ich schäme mich ja selber, daß wir uns mit Balz behelfen sollen. Die Auswahl unter den Burschen ist aber klein. Was für Bauernsöhne in Haldenegg können reiten? Seit das Zweirad aufgekommen ist, nur noch diejenigen, die bei der Kavallerie dienen. Das sind nun bloß Röthlisberger und Ruchegger. Auf den ersteren haben wir gerechnet, aber nun setzt er den dicken Kopf. Was tun? Ihr kennt ja beide die Stierschädel der Fuhrhaltersfamilie.«

[125]

»Ihr habt ihm nur zu wenig Ehre angetan,« warf Gertrud ein.

»Zu viel!« schnellte Röbi auf. »Denn damit haben wir den anderen verärgert, den Ruchegger. So blieb uns nur Balz übrig, der sich aus Eitelkeit oder weiß Gott warum als Mitglied der Jungmannschaft und als Reiter angemeldet hat.«

»Vater, wenn du selber mit den beiden Röthlisberger sprächest,« wandte sich Gertrud dringend an den Freihöfler.

Der aber schüttelte zur Erleichterung Röbis, der wohl spürte, in was für eine Sackgasse er geraten war, den schweren Kopf: »Ich will die Jungmannschaft doch nicht so hinstellen, als ob sie nicht aus eigener Kraft ein Festchen veranstalten könnte. Im übrigen hat ja Röbi Recht, wir haben keine Reiter mehr. Während in meiner Jugend ein Ausritt das Sonntagsvergnügen aller Bauernsöhne war, schießen sie jetzt Scheiben, turnen oder fahren Rad. Nur auf ein Pferd setzt sich keiner mehr, –das sind die veränderten Zeiten. Und wenn mir die Wahl des langen Balz auch gar nicht gefällt, so kann ich sie jetzt doch zur Not begreifen. Den Ruchegger sähe ich auch nicht gern auf dem Hof, mit dem Alten stehe ich ja seit dreißig Jahren schief.«

Gertrud mißfiel es, wie der anfängliche Zorn des Vaters in eine halbe Billigung der Pläne Röbis umschwenkte.

»Vielleicht wäre es das gescheiteste, wir ließen das Fest fallen,« versetzte Röbi, doch ohne inneren Ernst. »Ich will mit Hanstöni beraten. Mir selber liegt ja die Wahl des langen Balz auch wie ein Baumstamm in der Quere.«

[126]

Damit erhob er sich.

Gertrud geleitete ihn an die Haustüre und ergriff leidenschaftlich seine Hand. »Röbi, mach die törichte Anbändelei rückgängig!« bat sie mit einem heißen Strahl der blauen Augen.

»Dir zulieb,« erwiderte er mit Herzlichkeit, »dir, du prächtiges Menschenkind!«

Und diesmal kamen ihm die Worte aus dem Grund der Seele. In seiner Abrede mit Balz, die ihn nun zu so mancher niedrigen Ausrede zwang, witterte er plötzlich selber eine Gefahr und verstand es nicht mehr, wie er den einfältigen Gesellen in die Jungmannschaft hatte herbeiziehen können. Wie ein Mensch mit doppelter Seele kam er sich vor, einer lichten, die ihn in alle Höhen des Denkens riß, und einer dunklen, die ihn stets in verfängliche Abenteuer lockte. Und wenn die lieben Menschen auf dem Freihof durch irgendeinen Zufall erfuhren, mit welchen Mitteln der Überredung er Balz in die Rolle des Reiters hineingezwängt hatte, so sahen sie in den Winkel seines Wesens, wo es am geringsten war. Was dann? –Stärker, stets stärker schlug ihm das Gewissen, im Eilschritt, daß der Schweiß auf seiner Stirne peilte, lief er ins Dorf hinab und nicht zu Hanstöni, sondern in die Fuhrhalterei Röthlisberger.

Er fand den Sohn im Stall, und in der Türe verhandelte er mit ihm, wie der unbedachten Wahl eine andere Wendung zu geben sei. »Es bleibt nichts übrig, als daß du reitest, Arnold!«

Er hatte aber nicht umsonst von den Stierschädeln der Fuhrhalterfamilie gesprochen. An den Pfosten [127]gelehnt, die Arme über die Brust geschlagen, hielt ihm der junge Röthlisberger in unheimlicher Ruhe die knollige Stirn entgegen, und in seinem eigensinnigen Gesicht stand der gelassene Hohn über alles, was Röbi in seiner Verlegenheit vorbrachte. »Seit wann gehörst du denn zu denen, die jeden halben Tag ihre Ansichten ändern?« fragte er kalt. »Warst du nicht erst heute bei meinem Vater, um ihn zu bereden, daß er Balz den Fuchsen leihe? –Selbstverständlich wäre ich für das Osterspiel geritten, wenn ihr mir zuerst und allein die Ehre einer Anfrage gegeben hättet. Du hast es aber im voraus anders gewollt, und ich will hinterher nicht der Gutgenug sein. Was abgemacht ist, bleibt abgemacht. Ich überlasse dem Gesellen für die paar Stunden das Pferd und kümmere mich im übrigen nur wie ein Zuschauer um das Spiel.«

Umsonst bot Röbi seine Beredsamkeit noch einmal gegen ihn auf. Röthlisberger zuckte die Schultern, gab stets knappere Antwort und sagte zuletzt: »Ich kann mich nicht länger von meinen Stallarbeiten abhalten lassen –du weißt ja meinen Bescheid!«

In stiller Wut wandte sich Röbi von ihm weg, und sein nächster Gedanke war, bei Ruchegger vorzusprechen, aber er ließ es. War der einfältige Geselle Balz nicht ein Edelmann gegen die beiden Holzböcke? –Er ging auch nicht zu Hanstöni, er lief auf den Freihof und trat atemlos, verwirrt und zerschlagen in die Stube.

»Nun entscheidet Ihr, ob das Eierlesen stattfinden soll oder nicht,« keuchte er. »Ich finde keinen anderen Reiter als Balz.«

9

[128]

Der Karfreitag ging, wie es üblich ist, als hoher Festtag mit Kirchenbesuch und in strenger Stille vorüber, nur das erste warme Frühlingsgewitter machte am Himmel einigen Lärm, woraus ängstliche Gemüter schlössen, Ostern und das Eierspiel würden verregnen.

Der Samstag war aber schon wieder ein Tag mit reinem klaren Himmel und Sonne in den Lüften.

Der Freihöfler hatte die Genugtuung, daß die Hauserneuerung durch Hildebrand zu Ende gekommen war.

Ungewohntes Leben herrschte am Nachmittag auf dem Hof. Wahrend der Meister mit den Gesellen die Baugerüste abbrach, traf ein Halbdutzend junger Leute die Vorbereitungen für das Spiel. Sie mähten auf der Festwiese das noch ganz junge Gras, steckten die langgestreckte Bahn ab, auf welcher der Werfer und der Wannenhalter ihre Aufgabe zu erledigen hatten, umgaben sie mit Pflöcken und Seilen, schlugen einen erhöhten Bretterboden für die Musik auf, errichteten zu beiden Seiten der Bahn Reihen von Sitzbänken für die Eingeladenen, umrahmten den weitläufigen Platz, der hinter den Bänken noch für viele Hunderte von Zuschauern Stehraum bot, mit einem Viereck junger [129]Tannen und rüsteten hinter der Scheune ein Lager für die Spielenden.

Da kam auch Röbi, um nach dem Stand der Arbeiten zu sehen. Er zog Balz auf die Seite und unterhielt sich mit ihm.

»Was habt Ihr denn für einen Handel mit Fräulein Freihofer gehabt?«

Die Frage brachte Balz in große Verlegenheit, die Schamröte stieg ihm ins Gesicht.

»Ich glaube nicht mehr an die Liebe des Fräulein Freihofer, von der Ihr mir gesprochen habt,« gestand er kleinlaut, »und mag deswegen auch nicht mehr reiten.«

Nun war Röbi der Betroffene.

Wenn sich doch nur Röthlisberger hätte finden lassen, so wäre er jetzt wunderbar aus der Klemme heraus!

Er besann sich –er mußte sich an Balz halten.

»Nein, zurücktreten dürft Ihr nicht. Denkt, in was für eine Verlegenheit Ihr mich stürztet! Wenn Ihr nicht aus Liebe zu Fräulein Freihofer reiten wollt, so tut es aus Freundschaft zu mir! –Ich bitte Euch, Balz!«

Ein warmer Herzenston ging aus seiner Stimme.

Die Züge Balthasars hellten sich auf. Das Wort »Freundschaft« aus dem Mund des Obmannes der Burschen von Haldenegg hatte für ihn einen verführerischen Klang, dem er nicht zu widerstehen vermochte.

»Gut, dann reite ich für Euch!«

Röbi reichte ihm die Hand und schüttelte sie kräftig. »Ich danke Euch –wir wollen gute Freunde sein. Und noch eine Berichtigung, Balz! –Wenn ich mich [130]recht erinnere, so habe ich mich Euch als Neffe des Freihöflers vorgestellt. Das stimmt nun nicht ganz, obgleich es ungefähr die Gefühle eines Neffen find, die ich für den Friedensrichter hege. Er war aber bloß mein Vormund und ist kein Verwandter zu mir.«

Balz schaute ihn überrascht an.

»Und was nun Fräulein Freihofer betrifft,« wandte Röbi das Wort, »so will ich zu ihr recht viel Gutes über Euch sprechen, und Ihr könnt, ob Ihr im Spiel siegt oder unterliegt, sicher sein, daß sie Euch am Ostermontag abend ein paarmal zum Tanz auffordert, –im Herzen ist sie Euch doch wohlgesinnt.«

Das gefiel nun Balz wieder.

Aus den offenen Fenstern des Freihofes drang der Duft frischgebackener Kuchen, und auf der Galerie des Hauses, von der man wie von einem Aussichtsbalkon auf die Spielbahn und die Festwiese herniederblickte, hantierte Gertrud mit ihren Gespielinnen Liseli Suter und Röseli Zumsteg. Sie schmückten die Brustwehr mit grünen Reisern und steckten darein die ersten blühenden Narzissen, wachsweiße und goldgelbe.

Obgleich Balz noch als Reiter ausersehen war, hatte sich Gertrud nun doch in die Rolle der Eierkönigin gefügt, Röbi zulieb.

Als die Vieruhrglocken der drei Dörfer im Tale ihre vollen Klänge entfalteten und Ostern ansagten, lag die Vorfreude des Festes auf allen Gesichtern, und weil der Freihöfler verfügt hatte, daß um fünf Uhr auf dem Hof Feierabend sein solle, werkten die Leute noch um so eifriger.

[131]

Schon war Hildebrand mit den Aufräumungsarbeiten zu Ende gekommen und verlud Stangen und Werkzeuge auf einen Wagen.

Der Freihöfler trat in die Tür und rief ihn zur Abrechnung in die Stube, und als er mit dem Meister fertig geworden war, winkte er auch Balz ins Haus.

Mit glühendem Kopf kam der Geselle.

Der Freihöfler sagte ihm ein paar freundliche Worte über seine Tüchtigkeit, bei der er das Gesamtwerk ansehen und vergessen wolle, daß sein Fleiß in den letzten Tagen unbegreiflich nachgelassen habe. Dabei reichte er ihm ein stattliches Trinkgeld und wünschte ihm Glück ins fernere Leben.

Balz, dem der Abschied vom Freihof den Kopf verwirrte, wollte das Geld nicht annehmen. »Ich habe ja bei Euch sonst so viel Güte genossen, daß ich immer daran denken muß.«

»Wir würden Euch auch in guter Erinnerung behalten, wenn Ihr nur nicht zuletzt noch die Torheit begangen hättet, Euch als Eierreiter anzumelden. Damit habt Ihr nur Verwirrung unter die Bauernburschen gebracht, und sie lachen doch heimlich über Euch.«

»Ich wollte ja auch nicht für die Burschen, sondern Eurer hochzuverehrenden Tochter zur Freude reiten,« stotterte Balz in großer Verlegenheit.

»Was sagt Ihr? –Meiner Tochter zur Freude?« Der Freihöfler wurde wild. »Es ist gut, daß ein solcher Narr vom Hof kommt! Da nehmt Euer Trinkgeld! Fünf Franken sind für die Schatulle, die Ihr der [132]Tochter geschenkt habt. Nun aber laßt ihren Namen aus dem Mund!«

»Nein, für die Schatulle will ich kein Geld!« Balz schlenkerte abweisend die Arme.

»Nehmt –und geht!« befahl ihm der Freihöfler streng.

Zitternd nahm Balz das Geld und verließ die Stube.

So stand er in Gefahr, wegen seiner törichten Liebe recht übel vom Freihof zu kommen, der ihm vierzehn Tage lang eine schwärmerisch geliebte Welt gewesen war. Fräulein Freihofer hatte ihm eine Ohrfeige gegeben und ihr Vater ihn auch grob angefahren. Und die Schatulle hatte er sich müssen mit Geld entlohnen lassen. Nein, die Maililie war nicht für ihn. Die war, das hatte er jetzt gemerkt, für Herrn Robert Heidegger. Nun ja –er wäre auch schon unsagbar glücklich gewesen, wenn sie ihm zum Abschied einen ihrer sonnigen Blicke gegeben hätte. Er aber war wieder der Verstoßene, wie schon oft im Leben!

Das wühlte in seiner Seele, er ließ den Kopf hängen und nahm am Vesperbrot, das Vree für Meister und Gesellen herausgebracht hatte, nicht teil.

Von der geschmückten Galerie schaute Gertrud in den Abend.

Als sie Balz mit verschränkten Armen abseits der andern wie einen einsamen, gottverlassenen Menschen stehen sah, faßte sie das Mitleid mit ihm.

Sie lief hinunter und zu ihm hinaus.

»Guten Abend, Balz! Da Ihr nicht eßt und [133]trinkt, könntet Ihr mit mir ein paar Schritte durch den Baumgarten gehen. Es ist ja der letzte Abend, an dem Ihr auf dem Freihof seid, und ich möchte noch einmal versuchen, ob es nicht möglich ist, mit Euch ein vernünftiges Wort zu sprechen. Mir tut die Ohrfeige, die ich Euch gegeben habe, herzlich leid. Sie kam mir wie von selber in die Hand gefahren, und zurücknehmen kann ich sie nicht, ich bitte Euch aber um Verzeihung!«

»O Fräulein Freihofer! Wenn Ihr so lieb zu mir redet, dürft Ihr mir noch eine geben!«

»Balz, jetzt schwatzt nicht wieder wie ein Hansnarr. Nehmt Euch zusammen!«

In ihrem Ton klang etwas mütterlich Sorgendes.

»Und was ist das für eine überspannte Redensart, daß Ihr mir zu Ehren reiten wollt? Wenn es Euch bloß um ein Tänzlein im Sternen zu tun ist, so braucht Ihr nicht erst zu reiten, sondern Ihr bittet mich an diesem Abend recht hübsch, und ich tanze mit Euch! Ein-, zwei-, dreimal!«

»O Fräulein Freihofer!« Die Wonne übermannte ihn schier.

»Ich habe noch nie einem achtbaren Burschen einen Tanz abgeschlagen. –Es wäre mir für Euch selber jetzt noch lieber, Ihr rittet nicht, Balz.«

»Ich muß aber aus Freundschaft für Herrn Heidegger reiten,« stotterte er. »Ich habe für ihn eine große Hochachtung, wenn er mir schon den Bären aufgebunden hat, er sei Euer Vetter.«

»Hat er das getan?«

[134]

Gertrud stieg eine Zornflamme ins Gesicht.

Balz merkte, daß er etwas verraten hatte, was er gescheiter für sich behalten hätte, und bei der Glut auf ihren Wangen wurde ihm der Verdacht, der ihn seit einer Weile quälte, zur Gewißheit.

»Fräulein Freihofer, ich glaube, Ihr und Herr Heidegger seid verlobt!« stotterte er.

Da wurde sie noch röter und lachte hell auf: »Wir wollen wieder zurückgehen, Balz! Ich habe nicht gewußt, daß Ihr so scharfe Augen im Kopf habt!«

Sie reichte ihm freimütig die Hand: »Auf schöne Ostern! Und verlobt oder nicht verlobt, ich mache am Montag mit Euch ein paar Runden.«

So kam Balz doch gut vom Freihof, und als Meister Hildebrand mit den Seinen Abzug hielt, war er voll lächelnden Stolzes und hielt in Gedanken schon den Arm um die schwellende Hüfte des Fräulein Freihofer.

Nach einem Vespertrunk folgten die Burschen, welche die Vorkehrungen für das Eierfest getroffen hatten, dem Beispiel der Handwerksleute und zogen abwärts dem Dorfe zu.

Noch beim Sonnenschein lag der Hof in der Ruhe und dem Frieden des Ostervorabends, den sich der Freihöfler gewünscht hatte, und er machte einen Gang um das Haus, das in seiner Erneuerung wie ein Sinnbild des Wohlstandes und Glücks ins Tal schaute.

Drüben am plätschernden Brunnen vor der Scheune wusch, striegelte und kämmte Wälti den Braunen, und unter dem weit vorspringenden Dach stand das Bernerwägelchen bereit.

Der Freihöfler setzte sich auf die Bank vor dem Hause und dachte an den morgigen Verwandtenbesuch.

Da gesellten sich Röbi und Gertrud, welche die Arbeiten der Jungmannschaft besichtigt hatten, zu ihm.

»Ich muß schon wieder gehen,« versetzte Röbi, »wir haben heute die letzten Beratungen über das Spiel. –Ich bin von den Vorbereitungen ganz erschöpft.«

»Und was wirst du morgen treiben, wenn der« Vater und ich an den See hinabführen?« fragte Gertrud.

»Schlafen –nein, morgen werfe ich alle Sorgen um den Montag hinter mich und will einsam durch die freie Natur gehen. Da hat man stets die schönsten Gedanken. In den stillen Tagen der nächsten Woche möchte ich auch einmal mit dir, Trudi, in die Täler wandern und Frühling feiern.«

»Ja –da bin ich schon dabei!« Sie gab ihm, als er aufbrach, noch ein Stück Weges das Geleite und lachte: »Vetter, wenn du morgen abend zu mir kommst, so habe ich für dich etliche Ostereier bereit!«

»Vetter –was soll das, Trudi?«

»Das verrate ich dir heute nicht, –also gute Ostern, Röbi!«

Er küßte sie selig auf den mutwilligen Mund, und schon nahe am Dorf schickte er ihr mit Hutschwenken noch einmal seine Grüße zu.

Sie ging zum Vater zurück. »Nun können wir uns doch an der Vollendung der Hausausbesserung freuen und Ostern in Frieden antreten!«

»Die Osterfreude finde ich aber doch nicht recht. [136]Wie ist die Welt unvollkommen! Ich habe mich in Balz getäuscht. Im Anfang habe ich so viel Gutes an dem Menschen entdeckt, daß ich an ihm einen Gotteslohn hätte verdienen mögen. Wenn er nicht so närrisch in dich verliebt wäre, hätte ich ihm vielleicht eine Kammer im Haus und die Mittel angeboten, mit denen er sich eine eigene kleine Werkstätte hätte einrichten können. –Nun ist er aber im Grund nichts weiter als ein eitler und unverschämter Kauz!«

»Er ist ein großes Kind,« begütigte ihn Gertrud. »Ich mag ihn mit all seinen Fehlern und glaube, ich käme jetzt erst recht gut mit ihm aus, denn er hat gemerkt, daß ich meine Seide mit Röbi spinne. –Wie müd' sah Röbi aus!«

»Wegen des bißchens Osterspiel? Nein, er hockt stets zu lang im Sternen! Hoffentlich kommt es nach dem Eierlesen wieder besser!« brummte der Freihofer.

Gertrud suchte eine Ablenkung. »Ich muß so viel an Gritli Geißmann denken. Wie sie wohl die Ostern in ihrem Bergdorf verbringt?«

Der Freihöfler nahm den Gedanken auf: »Ja, ihr Vater hat auch schwer eine freudige Osterpredigt schreiben! –Die Pfarrersfamilie hoffte so herzlich, daß sich Gritli auf diesen Tag verloben werde. –Nun ist diese Hoffnung zerronnen!«

»Vater –das ist mir eine Überraschung! –Gritli Geißmann sich verloben?« Die Neugier brannte auf den Wangen Gertruds. »Mit wem?«

Der Freihöfler wurde etwas verlegen. »Eigentlich ist's ein Geheimnis! Der Pfarrer hat es mir bei [137]meinem letzten Besuch verraten, am Mittwoch abend, wie er aus dem Berner Oberland kam, und wohl nur, weil er mit seinen Vaterschmerzen nicht wußte, wo ein und aus. Du kennst wenigstens vom Sehen den jungen Pfarrer Alois Burgener von Büchlisberg.«

»Den Blondling mit dem frischen Gesicht –ja!«

»Er kam vor zwei Jahren in die damals verfahrene und streitende Gemeinde, er hat ihr den Frieden gebracht, jedermann drüben spricht mit Hochschätzung von ihm, ebenso tun es seine Amtsbrüder in der Gegend, die seine lebensvolle geistige Kraft aus den Kapitelversammlungen kennen. Pfarrer Geißmann hat in ihm einen jungen Freund gefunden. Nun hat Burgener schon eine Weile still um Gritli geworben, endlich vorige Woche offen und klar um ihre Hand angehalten. Sie bat um eine Bedenkzeit. Schon schien es, daß sie seinem Antrag entgegenkommen wolle, man war im Haldenegger Pfarrhaus in freudiger Erwartung und Spannung. Da sah sie am Palmsonntag vor der Kirche Röbi –nun, du warst ja dabei. Und was hat die Törin getan? In einem Brief schlug sie die Hand Burgeners aus, sie trage einen anderen im Herzen! Denke dir das Leid Geißmanns! So das Glück mit Füßen treten! Und wer hat dabei wieder die böse Rolle gespielt? Röbis Großmutter, die Alte, die dem Mädchen unerschütterlich den Wahn einimpft, er finde den Weg zu ihr zurück. Um Gritli aus dem Bann des unglückseligen Weibes zu ziehen, beschloß Geißmann ihre Unterbringung im Berner Oberland und verbindet wohl damit die Hoffnung, daß Burgener [138]dort seine Sommerferien verlebe und die beiden doch noch ein Paar werden!«

»Geb's Gott!« versetzte Gertrud nach einer Weile aus tiefer Träumerei. Da winkte ja die Erlösung aus einem großen Schmerz! »Ich freue mich nun doch auf Ostern!«

Die Nachricht wälzte einen Alp von ihrer Seele. Es war also doch nicht richtig, daß Gritli bloß Röbis und ihretwegen aus der Heimat gegangen war, wie die Alte behauptet hatte.

»Und ich habe auch meine Beruhigung,« sagte der Freihöfler. »Unsere Brunnenwasserleitung ist wieder in Ordnung gebracht. Das ist kein Kleines, Gertrud. Denke dir, wir hätten im Dorf einen Brandausbruch gehabt! Die Furcht vor unserem Wassermangel hat mich manchmal in der Nacht geweckt. Jetzt will ich die Stunden Schlaf nachholen.«

Er erhob sich und machte wie jeden Abend noch einen Gang durch Scheune und Stall.

Aus den Gründen stieg die Osternacht und versprach mit ihren Sternen einen hellen Tag.

10

[139]

Wohl hatte sich Röbi über einige Glieder der Jungmannschaft geärgert, vor allem über den bockigen Arnold Röthlisberger, aber nun bäumte sich sein Stolz, den Widerspenstigen zum Trotz für eine schöne Durchführung des Osterspiels zu sorgen.

Müde und abgespannt von den Gängen, Verhandlungen, Besprechungen und Verdrießlichkeiten, die mit den Vorbereitungen für das Spiel verbunden waren, ging er in den Sternen und leitete dort die letzte Sitzung. Nein, er war wirklich nicht munter! Solange er selber sprach, ging es ihm leidlich; wenn er aber die Berichte anderer anhören sollte, drohten ihm die Lider zuzufallen und die Gedanken davonzulaufen.

Die Burschen spürten es.

In einem Stündchen führte er die Verhandlungen zu Ende. Da es Ostervorabend war, entfernten sich schon jetzt einige Burschen.

»Balz Bläser –Musik!« rief Hanstöni. »So hört das Fortlaufen auf!«

Balz nahm die großgebaute Ziehharmonika, die wohl zu den feinsten Instrumenten ihrer Art zählte, aus Tuch und Schutzkasten, schlug Knie über Knie, liebkoste das Instrument mit zärtlichem Blick und ließ gleich [140]zum Beginn des Spiels einige der hellen Silberglocken und Glöckchen anschlagen, mit denen es besetzt war.

Der Wunsch des Sennen ging in Erfüllung. Etliche, die schon zur Heimkehr aufgestanden waren, setzten sich wieder.

Während manche der Burschen in bäuerlicher Behäbigkeit tranken und speisten, spielte Balz, anfänglich mit größeren Pausen, auf seinem Instrument Lied um Lied, berauschte sich an den eigenen Melodien, geriet stets stärker ins Feuer und überschüttete die erstaunten Hörer in buntem Wechsel von Lustigem und Traurigem, Schalkhaftem und Feierlichem, Aufjauchzendem und Schwermütigem mit dem Regen seiner Töne. Sie lauschten bald auf ihnen unbekannte fremde Klänge, bald fielen sie mit ihren Stimmen in ein ihnen geläufiges Liebes- oder Wanderlied ein.

Der unaufmerksamste Zuhörer war Röbi.

Schlaff saß er in seinem Obmannsstuhl, hatte die Arme breit vor sich hingelegt, blickte mit leeren Augen in den blauen Tabakdunst, der durch die Stube schwälte und ließ sich dann und wann den Rotwein schmecken, aber er ermunterte ihn nicht mehr, sondern machte ihn nur noch stiller und schwerfälliger. Als ihm zu Sinne kam, daß er heimgehen und seinen Kopf ausruhen lassen sollte, vergaß er das Aufstehen. Ihm war, was um ihn vorgehe, spiele irgendwo in weiter Ferne.

Balz ärgerte sich zuerst, daß sein vornehmer Freund keine Aufmerksamkeit für ihn hatte, er fand aber bei den anderen so viel Beifall, daß seine Musikanteneitelkeit völlig gesättigt wurde, und in einem Taumel [141]des Behagens und Glücks erwiderte er, der noch selten zu Wein gekommen war, jeden fröhlichen Zutrunk mit dem seinen.

Er spürte, daß sein Spiel den genauen Rhythmus verlor und unsicher wurde.

»Es ist genug,« wandte er sich an Hanstöni, und einigen Bitten zum Trotz stand er auf, schloß das Instrument in den Lederkasten, wickelte diesen wieder sorgfältig in das Schutztuch und wollte der Gesellschaft eben gute Nacht und frohe Ostern wünschen, als, vielleicht durch das Schweigen des Spiels, Röbi wieder lebhafter wurde.

Er ging zu Balz hin, legte ihm vertraulich die Hand auf die Schulter und sagte schwerfällig: »Ihr habt auch noch nicht zu Nacht gegessen, Bläser, darf ich Euch einladen?«

»He, Berta,« rief er dem Wirtsmädchen zu, »was habt Ihr denn noch an Vorräten in der Küche?«

»Weil es morgen Ostern ist, allerlei, Herr Heidegger,« antwortete sie. »Ihr seid aber spät. Es ist bald elf!«

»So eilt!« und Röbi wandte sich wieder zu Balz: »Da setzt Euch neben mich! –Wir plaudern noch ein bißchen. Ihr seid ein vortrefflicher Musikant. Man muß an Euch seine Freude haben!«

Im Gesicht Balthasars aber stand ein merkwürdiger Ausdruck: herzliche Not, bitterste Angst, verzweifelter Kampf. Er wurde kreideblaß, der kalte Schweiß trat auf seine Stirn. Röbi sah es und begriff nicht. Er dachte nicht daran, daß der Geselle ein armer Heißhungriger war.

[142]

Balz aber spürte wohl, in welcher Gefahr er schwebte. Schon vor einer Stunde hatte er den unheimlichen Reiz der auf dem Tisch dampfenden Speisen gespürt und ihn nur durch sein eifriges Spiel bekämpfen können. –Jetzt ein Bissen, und er gehörte nicht mehr sich selber an!

Warum verstand denn niemand seine stumme Qual, nicht einmal der sonst so gescheite Obmann?

»Erbarmen, Herr Heidegger!« wollte er rufen; in diesem Augenblick aber trug das Dienstmädchen schon die duftende Schüssel an ihm vorüber und stellte sie vor Röbi hin.

Da war es um den Unglücklichen geschehen.

Nein, er konnte nicht mehr fort! Mit zitternden Gliedern, doch mit offenen Augen ging er in sein Verderben, wie der Frosch, der von den glänzenden Augen einer Natter gebannt fliehen will, doch unheimlich angezogen näher und näher an den Rachen der grausamen Feindin hüpft und rettungslos darin verloren ist.

Das Essen Balthasars wurde rasch zu einem Schlingen.

Da stutzte Röbi und glotzte ihn an, aber sein müder Kopf ließ ihn den Vorgang nicht erkennen.

Die Nachbarn waren auch aufmerksam geworden und deuteten verwundert oder belustigt auf den maßlos Gierigen, der, als das Fleisch aufgezehrt war, einen halben Laib Brot verschlang.

Die Gesellschaft Sammelte sich um das Schauspiel. Manche glaubten, es handle sich um einen natürlichen [143]Hunger, schimpften auf Meister Hildebrand, der seinen Gesellen so schlecht halte, und riefen von Mitleid bewegt: »Nun muß sich unser Musikant einmal satt essen!« Sie bestellten beim Wirtsmädchen neue volle Schüsseln für Balz.

Andere taten es aus Roheit, ein großes Hallo entstand um den Völler, der mit tierischer Gier alles hinunterschlang, was ihm dargeboten wurde.

Röbi saß gedankenlos dabei, er war aber doch der erste, der Balz in den Arm fiel. »Um Gottes willen, Bläser, hört auf –hört auf! Es ist ja unmöglich, daß Ihr so viel ertragt. Ich bitte Euch –hört auf!«

Und seltsam! Jäh gehorchte Balz. War es die seelische Macht des halbbetrunkenen Obmanns oder das Gefühl der Sättigung, das doch zuletzt auch einen Heißhungrigen überkommen muß, er hörte zu schlingen auf. Eine Weile sah er blöd vor sich hin, dann erwachte er wie aus einem Traum von jenseits der Wirklichkeit, und als ihm vor den leeren Schüsseln die klare Erinnerung kam, wurde sein Kopf dunkelrot, er legte ihn vornüber auf die Arme, begann schamvoll und herzzerbrechend zu schluchzen und wimmerte wie ein unglückliches Kind.

Das Lachen der Gesellschaft war verstummt, einige gingen mitleidig an Balz heran, strichen ihm über den Kopf und suchten ihn zu trösten: »Nehmt's Euch doch nicht so zu Herzen, es bleibt ja unter uns!«

Der Weintaumel Röbis und seine Müdigkeit waren verflogen, er fühlte sich vollkommen nüchtern.

»Ja, wenn es nur unter uns bliebe,« versetzte er [144]schwer und finster. »Ich würde das Eierlesen billig geben.«

Sein Wort und Ton erschreckte die übrigen.

Einer der Burschen nach dem anderen bezahlte dem Wirtsmädchen die Zeche und drückte sich still und unbemerkt aus der Stube.

Es saßen nur noch wenige da, als kurz vor zwölf Uhr der Sternenwirt erschien, den man im Dorf wegen seines Kahlkopfs spottweise den Vollmond nannte, und mit grimmig verzogenem Gesicht Feierabend gebot.

»Soll ich den Knecht wecken, damit er den da heimschafft?«

Er deutete mit Hand und Kinn geringschätzig auf den leiser schluchzenden Balz.

Da straffte sich Röbi und ließ die Augen blitzen.

»Nein, Herr Sternenwirt,« antwortete er hochmütig. »Ich, Obmann der Jungmannschaft, lasse keinen der Unseren im Stich. Ich werde Bläser selber nach Hause besorgen.«

»Ah so!« lächelte der Wirt höflich-spöttisch und zog sich zurück.

»Hanstöni, nimm du die Ziehharmonika zu Händen,« bat Röbi mit großer äußerer Ruhe, »und hilf mir Balz zu seinem Meister bringen.«

Sie waren vor dem Hause Hildebrands angelangt. Röbi weckte den Schreiner mit leisem Zuruf. Bald flackerte ein Licht hinter den Fenstern. Halb angekleidet kamen der Tischler und sein Weib an die Tür, und die Frau schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Gott! Balz hat den Heißhunger gehabt. [145]Nun kündigt er die Stelle, und wir finden keinen so guten Gesellen mehr!«

»Tut für ihn, was Ihr könnt,« sagte Röbi, »ich bürge für die Kosten.«

Da schüttelten die Mitternachtsschläge der Osterstunde durch die Luft.

Der sonst so mutige und übermütige Röbi erschauerte bei den dröhnenden Klängen, wie von einer abergläubischen Stimmung erfaßt. Mit Hanstöni verließ er schnell die Schreinersleute, die Balz in Empfang genommen hatten, und drückte auch dem Sennen rasch die Hand.

Welch ein unglücklicher Abend! Im Schweigen der verödeten Dorfstraße, im Dunkel der Häuser, im Flimmern der weißen Steine des Kirchhofs, im Rauschen der Bäche, deren Tosen fernher aus den Schluchten drang, hatte er eine dunkle Vorahnung, daß aus dem ärgerlichen Ereignis allerlei Widerwärtiges, ja Schlimmeres für ihn kommen werde. Warum hatte er es geschehen lassen?

Zu den Wallungen der Scham und aufrichtigen Mitleids mit Balz gesellte sich das Bewußtsein der großen Verschiedenheit zwischen seinem Denken und Fühlen und dem der dörflichen Freunde. Wie hatten sie sich an der krankhaften Gier Balthasars, der sie doch kurz zuvor mit seinem Spiel erfreute, geweidet und belustigt, und wie feige waren dann die meisten aus der Wirtsstube davongeschlichen! Der wertvollste aus der Runde war doch noch Balz, die kindliche Seele. Auch vor Hanstöni, der bei dem bedauerlichen [146]Ereignis mit ihm geblieben war, hatte er Achtung; aber sonst –das Wort »Flegel« lief ihm durch die Zähne.

Nein, sie waren es gar nicht wert, daß er sich so große Mühe um den Ostermontag gab.

Plötzlich spürte er ein tiefes Heimweh nach Gertrud. Obgleich er sie vor wenigen Stunden noch gesehen und gesprochen hatte, schien es ihm, er sei durch Wochen und weite Lande von ihr getrennt.

Bei ihr war ein süßes und hohes Verstehen, bei ihr war die einzige Zuflucht, wenn er von dem sprechen wollte, was gut und schön in ihm war. Sie war die einzige, welche auch die ernsten Qualen kannte, die durch sein Wesen flossen.

Am liebsten wäre er jetzt zu nachtschlafender Zeit noch hinauf nach dem Freihof gestiegen, hätte eine Leiter an ihr Kammerfenster gelegt und sie zu einen: leisen Zwiegespräch gerufen.

»Ich bin wirr geworden,« hätte er ihr gesagt. »Nun hilf du mir mit deiner klaren Seele aus meiner Not!«

Nein, das ging des Freihöflers wegen nicht, für Röbi gab es in dieser Stunde, da der Nachtwind fröstelnd durchs Dorf zog, nichts als die Ruhe im Haus der verhaßten Großmutter.

Wie es wohl am Montag mit dem Eierlesen kam?

Das war sein letzter Gedanke.

11

[147]

Wunderschön war der Ostertag erwacht, erwacht mit sprießendem Leben, mit Tau auf den Wiesen, Vogelgezwitscher auf den Bäumen und dem Anhauch sich öffnender Kirschblüten.

Schon in der Morgenfrühe sang und jodelte die Wanderlust auf den Straßen, und bald nach sechs Uhr rollte auch das Reisewägelchen des Freihöflers, der selber kutschierte, vom Gehöft talwärts und hinaus gegen den schimmernden Streifen des Bodensees. Gertrud trug den großen Trachtenstaat, die schimmernden Kopfflügel.

Die beiden ahnten nichts von dem Geheimnis im Sternen und dem jämmerlichen Zustand des langen Balz.

In dessen Dachkammer wohnte an dem feierlichen Tag das graue Elend. Als die Glocken läuteten, dachte er an Kirchgang, aber er konnte sich vor Übelkeit auf dem Schrägen nicht rühren und winselte vor Kopfschmerzen und Leibweh.

Sein innerer Jammer war nicht kleiner.

Er hätte über sich selber weinen mögen. Wäre er doch schon gestorben und läge wie seine Mutter in irgend einem Winkel des Kirchhofes von Gerhardszell oder in einem Heidefeld Westfalens. Wenn er sich in einem tiefen Wasser ertränkte! Sein armes Leben [148]hatte ja keinen Sinn. Als elternloser Bub war er ohne Liebe, ohne Güte unter die Menschen gestoßen worden, wie ein Fluch lag das Verbrechen, das der Teufelseher Guntli an ihm begangen hatte, auf seinem Schicksal, er war der lange Balz, über den alle lachten, der von einem unverständigen Meister zum anderen wandern mußte und nirgends Bleiben fand, weil er mit der Krankheit des Heißhungers geschlagen war. Auch von Haldenegg würde er nun weiterziehen!

So zusammenhängend aber konnte Balz in seinen Schmerzen gar nicht denken, nur in abgerissenen Stücken flatterte bald von da, bald von dort her eine Erinnerung durch seinen brennenden Kopf, und jede machte ihn elender.

Einmal sah er blaue Augen, blühend rote Lippen, eine schöne, von blonden Zöpfen umwundene Stirn, das warme Gesicht des Fräulein Gertrud Freihofer.

Nie, nie durfte er ihr wieder unter die Augen treten, und der Gedanke, daß sie ihn auf den Montag zu ein paar Tanzrunden eingeladen hatte, vermehrte nur seinen Lebensüberdruß. Wie schwarze Wolken wälzte es sich über ihn. So dunkel und gottverlassen hatte er noch nie Ostern gefeiert.

Und morgen sollte er reiten.

Nein! Er wollte nicht mehr. Er haßte die Haldenegger Burschen, die sich aus seinem Heißhungeranfall ein lustiges Schauspiel bereitet hatten.

Selbst Robert Heidegger, seinen Freund. Warum hatte der ihn nicht gerettet? Sie waren schlecht, samt und sonders!

[149]

Meister Hildebrand kümmerte sich nicht um ihn, ein paarmal aber kam die Meistersfrau, ein bleiches, unansehnliches Weib, in die Kammer und sah nach ihm, doch mehr mit wortreichen Klagen als mit Hilfe.

»Ihr werdet doch nicht von uns fortgehen, Balz,« klagte ihre hohe Stimme, »wir sind ja unschuldig an dem Vorfall!«

»Doch –doch, ich gehe,« stöhnte er, »sagt's nur dem Meister, daß ich ihm kündige.«

Da begann sie zu heulen.

Gegen elf Uhr kam sie in leidlichem Sonntagsstaat wieder.

»Ich muß im Pfarrhaus einspringen,« erzählte sie, »es ist Besuch aus der Stadt da, und die Tochter Gritli fehlt!«

Sie ging, erschien aber nach einiger Zeit wieder und brachte ihm ein Fläschchen. »Der Herr Pfarrer schickt Euch dieses Wurzelöl, es sei das beste Mittel gegen Euren Jammer. Nehmt jede Stunde einen Löffel voll.«

»Was, Ihr habt dem Pfarrer von mir gesprochen? Wie muß ich mich da schämen!« -

Nun lag er viele Stunden allein in seiner Trostlosigkeit. Das Pfeifen der Spatzen auf dem Dach war seine einzige Unterhaltung, hin und wieder hörte er auch Stimmen von Sonntagsgängern auf der Straße und einmal einen Wagen, auf dem junge Leute ein Frühlingslied sangen.

Das Lied tat ihm in den Ohren und im Herzen weh, es war ihm ein Rätsel, daß es Menschen gab, die singen mochten.

[150]

Schon malte die sinkende Sonne zitternde Kringeln an die Wand. Das Licht schmerzte ihn wie der Gesang, er wandte den Blick davon.

Das Einsamkeitsgefühl stimmte ihn wehmutsvoll. »Ob ich lebe, ob ich sterbe, das kümmert niemand aus der Welt. Was bin ich für ein armseliger Wurm!«

Da hörte er im Hause zwei Stimmen, die kreischende der Meistersfrau und die tiefe, ruhige eines Mannes.

Des Pfarrers! –Und nun nahten Schritte.

Da war Geißmann und reichte ihm die Hand. »Ich bin die Hand nicht wert,« seufzte Balz, war aber gerührt, daß ein Mensch, dazu der Pfarrer, nach ihm sah.

»Ich kann leider nur auf einen Sprung zu Euch kommen.« Geißmann ließ sich auf dem einzigen Stuhl der abgeschrägten Kammer nieder. »Wie dauert Ihr mich! –Sagt, wie seid Ihr so elend geworden?«

In den dunklen Augen, in dem düsteren, doch gütigen Gesicht stand ihm die Teilnahme, und er legte dem Kranken die kühle, weiche Hand auf die Stirne.

Da übermannte Balz die Dankbarkeit. Was er aus Scham über sich und die anderen hatte verschweigen wollen, wurde zu einem Geständnis aus tiefbetrübtem Herzen.

Der Pfarrer half ihm dann und wann mit einer Frage nach und wußte endlich die Geschichte vom Beginn der Arbeit auf dem Freihof bis zur gestrigen Mitternacht, auch um die törichte Liebe des Gesellen zu Gertrud und um die Aufstachelung Röbis, dem er schon wegen Gritli nicht gewogen war.

[151]

Erst erbleichte er, dann stieg ihm eine dunkle Röte ins Gesicht, und er schlug die Hände zusammen.

»Das ist entsetzlich –doch nein, ich will jetzt gar nicht darüber sprechen, ich muß es zuerst in mir selber fassen, daß ein so frevles Spiel in meiner Gemeinde möglich ist!«

Die Empörung ging wie ein Sturm durch seine Seele, und eine Weile bedeckte er sich das Gesicht mit den Händen.

Er hatte seine Gäste vergessen.

Da kam die Schreinersfrau und mahnte ihn daran.

Als er auf die Straße trat, fuhr eben der Freihöfler mit seiner Tochter, die auf der Heimkehr begriffen waren, des Weges daher. Man grüßte sich, und einen Augenblick war dem erschütterten Manne, als ob er den Friedensrichter anhalten und ihm Mitteilung über das Geschehene machen müsse. Doch das kam noch früh genug. Wozu ihm den Ostertag verderben.

Der Besuch des Freihöflers und seiner Tochter in Egelsdorf war verlaufen, wie solche Tage zu verlaufen pflegen: mit großer Gastfreundschaft und viel müßiger Nachfrage. Die Verwandten lobten Gertrud, wie schön sie sich ausgewachsen habe, wie sein sie sich zu benehmen wisse, und wunderten sich laut, daß für sie noch kein Freiersmann in Aussicht sein solle. Dafür aber hatten sowohl der Freihöfler wie die Tochter taube Ohren. Bald drängte er zur Heimkehr, und die Verwandten kannten die Gewohnheit des Freihöflers, von jedem Besuch am Abend früh wieder daheim zu sein. Noch stand die Sonne im Westen, als Vater und Tochter neben dem Wägelchen zu Fuß gegen die Höhe des [152]Freihofs hinanschritten, damit der Braune keine zu schwere Arbeit habe.

»Vater, dort sitzt ja jemand auf der Bank vor dem Hause!« rief Gertrud.

Als sie näherkamen, erkannte sie Röbi, der, die Hände über die Knie geschlungen, den Blick zu Boden geheftet, tief einsam und versunken vor sich hinträumte.

Sie hatte den sonst so Beweglichen noch nie so still gesehen.

Erst als sie ganz nahe waren, erwachte er aus seinem brütenden Sinnen und kam ihnen etwas erschreckt und verlegen entgegen.

Während der Vater den Tag mit einem Gang über seine Felder und Wiesen beschloß, gab Gertrud dem Verlobten aus einem mit Grün ausgeschmückten Körbchen ein paar buntgefärbte Eier.

Damit spielten sie eine Weile, schlugen Spitze gegen Spitze, Rund gegen Rund, lachten, schälten die zerbrochenen und verzehrten sie.

Dabei beobachtete sie Röbi zuweilen heimlich und fragend.

Er kam ihr verändert vor.

»Wie war's denn mit dem geplanten Gang durch die freie Natur? –Und worüber hast du bei unserer Ankunft so tief nachgedacht?«

»Was ich gedacht habe?« lächelte er versonnen. »Ich habe ausgerechnet, wie lange ich noch meinen Universitätsstudien obliegen muß, um für meine Prüfungen vorbereitet zu sein. Wenn ich sehr fleißig bin und keine Zeit verliere, anderthalb Jahre!«

[153]

»Das hast du mir doch neulich schon vorgerechnet, und dem Vater auch! Aber sag, was wurde aus deinem Spaziergang?« forschte sie. »Die Wege müssen ja merkwürdig trocken und schön gewesen sein. An deinen Schuhen ist weder ein Stäubchen noch eine Spur von Schmutz. Mir kommt der Verdacht, Röbi, daß ihr gestern zu lang im Sternen gesessen seid und du den herrlichen Ostermorgen ziemlich verschlafen hast.«

Er errötete tief: »Ja, Trudi –leider!«

Sollte er ihr ein offenes Geständnis über den gestrigen Abend ablegen? Wenn der Vater Freihöfler von dem unglücklichen Vorkommnis Wind erhielt, war ihr kluger Rat wertvoll!

Sie unterbrach aber seine Gedanken: »Röbi, ich bin doch manchmal etwas unglücklich über dein Wesen. Was soll der Ulk, daß du dich bei Balz eine Weile als meinen Vetter ausgegeben hast?«

»Aha -« er sah sie groß an.

»Du bist kein lauteres Wasser, Röbi! Wozu dieses bubenhafte Spielen mit der Wahrheit? –Wem nützt es? –Dir aber schadet es, es ist nicht ehrenhaft. Ich fürchte –nein, ich will keine Gespenster an die Wand malen.«

Er wurde nicht zornig, wie sie erwartet hatte, verteidigte sich nicht einmal, sondern drückte ihr die Hand. »Du hast Recht, Trudi! Ich wollte, ich wäre wie du!«

Eine ihr ungewohnte Weichheit lag in seiner Stimme, ja ein leis wehmütiger Klang.

Darüber halb erschrocken, versetzte sie mit bittendem Ernst: »Geh heute abend einmal nicht in den Sternen, [154]der Vater sorgt sich, daß du so ein Hocker bist! Denke an den morgigen Spieltag!«

Er konnte ihren sorgenden Augen und bebenden Lippen nicht widerstehen. »Ich verspreche es dir!« Und er schmiegte sein Gesicht zärtlich an ihre Wange.

Da kam der Vater von seinem Gang zurück, setzte sich zu ihnen, erhob sich aber bald wieder und sagte: »Ich gehe zur Ruhe. Morgen gibt's ja hier viel Lärm und gewiß beizeiten.«

Nun sollte auch Röbi gehen.

In dem stillen, schönen Abend fiel ihm das Scheiden schwer, er küßte Gertrud wie ein schüchtern verliebter Junge zarter und feiner als je und ließ ihre Hand nicht los, bis der Freihöfler im oberen Stockwerk das Fenster öffnete und mahnte: »Gute Nacht, Röbi!«

Im Heimweg ging er bei Schreiner Hildebrand vorbei und erkundigte sich nach dem Befinden Balz Bläsers.

Die Frau gab ihm Auskunft: »Er hatte einen furchtbaren Tag, jetzt ist er aber von dem, was er zu viel gefressen hat, ziemlich losgekommen. Er schläft und schnarcht und ist morgen wohl wieder hell!«

Morgen! -Röbi mochte nicht an morgen denken, jede' Erinnerung an das Spiel war ihm eine Verdrießlichkeit, doch freute er sich, daß es Balz ordentlich erging. Wird er wohl reiten können? –Wenn nicht, wer ersetzte ihn? –Vielleicht fiel das gesamte Eierlesen ins Wasser! -

Da stand er vor dem hellerleuchteten Steinen.

Nein, nun einmal Gertrud die Ehre und heim!

12

[155]

Der Tag des ländlichen Festes war da –ein Morgen wie ein Kinderlächeln.

Noch hatte sich Röbi nicht fertig in den Sonntagsstaat geworfen, da kam Balz auf das Haus zugegangen, hübsch gerüstet, doch so blaß, als wäre er von einer langen Krankheit auferstanden, die Lippen blutlos.

»Guten Tag, Balz, setzt Euch im Garten ein wenig, gleich komme ich!« rief Röbi aus dem Fenster.

Ein Viertelstündchen, und da war er. Seine Augen blitzten, und seine Glieder federten sich nach dem früh begonnenen und spät beendeten Schlaf: »Nun, Bläser!«

»Ich kann nicht reiten,« erklärte Balz kläglich, so kläglich, daß Röbi ein Lachen unterdrücken mußte.

»Nein, das könnt Ihr nicht! Ich sehe es ein und will auch gar nicht in Euch dringen. Wie tut es mir leid, daß der Samstagabend so übel verlaufen ist und daß ich Euren Anfall nicht verhüten konnte! Ihr habt es wohl selbst gesehen: ich war zum Umfallen müde und leider betrunken dazu. Sonst hätte ich's nicht so weit kommen lassen. Seid mir nicht böse, Balz!«

Röbi hatte einen herzenswarmen Ton und viele gute Worte für ihn.

[156]

»Nun bitte ich Euch bloß um einen Gefallen, begleitet mich zum Freihof hinauf! Ich denke doch, wenn Euch Röthlisberger in das bleiche Gesicht sieht, überzeugt er sich, daß es jetzt seine Pflicht ist, zu reiten. Sonst muß ich das Fest im letzten Augenblick fallen lassen!«

Seine bedauernden Worte hatten schon wieder jeden Groll in Balz versöhnt, aber gegen den Gang auf den Freihof sperrte er sich. »Ich schäme mich so furchtbar!«

»Wozu? –Das Schämen ist an mir, an uns allen. Wir sollten bei Euch Abbitte leisten!«

Balz ließ sich bereden.

Als sie auf den sonst so stillen Freihof kamen, bot er bereits ein buntes Bild.

Kleine Handelsleute errichteten am Rand der Straße oder im Hofgebiet ihre fliegenden Stande, einen Jahrmarkt im kleinen, auf dem mancherlei Eßwaren die Volkslust reizten, Johannisbrot und Feigen, griechische Weinbeeren und Orangen, Lebkuchenmänner mit eingesetzten Wacholderbeeren als Augen, Dirggel mit Figuren und Sprüchen und Berge von Zuckerwaren. Nahe der Spielbahn schlug der Steinenwirt ein großes Zelt als Wirtschaftsbude auf.

Die Burschen aber ließen, obgleich sie noch manches vorzubereiten hatten, auf sich warten, und Röbi ahnte, daß ihnen der Samstagabend auf dem Gewissen und in den Gliedern lag.

Auf der Galerie sah er Gertrud; sie deckte die Tische und stellte auf jeden einen Frühlingsstrauß.

[157]

Er ließ Balz, eilte zu ihr empor, scherzte, als ob er von keiner Verlegenheit wüßte, und sprach auch kurz mit dem Vater. »Mir wird des Treibens zu viel ums Haus,« sagte der Freihöfler, »ich gehe zur Kirche. Und vor dem Mittagessen bin ich nicht zurück. Lieber als durch diesen Immenschwarm von Leuten wandere ich ein wenig um die Gemarkung.«

Die Uhr ging schon auf zehn.

Da kamen endlich die Burschen, von Röbi sehnlich erwartet, auch Röthlisberger und Ruchegger.

Als Gertrud einen Blick von der Galerie in das wachsende Getriebe warf, sah sie, daß die jungen Leute untereinander in hellen Streit geraten waren.

Röbi sprach eifrig und aufgeregt bald auf Röthlisberger, der wieder sein Zweiglein zwischen den Zähnen hielt, bald auf Ruchegger, den Trainfurier, ein und fuchtelte dabei mit den Armen. Etwas abseits aber sprachen Konrad Erb und Balz ruhig miteinander.

Was hatte denn Röbi Dringliches? –Hingehen und forschen mochte sie nicht. Auch zogen sich die Burschen etwas abseits, um keine unberufenen Zeugen ihres Handels zu haben.

Obgleich ihn Röthlisberger schon bei dem Gespräch in der Stalltüre hatte ablaufen lassen, entfaltete Röbi, sich auf die Not der Stunde berufend, eine heftige Beredsamkeit.

Doch der Fuhrhaltersohn blieb starrköpfig.

»Was hilft jetzt die Komödie, mit der wir den Gesellen in die Jungmannschaft aufgenommen haben?« schrie er Röbi zornig entgegen. »Was haben wir nun [158]von dem Langbein und Fresser? –Die Schande! Du wirst doch nicht glauben, daß der Abend ein Geheimnis bleibe. Du kennst ja den Sternenwirt. Er ist ein glatter, jedem ins Gesicht freundlicher Herr, aber wenn er die Leute aufeinanderhetzen kann, so schenkt er's keinem. Auch uns nicht. Warte! Die Jungmannschaft wird bald genug einen Verweis vom Gemeinderat erhalten, dann wird jeder Alte seinen Sohn auffordern, aus der übelbeleumdeten Gesellschaft auszutreten. Sie fällt zusammen! –Das haben wir von deinem Schützling Bläser. Nun will er nicht einmal reiten. Wie ich dir schon gesagt habe, spiele ich nicht den Gutgenug und lasse mir von dir nicht befehlen, lieber trete ich sofort aus der Jungmannschaft aus!«

Röbi lief der Schweiß über die Stirne.

»Wir müssen aber doch die Ehre des Tages retten!«

»Rette sie, wer mag,« lachte Röthlisberger mit grausamer Kälte. »Es ist schon zu viel, daß ich Euch das Pferd überlasse.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen und ging in den hohen Stiefeln, welche die Burschen zum Fest trugen, langsam davon.

Nun verlegte sich Röbi bei Ruchegger aufs Bitten, aber der junge Mann mit den Zwinkeraugen und dem großen Kinn hatte nur ein schadenfrohes Lächeln. »Wer mag noch etwas für die verunehrte Gesellschaft tun?« Er weidete sich an Röbis blutiger Verlegenheit.

»Die nennen sich meine Freunde!« schrie dieser schmerzlich auf. »Seid ihr denn alle gegen mich verschworen? –Ja, ich ziehe eine Lehre aus dem heutigen Tag.«

[159]

Er blickte auf die Uhr –schon über elf! Er bebte vor Erregung.

Da trat Uli Kübler zu ihm: »Es wäre doch wirklich ein Kalenderstück, wenn wir das Eierlesen im letzten Augenblick absagen müßten! Die Zeitungen im ganzen Land würden uns auslachen. Sprich doch noch einmal mit Bläser!«

»Nein! Man setzt doch nicht einen noch halb kranken Mann aufs Roß!«

In seiner Not ging er aber doch zu Balz, der selber neugierig war, wie nun der Handel auslief. Ein Haufe Burschen hatte sich um ihn geknäuelt. »Was kommt Ihr denn da herauf, wenn Ihr nicht reiten wollt?« spotteten sie. Als sei ihm die gesamte Jungmannschaft feind geworden, fielen böse Anspielungen auf seine Völlerei.

Balz merkte, daß er mit seinem Erscheinen eine Unvorsichtigkeit begangen hatte.

Da fühlte er Röbis Hand an seinem Arm.

»Ich frage Euch nur leise, Balz,« flüsterte der Obmann mit bittenden Augen. »Wenn Ihr doch reiten könntet!«

»Ich kann nicht, mir flattert's in Kopf und Gliedern, jede halbe Stunde wird mir schwindlig.«

»So geht doch heim ins Nest!« riefen ihm ein paar Burschen zu.

Röbi ließ ihn.

Alle waren in stürmischem Aufruhr, und schon sprach es sich unter der Menge herum, die den Festplatz mit ihrer Geschäftigkeit belebte, daß das Spiel ins Wasser falle.

[160]

»Also wir sagen ab!« erklärte Röbi bitter und trostlos. »Die Händler sollen den Kram wieder zusammen-, packen, und schickt Radfahrer auf die Straßen, damit sie die Leute zurückweisen, die zu dem Spiel unterwegs sind.«

Sein Blick traf Konrad Erb. Hätte er die Warnung des Buckligen beherzigt! Erb, den das Mitleid mit Röbi erfaßt hatte, rief: »Nein, nicht absagen! Schicke einen Radfahrer nach Buchen zum Löwenwirtsohn Dietrich. Er ist ein tüchtiger Reiter, Offizier bei der Kavallerie, ein Mann, der das Herz am rechten Fleck hat. Er wird uns gern aus der Verlegenheit helfen!«

Nun erhob sich der Widerspruch anderer: »Wir wollen dem Löwen in Buchen nicht verpflichtet sein. Wir wollen niemand von auswärts. Da werden wir erst recht ausgelacht, –lieber absagen!«

Röbi war des Hin- und Herredens und Streitens müde geworden.

Er erinnerte sich Gertruds, die mit den Vorbereitungen auf der Galerie längst zu Ende gekommen war. Vor innerer Bewegung zitternd ging er ins Haus und warf sich rittlings und verkehrt auf einen Stuhl, breitete die Arme über die Lehne und schnaubte wie ein heißgelaufenes Pferd.

»Gertrud –das Spiel geht fehl!«

Sie deckte eben den Tisch für das Mittagessen und ließ vor Schrecken über das Aussehen und die Meldung Röbis einen Teller auf den anderen fallen, daß sie klirrten.

»Um Gottes willen,« rief sie, »da würde ja gesamt [161]Haldenegg lächerlich, und du, armer Junge, am meisten. –Das darf doch nicht sein!«

»Balz will nicht reiten –Röthlisberger weigert sich hartnäckig –von Ruchegger mag ich nicht sprechen –alle sind vernagelt! Ich fahre noch heute in die Stadt, ich kann die Schande nicht auf mich nehmen!«

Sein Sturm teilte sich ihr mit.

»Warum will denn Balz auf einmal nicht mehr?«

Röbi zuckte nur die Schultern. Unmöglich konnte er ihr den ganzen Grund angeben. »Es haben ihn am Samstag etliche beleidigt, und ich kam zu spät, um ihn zu schützen.«

»Da haben wir's! Das ist die seine Haldenegger Jugend!« rief sie.

Sie sann einen Augenblick angestrengt. »Röbi, ich kann dich nicht im Stich lassen –ich selber will mit Balz sprechen –hole ihn zu mir!«

Ihre Wangen glühten wie im Fieber. »Warum zögern? Wir müssen doch das Spiel retten!«

Da ging er. -

Balz wollte wegen des Grolles und Spottes, mit denen ihm manche Burschen begegneten, eben den Heimweg antreten.

Als Röbi ihn einholte und zu Fräulein Freihofer bat, lief eine große Freude über sein Gesicht und färbte es, daß man seine Blässe nicht mehr bemerkte.

Sie läßt mich rufen! Das Herz schlug ihm hoch vor Erwartung, was sie wohl für ihn wisse.

Röbi blieb an der Tür zurück.

[162]

Der Geselle drehte vor Gertrud verlegen den Hut, stand und wußte sich nicht zu benehmen.

Sie reichte ihm die Hand und richtete den vollen Strahl ihrer blauen Augen in seine braunen.

»Ich habe recht Wichtiges mit Euch zu besprechen, Balz, und ich tue es, weil ich jetzt weiß, daß Ihr auch vernünftig mit Euch reden laßt. Was habt Ihr scharfe Augen im Kopf! Darüber bin ich jetzt froh. Ich gestehe Euch im Vertrauen, daß Robert Heidegger und ich verlobt sind!«

»Herr Heidegger ist ja mein Freund, und es ist keiner im Land, dem ich Euch lieber gönnen möchte als ihm,« stotterte Balz.

So ernst die Viertelstunde war und zur Entscheidung drängte, spielte doch ein Lächeln um den Mund Gertruds.

»Für dieses Wort danke ich Euch. Und Ihr sollt nicht glauben, daß ich, weil ich Robert Heidegger liebe, nichts für Euch übrig habe. Während Eurer Arbeit auf dem Freihof seid auch Ihr mir lieb geworden, wenn auch nur in Freundschaft. Ich bewundere Euch, wie Ihr trotz Eurem schweren Lebenswege ein so geschickter Mann geworden seid, sogar ein Künstler, und daß Ihr auch sonst viel Schönes in Eurer Seele tragt. Darum habe ich ein warmes Verlangen, daß Ihr nicht nur der Freund meines künftigen Mannes seid, sondern auch mein Freund werdet!«

Sie ließ die Augen leuchten.

Balz brachte in seiner großen Verwirrung kein Wort hervor, als: »Wenn ich Eurer Freundschaft nur wert wäre!«

[163]

»Bloß nicht wieder überspannte Redensarten, Balz! Dazu ist jetzt keine Zeit. Was ich Euch sagen will: der Freihof bleibt für Euch ein offenes Haus, das werde ich, wenn auch nicht gerade heute, mit dem Vater bereden und ihn wieder zu einem herzlichen Einvernehmen mit Euch stimmen, wie es im Anfang Eurer Arbeit gewesen ist. Vielleicht werde ich den Vater bitten, daß er Euch im Freihof eine hübsche Kammer einräumt, damit ich etwas zu Euch sehen kann, auch zu Eurer Kost.«

»Fräulein Freihofer!« Erschüttert von so viel Güte war Balz dem Weinen nahe.

»Und nun, Balz, habe ich eine große Bitte an Euch. Tut mir und Röbi Eurerseits den ersten Freundschaftsdienst! Wenn ich auch selber früher Eure Anmeldung für den Ritt mißbilligt und Euch nun einige Burschen von Haldenegg beleidigt haben, –reitet und gönnt Euren und Röbis Widersachern den Sieg nicht, daß sie das Spiel vereiteln.«

»Nein, bei Gott nicht! –Ich reite –ich reite Euch zu Ehren, Fräulein Freihofer! –Was tät' ich für Euch nicht und für Herrn Heidegger!« Er sprang in seiner ganzen Länge empor.

»Ich danke Euch von Herzen, Balz! Auf treue Freundschaft! Und reitet mit Glück! Ich freue mich, am Abend ein paar Runden mit Euch zu tanzen!«

Errötend gab sie ihm beide Hände.

In einem Rausch der Freude schwankte Balz aus dem Haus, sein Gefühl der Schwäche hatte sich in das unendlicher Kraft verwandelt. Das kam aus seinem [164]wunderbaren Glück! Er, der Freund von Fräulein Freihofer –und in ihrer Nähe leben!

Auf dem Festplatz verbreitete es sich wie ein Lauffeuer, daß das Spiel abgehalten werde, und einer, der sich am meisten darüber freute, war der Sternenwirt. Nach einer großen Enttäuschung rechnete er wieder auf ein gutes Geschäft und rief die Burschen zu einem Faß Freibier in sein Zelt.

Röbi stürmte zu Gertrud in die Stube.

»Hexenmeisterin!« jubelte er und umarmte sie. »Was wir Männer nicht zustande bringen, das erzwingst du!«

Ihm war, als sei ihm ein schmerzender Zahn gezogen worden, und in seinen Augen strahlte das Glück der Erlösung.

»Wie hast du ihn denn gewonnen?«

Sie erzählte. »Und diese Freundschaft habe ich mit Balz nicht bloß aus dem Vorteil des Augenblicks geschlossen, sondern weil ich ihn herzlich gern mag. Auch du solltest sein aufrichtiger Freund sein, Röbi! Wenn es ihm je einfallen sollte, überspanntes Zeug zu sprechen, bändige ich ihn schon.«

»Gewiß mein' ich's gut mit Balz,« rief er freudig, »namentlich seit ich weiß, wie viel Hinterhältiges in den Köpfen von Haldenegg steckt! Ihnen gegenüber ist er ein Edelmann.«

Seine frohe Glücksstimmung dauerte aber nicht lange.

Die Angst schlich ihm in die Seele, dem geschwächten Balz könne bei dem Ritt ein Unfall geschehen.

Er wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß [165]von der Stirn. »Ich muß wieder ins Freie, Trudi! –Arbeit! Zum Mittagstisch könnt ihr mich nur auf einen Bissen erwarten.«

»O, gleich essen wir. Dort steht schon der Vater auf der Wiese und hält Umschau.«

Röbi aber lief hinaus.

Er suchte Balz.

»Um Gottes willen, reitet vorsichtig! Wenn Ihr eine Schwäche fühlt, steigt ab. Es handelt sich ja nicht darum, daß Ihr siegt, sondern bloß, daß das Fest stattfinden kann. –Seht jetzt zu, wie Ihr bei Röthlisberger den Fuchsen bekommt. Das ist mir auch noch eine Sorge.«

Er reichte Balz die Hand, und in ihrem Druck lag Dankbarkeit und Freundschaft.

Wie sonderbar! Aus übermütiger Schelmerei und um ihm einen Schabernack zu spielen, hatte er den Gesellen in die Rolle des Reiters hineingeredet, und jetzt war er voll warmherziger Zuneigung für ihn.

Als er in die Stube trat, spürte er, wie der schon am Tisch sitzende Freihöfler einen forschenden Blick über sein Gesicht laufen ließ, und daß er mit seiner Tochter etwas Schweres besprochen hatte.

Seine Augen fragten.

Da wandte sich Gertrud ernst an den Vater: »Wiederhole doch Röbi, was der Pfarrer heute morgen in der Predigt für eine Anklage vorgebracht hat. Er muß doch wissen, was dich so erregt hat.«

»War es wegen des Eierspieles?« fragte Röbi und konnte die in ihm aufsteigende Unruhe vor den prüfenden Blicken der beiden nicht verbergen.

[166]

»Nein,« erwiderte der Freihöfler mit Nachdruck. »Der Pfarrer hat sogar ausdrücklich gesagt, daß er sich nicht gegen eine Lustbarkeit in Ehren wende, die sich vor allem Volk zeigen dürfe, sondern gegen die Roheit am Wirtstisch einer Hinterstube. Er sprach vom trostlosen Ostertag eines Unglücklichen, der von schlechten Kameraden zur Völlerei verführt worden sei, und forderte alle, denen das Wohl der Gemeinde am Herzen liege, zum Zusammenstehen und Zusammenwirken auf, daß solche Schandtaten aus unserem Volksleben ausgemerzt werden. Der Pfarrer brauchte das Wort ›Schandtaten‹, und seine Anklage wird nun wohl auch im Gemeinderat ein Gegenstand der Untersuchung werden. Da werden wir sehen, gegen wen sie sich richtet, denn das ließ Geißmann im unklaren. Ich vermute: gegen die von dir geleitete Jungmannschaft –und dich! Der Pfarrer sagte ausdrücklich: ›Im Beisein eines Gebildeten.‹ Das geht doch auf dich!«

Gertrud blickte Röbi geängstigt an.

Sie dachte an den gestrigen Abend, wie er versunken und verloren auf der Bank vor dem Hause gesessen hatte, und die Erinnerung an seine weiche Stimmung ließ sie nichts Gutes ahnen. Er wechselte die Farbe, die Frage durchzuckte ihn: »Woher hat der Pfarrer Wind von der unglücklichen Sitzung?«

»Ich weiß freilich um die Geschichte,« sagte er erschreckt, »und daß sich dabei einige Mitglieder der Jungmannschaft gemein benommen haben. Doch jetzt ist nicht Zeit, darüber Aussprache zu halten, ich bin aber bereit, Euch morgen Red' und Antwort zu [167]stehen. Wozu blaß werden, Gertrud? Mich selber trifft bloß die kleine Schuld, daß ich als Obmann nicht frühzeitig genug einzugreifen verstand.«

»Ein sauberer Obmann!« spottete der Freihöfler.

Gertrud aber hob den Kopf: »Horch!«

Helle Ländlermusik, von einer vortrefflichen Kapelle gespielt, drang in die Stube herein und wandte die Gedanken der drei Menschen, die sich wegen der Predigt des Pfarrers das Mittagessen verdorben hatten, dem bevorstehenden Volksfest zu.

»Das ist das Zipfelmützendoppelquartett von Büchlisberg!« rief Röbi, wie aus einem Bann erlöst, eilte mit Gertrud ans Fenster und öffnete beide Flügel.

Auch der Freihöfler war aufgestanden und grüßte und nickte den Musikanten zu, von denen er die beiden ältesten kannte.

Die acht Mann, die sich mit ihrem Spiel anmeldeten, waren eine auserlesene Gesellschaft von alt und jung, jeder ein vorzüglicher Musiker und ein Charakterkopf aus dem Bergland: der älteste, der den Baß strich, ein Siebziger in weißem Haar, der jüngste, der den Bogen über die Violine laufen ließ, ein rotwangiger Jüngling von noch nicht zwanzig, und dazwischen Männer der verschiedenen Altersstufen, die einen bartlos, die anderen mit roten, braunen oder grauen Bärten. Alle trugen die Tracht, die vor fünfzig oder mehr Jahren im Lande heimisch gewesen war, die schwarze Zipfelmütze, die mit ihrer Troddel auf die Schulter niederhing, den linnenen Schoßrock, der offen bis auf die Waden reichte, bunte Samtweste und [168]Kniehosen. Unter den braunen, starkgeprägten Gesichtern fiel dasjenige des Hackbrettschlägers mit der schiefen Hakennase auf. Es war Heinrich Amstutz, der Gems- und Adlerjäger.

So bildete die Musik ein vielversprechendes Vorspiel des Festes.

»Ich muß sie begrüßen und ihnen den Platz anweisen.«

Damit lief Röbi hinaus.

»Was ist das für ein Verdruß, ein Schwiegersohn, der noch nicht die Bubenschuhe ausgezogen hat!« grollte der Freihöfler hinter ihm.

Gertrud schwieg sich aus.

Röbi tat ihr leid. Er hatte sich so warm um das Zustandekommen des Spieles gemüht und so viel schlechten Willen und heimlichen Widerstand besiegt. Nun konnte er es nicht einmal ohne Verdruß erleben!

Wozu aber traurig sein? Es erfüllte sie doch mit einem sonnigen Glück, daß es ihr gelungen war, Balz für den Ritt zu gewinnen und Röbi den Schmerz und die Lächerlichkeit einer Absage des Festes zu ersparen.

Sie setzte die Flügelhaube auf und warf einen Blick in den Spiegel. »Vater, ich gehe jetzt die Kameradinnen in Empfang nehmen. Du kommst doch auch bald!«

»Wenn man schon seinen Ärger hat, –ich glaube nämlich nicht an die Unschuld Röbis,« knurrte er der Hinaustretenden nach.

13

[169]

Es war ein blauer, warmer Frühlingsnachmittag, und ein reges Leben wogte auf dem Festrasen.

Gertrud suchte Röbi, kam aber nicht recht vorwärts, denn überall gab es zu grüßen, Hände zu drücken, kleine Gespräche zu führen und Mädchen aus dem Dorf aufzufordern, daß sie sich auf die Galerie des Hauses begeben möchten, wo ihnen Liseli Suter die Stühle anweisen werde.

Sie selber erfuhr mannigfaltige Aufmerksamkeit.

»Was ist das für ein donnerschönes Mädchen?« hörte sie einen straffen Bauernburschen neben sich fragen.

»He, das ist die Eierkönigin, die Friedensrichterstochter von Haldenegg. Gelt, die gefällt dir! Gesicht und Gestalt hat sie nicht gestohlen. Ihre Mutter war auch eine schöne Frau!« erwiderte ein Bauer dem jungen Mann.

Nun strich ihr der bildhübsche Bursche mit suchenden Augen nach, und sie hatte Mühe, ihn wieder zu verlieren.

Sie fand Röbi auf dem ziemlich versteckt hinter der Scheune gelegenen Vorbereitungs- und Sammelplatz der Spielenden, der gegen die Festbahn mit [170]einer großen Leinwand abgesperrt war. Der Raum glich einem Feldlager. Bürgerlich Gekleidete und Burschen in Tracht trieben sich darin umher, auch geschmücktes Vieh.

»Du, Hanstöni,« rief eine Stimme, »wenn Geißmann unter den Zuschauern sitzt, so mußt du ihm ein Ei ins Gesicht, unmittelbar auf die Nasenspitze, werfen und so stark, daß es zerplatzt!«

Gelächter erhob sich.

Die Augen Gertruds fragten brennend, was denn eigentlich geschehen sei, aber sie sah, daß Röbi jetzt keine Zeit für sie hatte.

Er zog die Uhr: »In fünf Minuten fangen wir an, genau um halb zwei. Wo bleibt Balz? –Er könnte mit dem Pferd längst da sein!«

»Hinten am Wald kommt er geritten!« rief Konrad Erb. »Der hat seinen eigenen Weg eingeschlagen.«

Ein paar Augenblicke später führte Balz den Fuchsen in das Lager hinein.

Nun war Röbi dieser Sorge ledig.

Balz hatte sich mit dem schwarzen Gewand, das er an hohen Feiertagen trug, und mit einem ungewöhnlich hohen Hut ausstaffiert, wie man ihn sonst hierzulande nicht sah, der also von seinem Aufenthalt in Westfalen stammen mochte. Der Hut ließ seine Gestalt noch dünner und länger, ja riesenlang erscheinen. Dazu trug er Spornstiefel, die ihm bis über die Knie reichten, und er wäre ein ganz stattlicher Osterreiter gewesen, wenn ihm die Kleider nur besser gesessen hätten. Es war aber sein Fluch, daß stets etwas Lächerliches [171]an ihm haften blieb, und wie gern ihm Gertrud eine Artigkeit über seine Erscheinung gesagt hätte, –es ging nicht.

»Ich will Euch noch rasch die Bänder annähen!«

»Hier sind sie! –und Nähzeug!« Konrad Erb bot sie her.

Balz strahlte vor Glück, als ihm Gertrud den buntseidenen Flitter auf die Schultern, die Brust und die beängstigend hohe Hutröhre festheftete.

Geschmückt von den Händen des Fräulein Freihofer, die nun seine Freundin war! Was erlebte er an Seligkeit!

Sie aber versetzte: »Ihr seht blaß aus, Balz, und um die Augen angegriffen.«

»Es ist nichts –mir ist wohl,« erwiderte er und betrachtete ihre Arbeit mit lachendem Blick.

»Geh jetzt, Gertrud!« mahnte Röbi.

Sie verließ den Lagerplatz. Auf ihre brennende Neugier, was dem Pfarrer Anlaß zu seiner Strafpredigt gegeben habe, war sie ohne Antwort geblieben.

Bescheiden und stolz in einem Zug, erschien sie auf der Galerie, trug in der Hand den für den Sieger bestimmten, aus Tannreisig geflochtenen Kranz, trat würdevoll durch die Mädchenschar vor, die sich bereits versammelt hatte, und hängte ihn an die Brustwand der reichverzierten Laube.

Aus der Volksmenge erhob sich Beifallsklatschen und Rufe: »Die Eierkönigin!«

Sie errötete bis in die Stirne und verneigte sich [172]in einer augenblicklichen Verwirrung unbewußt so lieblich, daß ein neuer Sturm des Beifalls losbrach.

Als hörte sie ihn nicht, setzte sie sich auf ihren hinter dem Kranz gelegenen Platz, schlug die Augen zu Boden und wagte es erst nach einem Weilchen, wieder in die Zuschauerschaft zu blicken.

Diese sah dem Anfang des Spieles mit um so größerer Spannung entgegen, als niemand recht wußte, was Röbi Heidegger neben dem Eierlesen noch für Dreingaben und Überraschungen bereithielt. Die Musik begann auf dem etwas erhöhten Bretterboden neben der Spielbahn ihre Weisen zu fiedeln. Die Gruppen des Volkes beruhigten und ordneten sich. Auf den Bänken zu beiden Seiten der Spielbahn nahmen die Eingeladenen der Jungmannschaft, ihre Familienangehörigen und die Behörden der Gemeinde Platz. Dahinter stand viel Volk aus dem Bergland, derbe Bauern mit sonngebräunten Gesichtern, Sennen in Lederkäppchen und roten Westen, Bauernmädchen und Frauen in lachender Tracht und mit sonntäglich frohen Blicken. Stickereifabrikanten waren mit ihren Familien in Wagen hergefahren und benutzten die Fuhrwerke als Schaustand. Stets noch stießen heranwandernde Haufen in die Menge. Der Sonnenschein lag so warm auf dem Gelände, daß die meisten Männer die Röcke auszogen, es schimmerte von hellen Frauentrachten und weißgestreiften Hemdärmeln. Das heitere Bild floß auf das innigste mit der hoffnungsreichen Stimmung in der Natur zusammen, mit der weiten Landschaft, dem blauen Himmel, ja sogar mit dem [173]Geschmetter der Vögel auf den Bäumen, die bei den Klängen der Musik ihre Lieder noch stärker als sonst erschallen ließen.

Gertrud erschien die Zuschauerschaft wie eine festliche Landsgemeinde.

Nein, es wäre bitter gewesen, den vielen Hunderten zu erklären, daß das Fest nicht abgehalten werden könne, und sie hatte wohlgetan, daß sie sich bei den Streitereien der Burschen ins Mittel gelegt und Balz zu dem Ritt bewogen hatte.

Röbi kam als Obmann der Jungmannschaft in die Mitte der Spielbahn gelaufen, am rechten Arm eine rote Binde, die Beine gestiefelt.

Er wandte sich mit gezogenem Hut gegen die Eierkönigin auf der Galerie und grüßte.

Sie nickte, lächelte und machte eine zustimmende Handbewegung. Das Spiel war eröffnet.

Mit federnder Kraft sprang er auf den Boden, auf dem die Musik saß, und rief mit weittragender Stimme: »Ich bitte um Ruhe! –Die Jungmannschaft von Haldenegg gestattet sich die Anzeige, daß sie ihr Hauptspiel, das Eierlesen, mit einigen Bildern aus dem Alplerleben umrahmt, die jenem vorangehen und folgen werden. Nachher findet ein Festzug ins Dorf Haldenegg hinunter statt!«

Unter lebhaften Beifallsbezeigungen verließen Röbi und die Musikanten die Bühne. Sie blieb einen Augenblick leer.

Ein Alter trat auf den Boden, eine ausgemergelte Gestalt mit silberweißem Haar, und fing an, das [174]Alphorn zu blasen. Bei dem Auf- und Abschweben der einfachen, feierlichen Klänge, die an der Wand der Scheune und am Rand des Waldes widerhallten, wurde es in der Zuschauerschaft kirchenstill, und viele entblößten andächtig die Häupter.

Das Spiel schaffte für die kommenden Darbietungen eine starke Stimmung, für die lieblichen oder kräftigen, mitunter auch komischen Bilder aus dem Leben der Bergbewohner und ihren Überlieferungen.

Als die Musik wieder auf dem Boden Platz genommen hatte und die Instrumente strich, sprangen, in Baumrinde eingekleidet und mit fliegenden Haaren, der Wildmann und die Wildfrau, die ausgerissene grüne Waldbäumchen auf den Schultern trugen, in die Spielbahn und bewegten sich in einfachen Tänzen. Der junge, halbzerlumpte Geißhirt kam barfuß und barhaupt mit Stecken und Salztasche daher und lockte seine Herde, die mit Gemecker und dem Gebimmel kleiner Schellen, ein paar auch in hitzigem Hörnerkampf, daherrannte. Darauf folgte das schöne Bild des Auszuges einer Rinderherde auf die Alp, voran die mächtige Heerkuh mit der großen Trichelglocke am Hals, hinter ihr die Schar prächtiger Kühe mit blumenumwundenen Stirnen und Hörnern, dazu die Sennen, Sennknechte und Sennbuben, an deren Trachtengewändern die Messinggurten und Schnallen blitzten. Auf ihren Kraxen trugen sie die mancherlei Geräte für den Sommeraufenthalt in den Berghütten, und in ihren Kuhreigen, zu denen sie die Handglocken [175]schüttelten, lobten sie die Vorzüge ihres Viehes und die Annehmlichkeit des Lebens auf den Alpweiden.

Das waren Bilder wie geschaffen für die vielen Bauers- und Bergleute, die sich unter den Zuschauern befanden; die festliche Verherrlichung ihres Alltags tat ihnen wohl, und jedes Bild erregte freudigen Jubel.

Das Spiel war aber nicht die einzige Sehenswürdigkeit, die Augen der jungen Burschen ruhten ebensogern auf dem Kranz von Mädchen, die von der Galerie auf die Veranstaltung herniederblickten.

Ihrer drei Dutzend mochten es sein, jede im Trachtenstaat des Berglandes, in hellblauer, schimmernder Seide, weiß gestreiftem und fein gefälteltem Mieder, glänzenden Silberketten und kostbarem Kollier, in zart durchbrochenen Handschuhen und mit dem zierlichen Haarpfeil. Da waren blonde und braune, kleine und großgewachsene, feine und dralle Mädchen, auf allen Gesichtern aber stand der Liebreiz und die Fröhlichkeit der Jugend, alle ließen die zarten, großen Flügel auf den Köpfen wiegen und grüßten lächelnd ihre Bekannten in der Menge des Volkes.

Auch Gertrud, die wußte, daß sie jetzt nicht sich selber, sondern dem Fest angehörte und daß Hunderte von Blicken jeder ihrer Bewegungen folgten. Dann und wann suchte sie mit den Augen verstohlen Röbi.

Etwas Würdiges, Bestimmtes lag in seiner Art, das Spiel zu leiten, manchmal sogar ein Anflug herrischen Wesens, doch gefiel er ihr, und sie dachte mit verhaltenem Stolz, er werde gewiß einmal Landammann.

Wer unter den Zuschauern ahnte, wie er am [176]Morgen noch gekämpft hatte, der junge Mann mit der freien Stirne!

Jetzt ruhten ihre Blicke auf dem Gesicht des Vaters, der mitten unter anderen bestandenen und ehrenfesten Männern ihr quer gegenüber in den Bänken bei der Spielbahn saß.

Er hatte seine frohe Laune wiedergefunden, und wenn sich ein neuer Aufzug entfaltete, klopfte er unbewußt mit der Hand aufs Knie. Das war ein untrügliches Zeichen, wie gut ihm die Bilder gefielen.

Er mußte sich doch wohl gestehen, daß Röbi mit dem Entwurf der ländlichen Gruppen einen glücklichen Griff getan und in kurzen Tagen und mit bescheidenen Mitteln so viel Schönes für das Osterspiel zustande gebracht hatte wie keiner zuvor, und er mußte sich auch an dem großen Ordnertalent seines künftigen Schwiegersohnes erfreuen, der den Auf- und Abzug der Gruppen mit unauffälligen Winken leitete.

Nicht weit vom Vater, doch etwas zurück, saß Pfarrer Geißmann.

Als Gertrud den Geistlichen erblickte, der mit den dunklen Augen ernst, fast düster in das Spiel schaute und nur selten ein Lächeln über das Gesicht huschen ließ, stieg in ihrem Herzen ein Groll gegen ihn auf, daß er just am Ehrentag Röbis eine so häßliche Anklage gegen die Jungmannschaft erhoben hatte und ihr damit heimlich das Fest verdarb.

Mehr fesselte sie sein junger, blonder Nachbar, der den Bildern mit frohgemuter Teilnahme folgte. Das war Pfarrer Alois Burgener aus Büchlisberg, der seine [177]kinderguten, lachenden Augen auf Gritli geworfen hatte. Schier unbegreiflich, daß sie die Hand dieses Mannes ausgeschlagen hatte, dessen frische und geistig bedeutende Erscheinung jedermann gewinnen mußte. Die Törin! Nein, sie verstand Gritli nicht mehr. Warum stets noch der Liebe zu Röbi nachgrübeln? Mit dem jungen Geistlichen war doch gewiß auch ein Glück zu gründen!

Das feine Gritli aber fehlte ihr in der Gesellschaft der schäkernden Mädchen. Was sie heute in dem fernen Bergdorf denken mochte? Gewiß erlebte sie einen schweren Tag.

Der erste Teil der Aufzüge aus dem Alplerleben war vorüber, und von der Empore der Musiker kündigte Röbi eine viertelstündige Pause an.

Mächtiger Beifall umbrauste den Schöpfer und Leiter des Festes.

In das Volk kam strömendes Leben, um das Erfrischungszelt des Sternenwirtes drängte sich die Menge.

Viele Jungburschen aber grüßten forschend, prüfend, wählend zu den Mädchen auf der Galerie empor. Sie warfen ihnen eine Menge in bunte Papiere gewickelter Karamelsteine zu. Die Mädchen fingen die Plättchen geschickt auf, entledigten sie rasch ihrer Hüllen und lasen die den Zuckersteinen beigegebenen fröhlichen Spruchzettel, die allerlei mehr oder weniger witzige Anspielungen auf Liebe und Ehe enthielten. Lachen überall, auch Spottlachen, denn nicht alle Verse gefielen. Die, welche von den Empfängerinnen zu plump erfunden wurden, glitten wieder zu den Burschen [178]hinunter; wenn den Mädchen aber ein Spruch gefiel, so warfen sie dafür dem Spender eine Blume zu oder winkten ihm, daß er ein Osterei als Gegengeschenk zu erwarten habe.

So war auch im kleinen mancherlei Spiel.

Nun aber kamen Vree und ein paar Gehilfinnen mit dem Abendbrot, und bald erquickten sich die Eingeladenen Gertruds an Kaffee und Kuchen, wovon Hügel aufgeschichtet lagen.

Sie jedoch verließ heimlich ihren Platz, stieg ins Freie hinunter und suchte Röbi.

Dabei sah sie, daß der Vater und Pfarrer Geißmann in lebhaftem, zugleich ernstem Gespräch beisammenstanden. Sie streifte so nahe an den Männern vorbei, daß sie gerade noch hörte, wie der Pfarrer sagte: »Herr Friedensrichter, ich übernehm's schon!«

Was? –Die erhitzten Köpfe der beiden gefielen ihr nicht.

Sie fand Röbi wieder im Lager, neben ihm Balz, der den Fuchsen liebkoste, Hanstöni, Uli Kübler und andere, die sich für die kommende Arbeit gerüstet hielten.

Röbi saß etwas erschöpft auf einem Schemel und ruhte sich mit langgestreckten Beinen aus.

Sie lachte ihn mit leuchtenden Augen an und sagte ihm aus vollem Drang der Seele ein paar Worte des Stolzes über das Spiel.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und versetzte mit mattem Lächeln: »Ich wollte, es wäre vorbei!«

Nun aber sprang er auf: »Die Viertelstunde ist [179]um –vorwärts! Sind die Radfahrer, welche die Wachen an den Straßen zu halten haben, fort?«

»Fort!« erwiderte ihm Konrad Erb.

Sie sagte Balz noch ein Wort der Wegstärkung und ging, über die müde Bemerkung Röbis etwas in Sorgen, wieder auf die Galerie.

Auch die Zuschauer hatten ihre Plätze wieder aufgesucht.

Die Musik spielte ein fröhliches Volkslied.

Da ritt Balz neben der Scheune auf die mit Sägespänen bestreute Bahn vor. Ihm folgte zu Fuß der Werfer, der Wannenhalter, dann ein Paar als Halbnarren gekleidete Jungen, die in Körben die Eier für das Spiel trugen, und die Wachen, ein Halbdutzend Burschen, denen die Aufsicht darüber oblag, daß das Lesen nach alter, guter Regel vor sich gehe.

Nun war dem Volk eine große Frage gelöst –das Geheimnis, wer reiten werde!

Mächtiges Gelächter über den langen, dünnen Reitersmann entstand, Rufe erschollen: »Der sitzt ja wie der Schneider auf der Ziege!« Und das Gelächter pflanzte sich so weit hin, als es Zuschauer gab.

Gertrud erschrak. Wie mochte Balz unter dem Spott leiden!

Noch etwas spannte ihre Sinne.

Der Vater und der Pfarrer hatten die Plätze gewechselt, Geißmann saß vorn, und jetzt stand er auf, wie wenn er in die Spielbahn hineintreten wollte.

In diesem Augenblick hatte Balz, der den Pfarrer wohl gar nicht bemerkte, einen guten Einfall. Um [180]sich dem Gelächter des Volkes zu entziehen, wandte er das Pferd mit raschem Ruck, sprengte die Spielbahn zurück, hinauf in die Wiese –fort –fort, und manche glaubten, daß er Reißaus nehme!

Verblüfft setzte sich der Pfarrer wieder.

In großem Bogen kehrte Balz wieder in die Nähe des Festrasens zurück, und diejenigen unter den Zuschauern, die etwas vom Reiten verstanden, merkten, daß das komische Langbein sein warmblütiges Tier mit großer Sicherheit beherrschte. Da die von Haldenegg manches Rühmenswerte von dem Gesellen zu erzählen wußten, gaben sich auch die Gäste von auswärts mit der Erscheinung des lächerlichen und doch so behenden Reitersmannes zufrieden.

Während sich Balz auf den Wiesen tummelte, legten die beiden jungen Halbnarren die Eier, die der Werfer in sein Ziel schwingen sollte, aus den Körben auf die Bahn. Der eine reihte sie allzu nah aneinander, sein Gegner legte sie, ihn scheinbar verbessernd, zu weit voneinander weg, sie maßen sich gegenseitig die Entfernungen nach und gerieten darüber in eine lustige Balgerei, bis sie die Eier doch nach Vorschrift ordneten, das erste drei Klafter vom Ziel, jedes folgende einen Fuß vom vorhergehenden, das letzte ans Ende der weithinlaufenden Bahn.

Die Spaßmacher verschwanden, die Musik setzte zu klingendem Marsche ein, die Spieler traten näher, beide die Hemdärmel zurückgekrempelt, die Beine bis zu den Knien mit Lederhosen bedeckt und barfuß. An Größe der Gestalt erreichte nur Hanstöni das [181]Mittelmaß, aber ihm wie Kübler gaben die stählernen Glieder etwas Reckenhaftes.

Sie schauten gleichmütig in die Zuschauerschaft und grüßten mit fröhlichem Ruf zu den Mädchen empor.

Von der Musikbühne winkte Röbi zu Balz in die Wiese hinaus.

Da ritt der Lange auf seinem Fuchs heran.

Weniger Gelächter als vorhin, dafür Beifall begrüßte ihn.

Die Spieler und der Reiter schüttelten sich die Hände, ein Versprechen, daß man, wem auch der Sieg zufalle, Freund bleiben wolle, und Hanstöni rief ihm noch einen seiner Scherze zu: »Wer hat schon ein solches Gestell auf einem Pferd gesehen? Erschreck mir die jungen und alten Weiber in Buchen und Buchlisberg nicht zu stark!«

»Wenn ich nur erst dort wäre!« dachte der Reiter.

Eben trat Röbi noch an Balz heran und bat ihn zum letztenmal um Vorsicht.

Auf der Galerie hatte sich Gertrud erhoben, sie wußte selber nicht um ihre grenzenlose Spannung.

Da eilte plötzlich Pfarrer Geißmann, das Feuer der Entrüstung in den Augen und vor Erregung zitternd, unter die Burschen auf der Bahn.

An Röbi vorüber wandte er sich zu Balz: »Leichtsinniger –ich verbiete Euch den Ritt –Ihr waret ja gestern noch schwer krank!«

Die Burschen waren über den kühnen Eingriff des Geistlichen sprachlos.

Hanstöni war der erste, der sich wieder fand. Auflachend [182]gab er dem Fuchsen einen Klaps auf den Hinterschenkel und rief: »Vorwärts, Balz!«

Balz folgte dem Ruf, gab dem Pferd die Sporen, ritt durch die Bahn, schwenkte den Hut und grüßte zu Gertrud empor, die ihm mit Hunderten von Zuschauern nachwinkte. Lachen und Ermunterungsrufe folgten ihm, bis er in die Straße nach Haldenegg einlenkte.

Eine maßlose Überraschung stand auf dem Gesicht des Pfarrers wie der Burschen.

Hanstöni entschuldigte sich lachend: »In der Kirche seid Ihr der Herr –auf der Spielbahn aber sind wir es!« Mit scherzhafter Bewegung gegen den Pfarrer tat er, als ob er ihn mit seinen baumstarken Armen in den Zuschauerplatz zurückwerfen wolle. »Macht uns nicht noch wilder, als wir schon über Euch sind!« Und zu Kübler gewandt: »Anfangen, Uli!«

Dem Pfarrer blieb nichts als die Einsicht übrig, daß er den kürzeren gezogen habe; er winkte dem Freihöfler, der ihm zornig zu Hilfe kommen wollte, ab, und zurückweichend flüsterte er hochroten Gesichtes Röbi zu: »Wir sind alte Freunde, ich habe dich aus deiner Bubenzeit lieb! Darum hoffe ich, daß Balz nicht auf dein Gewissen komme!«

Röbi erwiderte kein Wort, er bebte aber vor Ärger oder Furcht.

Die Einmischung des Pfarrers Geißmann in die Angelegenheiten der Jungmannschaft und sein Widerspruch gegen den Ritt hatten sich so rasch zugetragen, daß die Zuschauer, durch den Abritt Balthasars gefesselt, [183]nicht recht begriffen, was der Handel bedeuten solle. Viele glaubten, daß der Pfarrer Balz einen Glückwunsch auf den Weg habe mitgeben wollen; diejenigen aber, die gemerkt hatten, daß es sich um einen ernsten Zwischenfall handle, mißbilligten sein Auftreten und gönnten ihm den Mißerfolg mit verhaltenem Lachen.

Der Freihöfler schüttelte dem Empörten in warmer Zustimmung die Hand.

Gertrud hatte, ohne die Worte des Pfarrers und Hanstönis zu verstehen, den Vorgang begriffen; sie war erbleicht auf ihren Stuhl zurückgesunken, und der große Zorn, der im Gesicht ihres Vaters stand, ängstigte sie bis zum Herzpochen.

Hanstöni und Uli Kübler standen schon im Spiel.

Wie im Scherz nahm Hanstöni die ersten der schnurgerade am Boden hingelegten Eier, warf sie die kurze Strecke ins Ziel dahin, und Kübler beobachtete mit Luchsaugen die heranfliegenden, fing manche geschickt im Wurf mit der Hand auf, die meisten aber in dem flachen, weichgepolsterten Korb, der Wanne, die er mit stetem Schwung nach dem Lauf jedes Eies bald vor, bald über sich, tief und hoch und links und rechts hinaus schwenkte, und reichte die aufgefangenen den zudienenden Halbnarren, die sie in den Korb legten.

Stück um Stück, und keines ging verloren.

Die elegante Hantierung der beiden erregte das Wohlgefallen der Zuschauer.

»Die könnten sich ja als Jongleure in einem Variété anwerben lassen,« hörte man, und bei manchem schönen Wurf ertönten Beifallsrufe. Sie galten vorab Kübler, [184]dem kleinen, dürren Männchen, das in ständiger Bewegung seine Rolle mit unbewußter Anmut spielte, während Hanstöni die scherzende Überkraft entfaltete.

Dann und wann spiegelte er den Zuschauern den Unbehilflichen vor und warf ein Ei, als sei es ihm zufällig entglitten, in weitem, flachem Bogen über das Volk, wobei Mädchen und Frauen aus Sorge für ihre Kleider aufkreischten; doch waren die Würfe so gut berechnet, daß die Eier ins Grün der Wiese fielen. Die Burschen der Gegenpartei ersetzten jedes, das nicht ins Ziel ging, durch ein anderes.

Schon hatte Hanstöni die ersten paar Dutzend Eier in die Wanne geworfen, und die Zuschauer schlossen Wetten um ein Abendbrot unter sich ab, wer gewinne, Werfer oder Reiter.

Wann erreicht der Reiter Buchen?

Mit freiem Auge und mit Feldstechern verfolgte das Volk von der Höhe des Freihofes den Ritt, wie Balz in Haldenegg verschwand und aus den Häusern hervor wieder auf dem weißen Band der Straße erschien, an der sich lose Gruppen von Neugierigen aufgestellt hatten, um ihn vorbeisprengen zu sehen. Bald darauf verlor er sich in die Tiefe des Buchener Tobels, einer jener drei Schluchten, welche die Dörfer trennen.

Auch Gertruds Augen folgten unablässig Balz. Seit sich der Pfarrer in die Veranstaltung der Burschen gemischt hatte, witterte sie irgend eine Gefahr für ihn. Wenn sie doch nur wüßte! Sie konnte ihre innere Unruhe und Angst kaum mehr bemeistern, namentlich [185]nicht, als erst der Pfarrer, nachher der Vater wie zum Zeichen des Widerspruchs gegen das Spiel ihre Sitze im Zuschauerraum verließen und nicht wiederkamen. Die leeren Plätze muteten sie wie Rachen böser Tiere an, die für eine Beute geöffnet sind.

Wo steckte denn Röbi?

Sie hatte nur den Kopf zu wenden gebraucht, er stand dicht hinter ihr! Blaß und in halbem Fieber lehnte er an der Rückwand der Galerie und hielt den Feldstecher hinaus gegen Buchen gerichtet.

Gottlob, dort tauchte Balz aus der Schlucht auf.

Ein Weilchen später hörte man aus der Zuschauerschaft die keifende Stimme einer alten Frau, die mit ihrem Mann in Zank geraten war. Pfiffe in ihrer Umgebung mahnten sie zur Ruhe, aber jetzt kreischte das Weib gegen die Pfeifenden.

Da warf ihr Hanstöni aus der Bahn heraus ein Ei an den Kopf.

Helles Gelächter!

Die beschmutzte Alte drängte in Wut und Empörung gegen den Werfer heran. »Du Tölpel –du Rabenaas -du Unflat!« und fuchtelte mit den Armen.

»Nichts für ungut!« lachte Hanstöni. »Ich habe Euch bloß den Mund schließen wollen –Nun schreit Ihr ja noch mehr!«

Die Alte merkte, daß, wer den Schaden hat, für den Spott nicht zu sorgen braucht. Immer noch fuchtelnd, zog sie sich unter dem Gelächter des Volkes zurück.

»Nun aber keine Eier mehr verwerfen!« mahnte die eigene Partei, und in eiligem, doch sicherem Spiel [186]rückte Hanstöni mit dem Auflesen und Werfen der Eier stets weiter von seinem Partner ab.

»Der Reiter ist in Buchen angekommen!« scholl es aus dem Volk.

Hanstöni hatte jetzt aber auch das erste Hundert Eier erledigt, und selbst die Kenner konnten nicht voraussagen, wem der Sieg zufallen werde.

In Buchen war für den Reiter ein durch die Spielregeln vorgeschriebener Halt, während dessen er vom Pferd zu steigen hatte und der Löwenwirt ihm einen Trunk zu reichen pflegte.

Röbi hielt die Uhr in der Hand.

Nein, Balz säumte keinen Augenblick zu lang –er ritt schon wieder –dem nächsten Halt entgegen, Büchlisberg!

Inzwischen kam für den Schwinger, der sich stets weiter vom Wannenhalter entfernte, der aufregendste Teil des Spiels.

Wie geschickt er auch die Eier in weitem, flachem Bogen ins Ziel warf und ihm der zähe Kübler mit schneller Berechnung des Fluges den Korb darhielt, fiel ein Ei vor der Wanne zu Boden, und als er die Schwungkraft der baumstarken Arme verdoppelte, flog ein anderes so hoch, daß es der Partner nur noch mit einem Luftsprung auffangen konnte.

Man spürte eine leise Unsicherheit an Hanstöni.

Der Reiter tauchte unterdessen in die Waldschlucht zwischen Buchen und Büchlisberg hinab, durch die der Brummibach fließt.

Das war nach Vorschrift das Zeichen für eine [187]Pause auf der Spielbahn, die so lange dauert, bis der Reiter in Büchlisberg einritt, das hübsch auf der Höhe der Uferhalde liegt.

Kübler und Hanstöni erquickten sich an einem reichlichen Trunk Apfelsaft und unterhielten sich vor den Leuten, die in der Nähe saßen oder standen, lebhaft lachend und ohne die Anstrengungen merken zu lassen, die schon hinter ihnen lagen. Zwischenhinein aber führten sie ein Flüstergespräch, das nur sie unter sich hörten.

»Du, nimm dich zusammen, ich fürchte, wir verlieren!« mahnte Kübler.

»Ich auch!« gab Hanstöni zurück. »Ich habe ja sonst Nerven wie ein Stier, aber heute –ich merk's –ist mir die Wut auf den Pfarrer in die Arme gefahren!«

Auch droben auf der Galerie unterhielt sich ein Paar flüsternd über Geißmann: Röbi und Gertrud.

»Warum wollte er Balz zurückhalten? Es liegt etwas in der Luft, worüber mir niemand Auskunft gibt. Um Gottes willen, Röbi, so sprich! Warum haben der Vater und der Pfarrer das Spiel verlassen?«

Um den Mund Gertruds zuckte das Weinen.

»Ich weiß es nicht! Sei tapfer, Trudi, ich muß es auch sein!« bat er, stellte sich wieder an die Wand und hob den Feldstecher.

Jetzt ritt Balz in Büchlisberg ein, wohlbehalten, und Röbi atmete hoch.

Schon hatte der Reiter auch diesen Halt hinter sich, ritt auf der Straße gegen Haldenegg, deren Band [188]durch das Runsbachtobel entzweigeschnitten wird. Er und sein Roß wuchsen vor den Blicken, und man konnte selbst die Gestalten der Burschen erkennen, von denen ihn die seiner Partei mit Ermunterungsrufen anfeuerten, während ihm die Gegner Verwirrendes zuriefen: »Du reitest ja auf drei Hufeisen! –Du hast am Knie die Hosen zerrissen.«

Er verschwand in der Schlucht.

Auf der Bahn hatte das Spiel wieder eingesetzt.

Hanstöni hatte die Weste abgeworfen; nur noch mit kurzer Hose und offenem Hemd bekleidet, raffte er in Händen und Armen so viel Eier zusammen, als sie fassen wollten, rannte damit in die Wurfweite des Ziels und wieder zurück.

»Ruhig Blut!« rief Uli Kübler dem Uebereifrigen ein paarmal zu.

Was half's? –Hanstöni verwarf etliche Eier, aber nicht aus Scherz, sondern aus einer Unsicherheit, als ob sich seine Kraft im Rennen, Bücken, Sammeln, Wenden, Zurückspringen, Zielen, Werfen erschöpft hätte. Und ein paar Eier glitten ihm aus der Hand.

»Der Reiter gewinnt!« flüsterte es schon unter den Zuschauern.

Nein! Seltsam lang tauchte Balz nicht aus der Schlucht hervor.

Alle Augen und Feldstecher waren auf die Stelle der Straße gerichtet, auf der er aus der Schlucht hätte ins freie Feld herausreiten sollen.

»Der Narr –jetzt, wo er gewinnen könnte!« hörte man Stimmen.

[189]

»Vielleicht ist ihm ein Unfall geschehen,« erwiderten andere.

Gertrud und viele ihrer Gespielinnen waren aufgestanden und spähten in wortloser Spannung.

In Röbis Händen zitterte der Feldstecher. »Gertrud!« rief er leise.

Als sie den Kopf wandte, ergriff er ihre Hand und führte sie stumm von der Galerie in den rückliegenden, mit alten Landschaftsbildern ausgeschmückten Hausflur.

Da waren sie für den Augenblick allein.

»Röbi –jetzt sprich!«

Er bedeckte ihr heißes Gesicht mit wilden, bebenden Küssen, umschlang sie und neigte den Kopf auf ihre Schulter.

»Gertrud, mich tötet's! Ich bin der schlechteste Mensch auf Gottes Welt. –Ich habe dir nicht gesagt, daß Balz einen Heißhungeranfall gehabt hat –er ist noch krank –eine halbe Stunde vor dem Ritt wurde ihm übel –mit Kaffee und Kirsch haben wir ihn wieder auf die Füße gebracht. –Jetzt –jetzt aber ist er gestürzt –wenn ihn doch nur der Pfarrer hätte zurückhalten können!«

Wie ein feuriger Strom, der an die Luft brechen muß, kam das Bekenntnis aus seiner Seele und erstickte in Schluchzern.

Als ob in ihrem Innern etwas breche, stieß sie einen leisen Schrei aus: »Röbi, was hast du getan? Unsere Liebe steht auf dem Spiel! –Wenn Balz verunglückt ist, –denke, was tut der Vater!«

[190]

Die Worte liefen ihr wirr durcheinander.

»Was kommt, sehe ich furchtbar deutlich!« stöhnte Röbi.

Sie umschlangen sich, eines spürte das schmerzhafte Herzpochen des anderen.

Standen sie kurz so, standen sie lange?

Sie hörten die erlösenden Rufe nicht: »Dort kommt er –dort kommt er!«

Erst Schritte im Gang schreckten sie auf.

»Ich suche dich überall, Gertrud!« Es war Liese Suter, und jetzt lachte sie: »Ich habe dir nur sagen wollen, Gertrud, daß Balz wieder munter zum Vorschein gekommen ist! –Laßt Euch durch mich nicht stören im Liebsein!«

Trällernd ging sie.

Das Paar fand sich nach und nach wieder zurecht und durfte sich wieder unter die Menschen wagen.

Wie war die Eierkönigin blaß!

Ja, dort ritt Balz gegen das Dorf Haldenegg heran, doch saß er schlechter zu Pferd als vorher.

Röbi bemerkte es sogleich. Und Balz trug beschmutzte Kleider –also war ihm in der Schlucht doch ein Unfall geschehen! Auch die Zuschauer sprachen darüber, nahmen aber an, der Sturz sei ungefährlich gewesen. »Wenn er etwas schärfer ritte, würde er noch Sieger!«

Hanstöni warf die Eier stets schlechter, und in den vorderen Reihen begann man zu spotten: »Wir müssen die Bänke räumen, sonst bekommen wir sie an die Köpfe.«

[191]

»Mir ist der Arger über den Pfarrer in die Arme gefahren. Der wäre gescheiter gar nicht gekommen, der Spielverderber, der nachher doch wieder weggelaufen ist,« grollte er im Lauf den Jungburschen zu.

Er wurde lässig, man spürte, daß er das Spiel heimlich verloren gab.

Doch auch Balz schien sich um den Sieg nicht sonderlich zu bemühen. Langsam und schlecht ritt er aus dem Dorf Haldenegg hervor, überhörte die Anstachlungen der an der Bergstraße stehenden Wachen und ließ sich, als er schon in die Nähe des Festplatzes gekommen war, weder durch das Tücher- und Hutschwenken des Volkes noch durch die Juchschreie der Burschen zu einem rascheren Ritt bewegen.

Umsonst die Zurufe: »Eilt –eilt! –Ihr könnt noch gewinnen –vorwärts doch –vorwärts!« Zwar hielt er krampfhaft die Zügel, aber sein Kopf erschien steif, die eingesunkenen Knie schlotterten ihm, und man sah wohl, daß mehr der Fuchs seinen Herrn als dieser sein Tier lenkte.

Gelächter und Rufe des Mitleids wurden laut.

Röbi stand bei der Musik, die zu einem schmetternden Empfang rüstete. Der große Silberbecher, aus dem er dem Sieger und dem Besiegten den Ehrentrunk reichen sollte, zitterte in seinen Händen, und auf die kurze Rede, die er für sie vorbereitet hatte, konnte er sich nicht mehr besinnen.

Neben ihm erwartete Gertrud mit dem grünen Siegeskranz den Ausgang des Spiels, aber nicht als strahlende Osterkönigin, sondern mit einer so blassen [192]Würde, als käme sie vom Grab eines lieben Verstorbenen.

Hanstöni war bis auf sechs oder sieben Eier mit dem Schwingen fertig geworden, er konnte sie alle in die Pratzen fassen, nur die beiden letzten nicht.

Bevor er sie geworfen hatte, ritt Balz in die Bahn, vorwärts bis vor den Wannenhalter, und hielt dort das Pferd an.

Die Zuschauer ergingen sich in Freudenrufen.

Das Langbein Sieger, Hanstöni der Besiegte! Mit ingrimmigem Lachen verwarf er ein paar der Eier in die Wiese hinaus, die anderen schenkte er den nächststehenden Kindern und reichte Kübler die Hand: »Wir haben heute wohl zum letztenmal Eierlesen gespielt –alle Achtung vor dir, Uli –mich hat der Pfarrer um jedes Glück gebracht.« Voll Galgenhumor über den Ausgang des Spiels schlangen sie die Arme ineinander, jodelten und riefen den Mädchen auf der Galerie zu: »Tanzen müßt ihr ja doch mit uns!«

Nun aber wandten sie sich zum Sieger, um ihm nach altem Brauch die Hand zu drücken.

Da verging ihnen das Lachen.

Mit verglasten Augen saß Balz auf dem ruhig stehenden Tier, bewegungslos und wie entseelt, den hohen Hut zerbeult, die Kleider beschmutzt.

Röbi wollte ihm den Becher reichen, Balz rührte sich nicht. Als ihm aber die blasse Eierkönigin mit einem leisen Lächeln den Kranz entgegenstreckte und mahnte: »Nehmt ihn doch, Balz!«, da kam etwas Leben [193]in seine Züge. Die Hand klammerte sich schwach um das Gewinde, und er versuchte ihr zu danken.

Nur ein Gurgellaut kam aus seinem Mund –der Kranz entfiel ihm –auf seine bleichen Lippen quoll ein großer Tropfen frischen, roten Blutes.

Da hob Hanstöni den Schwankenden vorsichtig vom Pferd.

»Balz –Balz!« stöhnte Gertrud.

Da wandte er ihr den Blick zu.

Man legte den halb Ohnmächtigen auf ein vom Lagerplatz herbeigeschafftes Tuch, und bald bildete sich ein Ring von Neugierigen um ihn her.

Mit schweren Atemzügen stieß er Blut auf die Lippen.

Röthlisberger drängte durch den Kreis zu seinem Fuchsen und untersuchte ihn. »Gottlob, der hat keinen Schaden genommen –das hätte mir noch gefehlt!« Und mit einem Blick auf Balz: »Nun, Röbi, da hast du die Quittung für deine Zwängerei!«

Ruchegger stand giftig lächelnd dabei: »Es bleibt eine ewige Schande für Haldenegg, daß der Geselle hat reiten müssen. Und wer ist schuld?«

Röthlisberger stieg auf sein Tier und ritt dorfwärts; mit ihm verschwand auch Ruchegger.

Röbi, um Balz beschäftigt, würdigte sie keiner Erwiderung, sondern trat dem Doktor Heuscher von Buchen entgegen, der sich unter der Zuschauerschaft befunden hatte und jetzt mit Konrad Erb herankam.

»Irgend eine innere Verletzung ist wahrscheinlich,« erklärte der gemütsruhige Fünfziger, »vielleicht ein [194]Lungenriß. Er kann in der Nacht sterben, er kann aber auch am Leben bleiben. Legt ihn auf ein Wägelchen und führt ihn heim, ich kann hier keine genauere Untersuchung vornehmen. Wo ist er zu Hause?«

»Hier –hier!« zitterte die Stimme Gertruds, und sie deutete auf den Freihof.

Röbi und Hanstöni trugen Balz so, wie er auf dem Tuch lag, ins Haus, und hinter ihnen schwankte wie eine im Dunkeln Tastende Gertrud.

Die Volksmenge, die dem anreitenden Balz zugejauchzt hatte, erfuhr nun auch rasch von dem Unglücksfall.

Bald kamen, ihre Räder vor sich herstoßend, die Burschen, die dem Reiter die Wacht gehalten hatten, auf den Platz herauf. Sie brachten den Harrenden den näheren Bericht über das Geschehnis. Schon beim Einritt in Büchlisberg habe Balz geklagt, ihm sei ein Wegstück so schwarz vor den Augen geworden, daß er kaum die Straße habe erkennen können. Nach der Rast habe er sich erfrischt gefühlt, in der Schlucht sei aber wohl wieder eine Schwäche über ihn gekommen. An einer Stelle, die als ungefährlich gelten müsse, sei er, statt dem Bogen der Straße zu folgen, wie blind, geradeaus geritten und kopfüber, seitlich vom Pferd, das sich von selber wieder aufrappelte, die Böschung hinunter auf einen feuchten Wiesenfleck gestürzt. Scheinbar hatte er sich nicht viel Leides getan. Als Hilfe kam, war er schon wieder aufgestanden, und außer ein paar Kritzen von Brombeerstauden habe sich keine Verletzung finden lassen. Sie hätten ihm [195]das Gesicht mit Wasser und Branntwein gewaschen, worauf er wieder auf das Pferd zu steigen und den Ritt zu beendigen verlangte. Da hätten sie allerdings bemerkt, daß ihm der Sturz etwas den Atem verschlagen habe, aber an einen ernsten innerlichen Schaden habe keiner von ihnen gedacht.

Die erschrockenen Burschen berieten, ob man das Fest, für das noch etliche Bilder aus dem Alpenleben vorgesehen waren, aufheben oder zu Ende führen wolle. Sie beschlossen, am ursprünglichen Plan festzuhalten; man vermeide damit ein zu großes Aufsehen über das Unglück.

Sie holten Röbi, der hinter dem Haus umherirrte, damit er das dritte Spiel ankündige, aber die Stimme versagte ihm bei den wenigen Worten, und als er von der Bühne wieder zur Erde stieg, strauchelte er.

»Der arme Student,« flüsterten die Leute da und dort, »ihm ist das Unglück zu Herzen gegangen, als habe es ihn selber betroffen!«

Die Eierkönigin war überhaupt nicht mehr zu sehen. Die Mädchenschar auf der Galerie lichtete sich. Die Musik spielte, der angemeldete dritte Teil war im Gang, trotzdem aber begann das Volk vom Festplatz abzuströmen. Der jähe Wechsel frühlingshafter Festfreude und blutigen Unglücks hatte jedermann erschüttert, und als sich das Gerücht verbreitete, Balz sei drinnen im Freihof bei der Untersuchung durch den Arzt gestorben, brachen die meisten Zuschauer fluchtartig auf.

[196]

Selbst die Spielenden versagten, und rasch kam der stimmungsvoll erdachte Schluß der Veranstaltung: eine Gruppe von Sennen rief durch die großen hölzernen Milchtrichter den Alpsegen feierlich über die vom Abend verklärten Lande.

»Wozu der Segen auf das mißratene Fest?« spottete Hanstöni.

Umsonst versuchte er den Zug ins Dorf hinunter zu ordnen. Viele, die teilnehmen sollten, hatten sich schon aus dem Staube gemacht, und bei dem Rest begegnete er völliger Unlust.

»Ich fürchte, der Sternenwirt hat für heute abend zu viel gekocht!« rief er Konrad Erb zu.

»Wer mag noch an Essen, Trinken und Tanzen denken!« erwiderte der Bucklige.

»Ich! Meine Runden will ich haben –leb wohl, Konrad!« lachte der Senne.

Einer nach dem anderen ging.

Im Sonnenuntergang lag der Freihof so still, daß man nichts als das Plätschern des Brunnens hörte.

Den Kopf tiefnachdenklich gesenkt, die Hände auf dem Rücken, kam der Freihöfler vom Walde her. Von heimkehrenden Festbesuchern wußte er, was geschehen war, sogar mehr: –daß Balz gestorben sei.

Die verwüstete Wiese würdigte er keines Blickes.

Als er in die Stube trat, saß Röbi am Tisch, den zerzausten Kopf auf die Arme gebeugt, und schluchzte leise in sich hinein.

Am Fenster stand Gertrud, die ihre stolze Tracht bereits mit einem einfachen Kleide vertauscht hatte und [197]in sorgender Trauer nicht achtete, wie der letzte Abendstrahl um ihre Schläfe spielte und ihr die Zöpfe vergoldete.

»Ist es wahr, haben wir einen Toten im Haus?« fragte der Freihöfler dumpf, warf sich in einen Stuhl und faltete die Hände über den Knien.

Gertrud fuhr wie aus einem dunklen Traum empor. »Nein, Vater, aber man weiß nicht, was geschieht. Gegenwärtig sitzen zwei Ärzte bei Balz und eine Wärterin für die Nacht. Ich durfte ihn doch ins Haus nehmen?«

Der Freihöfler brummte etwas zwischen den Zähnen, was eine halbe Zustimmung war.

Auf einmal hob auch Röbi den Kopf.

»Vater!«

Da schüttelte der Freihöfler das starke Haupt.

»Ich mag dieses Wort aus deinem Munde nicht mehr hören. Die beiden goldenen Ringe, von denen ich gesprochen habe, sind zersprungen. Ich glaube, Röbi, es ist am besten, du gehest heim. Bevor wir Aussprache halten, wollen wir alle drei zuerst einmal still über den traurigen Tag nachdenken!«

Langsam und schwer fielen die Worte.

Gertrud schluchzte laut auf.

Schwankend erhob sich Röbi und verließ das Haus.

Er ging nicht heim, im Mondlicht irrte er durch die Frühlingsnacht, durch Feld und Wald, dann trieb es ihn wieder gegen den Freihof hinauf und wieder hinweg, irgendwohin, zweimal auch gegen das Dorf hinunter. Als er das erstemal die Klänge der Tanzmusik [198]aus dem Sternen hörte, rüttelte ihn das Weh; keine Gewalt der Erde hätte ihn jetzt in fröhliche Gesellschaft bewegen können, ein Haß auf das Gasthaus sprühte in ihm auf. Das andere Mal war die Musik verklungen, lag das Haus schon im Dunkeln, obgleich es erst zehn Uhr war. Begreiflich! –Er irrte wieder hinaus in die Felder und Wälder. In einer Wiese stolperte er, blieb liegen im taunassen Gras und betete zu den Frühlingssternen: »Herrgott, laß den langen Balz leben –laß mir meine Gertrud! –Wenn aber einer sterben muß, nimm mich hinweg –mich –mich!«

Stets wieder mußten seine brennenden Augen den Freihof suchen, der sich dunkel vom leislichten Nachthimmel abhob. Aus einem Fenster schimmerte Licht. Galt der friedliche Schein einem Lebendigen oder einem Toten?

Als das Morgenrot den Osten erhellte, wuchs und aufflammte, stand er in der Nähe des Gehöftes und schaute mit verstörten Augen über den Festplatz von gestern, auf die zerbrochenen Eier und die Reste eines schmausenden Volkes.

»Pfui Teufel!« stieß er hervor, lief zum Haus hin und bettelte mit leiser Stimme: »Gertrud –Gertrud!«

Sie hatte ihn auf den ersten Anruf gehört und schloß vorsichtig die Türe auf. An ihrer Übernächtigkeit und an dem Kleid, das sie trug, merkte er, daß auch sie den Schlaf nicht gesucht hatte.

»Ist er gestorben?« fragte er im Flüsterton.

»Nein, aber er hat hohes Fieber und redet irre.

[199]

Ich habe mit der Wärterin gewacht. Wenn ich bei ihm sitze und ihm die Hand halte, wird er ruhiger.«

»Ich wollte, ich wäre Balz!« stöhnte Röbi.

»Geh jetzt heim, du Armer du!« bat sie. »Du siehst schrecklich verwahrlost aus von deiner Nachtwanderung –geh, Röbi!«

Ihre zitternde Hand streichelte seine Wange.

»Und wie steht es zwischen uns, Trudi?«

»Geh, Röbi, geh –der Vater will heute mit dir sprechen!« –-

Sie barg das Gesicht weinend in beide Hände, und ihre Schluchzer waren die stärkste Antwort auf seine Frage.

Elend, wie er gekommen war, wandte er sich.

Erst gegen neun Uhr morgens lief er ins Dorf hinein. Wie ein Wahnsinniger. Seine Großmutter, die nach ihm ausspähte, stellte ihn auf der Straße. Er weigerte sich aber, ihr ins Haus zu folgen.

Da schrie die wilde Alte: »Das kommt von deinem schlechten Gewissen –du Mörder du! Ich weiß ja wohl, wie ihr mit Balz umgegangen seid!«

Um den Zank war ein kleiner Auflauf von Leuten entstanden, darunter Konrad Erb mit etlichen Burschen.

Auf den schrecklichen Zuruf der Greisin stürzte Röbi zusammen, und die Burschen trugen ihn ins Haus.

14

[200]

Die Morgensonne schien in die Stube.

Der Freihöfler saß zum Ausgehen gerüstet am Pult und schrieb. Es war eine seiner Gewohnheiten, über Schweres, das ihn bedrängte, einen schriftlichen Abriß zu machen, um dadurch mit sich selber ins klare zu kommen.

Gertrud, die mit blassem Gesicht ab und zu ging, wußte, was ihn beschäftigte.

Er schrieb das Sündenregister Röbis.

Sie erwartete, er werde ihr das Blatt zeigen, aber er faltete es, legte es in die Brieftasche und stand mit einem Seufzer auf.

»Ich will mich wegen Röbi nicht bloß auf die Aussagen des Pfarrers berufen, sondern auch vom Sternenwirt und seinem Dienstmädchen Berta hören, was in den Sitzungen der Jungmannschaft vorgegangen ist, und ein paar der Burschen selber einvernehmen. Gewiß leiste ich damit dem Gericht auch einen Dienst.«

»Gericht!« schrie Gertrud auf.

»Ja, Gericht! Heute handelt es sich um eine frevelhafte Lebensgefährdung, vielleicht mit bleibendem Nachteil, morgen kann es fahrlässige Tötung sein – [201]auf beiden steht Gefängnis. Daß du als Friedensrichtertochter nicht so weit siehst!«

Doch, jetzt sah sie auch so weit.

Der Vater aber fuhr fort: »Wenn ein Knecht in einer Rauferei einem Mitknecht den gleichen Lebensschaden zugefügt hätte wie Röbi dem Gesellen Balz, wäre er sicherlich schon verhaftet. Was schützt Röbi davor? Nur die Tatsache, daß er bisher ein angesehener junger Mann war und das Opfer ein wenig beachteter, fremder Mensch. Er braucht aber nur einen einzigen Feind zu haben, der klar auf den Tatbestand hinweist, und die Behörden müssen ihn verhaften. Oder, wenn Balz stirbt –-!«

Als der Vater nicht schnell, nicht langsam, doch schwer bedrückt ins Dorf hinunterstieg, blieb Gertrud am Fenster stehen und sah ihm mit verkrampften Händen nach. Die Worte: »Lebensgefährdung«, »bleibender Nachteil«, »fahrlässige Tötung«, »Verhaftung« lagen ihr wie Blei im müden Kopf. Sie ließ ihn hoffnungslos sinken. Sie wußte, ihre Liebe zu Röbi mußte an dem gestrigen Unglücksfall sterben. Wenn sie ihm zehnmal verzieh, so kam doch der Vater nicht über die unbegreifliche Missetat hinweg, –er und Röbi würden sich nie wieder in Eintracht und gegenseitiger Achtung finden. Ja, die goldenen Ringe waren zersprungen!

Sie konnte nicht lange in sich hineingrübeln, die Pflicht forderte sie.

Die für den Tag bestellte Wärterin kam, diejenige, die über Nacht bei Balz gewacht hatte, ging, und bald [202]darauf erschienen die beiden Ärzte, der von Haldenegg und der von Buchen, die den Verunglückten endlich einmal gründlich untersuchen wollten.

Nach einer halben Stunde gab der alte Doktor Heuscher Auskunft: »Es handelt sich um einen Lungenriß und innere Quetschungen, über deren Natur wir noch nichts weiter feststellen können. Wir glauben nicht an eine unmittelbare Lebensgefahr, sondern daß erst einer der nächsten Tage die Entscheidung bringen wird. Die Schmerzen und das Fieber werden sich noch steigern, die Überführung des Verunglückten in ein Krankenhaus oder auch nur ins Dorf hinunter ist vorläufig unmöglich. Sie werden ihn eine Weile behalten müssen!«

»Das soll gern geschehen,« versetzte Gertrud.

Als sie die Ärzte an die Türe begleitete, bemerkte sie, daß Konrad Erb mit einem halben Dutzend Burschen die Wiesen reinigte, und bat ihn um rasche, gründliche Arbeit, damit das Ärgernis dem Vater aus den Augen komme.

»Das ist der traurigste Tag meines Lebens!« jammerte der Bucklige. »Ich habe Röbi Heidegger stets gemocht und ihn gleich zu Anfang vor der Komödie mit dem Gesellen Bläser gewarnt. Was half's? Er hat sie durchgesetzt!« Und er erzählte ihr von der wirren Heimkehr Röbis und dem schrecklichen Zuruf der Alten.

Gertrud stürzten die Tränen hervor, sie schwankte ins Haus zurück.

Das Unglück wuchs ja stets!

[203]

Sie wußte vor trüben Gedanken und Elend kaum, was sie tat. Gegen zwölf Uhr kam der Vater aus dem Dorf zurück, keuchend, und sie hatte ihn noch nie so alt gesehen, seinen Kranzbart noch nie so grau; aber er bewahrte doch die äußere Ruhe.

»Nun, wie steht's? Deinem Gesicht nach schlecht. Du bist erbärmlich dran, Kind!«

»O,« erwiderte sie, »wenn man das Unglück mit Geld gutmachen könnte, ich würde, was ich von der Mutter habe, gleich für Balz bestimmen, und Röbi gewiß gern sein Alles. Wir wollen arbeiten! Wenn wir nur nicht auseinander müssen!«

»Ihr werdet schon auseinander müssen,« grollte der Freihöfler finster, »und Röbi kann Gott danken, wenn es bei eurer Trennung und einem Schadenersatz an Balz sein Bewenden hat. Wie ein Blindwütiger hat er gehandelt, Balz angegeben, du seiest seine Base, ihm aufgebunden, du erwiderst seine närrische Leidenschaft. Ein sauberer Verteidiger des Rechts! Auch erzählten die Burschen einmütig, Rothlisberger wäre freilich geritten, wenn Röbi es geduldet hätte; aber er wollte den Scherz mit dem Gesellen.«

»Sie sind jetzt alle gegen ihn!« Gertrud atmete rasch und schwer.

Der Vater kam ins Feuer. Mit überzeugender Klarheit und Schärfe gab er ihr von Anfang bis zu Ende das Bild, wie sich Röbi an Balz vergangen habe, wie er einzig und allein die Schuld trage, wenn ein achtbares Menschenleben verloren gehe.

Weit vorgebeugt, die Hände auf den Knien, saß [204]sie wie ein Häuflein Unglück, und nur ihre Schluchzer unterbrachen seine Anklage.

»Und seine Verhaftung wird doch wohl erfolgen müssen. Seine Großmutter hat es ja auf die Straße hinausgeschrien, was über dem Unglück werden kann.«

»Nein, sprich es nicht aus!«

Ihr Gesicht zermarterte sich stets mehr, und ihre Hände ballten sich krampfhaft.

»Vater, ich bin nicht weniger schuldig als er.«

Leise wie ein Windhauch kam das Bekenntnis von ihren Lippen.

»Kind!« fuhr er empor. »Doch ich weiß es. Als Balz in der letzten Stunde nicht mehr reiten wollte, da hast du ihn beredet. Du hast gewußt, daß er dir in seiner törichten Leidenschaft nichts abschlagen konnte. Was hast du ihm gesagt?«

Sie beichtete ihm die verhängnisvolle Unterredung, ohne den Blick zu erheben.

Er ging eine Weile schweigend in der Stube auf und ab. Dann keuchte er: »Eine Kammer in unserem Haus. Vortrefflich! Dann hat er allerdings ein Recht, hier zu liegen und zu sterben.«

»Du hast mir den Gedanken selber eingegeben, Vater! Du erinnerst dich –am Ostervorabend. Du sprachst von einem Gotteslohn, der sich an Balz verdienen ließe. Im Hintergrund meiner freundschaftlichen Zurede stand der Wunsch, ihn von seinem Heißhunger zu heilen, wie die Großmutter das Knechtlein, von dem du mir erzählt hast. Ich habe Balz trotz seiner Lächerlichkeit stets gern gehabt.«

[205]

»Es war aber doch kühn von dir,« knurrte der Freihöfler. »Ohne mein Vorwissen!«

»Haben wir uns nicht immer verstanden, Vater?«

»Ja, ein Alter läßt sich viel gefallen, wenn er nur eine einzige hat –zu viel! Doch jetzt die Frage: Hat dich Röbi aufgestiftet, daß du Balz zu dem Ritt überredest?«

»Nein, Vater. Ich tat es aus eigenem Trieb, aus Liebe zu Röbi, aus Erbarmen mit seiner großen Verlegenheit. In diesem Punkt ist er unschuldig!«

Aber er hat eine andere Schuld! In seinem falschen Ehrgeiz hat er dir verschwiegen, daß Balz noch unter den Folgen seines Heißhungeranfalles litt –und so bist du allerdings unwissentlich seine Mitschuldige geworden!«

Sie nickte leise und schmerzerfüllt.

»Kind –Kind! Wir sind tief im Unglück!«

Dumpf kam's von seinem Munde. Er faßte Mitleid mit der Erschöpften, er ließ sie allein, ging ins Freie, doch planlos und ohne einen Gedanken an Arbeit. Gegen Abend aber kam er wieder: »Ich will mich noch heute mit Röbi auseinandersetzen!«

»Nur heute gönne ihm Ruhe, Vater, er hat eine schreckliche Nacht hinter sich,« bat sie.

»Ich muß doch mit ihm sprechen –um seinet- und deinetwillen! Ich werde ihm den Rat geben, Haldenegg in aller Stille zu verlassen. Ich kann ihm vielleicht damit die Schande der Verhaftung und dir ein Verhör ersparen. Aus den Augen, aus dem Herzen! Wenn Röbi fort ist, so beruhigt man sich im Dorf eher [206]wieder! Freilich, wenn Balz stirbt, wird ihn auch die Stadt nicht schützen.«

»Ja, geh, Vater,« stöhnte Gertrud.

Sie war am Ende ihrer Kraft, und als er fort war, versank sie in einen Dämmerzustand zwischen Schlummern und Weinen.

Auch der Freihöfler hatte das Gefühl, daß er in seinem Leben nie einen schwereren Weg gegangen sei als an diesem Tage, selbst damals nicht, als ihm sein schöner Knabe dahinstarb, und nicht, als er seinem Weibe die Augen zudrückte. Wie ist es furchtbar, junge Liebesleute zu trennen!

Im Elternhaus Röbis empfing ihn die alte Frau Heidegger.

»Ihr kommt wegen des Lausbuben!« rief sie ihm aufgeregt entgegen. »Ist Balz gestorben?«

»Nein –und den Lausbuben würde ich unterschreiben, aber Ihr habt am Morgen mit Eurem Zuruf wie ein Todfeind an Röbi gehandelt. Wenn er verhaftet wird, seid Ihr schuld. Wo habt Ihr den Verstand, alte Frau? –Ich möchte ihn jetzt unter vier Augen sprechen.«

Röbi, der seine Stimme gehört und erkannt hatte, kam, an Leib und Seele zerschlagen, im Gesicht und an den Kleidern noch die Spuren der vergangenen schrecklichen Nacht, aus einem Obergemach in die Stube herunter. Unfähig, sich aufrecht zu halten, ließ er sich quer auf einen Stuhl sinken, stützte den Kopf und starrte den Freihöfler mit geröteten Augen an.

Ihn jammerte der junge Mann. »Nein, das ist kein [207]schönes Wiedersehen! –Dein Vater hätte an dir jetzt auch keine Freude!« So begann der Freihöfler.

Röbi war zu erschöpft, als daß er den Vorwürfen und Anklagen hätte Widerstand leisten können, er brach unter der Rede des Freihöflers immer tiefer zusammen, und darüber wurde die Sprache des Alten milder, als er sich selber gedacht hatte, in der Sache aber blieb er fest.

»Ich kann dir also das künftige Schicksal Gertruds nicht anvertrauen. Sie sieht es auch selber ein, daß Euer Verlöbnis rückgängig gemacht werden muß. Und du hoffentlich mit ihr! Wie hast du dein Glück zerschlagen, du, der jetzt zu Gott um das Leben des langen Balz bitten und betteln muß.«

Mit zitternder Stimme schloß der Freihöfler seine Auseinandersetzung.

Röbi quollen schwere Tropfen in die Augen. »Ich muß mich fügen,« murmelte er, und ein jähes Wort kam ihm zwischen die Zähne, das den Alten zornig aufschnellen ließ.

»Dort hängt das Bild deines Vaters –schäme dich! –Du hast die Pflicht, zu leben und dich dem Gericht bereitzuhalten, wenn es wegen Balz zu einer Untersuchung kommt, –du, der du ein Diener des Rechtes werden wolltest!«

»Also –ich halte mich bereit. Man braucht mich gar nicht zu suchen, nur zu rufen. Was ich eingebrockt habe, esse ich aus!« ermannte sich Röbi.

Beinahe hatte der Freihöfler wieder ein Gefallen an ihm. Was war doch Röbi für ein Mensch! Sobald er blickte und sprach, faßte man Vertrauen zu ihm, hatte [208]man das Gefühl, er müsse einmal ein Mann werden, der Großes leiste –und doch enttäuschte er diejenigen, die auf ihn bauten, stets wieder. –Das schoß dem Freihöfler durch den breiten Kopf.

Als er ihn aufforderte, unauffällig in die Stadt zu reisen, vergaß Röbi seine Schwäche, er richtete sich stolz vor ihm empor: »Nein, ich bleibe hier! Was da kommen mag, ich biete euch allen die Stirn.«

»Dann geh um Gertruds willen dem aufgeregten Dorf aus den Augen. Bedenke dir das Elend, wenn sie auch nur als Zeugin gegen dich sprechen müßte. Es ist der letzte große Dienst, den du ihr leisten kannst!«

Da stutzte Röbi. »Ich will ihr, wenn es möglich ist, die Qual eines Verhörs ersparen. –Ich gehe! –Daß ich aber heimlich aus der Heimat schleichen muß, das tötet mich fast!«

Die Tränen rollten ihm über die Wangen.

»Und nun noch eines, Röbi, zu deinem Vorteil. Darf ich vor den Behörden und jedem, der es wissen will, bezeugen, schriftlich vorweisen, daß du Balz für Kosten und Schmerzen freiwillig aus deinem Vermögen einen ebenso großen Schadenersatz verbürgst, als ihn ein Gericht dem Verunglückten zusprechen würde? Das wird die öffentliche Meinung beruhigen, mit dir versöhnen und, wenn es zum Schlimmsten kommt, selbst auf die Richter einen guten Eindruck machen.«

»Ich schreibe den Schein!« stieß Röbi hervor.

»Zunächst kommt Gertrud für Balz auf,« erklärte der Freihöfler.

[209]

Röbi schwieg.

Das Abendlicht spielte auf seiner nicht durch die Narbe entstellten Wange, und der Alte betrachtete ihn schweigend. Stich um Stich ging ihm durch das Herz. Was war Röbi noch gestern für ein hoffnungsvoller junger Mann gewesen, ein Mann, dem die Achtung und das Vertrauen der anderen von selber zufiel und alle Schönheiten des Lebens winkten. Wie er jetzt aber aschgrau und abgeschlagen dasaß, erinnerte er schon an jene, die hinter den Mauern eines Gefängnisses die Farbe der Sonne und Freiheit verloren haben. Und doch lag erst ein Tag zwischen Glück und Unglück! -

Röbi reichte ihm den Schein.

»Steig in deine Kammer und zieh dich um,« mahnte der Freihöfler. »Ich will dich aus dem Hause gehen sehen!«

Eine Viertelstunde später gab ihm Röbi mit tränenerfüllten Augen die Hand. Stumm! –Vater durfte er ihn nicht mehr nennen, und »Herr Friedensrichter« brachte er nicht übers Herz. -

Dort ging er in der Dämmerung den Wiesenweg.

Mit klopfendem Herzen blickte ihm der Freihöfler nach. Was brachten die nächsten Tage? –Welch ein Elend, wenn auf den jungen Mann der Makel einer gerichtlichen Verurteilung fiele! Da hatte Röbi ein verfehltes Leben vor sich. Nach verbüßter Strafe würde er sich, um seine Schande zu verbergen, irgendwohin in die Fremde schlagen und über die verscherzte Mannesehre sein Leben lang unglücklich sein.

Noch mehr jammerte es den Freihöfler, der gesenkten [210]Hauptes den Heimweg antrat, um Gertrud. Wie schrecklich, eine junge, hoffnungsreiche Liebe aus dem Herzen reden zu müssen! Aus einem so heißen, tiefen Herzen wie dem ihren. Das brauchte Jahre, ihre schönsten Jahre, –und ein Riß blieb auch in ihren: Leben.

Er sah vor sich nichts als Kummer. Die Trennung aber hatte sein müssen. Nur keinen Schwiegersohn mit einem Flecken auf der Ehre!

Hatte er wohlgetan, Röbi zur Abreise zu bewegen?

Im Dorf munkelten viele: »Da sieht man den Feigling! Den anderen ins Unglück bringen und sich aus dem Staube machen, ist leicht. Und was haben wir für Behörden? Weil er aus einem angesehenen Hause stammt, hat er fliehen dürfen. Als aber bekannt wurde, daß er sich freiwillig und schriftlich anerboten habe, für den langen Balz mit seinem Vermögen einzustehen, da hieß es: »Ja, er war stets ein vornehmer Mensch, er ist es sogar jetzt, da er sich selber ins Unglück gebracht hat. Nicht jeder handelt so!«

Allmählich beruhigten sich die Dörfler. Am meisten, weil sich die stets wieder auftauchenden Gerüchte, Balz sei gestorben, ebenso stetig als unwahr erwiesen.

»Siebenmal umsonst totgesagt –da kommt einer sicherlich wieder auf!« lachten sie.

»Und wenn einer die Pflege hat wie er! Die Tochter des Friedensrichters sitzt Tag und Nacht an seinem Bett, und Wälti muß für ihn in der Runsmühle junge Täubchen holen. –So gut geht es nicht jedem heißhungrigen Gesellen!«

[211]

»Sie wird wissen, warum sie's tut. Kommt Balz mit dem Leben davon, so kommen Röbi und sie zusammen; stirbt er, so muß sich Röbi vor Gericht verantworten –und der Freihöfler ist der Letzte, der ihn dann noch zum Schwiegersohn nimmt!«

So fielen die Gespräche im Dorf.

Der Tod streifte Balz.

Erst am neunten oder zehnten Tag trat eine merkbare Wendung zur Genesung ein.

Doktor Heuscher von Buchen gab Gertrud einen Blick der Bewunderung. »Wir hätten ihn ohne Ihre Hand auf seiner Stirn nicht durch die Fieber gebracht. –Nun aber legen Sie sich selber hin, sonst wird Bläser gesund, und Sie sterben!«

Ihr brausten die Ohren vor Müdigkeit, und farbige Ringe tanzten vor ihren Augen. Als sie in den Spiegel schaute, erschrak sie über sich selber, über ihre eingefallenen Wangen und tiefliegenden Augen. –Wie war sie schon alt!

In ihrer Brust aber hatte sie ein hohes, reines Glück. Sie wußte, weder Ärzte noch Wärterinnen hatten Balz am Leben erhalten, nur sie, die ihn mit ihren Bitten selbst in den wildesten Fiebern zur Ruhe zwang. Er wäre ohne sie in den Fieberstürmen an den wieder aufreißenden inneren Wunden verblutet. Nun waren sie doch schon leise vernarbt.

Schnell ein Paar befreiende Worte an Röbi!

Und sie versank in einen langen Schlaf.

15

[212]

Nach den Schrecken des Unglücks, der Aufhebung der Brautschaft und der erzwungenen Abreise Röbis, die wie ein Gewitter über den Freihof gegangen waren, kam eine stillere Zeit. Die Genesung Balthasars schritt langsam, doch stetig vor sich. Der Friedensrichter ließ Gertrud in der Pflege des Kranken gewähren, bewunderte im stillen ihre große Tapferkeit, erwähnte die schweren Ereignisse kaum mehr, pflügte mit Wälti die Äcker und schritt als Sämann über die sich in Frühlingssonne und Frühlingsregen lockernden Schollen. Wenn er mit einem Landstück fertig geworden war, sprach er: »Gott gesegn' es!« und freute sich an der Birn-, namentlich aber an der Apfelblüte, die mit ihrem Weiß und Rot durch die Landschaft schimmerte, nach seinem Sinn das schönste Wunder des Lenzes.

Wälti mußte manchmal aber doch erstaunt nach seinem Herrn sehen. Der Freihöfler stand mitten in der Arbeit still, sann vor sich hin und vergaß sie, oder schaute, wenn er eine Furche gepflügt hatte, ins weite Land hinaus und half das Gespann nicht wenden.

»Gertrud ist so grüblerisch geworden.« entschuldigte er sich bei Wälti.

Er selber grübelte tiefer als je zuvor.

[213]

Gertrud aber sah wie eine Mutter zu Balz.

Ein paarmal jeden Tag brachte sie ihm ein Glas Milch, und er trank sie in langsamen Zügen.

»Woher habt Ihr so viel Güte für mich, Fräulein Freihofer?« fragte er weich.

»Wir haben doch vor dem Osterritt Freundschaft geschlossen. Nennt mich einfach Gertrud!« Und sie ließ die Augen leuchten.

Wie aus einem Traum horchte Balz empor –lächelte -, dann aber entflogen ihm die Gedanken. Er war doch noch sehr schwach.

Gertrud setzte sich mit einer Arbeit neben ihn, und sie genossen schweigend die Sonne.

In ihrer aufmerksamen Pflege gelangte er wieder zu einigen Kräften, aber die Sorge um sein Leben blieb. Doktor Heuscher, der ihn von Zeit zu Zeit untersuchte, fand die Narben in der Brust schlecht geheilt, was wohl mit dem früheren geringen Lebensunterhalt des armen Gesellen zusammenhing, und er befürchtete, schon ein starker Hustenanfall oder eine unvorsichtige Bewegung könne die Wunden wieder aufreißen, daß er verblute.

»Ich habe es längst erkannt, der stößt den Hobel nie wieder!« knurrte der Freihöfler. »Ich möchte jetzt noch nicht Röbi sein!«

Ein Stich ging durch die Brust Gertruds. Wohl hatte ihr Röbi einmal einen größeren Brief geschrieben, damals, als sie ihm in tiefster Erschöpfung gemeldet hatte, daß die unmittelbare Lebensgefahr für Balz vorüber sei. Seither aber hatte sie nichts mehr von [214]ihm gehört, ja er unterließ sogar die selbstverständliche Pflicht, sich dann und wann nach dem Ergehen Balthasars zu erkundigen. War er krank oder war sein Schweigen einfach Leichtsinn? –Die Sorge um ihn quälte sie, und sie suchte die Frage nach ihm zu vergessen, indem sie sich, soviel in ihren Kräften lag, um Balz mühte und ihn in dem frohen Glauben bestärkte, daß er wieder völlig genesen werde.

Sie war in allen Dingen seine verstehende Freundin, die nie mit ihm darüber sprach, aber es tief im Bewußtsein trug, daß sie mit ihrer Hingabe und Güte eine Gewissensschuld sühne.

Darin verstand sie auch der Freihöfler, der den stillen Gast wohlwollend duldete. Einmal aber wurde ihm des Entgegenkommens zu viel. »Seit wann stehst du denn mit Balz Du auf Du?«

»Wer weiß, wie lange er lebt? –Ich will ihm so viel Liebes tun, wie ich kann!«

Der Freihöfler schüttelte den Kopf, aber gegen ihre selbstverständliche Art war nicht leicht aufzukommen.

Zwischen ihr und Balz wuchs je länger desto mehr eine Freundschaft auf, die einer Liebe glich, einer stillen, sanften Liebe. Sie waren sich so gut, daß sie es fast als eine Störung empfanden, wenn Besuch kam, hin und wieder die Gespielinnen, und alle vierzehn Tage einmal Pfarrer Geißmann.

Balz sagte es ihr stets wieder, er sei am liebsten mit ihr allein.

Die brennenden Blicke, mit denen er sie früher oft erzürnt hatte, ereigneten sich nicht mehr. In [215]seinen glänzenden braunen Augen lag das Genügen, strahlte die Seligkeit. Und manchmal kam er in ein wonniges Plaudern. Er pries die Güte Gottes, die Schönheit der Welt und die wunderbare Fügung seines Schicksals: »Gertrud, du weißt, was ich für ein verlassener und verstoßener Junge war. Als ich unter den Schnapsweibern im Armenhaus von Gerhardszell aufwuchs, da lief ich ihnen manchmal davon, hinauf auf einen Hügel, warf mich ins Gras und betete: Lieber Gott! Wenn du mir doch eine rechte Mutter geben wolltest wie den anderen Kindern! Und wie arm die Buben des halbverrückten Schreiners Guntli waren, ich beneidete sie: –sie hatten eine Schwester. Ich niemand! Auch nie eine rechte Freundin, nie eine rechte Liebe! –Nun habe ich in dir, Gertrud, alles: Mutter, Schwester, Freundin –du bist meine Liebe, so hoch und herrlich, wie ich sie nie erträumen durfte. Und dafür danke ich dir, danke ich Gott und jener unbekannten Mutter, die mir das Leben geschenkt hat!«

Die Erschütterung des Glücks übermannte den blassen Balz.

»Bring mir die Ziehharmonika,« bat er. »Ich kann mit ihren Tönen vieles besser sagen als mit Worten.«

Getragen und feierlich zogen seine Melodien durch den weichen Abend. Da kam er an das Lied: »Zu Augsburg steht ein hohes Haus.«

Die Augen Gertruds füllten sich mit Tränen.

Erschrocken hielt er inne.

»Ich denke an jenen Abend, da ich mit Röbi das Lied von dir gehört habe,« erzählte sie. »Wir waren [216]so unendlich glücklich beisammen, er sang mir leise die Worte des Liedes vor; auch die: ›Zur Nonne weiht mich arme Maid, stirb, Lieb' und Freud'‹. So geht es mir, Balz –ich muß eine alte Jungfer werden.«

»Du? -«

Ein verhaltener Gram in ihren Zügen war ihm längst aufgefallen, jetzt stand ein brennendes Weh in ihren Augen, er konnte aber doch nicht fassen, daß in ihrem Wort irgendein Herzensernst stecke.

Sie lächelte wehmütig über sein maßloses Erstaunen. »Warum soll ich dir die schmerzhafte Wahrheit noch weiter verschweigen? –Nachdem dich durch Röbis Schuld der Unglücksfall betroffen hatte, löste der Vater mein Verlöbnis mit ihm, –und einem anderen als Röbi gebe ich die Hand nicht.«

Auf ihrem Gesicht lag eine Bestimmtheit, daß Balz es ihr glauben mußte.

Da hatte er zu sinnen und zu denken. –-

Es war in seiner Natur doch eine große Zähigkeit. Schon machte er kleine Spaziergänge durch Wiesen und Feld, und am Tag, nachdem er von Gertrud das überraschende Bekenntnis gehört hatte, rüstete er sich mit einer gewissen Geheimnistuerei und Feierlichkeit zu einem Gang hinauf nach dem großen Stein unter der alten Buche, in deren Nähe der Freihöfler mit Wälti arbeitete.

Als er mit schlenkernden Gliedern wieder den Bergweg hinunterkam, stand in seinem Gesicht eine stille, hohe Freude, sie rötete sogar seine blassen Wangen und gab ihm einen Anflug von Schönheit.

[217]

»Gertrud,« jubelte er aus schwacher Brust, »ich habe unter der Buche mit deinem Vater gesprochen. Ich habe ihm gesagt, daß ich wegen des Ritts und Unglücksfalls keinen Groll gegen Röbi Heidegger hege, sondern daß ich ihn als meinen Freund liebe und mich nichts so sehr freuen würde, wie wenn du und er doch zusammenkämet.«

»Und der Vater?« fragte sie.

»Er war gegen mich freundlich, aber er hat sich nicht bestimmt über meine Bitte ausgesprochen.«

Der leise Hoffnungsstrahl, der über die Seele Gertruds gehuscht war, wich der Enttäuschung, dann stand sie rasch auf, nahm den Kopf Balthasars in beide Hände und lachte ihn herzinnig an: »Wenn mir deine Fürsprache schon nichts nützt, bekommst du dafür doch einen Kuß!«

Sie küßte ihn zwei-, dreimal fest auf die Wange.

Der überraschte Balz erschrak, und auf seinem Gesicht stand eine Glut wie blühendes Leben.

»Meine Frau kannst du ja doch nicht werden!« stammelte er verwirrt und mit wehmütigem Verzicht. Der Kuß brannte ihn stärker als manchmal die Narben in der Brust. Wie unerreichbar hoch stand Gertrud über ihm! Nur mit tiefer Scham erinnerte er sich des Augenblicks, wo er sich in grenzenloser Überspannung der Sinne wie ein Freier vor sie hingeworfen hatte.

»Nein, ein Liebespaar können wir nicht werden, Balz. Mein innerstes Herz gehört doch Röbi. Ich stand aber kürzlich vor dem Bild deines Freundes Klaus Hannecke in Westfalen. Der Mann sieht gut [218]aus und gefällt mir wie sein neulicher Brief, in dem er sein Mitgefühl mit deinem Unfall bezeigt. Ich freue mich, daß du so einen vortrefflichen Menschen kennen gelernt hast. Warum soll ich weniger an dir finden als er? Ich wüßte nicht, wie ich über all das, was mich im Herzen quält, hinwegkäme ohne dich.«

»Und mir ist es stets, dein Vater sehe unsere Freundschaft nicht gern und ich sollte vom Freihof gehen,« erwiderte er beklommen. »Wenn ich nur schon stärker wäre und arbeiten könnte!«

»Du vom Freihof!« rief Gertrud. »Nie! –Was fällt dir ein! Hier ist deine Heimat! Auch mein Vater hat die besten Absichten für dich. Sobald sich deine Gesundheit befestigt hat, läßt er dir eine kleine Werkstatt einrichten, später eine wohlausgestattete Tischlerei, eine bessere als die Hildebrands, und dann bist du hier auf dem Freihof selbständiger Meister. Röbi Heidegger wird auch das Seine tun, daß es dir gut geht. Das hat er mir schon vor Wochen geschrieben. Und wenn der Vater hart bleibt, wenn Röbi und ich uns wirklich nicht mehr zu erreichen vermögen, so wollen wir beiden hier still in Freundschaft leben.«

Da traten Balz die Tränen der Freude in die Augen. Hatte er in seinen Träumen je mehr gewünscht und ersehnt, als stets in der Nähe Gertruds zu bleiben?

16

[219]

Der Freihöfler arbeitete mit Wälti draußen im Acker, und Balz hatte wieder einen seiner kleinen Spaziergänge unternommen und mochte an irgendeinem Rasenbord in der Sonne ruhen.

Da kam jener Fürsprecher Eberli auf den Freihof gestiegen, der zuerst die Kunde von Röbis Mensur ins Dorf gebracht hatte, und der Alte im grauen Borstenhaar setzte sich für eine Weile zu Gertrud, die am Stickrahmen tätig war. Nachdem er mit ihr über den lachenden Maien gesprochen hatte, lenkte er das Gespräch, als ahne er ihren heimlichen Wunsch, auf Röbi über.

»Ja, um den steht es nicht gut,« versetzte er, die eiserne Spitze seines Stockes in die Erde bohrend. »Ich habe ihn zwar nicht selber gesehen, aber die Leute, bei denen er wohnt. Die Ostergeschichte ist ihm in die Knochen gefahren. Er kam schon am Abend elend in sein Quartier, schleppte sich ein paar Wochen mit Frösteln und Unwohlsein dahin, und daraus entwickelte sich ein Nervenfieber.«

Durch die Gestalt Gertruds ging ein Zittern.

»Recht krank ist er drei Wochen in einem Privatspital gelegen,« erzählte der Fürsprecher, »jetzt erholt er sich auf dem elterlichen Landgut eines Freundes. Sein Wesen soll aber ganz verändert sein –schwermütig [220]und menschenscheu; er brauche noch Wochen, bis er wiederhergestellt sei.«

Gertrud fuhr unwillkürlich mit der Hand nach der Brust. So stark pochte im Herzen das Mitgefühl mit Röbi.

Da kam Balz des Weges daher. Die Teilnahme Eberlis, der unter einem halbderben äußeren Gehaben einen menschenfreundlichen Kern besaß, wandte sich ihm zu, und bald stapfte der Alte bergan, um wegen eines Amtsgeschäftes den Friedensrichter aufzusuchen. Die Gedanken Gertruds hafteten an der schweren Krankheit, die Röbi durchgemacht hatte, doch nicht bloß mit dem Gefühl des Mitleids, sondern auch mit einer stillen Genugtuung. Die ernste Nachricht war ihr lieber, als wenn ihr Eberli gemeldet hätte, er zeche im Kreis seiner Freunde hellauf und fröhlich. Die Erkrankung sprach für sein Gemüt, sein Herz, auch für die Stärke seiner Liebe zu ihr. Sie bezeugte, daß der schreckliche Ostermontag Spuren in seiner Seele gezogen hatte, die ihm vielleicht für seine Zukunft zum Segen gereichten.

Die schönen und traurigen Erinnerungen an ihn und die tapfere Fürsprache Balthasars vor ihrem Vater erregten in ihrem Herzen einen neuen Liebessturm, dazu ein Brief von Röbi, der ihr nun selber über die bangen Tage seiner Krankheit erzählte.

Der Freihöfler sprach nie, wie sie erwartet hatte, über die Unterredung mit Balz, dagegen hatte er den Brief Röbis bemerkt und war darüber schlechter Laune.

Man stand wenige Tage vor Pfingsten, und in ihr gärte der Gedanke, daß Röbi und sie sich nun auf das liebliche Fest die Ringe gekauft und sich vor aller Welt [221]als Verlobte bekannt hatten, wenn nicht der Unfall Balthasars dazwischengekommen wäre. Sie rüstete sich noch einmal, für ihre Liebe zu kämpfen.

Nachdem sich Balz zur Ruhe begeben hatte, setzte sie sich dem Vater am Schiefertisch gegenüber und begann: »Mein Pfingstwunsch ist, daß auch ich ein Fest erleben darf: –ich möchte wieder die Braut Röbis werden. Es gibt sonst für mich kein Glück. Nachdem Balz ihm in seiner kindlichen Güte verziehen hat, wirst du, Vater, ihm nicht weiter zürnen wollen. Ich darf ihm doch auf Pfingsten einen freudigen Brief schreiben?«

Sie schaute ihm mit hoffnungsvoll strahlenden Augen ins Gesicht und ergriff bittend seine Hand.

Der Freihöfler aber schüttelte sie unwillig ab und blieb hart.

»Es geht nicht, Kind. Ich habe den Glauben, das Vertrauen in Röbi verloren –er ist ein Täuscher! –Was ist das für ein wundes Verhältnis zwischen ihm und Gritli Geißmann, was verrät seine Narbe für einen Leichtsinn, und in dem Augenblick, da ich die größte Freude an ihm hatte, auf der Wanderung im Runstal, und von Herzen mit ihm einig war, hatte er die gewissenlose Anbändelei mit Balz schon begonnen. Ihr beiden wart doch sicherlich im Glück mit eurer Liebe. Wer aber im Glück ist, soll sein Glück und das anderer schonen. –Er hat es nicht getan! –Sieh dir Balz an, wie steht er in seinen jetzigen guten Tagen vornehm über Röbi. Wie innig dankbar ist er für sein Wohlergehen! Und deshalb mag ich ihn, obgleich mir deine Freundschaft zu ihm fast zu viel ist. Von Röbi aber sprich mir nicht! Ich habe meine Gründe, ihn für immer [222]als Schwiegersohn abzulehnen. Wohl dürfen wir annehmen, er sei am Bösesten glücklich vorbei, an einer gerichtlichen Untersuchung des Osterunfalles, und du selber der bitteren Not enthoben, gegen ihn Zeugnis ablegen zu müssen. Vieles ist in milderes Licht gerückt worden, namentlich auch dadurch, daß wir Balz auf dem Freihof pflegen. Man hat aber landauf, landab von dem Ereignis gesprochen, jedermann kennt jetzt die Vorspiegelungen, unter denen Balz zu dem Ritt veranlaßt worden ist, auch deine letzte verhängnisvolle Überredung des Widerstrebenden, –und wenn nun Röbi und du einander heiraten würdet, sei sicher, daß das Volk viele Jahre dahin über euch ein scharfes Gericht hielte, namentlich wenn Röbi, wie es ja doch sein Plan ist, in eine öffentliche Laufbahn tritt.«

»Was soll man uns antun können?« zitterte die Stimme Gertruds.

»Keinen Schleier vor die Augen!« versetzte der Vater. »Balz ist ein vom Tod besiegelter Mann –er kann noch etliche Wochen leben, ein paar Monate, ein, zwei, oder drei Jahre, aber der Unglücksfall wird doch sein vorzeitiges Ende nach sich ziehen. Wenn du ihn ansiehst, so sagst du dir das selbst, Gertrud!«

»Ja, Vater,« flüsterte sie kaum hörbar.

»An seinem Todes- und Begräbnistag aber wird sein Unglück auferstehen,« fuhr der Freihöfler fort. »Röbi und du, ihr werdet wieder landauf, landab in jedem Munde sein. Und wäret ihr verheiratet, würde sich die öffentliche Nachsage erst recht scharf an euch heften, er sei durch eure Schuld umgekommen. Ihr würdet einen rächenden Feind spüren, den ihr nicht kenntet, und [223]der doch stets um euch wäre, der euch das Leben vergällte und verbitterte. Denn wer wie du und Röbi in Elternhäusern aufgewachsen ist, die den Sonnenschein der öffentlichen Achtung genossen haben, der entbehrt furchtbar, wenn er sie nicht mehr besitzt.«

»Röbi wird sie sich wieder erkämpfen! –Ich glaube an ihn!«

»Ich nicht! –Nein, dein Glück ist nicht bei ihm!«

Gertrud weinte leise und heiß.

Er legte die schwere Hand auf ihre zitternden Finger.

»Kind! –Jeder Alternde wünscht sich spielende Enkel –doch ich mir lieber keine als aus dem unzuverlässigen Blut Röbis.«

»Ich sehe ein, daß ich Röbi fahren lassen muß!« bebte ihre Stimme. »Röbi –mein armer Röbi!«

Eine Stille entstand zwischen Vater und Tochter, als ob der Todesengel durch die Stube ginge.

Den Freihöfler übernahm die Bangigkeit, eine unbestimmte, große Angst. Er fuhr seiner Tochter lieblosend mit der Hand durch das Blondhaar. »Gertrud! Wie dir das Lossagen weh tut, das kann ich ermessen, weher als Sterben; aber ich hoffe zu Gott, daß er dir in der Zukunft doch noch ein Glück bescheide –ein reines Glück, wie du es mit Röbi nie erleben könntest.«

Da schaute sie mit brennendem, tränenlosem Gesicht auf und versetzte bitter: »Denkst du an den bildhübschen Burschen aus dem Thurgau, der mir am Ostermontag nachgestrichen ist, an seinen Vater, der dir vor ein paar Tagen zum Vorwand das junge Rind abgekauft hat und dem ich den Apfelsaft habe vorsetzen [224]müssen? –Nein, von dem bildhübschen jungen Mann schenke ich dir keine Enkel –überhaupt keine, jetzt heißt es in meinem Herzen: Stirb, Lieb' und Freud'!«

Der Freihöfler erschrak über ihr verhärtetes Gesicht. Sein eigenes Kind war ihm fremd geworden.

»Nein, von dem jungen Thurgauer spreche ich gewiß nicht!« sagte er kleinlaut. »Der kam viel zu früh, das weiß ich. Doch eine Zeit ist nicht alle Zeit, du bist noch jung, und ein ganzes Leben ohne Liebe ist lang –furchtbar lang, das bedenke, Gertrud!« Sie starrte verstört vor sich hin.

Da versetzte er: »Wir wollen zur Ruhe gehen und wieder miteinander sprechen, wenn wir weniger heiße Köpfe haben –oder lieber über diese Dinge ein Jahr nicht mehr. Wunden wollen in Ruhe heilen.«

Sie schwankte mit todestraurigem Gutnachtgruß zur Tür.

Er zog noch die Uhr auf. Sie schlug im Freihof über Pfingsten schlechte Stunden, und noch lange –lange. ––-

Als für Gertrud ein Brief Röbis kam und durch den Postboten zuerst in des Freihöflers Hände gelangte, schickte er ihn, ohne davon mit seiner Tochter zu sprechen, mit dem Vermerk »Weitere Briefe verbeten« an den Absender zurück und setzte seine Unterschrift dazu. Er betrachtete das als ein Recht seiner Vatergewalt, die ihm sehr am Herzen lag, und als das wirksamste Mittel, Gertrud langsam von den Gedanken an Röbi abzulenken, bedachte aber nicht, wie viel neue Schmerzen er damit seinem Kinde zufügte.

17

[225]

Gertrud machte sich schwere Gedanken über das Schweigen Röbis und über die Hoffnungslosigkeit ihrer Liebe. Etwas Unstetes, Gezwungenes und Sprunghaftes kam in ihr Wesen. Oft arbeitete sie wie eine Magd streng und anhaltend, oft ließ sie die Hände müßig in den Schoß sinken. Dabei zerfiel sie, ihr blühendes Gesicht wurde blaß und schmal, die blauen Augen standen ihr zu groß darin, sie ging, der Welt abgestorben, wie ein Schatten an der Wand.

Auch Balz ließ den Kopf hängen. »Ich habe es mit dir und Röbi so gut gemeint, –nun muß ich dich noch so leiden sehen!«

Da wurde ihr Gesicht hell, die alte, liebe Schelmerei huschte darüber.

Für ihn hatte sie stets ein Lächeln, oft sogar ein Lachen, als vergesse sie für ein Paar Augenblicke den Gram, in den sie sich seit der Unterredung mit dem Vater eingesponnen hatte.

»Balz, spiele doch wieder einmal das Lied: Stirb, Lieb' und Freud'!« bat sie.

Er erfüllte ihren Wunsch.

Das Lied von der Nonne war ihr Leiblied geworden. Oft sprach sie mit ihm den Abend dahin [226]über das Mädchen im Dom, das den Liebsten ließ. »Gewiß ist sie im Kloster bald darauf gestorben. Was ist ein Leben ohne Liebe? Denen, die sie nie gekannt haben, mag es ja leichter gehen, –aber wenn man einmal glücklich gewesen ist? –Balz, ich wollte, ich wäre ein Mann. Dann ginge ich hinaus in die Welt. Mein Los aber ist, daß ich hier bei meinem Vater auf dem Freihof bleiben muß und sein Alter pflege. –Wie fällt mir der Gehorsam so schwer!«

Sie versank in ein schmerzliches Brüten.

Sorgenvoll beobachtete der Freihöfler sein seltsam gewordenes Kind. Was sann Gertrud Tag und Nacht? –Auch gegen den harmlosen Balz war er mit Mißtrauen erfüllt und wünschte ihn heimlich vom Hof. Aber daran, daß er ihm einen Wink gegeben hätte, hinderte ihn sein Gerechtigkeitsgefühl. Nein, nicht Balz, sondern nur Gertrud war an dem stillen Zerwürfnis schuld, das wie Stickluft in dem früher sonnig friedlichen Freihof lag.

Die Heuernte kam. Das Futter stand so schön wie noch nie, aber es freute ihn nicht, und mitten in der Ernte wurde Wälti, der alte, treue Knecht, der schlechten Laune seines Herrn überdrüssig, nahm das Herz in beide Hände und kündigte ihm auf das Ende der Ernte den Dienst.

»Seid ihr alle des Teufels!« rief der Freihöfler. »Ihr wollt gehen –die Vree spricht von Altersbeschwerden –Gertrud spinnt –nur Balz, den ich am billigsten gäbe, ist es wohl auf dem Hof.«

Es gelang ihm, Wälti zu beschwichtigen, wobei er [227]sagte: »Ihr müßt mich entschuldigen –ich leide an verstocktem Blut und sollte eine Badekur haben. Das ist, wenn man altert, jeden Sommer nötig.«

Er besorgte mit seinen Leuten in den hochgelegenen Bergwiesen das letzte Heu. Ein Gewitter zog am Himmel auf, er selber leitete die Zugtiere; auf der eiligen Fahrt aber stürzte der Wagen an einem Straßenbogen, den er zu knapp genommen hatte, den Abhang hinunter, und nun verdarb die wertvolle Ladung im losbrechenden Regen. Auf sich selber zornig trat er in die Stube, um den Ärger mit einem Trunk Apfelsaft zu sänftigen. Da wurde er noch wilder, denn eben legte Gertrud, die ihm voran ins Haus getreten war, die Wange schmeichelnd an die Balthasars, der in ein Buch versunken am Fenster saß.

Wie ein Flämmchen richtete sich seine Stirnlocke empor, aber er schwieg.

War Gertrud in Balz verliebt? –Um Gottes willen nur das nicht!

Er wagte es nicht, ins Bad zu fahren, bevor er darüber eine Beruhigung erhalten hatte.

Wieder saß er mit ihr in einer heißen Auseinandersetzung am Tisch.

»Merkst du das erst jetzt, Vater? Ich will ihn heiraten!« In ihren Zügen lag eine verhaltene Kampfbereitschaft.

»Das ist ja verrückt!«

Der Freihöfler verwunderte sich, daß nicht ein Erdbeben das Haus erschütterte.

»In meinem Kopf bin ich völlig klar,« sagte sie [228]fest. »Hör mir zu, Vater! –Wunden Herzens anerkenne ich die Gründe, die du gegen eine Ehe zwischen Röbi und mir ins Feld gefühlt hast. Ich glaube selber, daß sich die Erinnerung an Balz und den unglücklichen Ostermontag bedrückend an uns heften könnte, –wenn Balz stirbt! Ich fürchte auch, daß Gritli Geißmann mit blassem Gesicht darein blicken würde. So habe ich den Kampf um Röbi in mir ausgerungen. Daß ich darüber nicht schon weiße Haare habe, verwundert mich selbst. Ich will aber auch meinen Teil an Liebe –ich will keine alte Jungfer werden!«

»Niemand zwingt dich!«

»Ich will einen Mann nach meinem Herzen! –Gut, kann es nicht Röbi sein, so Balz! Ich mag ihn mehr als irgend einen jungen Bauernburschen und weiß, was ich an ihm habe und auf wie viel ich mit ihm verzichten muß. Von einer jauchzenden Liebe wie zu Röbi ist keine Rede, aber sie ist groß genug, daß ich mit ihm ein glückliches Weib werde –und wenn es nur ein halbes Jahr ist!«

Sie sah ihm mit einem Strahl der blauen Augen frei ins Gesicht.

Er aber fand kein Wort, –er keuchte, stand auf und lief durch die Stube.

»Vater, ich habe Balz nach dem Ostermontag das Leben durch meine Pflege gerettet, –er ist mein! –Wo ist sein überspanntes Wesen geblieben, seine tollen Redensarten? –Sein Heißhunger? –Keine Spur mehr davon! –Wenn das Geschick uns nur ein paar [229]gemeinsame Jahre schenkte, er würde neben mir ein Mann, der sich sehen lassen darf. Gewiß, Vater!«

In ihren Augen stand der große Glaube.

Er stellte sich vor sie hin. »Ich fasse den Plan aber doch nicht, mir wendet und bricht es das Herz. Du weißt gar nicht, wie ich dich lieb habe, Gertrud. Wie kannst du dein Herz an den armseligen Gesellen hängen, der mit einem Fuß schon im Grabe steht?«

Bitter erwiderte sie: »Ich bin seit Ostern in Leid und Schmerz um zehn Jahre gereift und gealtert. Nur ein Gutes hat mir unterdessen das Leben gegeben. Als ich Balz pflegte, merkte ich, daß der Mensch die eigenen Qualen vergißt, wenn er sich um andere bangt, und daß ich das mir früher unbekannte Sorgen verstehe. –So sehe ich meinen Weg und will keinen anderen gehen!« –-

Gegen Morgen schlich sich der Freihöfler in die Stube und schrieb einen Brief an Röbi; als er ihn aber durchgelesen hatte, zerriß er ihn und verbrannte die Stücke, damit Gertrud nichts davon entdecke. –Nein, mit Röbi hatte er gebrochen, und dabei blieb's!

Nirgends fand er Rast noch Ruhe, und er verzichtete aus lauter Sorge auf die Fahrt ins Bad.

Weder er noch Gertrud verrieten Balz ein Wort von ihrem Handel, aber der ziemlich Genesene glaubte aus den Augen und dem Benehmen des Friedensrichters eine verhaltene Ablehnung zu spüren. Ihm wurde auf dem Freihof stets weniger geheuer.

Es war sein Los, daß er wieder hinaus in die Welt und unter die harten Menschen wanderte. Wie aber [230]das Brot verdienen mit seinem schwachen Leib, wie leben ohne die Nähe Gertruds? -

So kam der Herbst. Auf dem Hof litten alle, ohne daß etwas geschah. Gertrud wollte den Zorn des Vaters nicht noch mehr reizen, sie war eher zurückhaltender als zutunlicher gegen Balz, eine blasse Schweigerin, ein in der Liebe verirrter Vogel, der nicht wußte, wohin sich mit seinen Flügeln wenden. »Stirb, Lieb' und Freud'!«

In diese stille Zeit fiel ein Ereignis, das die gesamte Gemeinde wieder an Röbi erinnerte.

Frau Heidegger, seine Großmutter, die stets eine etwas schwermütige Frau gewesen war, hatte in einer Mondnacht in einem tiefen Gumpen des Runsbaches den Tod gesucht, und am Morgen war die Leiche gefunden worden.

Gertrud freute sich und litt zugleich bei der Nachricht von dem Hinschied der Alten, die sie nie geliebt hatte. O, nun sah sie bei der Beerdigung doch Röbi wieder einmal! Zugleich aber beklemmte sie die Frage: wie ihm gegenübertreten?

18

[231]

Der unglückliche Lebensausgang der sonst wohlangesehenen Frau Heidegger gab den Dörflern viel zu sprechen. Die einen waren der Ansicht, daß die Alte aus Gram über Röbi, an dem seit dem Osterspiel doch ein Makel klebte, ins Wasser gegangen sei, die anderen schoben die Schuld darauf, daß sie ihrem Enkel auf offener Straße das furchtbare Wort »Mörder« zugerufen hatte.

Jedenfalls hatte sich ihr Wesen seit dem Osterspiel verändert; schon früher gegen ihre Umgebung kurz und knapp, war sie gegen die Nachbarn hart und bissig geworden und hatte niemand mehr in ihr Inneres blicken lassen.

Einer aber vermutete mit Gewissensbeunruhigungen eine andere Ursache ihres freiwilligen Todes –Pfarrer Geißmann!

Nach dem Eierlesen war es zwischen ihm und Frau Heidegger zu einer klaren Aussprache über Gritli und Röbi gekommen. Dabei gestand er ihr, daß er Pläne für Gritli habe, die für sie ein viel größeres Glück bedeuteten als eine Verbindung mit Röbi. Sie –die Alte –möge aus Liebe zu Gritli nun doch endlich aufhören, ihr immer wieder von Röbi zu sprechen oder [232]zu schreiben. Gritli bedürfe der Ruhe, um sich für denjenigen Liebesweg zu rüsten, der im herzlichen Wunsch der gesamten Pfarrersfamilie liege. Die notwendige Aussprache war Frau Heidegger so zu Herzen gegangen, daß sie seither nie wieder ins Pfarrhaus getreten war, und über dem Scheitern ihres Lieblingsgedankens, den sie mit dem hartnäckigen Eigensinn des Alters gehegt und gehätschelt hatte, war sie wohl in jenen Lebensüberdruß versunken, der sein Ende in den Wellen des Baches fand.

Wie aber Geißmann sein Gewissen durchforschte, –er hätte in Hinsicht auf Gritli und seinen lieben jungen Freund Burgener nicht anders zu ihr sprechen können.

Hatte sie vielleicht noch, kurz ehe sie freiwillig aus dem Leben ging, durch einen Zufall erfahren, daß Burgener seine Ferien im Berner Oberland verbrachte und jeder Tag die von der Pfarrersfamilie ersehnte Nachricht bringen konnte, Gritli habe sich mit ihm verlobt? –Vielleicht! -

Da klangen die Totenglocken über das Dorf Haldenegg.

Gertrud ging mit der halben Beruhigung und der ebenso großen Enttäuschung zu der Beerdigung, daß sie Röbi dabei nicht treffen werde. Er hatte dem Vater einen Brief geschrieben, daß er sich noch von seiner Krankheit zu erholen habe, auch nicht mit gutem Sinn an den Sarg der Großmutter hintreten könne, durch die er so tief beleidigt worden sei, überhaupt, daß er jetzt nicht gern in Haldenegg erscheine; er bitte ihn, den Nachlaß zu ordnen.

[233]

Aus der vertrauensvollen Bitte spürte Gertrud, wie Röbi den Frieden mit dem Vater suchte, und als sie ins Dorf hinunterstiegen, fragte sie den Schweigenden, ob er dem Wunsch zu willfahren gedenke. Er schüttelte lässig den Kopf und setzte hinzu: »Gelegentlich wird Röbi doch selber nach Haldenegg kommen müssen. Die wegen der Steuern notwendige Einschätzung des ererbten Besitzes erfordert seine Anwesenheit.« Mehr sprach der Vater nicht.

Im Dorf erlebte Gertrud eine große Überraschung.

Unter den Mädchen und Frauen, die sich vor dem Elternhaus Röbis zum Kirchgang sammelten, befand sich Gritli Geißmann. Nun, es war ja leicht zu verstehen, daß sie ihrer alten mütterlichen Freundin, der leidenschaftlichen Schützerin ihrer Liebe zu Röbi, das Geleite zum Grab geben wollte.

Wie von selber kam's: sie und Gertrud begrüßten sich so herzlich wie einst.

»Ich gehe nicht mehr ins Berner Oberland zurück,« sagte die Heimgekehrte. »Ich sehe, daß ich zu Hause notwendig bin. Und ich komme bald einmal zu dir.«

Der Aufenthalt in den Bergen hatte ihr doch wohlgetan, und wie sie, den Gottesacker verlassend, die braunen Rehaugen in Heimatfreude glänzen ließ, da lag auf ihrem Gesicht wieder der Schein frischer Jugend, da war sie unter der Last ihrer dunkeln, in Zöpfen und Locken spielenden Haare und in ihrer anmutigen Schlankheit eine Gestalt, die jedem jungen Manne gefallen mußte. Warum war Röbi, der sie in seinen Knabenjahren geliebt hatte, später so kalt an ihr vorübergegangen? [234]Wahrscheinlich trug diejenige, die nun unter Blumen in der Grube lag, durch ihr unvorsichtiges Drängen allein die Schuld, daß die beiden auseinander gekommen waren.

Wenn nun Röbi ––-

Gertrud dachte den Gedanken nicht aus. Sie spürte, daß ihr Herz ihn noch nicht losgesprochen hatte. Nein, er würde sich doch nie zu einer anderen als zu ihr wenden.

Daheim aber quälte sie sich mit der Frage, warum er nicht doch zur Beerdigung der Großmutter gekommen sei, wenn nicht der bösen Alten zu Ehren, so ihr selber zum Trost. Und warum schrieb er nie?

Aus ihrer wunden Seele heraus sah sie jedes Geschehnis schwarz.

In einer dieser dunkeln Stimmungen empfing sie den Besuch Gritlis.

Wie gut sah die Freundin in ihrem hellen Sommerkleid aus! Auf ihren Wangen lag ein zartes Rot, um den feingeschnittenen Mund spielte ein glückliches, ja schalkhaftes Lächeln, und ihre braunen Augen blickten kinderfrisch in den blauen Sommertag.

Sie fragte nach Balz.

»Er ist spazieren gegangen,« erwiderte Gertrud, die im Hausschatten vor dem Stickrahmen saß, »er wird wohl an einem Rasenbord in der Sonne liegen und bald wiederkommen. Es geht ihm befriedigend, mit allerlei kleinen Arbeiten macht er sich auf dem Hof nützlich, aber ein starker Mann wird er in seinem Leben nicht mehr.«

[235]

Ein Seufzer begleitete das Wort, und jetzt bemerkte Gritli auch die blauen Ringe um die Augen der Gespielin.

»Und du bist ja auch halb krank,« versetzte sie mit Teilnahme.

Da gab ihr Gertrud einen sonderbaren, langen Blick. Als ob etwas in ihr breche, erwiderte sie: »Du ahnst es, du weißt es: –ich war mit Röbi heimlich verlobt.«

Gritli aber ließ sie nicht aussprechen. Eine dunkelrote Flut stürzte ihr ins Gesicht, in unbewußter Abwehr hob sie die Hand. »Um Gottes willen, schweige von Röbi! Ich bin seit dem Abend unserer Heimkehr aus dem Berner Oberland mit Pfarrer Alois Burgener versprochen –unsere Ringe werden wir am Sonntag beim Verlobungsmahl wechseln, und die Karten sind im Druck.«

Gertrud war vor Überraschung keines Wortes fähig.

Gritli aber fuhr gelassener fort: »Ich habe um Röbi unendlich gelitten. Es ist schwer, den Liebestraum der Jugend begraben, namentlich, wenn eine Frau wie seine Großmutter ihn stets wieder emporwühlt. Neben ihr hätte ich meinen Weg nie gefunden. Gottlob ruht sie jetzt in Frieden. Und mir gab das Berner Oberland die Kraft, mich zu besinnen. Als mir der Vater von der scharfen Ostermontagspredigt schrieb, da wußte ich, daß ich auf meine Liebe verzichten müsse. Es wäre doch stets ein Stachel zwischen den beiden Männern gewesen. Auch sah ich ein, daß [236]Röbi in seinem Leben keine andere nimmt als dich, Gertrud!«

»Da muß er wohl ledig bleiben,« stieß Gertrud in stöhnender Bitterkeit hervor und verkrampfte die Hände. »Das ist, was ich dir sagen wollte. Nach dem Osterspiel hat der Vater die Verlobung aufgelöst. Röbi ist wieder frei, –und solange der Vater lebt, ist es unmöglich, daß wir uns wiederfinden. Er ist ganz sein Feind geworden!«

Sie blickte hoffnungslos zu Boden, plötzlich aber hob sie den Kopf und fragte mit hellerem Gesicht und aufquellender Wärme: »Sprich, Gritli, bist du nun über deine Verlobung mit Pfarrer Burgener glücklich?«

»Ich habe die selige Überzeugung, daß ich den besten Weg gegangen bin, den ich hätte gehen können,« versetzte die Freundin und ließ die rehbraunen Augen strahlen. »Wenn ich in das verklärte Gesicht Burgeners blicke, so wird auch mein Herz voll Sonne, und wenn einer auf Erden lebt, über den ich die Jugendliebe zu Röbi vergessen kann, so ist es mein gütiger, hochbegabter Pfarrer.«

Ihr zartes Gesicht leuchtete wie Frühling.

Als sie schwieg, faßte Gertrud ihre beiden Hände und wünschte ihr mit heißem Atem den Segen Gottes in die künftige Ehe.

Da schlenderte Balz des Weges daher, freute sich des Wiedersehens mit der früheren Nachbarin, die ihm immer gütig und achtungsvoll begegnet war, und bat sie, daß sie ihm von den Schneebergen des Berner Oberlandes erzähle, die er stets nur aus weiter Ferne [237]gesehen habe. Mit strahlendem Blick lauschte er ihren Schilderungen aus Grindelwald, Lauterbrunnen, und wie man aus der Kleinen Scheidegg an einem fort Lawinen von den silberweißen Flanken der Jungfrau herniedergehen sehe. »Ja, einmal mit den ewigen Bergen Auge in Auge zu stehen, das wäre auch mein Wunsch,« versetzte er mit knabenhafter Schwärmerei.

In diesem Augenblick erschien er Gertrud beinahe schön.

Als Gritli gegen Abend gegangen war, machte Gertrud durch die Dämmerung den Spaziergang nach dem großen Stein unter der Buche, wo Röbi und sie sich zum erstenmal geküßt hatten. Ihre Sinne waren in gärendem Aufruhr: Gritli verlobt –jenes innere Hindernis zwischen ihr und Röbi aus dem Weg geräumt, das ihr früher am meisten Sorge bereitet hatte, –ihre Liebe zu Röbi kein Raub an der Freundin mehr. Gott, Gott! Sollte sie doch nicht still und stumm auf das höchste Glück warten, das ihrem Herzen beschieden sein konnte?

In ihren Traum hinein schauten aber die starken Augen des Vaters. Nicht einmal den kleinen Gefallen tat er ja Röbi, daß er als in amtlichen Dingen erfahrener Mann den Nachlaß der Frau Heidegger ordnete. Daraus merkte sie, wie tief sein Groll saß.

Wann kam wohl Röbi, um seine Erbschaft selber ins reine zu bringen? Darauf prüfte sie jede Äußerung des Vaters. Wenn er zu einer Gemeinderatssitzung ins Dorf hinunterstieg, so pochte ihr Herz. »Ist Röbi [238]wohl da?« -und am anderen Tag: »Nun ist er fortgegangen, ohne nach mir zu schauen.«

Ihre Seele drängte nach Erlösung, dürstete nach Liebe.

Balz? -Sie hatte eine herzliche Empfindung für ihn, namentlich wenn er auf dem Hof oder sonst mit ihr allein war, trotz seiner schwachen Brust auf seine kunstreiche Art pfiff, an einer Hobelbank in der Scheune hantierte und Hinfälliges in Stall und Scheune erneuerte. Sie freute sich an seiner liebenswürdigen Schelmerei und Keckheit, die sich wie Frühling aus seinem schüchternen Wesen hervorwagte, an seiner dabei doch bescheidenen und sinnigen Art und an dem stillen Frieden, mit dem er sein jetziges Leben genoß. Und sie nahm's ihm nicht übel, daß er merkbar Augen für ihre wohlgebildete Gestalt besaß. Wenn sie aber etwa beim sonntäglichen Kirchgang mit ihm unter die Menschen treten mußte, bereitete er ihr manche stumme Not. Er schämte sich des Glückes, auf dem Freihof leben zu dürfen, er errötete darüber vor jedermann, und es half nichts, als sie ihm einmal sagte: »Stell dich doch wie ein junger Bauernprotz, der mit den Talern klappert!« Seine Versuche, einen ruhigen Stolz zu zeigen, mißlangen lächerlich. Sie gaben ihm einen Stich in die Eitelkeit, die schlimmer war als sein natürliches Wesen.

Sie wußte wohl: wenn sie Balz die Hand gab, so war diese Liebe ein Bußgang, der still und tapfer zurückgelegt werden mußte.

Dennoch ließ sie die Augen manchmal fragend [239]und forschend auf dem Gast des Hauses ruhen, wenn er in eine Arbeit oder in ein Buch vertieft war, und wog ihre Gedanken unruhvoll hin und her. Merkte er es?

Jedenfalls der argwöhnische Vater. Es war nun Zeit, daß Balz ging. Mit Gertrud sprach er nicht darüber, aber mit Pfarrer Geißmann, und zwar in dem Sinn, daß Röbi, wenn er nach Haldenegg komme, um sein Erbe anzutreten, einen größeren Geldbetrag für Balz herausgeben solle, damit der an Leib und Arbeitskraft doch ziemlich Geschädigte sich anständig durchzubringen vermöge –vielleicht mit einer Tischlerei oder Drechslerei und Schnitzerei, die man ihm aus dem Schmerzensgeld schuldenfrei einrichten wolle.

Das war nun vom Freihöfler gerecht und edel gedacht; aber als Balz vom Pfarrer erfuhr, was für ihn im Wurfe lag, schmerzte es ihn, von dem ihm unendlich lieben Freihof und seiner noch lieberen Freundin Gertrud zu gehen. Einsam und bleich suchte er seinen Weg.

Sie erriet seinen heimlichen Kummer, und eines Abends traf sie ihn, wie er auf seiner Hobelbank in der Scheune saß und ihm die Tränen über die Wangen herunterliefen.

Da beichtete er ihr: »Ich weiß ja schon, daß ich nicht immer auf dem Hof bleiben kann. Von seiner Güte habe ich ja mehr genossen, als ich armer Mensch je vergelten kann. Aber das Scheiden tut mir so weh –von dir –von Haldenegg.«

»Von Haldenegg!« rief sie.

[240]

»Dein Vater wünscht es,« erwiderte er. »Und ich besinne mich umsonst, wo ich einen guten Menschen habe. –Vielleicht reise ich zu Klaus Hannecke und bitte ihn, daß er mich aufnimmt. –Übermorgen! –Morgen nachmittag ist die Sitzung, zu der Röbi Heidegger erscheinen muß. Die Geldangelegenheit ist mir auch so schrecklich, –ich nehme das Geld nicht gern.«

Gertrud stand neben ihm an der Bank, plötzlich wandte sie sich, legte ihre Hände an seine Wangen und lachte ihn fast übermütig an: »Das Geld von Röbi nimmst du freilich. Das gehört von Gottes und Rechts wegen dir. Aber du gehst nicht vom Freihof fort –nie –nie, bis man dich einmal im Sarg hinausträgt.« Ihre blauen Augen blitzten ihn an.

»Wenn es aber dein Vater will,« warf er kleinlaut ein.

Schon bewegte sie die Lippen zum Sprechen, da erschrak sie in sich selbst, hielt inne und wurde purpurrot. Nein, es ging doch nicht, das große Lebenswort zu Balz so über den Zaun des Augenblicks zu sprechen.

Sie ließ ihn mit einem lieben, ermunternden Blick allein.

Nun war der Tag der Schlacht in ihrem Herzen da. Fast mehr aber als an die große Frage, ob sie der treuen Liebe des Gesellen entgegenkommen solle, dachte sie an Röbi. Ob sie ihn zu sehen bekäme? Nun waren er und der Vater ja unten im Dorf beisammen. Gott, wenn das Wunder geschehen würde, daß sich die beiden miteinander versöhnten, daß sie am Abend [241]mitsammen auf den Hof gestiegen kämen! Ihre Einbildungskraft schlug Brücken, wo keine möglich waren. Sie dachte sich als das Weib Röbis und neben ihnen als den Dritten im Bunde Balz, für den sie nun einmal, solange er lebte, sorgen wollte. Als ein stiller, friedlicher Hausgeist sollte er neben ihnen dahingehen.

So träumte sie.

Gegen Abend hielt sie Ausschau auf die Straße. Früher, als sie gedacht hatte, kam der Vater bedächtig bergwärts gestiegen, aber allein! Da verlor sie jeden Mut, ein Gefühl trostloser Leere kam über sie. Ihr war, sie sollte ins Dorf hinuntergehen und Röbi suchen. Doch nein! Es war an ihm, die Gelegenheit zu schaffen, daß sie miteinander sprechen konnten.

Ehe der Vater auf dem Hof anlangte, schlug sie den Weg gegen die große Buche ein. Sie ging langsam, den Kopf tief gesenkt, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, und der goldene Abend hatte keine Sprache für sie. Sie fühlte nichts als die Schwere des Schicksals, und jetzt waren ihre Gedanken bei Balz. Nein, das ließ sie nicht zu, daß er schutz- und lieblos in die Welt hinausgestoßen wurde, er, der Schwache, der Pflegebedürftige, der Mann mit dem viel zu weichen, kindlichen Herzen. Im Sorgen für ihn bekam ihr Leben Sinn und Zweck. Also wollte sie –mußte sie sein Weib werden –entgegen dem Willen des Vaters –vielleicht sogar in der Fremde.

Sie hatte sich auf den bemoosten Findlingsstein gesetzt. Den Kopf auf die Brust gesenkt, die Hände im Schoß, war sie ganz den Bildern ihres inneren [242]Schauens hingegeben und malte sich die Ehe mit Balz aus –nicht rosig, sondern unter Verzicht auf ihren süßesten Lebenstraum.

Sie merkte nicht, daß Röbi sie aus einiger Entfernung stumm und ernst betrachtete und jeder ihrer leisen, leidvollen Bewegungen folgte.

Da schlug sie plötzlich die Augen zu ihm empor -, wie im Banne einer Erscheinung begann sie zu zittern, regte sich aber nicht und sprach kein Wort.

Mit ein paar Schritten war er bei ihr. »Gertrud, warum so furchtbar traurig?« Er streichelte kummervoll ihr blondes Haar, setzte sich neben sie und nahm ihre Hand weich in die seine.

Da erwachte sie wie aus einem dunkeln Traum.

»Ich habe gefürchtet, du fändest den Weg nicht zu mir,« kam es leise von ihren Lippen, und dann ein schluchzender Laut: »Röbi!«

»Du bist ja krank, Trudi, du arme Trudi,« sagte er. »Obwohl mir dein Vater erst heute wieder den Freihof verboten hat, wäre ich nicht von Haldenegg fortgegangen, ohne dich zu sehen. Wenn ich dich diesen Abend nicht getroffen hätte, so hätte ich dir morgen eine Krämerin mit einem heimlichen Briefchen vorbeigeschickt, das dich hieher gebeten hätte. –Wir können ohne einander doch nicht leben!«

»Nein,« flüsterte sie und drückte seine Hand fester.

Wie Maienregen fielen seine Worte in ihre wunde Seele.

»Nun laß mich zu dir sprechen,« versetzte er lind. »Seit wir uns das letztemal sahen, Gertrud, es [243]war im Morgenrot nach dem unglücklichen Abend, nein, schon in der Nacht, als ich durch Feld und Wald irrte, –da lernte ich das Grauen kennen, die finstere Grenze des Lebens. Ich fühlte beide. Noch erschütternder, als mir die Großmutter mitten unter den Menschen das Wort Mörder zuschrie, dein Vater unsere Verlobung löste und ich wie ein Verbrecher aus Haldenegg gehen mußte. Wie entsetzlich waren die Wochen nachher unter der Bangnis um Balz, unter der Furcht, wegen fahrlässigen Totschlages vor die Schranken des Gerichts gerufen zu werden! Da warf mich das Fieber nieder, und daraus bin ich als ein neuer Mensch auferstanden. Und mir scheint nichts mehr begehrenswert, als daß ich dir wieder in Ehren nahen darf, daß ich in Frieden mit deinem Vater komme und daß das durch meine Ostertorheit verletzte öffentliche Gewissen, auf das er sich gegen mich beruft, zur Ruhe gelangt. Ich bin mitten drin, mich aus meiner Schmach zu erheben, aber dazu bedarf ich deiner ausharrenden Treue.«

Sie gab ihm statt einer Antwort einen zitternden Kuß und fragte leise: »Warum hast du mir so lange nicht mehr geschrieben, Röbi?«

»Dein Vater hat meine für dich bestimmten Briefe uneröffnet zurückgeschickt. –Da wagte ich es nicht mehr, –er ist hart, furchtbar hart. Er war es auch heute. –Ich habe als Entschädigung an Balz bezahlt, was er und der Pfarrer für recht und billig erachteten, und freiwillig ein Schönes dazugelegt. Das haben sie auch anerkannt; aber als ich hinterher [244]unter vier Augen mit ihm von dir sprach und um die Erlaubnis eines Besuches bei dir bat, wies er mich ab. Nun gibt es nichts, Trudi, als daß wir still und treu ausharren, bis ich mich durch mein Wirken rechtfertigen kann. Fällt es dir schwer?«

»Nein –nein!« Sie ließ ihre Augen selig in die seinen leuchten. »Die Schatten werden alle zergehen wie der, den Gritli Geißmann in unsere Liebe warf. Ich glaube an dich, Röbi!«

»Ja, über ihre Verlobung bin ich auch froh!«

Erst die einbrechende Dunkelheit der Herbstnacht mahnte sie an den Heimweg. In wohliger Müdigkeit, die Hüfte in seinen Arm gestützt, ihre Wange an die seine gelehnt, schritt sie bis in die Nähe des Freihofs dahin.

Wo war nun der Gedanke geblieben, daß sie das Weib Balthasars werden wolle? Wie eine plötzlich weichende Krankheit war er von ihrer Seele gefallen, sie empfand ihn selber wie eine Verirrung und sprach aus Scham mit Röbi nicht darüber.

Als sie in die Stube trat, warf ihr der Freihöfler, der bei der Lampe saß, einen fragenden, argwöhnischen Blick zu.

Sie antwortete ihm frei: »Ja, ich war mit Röbi zusammen –wir trafen uns zufällig bei der großen Buche.«

»Zufällig,« knurrte er und zog die Brauen finster.

»Dafür gebe ich dir ein Versprechen, Vater. Ich habe mir die Heirat mit Balz völlig aus dem Kopf geschlagen. Auch eine Bitte habe ich an dich: daß er [245]auf dem Hof bleiben kann. Ist hier nicht Raum genug für eine Tischlerei?«

Ein Herzenston, wie er ihn schon lange nicht mehr von seinem Kinde gehört hatte, traf ihn.

Er grollte ihr aber wegen des Zusammenseins mit Röbi und wollte sich nicht weich zeigen.

Erst beim Morgenessen wandte er sich an Balz, dessen Gesicht die Spur heimlicher Abschiedstränen trug. »Ich habe mich anders besonnen. Aus dem Geld Röbis könnt Ihr Euch auch hier eine Tischlerei einrichten. Wir werden uns schon vertragen, und für Euch hätte es den Vorteil, daß Gertrud stets etwas zu Eurem Befinden sehen könnte.«

Wie nun das Glück Balz in die Augen und Wangen schlug, das rührte den Freihöfler.

Im Grund hatte er nur so gesprochen, um mit seinem einzigen Kind wieder in ein besseres Einvernehmen zu kommen. Darnach sehnte er sich, obgleich er ihr grollte. Ihm schien es leichter, als Friedensrichter die wildesten Streithähne untereinander zu versöhnen, als mit dem stilltrotzigen Mädchenkopf fertig zu werden.

Ihre heimliche Hoffnung kannte er schon, aber was Balz betraf, traute er ihrem Wort völlig.

19

[246]

Es ging dem Winter entgegen, und auf dem Freihof waren wieder gelassenere Zeiten eingekehrt. Balz besaß in einem Hintergemach des Hauses seine Tischlerei und lieferte da- und dorthin hübsches Gerät. Stets mußte ihn Gertrud mahnen, daß er seine Brust schone. Und der Freihöfler fand wieder mehr Geschmack an dem stillzufriedenen Hausgenossen.

»Rate einmal, was Balz noch für einen Herzenswunsch hat,« wandte sich Gertrud an den Vater. »Er wagt es nur nicht wegen der ansehnlichen Kosten, mit dir davon zu sprechen.«

»Was ist's denn?«

»Er wünscht sich auf Weihnachten ein Harmonium!«

»Das kaufen wir jetzt schon –ich höre gern schöne Musik,« stimmte der Freihöfler zu. »Ich habe zu Martini mit Geldangelegenheiten in der Stadt zu tun. Da soll er mitkommen und das Instrument auswählen, von dem Geld Röbis ist ihm ja ein hübscher Posten übriggeblieben.«

Als die beiden Männer zur Bahn fuhren, war es Gertrud eine große Freude, sie so einig zu sehen; eine noch größere war es, als sie wiederkamen und mit dem Harmonium eine Kiste Bücher brachten. Ihr [247]war, eine Weihe gehe durchs Haus, als Balz auf dem Instrument probte.

»Und die Bücher?« fragte sie.

»Du weißt, ich habe mein Sparkassengeld von Aue bezogen,« erklärte er ihr selig, »und stets war es mein Traum, wenn ich einmal seßhaft sei, selber Bücher zu besitzen, den ›Armen Mann aus dem Toggenburg‹ und noch manche –manche! –Ich habe dir von einer Plätterin in Osnabrück erzählt; durch sie lernte ich die Leihbibliothek kennen, ich las eine Weile die gleichen leichtsinnigen Schriften wie sie, später gefielen mir aber solche Bücher besser, in denen ich etwas von der Heimat spürte, überhaupt die schönen, wahren Bücher! –Wahr? –Gertrud, man darf das nicht immer buchstäblich nehmen, sondern sie sind Sinnbilder, Gleichnisse des Lebens, und wenn wir übel ihren Inhalt nachdenken, so lernen wir daraus so viel wie aus einer Predigt.«

»Mein gebildeter Balz!« lachte Gertrud. »Du gute Seele, ich weiß schon lang', wie man Bücher auffassen soll.«

Sie freute sich aber seiner geistigen Regsamkeit.

Lind und leis spann der Schnee Haus und Hof, Felder und Wälder ein. In die Sternennächte klangen die getragenen Töne des schönen Instruments hinaus, und über die drei Menschen auf dem Freihof kam der Frühling mit seiner Sonne, sie wußten nicht wie.

Der für Balz und Röbi so verhängnisvolle Ostermontag jährte sich. Hier und dort im Dorf erinnerte man sich an den unglücklichen Ritt, aber nachdem [248]es Balz in der Friedensrichterfamilie so gut ging, sprach man mit Heiterkeit und harmlosem Sticheln davon. »O, es würde noch mancher arme, fremde Geselle oder Knecht gern vom Pferd stürzen, wenn er dann grad so auf ein Butter- und Honigbrot fiele wie Bläser! Auch kein Wunder, daß sein Heißhunger geheilt ist, die schöne Gertrud sieht ja zu ihm, als ob er eine goldene Stecknadel wäre.«

Auf dem Freihof kümmerte man sich nicht um die Unterhaltungen der Dörfler. Die Tage, Wochen, Monate und Jahreszeiten gingen ihren Lauf, und von Zeit zu Zeit ereignete es sich, daß bei Gertrud ein Freier vorsprach. Sie ließ alle ablaufen, und je nach Art und Stand des Besuches zollte ihr der Freihöfler Beifall oder ließ die Stirnlocke wie ein Flämmchen aufspringen; fast kerzengerade richtete sie sich empor, als sie dem bildhübschen jungen Bauern aus dem Thurgau, der wieder ein Rind zu kaufen gekommen war, ein höfliches Körbchen gab.

Sie stritten aber nie wieder laut, nur ließ der Freihöfler noch jeden Brief Röbis, der stets wieder Anknüpfungen suchte, an den Schreiber zurückgehen.

So hörte Gertrud vom Liebsten oft lange nichts.

Gegen den Herbst hin hatte sie im Pfarrhaus zu Büchlisberg Patin zu stehen. Da schob ihr Burgener ein Zeitungsblatt aus der Stadt hin. In den akademischen Nachrichten war ein Satz rot angestrichen. Er lautete einfach: »Den Titel eines Doktors beider Rechte hat mit Lob erworben Herr Robert Heidegger aus Haldenegg. Der junge Gelehrte gedenkt zunächst [249]auf einer Studienreise das Gefängniswesen der verschiedenen Länder kennen zu lernen und sich nachher als Anwalt in unserer Stadt dem Kriminalfach zu widmen.«

Errötend bat sich Gertrud das Blatt aus, um es dem Vater vorlegen zu können.

Er fand es am Montag früh beim Morgenessen. Ein Blick darein, und er bemerkte kühl: »Was ist der Doktor Besonderes, wenn einer so viel Geld gekostet hat wie Röbi? –Das Leben muß ausweisen, was an ihm ist!«

Seine Worte hinderten aber Gertrud nicht, Röbi einen vor Freude überströmenden Brief zu schreiben, und Balz schickte ihm die schönste Glückwunschkarte, die im Dorfe aufzutreiben war. Sie trug das Bild eines mit Rosen umwundenen Ankers und hatte goldene Fransen.

Von der Studienreise des jungen Doktors erhielt Gertrud häufig Briefe, und sie spürte nun, daß sein Titel doch auf den Vater gewirkt hatte: er schickte keines der Schreiben mehr zurück, sondern weigerte sich bloß, darein zu blicken, auch wenn Gertrud oft von wunderschönen Reiseschilderungen sprach, die Röbi zu entwerfen wisse.

Einmal bekamen aber auch der Freihöfler wie Balz einen Brief, nicht von Röbi, sondern von Klaus Hannecke. Außer vielem anderen schrieb er ungefähr: »Von Herrn Doktor Heidegger mit einem leider allzu flüchtigen Besuch beehrt, drängt es mich, hochgeschätzter Herr Friedensrichter, Ihnen und Ihrer verehrten [250]Tochter meinen warmen Dank für die schöne Heimat auszusprechen, die Sie meinem unvergeßlichen Freund Balz Bläser bereitet haben.«

Balz schwärmte für Röbi wie in den Tagen vor dem mißlungenen Eierspiel, und der Freihöfler ließ es gelten, daß der Besuch bei dem Freund Balthasars ein schöner Herzenszug sei.

Es dauerte dennoch eine ziemliche Zeit, bis Gertrud es wagte, Röbi wieder auf den Freihof zu rufen.

Die Apfelblüte zog aufs neue mit rosigem Schein durch das Land. Schon hatte sich das böse Osterfest zum drittenmal gejährt, und Röbi war bereits ein Anwalt mit gutem Namen.

Mit gespannter Aufmerksamkeit las Gertrud in einer Zeitung, die er ihr geschickt hatte, eine Schwurgerichtsverhandlung, in der er einem Unglücklichen zu mildem Recht verholfen hatte.

Der Fall war folgender: Ein Bauernsohn, bisher von unbescholtenem Ruf, hatte die Jahre dahin seinem Vater treu und bescheiden gedient. Er verlobte sich mit einem rechtschaffenen, aber ziemlich mittellosen Mädchen. Nun war der Alte über die Wahl des Sohnes aufgebracht. Er quälte und reizte ihn bis aufs Blut. Als der Sohn zu einer mehrwöchigen Militärübung einrücken sollte, versuchte der Vater ihn mit ein paar Fränklein abzufertigen. Ein hitziger Handel entstand. Es kam von seiten des Alten zu Tätlichkeiten. Der Sohn, der eben das Gewehr zur Hand hatte, stieß ihn mit dem Kolben vor die Brust, und der Vater erlag in der folgenden Nacht den [251]inneren Verletzungen. Dafür beantragte der Staatsanwalt sieben Jahre Zuchthaus, und jedermann erwartete, daß die Geschworenen, die unter dem Banne des schrecklichen Wortes »Vatermörder« standen, mit dem hartnäckigen und kalten Ankläger gehen würden. Da setzte sich aber der Verteidiger Doktor Robert Heidegger mit dem Glutfeuer seiner jungen Jahre für den unglücklichen Bauernsohn ein. Selbst hingerissen von seiner ergreifenden Rede, wandte er sich den Geschworenen mit den Worten zu: »Ich will Ihnen erzählen, wie rasch ein sonst rechtschaffener junger Mann schuldig werden kann. Ich war vor nicht langer Zeit in ähnlicher Lage wie der Angeklagte.« Und er rief ihnen das unglückliche Eierlesen auf dem Freihof ins Gedächtnis zurück. »Ich fand damals keinen Richter als den in mir selber,« fuhr er fort. »Um so mehr ist es meine Pflicht, Ihre Milde für den heutigen Angeklagten zu erbitten. Gestehen Sie dem jungen Manne zu, daß die Tat in ihrer Plötzlichkeit mehr ein Unglück als ein Verbrechen war. Vernichten Sie sein Leben nicht durch die entehrende Zuchthausstrafe, erkennen Sie auf ein paar Jahre Gefängnis. In diesem Fall hat seine Braut versprochen, ihm die Treue zu bewahren, er kann wieder ein rechter Mann werden und gedeihen. Wenn aber noch einer von Ihnen, meine Herren Geschworenen, in seiner Seele über das Urteil schwankt, das er abgeben soll, so durchforschen Sie einmal die Erinnerungen an Ihre eigene Jugend, ob Sie nicht Gott dafür danken müssen, daß schwarze Flügel Sie wohl berührt, aber nicht in den Abgrund [252]geworfen haben. Ich bitte aus Herzensgrund um Ihr Verständnis für den Angeklagten!«

Und siehe da, als sich die Richter nach mildem Schuldspruche der Geschworenen zur Beratung zurückzogen, gingen sie nicht mit dem Staatsanwalt, sondern –ein schöner Sieg der Menschlichkeit –mit dem jungen, feurigen Verteidiger und erkannten für den Angeklagten bloß auf Gefängnis.

Gertrud bot das Blatt mit zitternden Händen dem Vater.

Als er es sinken ließ, konnte er eine tiefe Bewegung nicht meistern.

»Gertrud, nun hast du mit deinen Hoffnungen Recht behalten!« sagte er nach einer Weile. »Aus dem Most ist Wein geworden –aus dem leichtsinnigen Röbi ein Anwalt des volkstümlichen und natürlichen Rechts, wie er es versprochen hat. –Schreibe ihm, er sei mir auf dem Freihof wieder willkommen!«

Da brachen ihre Tränen gewaltsam hervor.

20

[253]

Bei der nicht unerwarteten Wendung im Leben Röbis und Gertruds ging es dem Freihöfler am übelsten. Das junge Paar wohnte in der Stadt, und in seiner Einsamkeit mußte er über die Gesellschaft des langen Balz, den er vorher nur Gertrud zuliebe im Haus behalten hatte, froh sein. -

Es war ein Wintertag.

Da wühlten sie beide in dem mit der Scheune zusammengebauten Schuppen herum, wo die Nutzhölzer aufgestapelt lagen.

Balz lachte das Gesicht. »Da ist ein schöner Ahorn –dort ein Kirschbaum –jeder geeignet für eine Wiege!«

»Nein, der Nußbaum muß hervor,« rief der Alte, »er ist und bleibt das vornehmste Holz für kleine und große Möbel! Laß, Balz, deine Brust verträgt das nicht, ich bekomme ihn schon. –Hier ist er! –ein wunderschön gefasertes und gemasertes Holz. Mit der Wiege aber kannst du dir bis zu Johanni Zeit lassen.«

Balz sägte und hobelte an mancherlei Geräten, die Gertruds Haushalt schmücken sollten, mit der größten Liebe aber an der Wiege, an einer Wiege [254]wie für ein Königskind. Bei dieser Arbeit war ihm so feierlich zumute, daß er, um die schönen Gefühle stets wieder erneuern zu können, die Vollendung möglichst verzögerte. Oft kam der Freihöfler in die Werkstatt und schaute ihm zu, wie er die Stücke visierte, den Staub davon blies, sie mit Öl einrieb und das Spiel der Linien im Holz bewunderte.

Abends saß Balz am Harmonium.

Schon witterte man auf dem Freihof wieder Frühlingsluft, da und dort rief ein vorlauter Fink von den Bäumen.

Da war, schier zum Leidwesen des geschickten Tischlers, die Staatswiege mit dem muschelförmigen Kopfstück fertig, und nun setzte er seinen Stolz darein, sie selber dem jungen Ehepaar Doktor Heidegger abzuliefern.

An einem milden Frühlingsmorgen fuhr er damit in die, Stadt, erntete von Röbi und Gertrud das wohlverdiente Lob seines schönen Werkes und verbrachte mit ihnen einen glücklichen Tag.

So ging die Zeit.

Der Friedensrichter und Balz sahen die heranblühende Familie Röbis nur an den hohen Festtagen und in den frohen Wochen der Gerichtsferien auf dem Freihof. Dann war Balz der von den Kindern umjubelte Liebling, der sie auf dem Rücken des alten Braunen durch den Hof reiten und ihnen die Glocken seiner Ziehharmonika läuten ließ.

Eines Frühlings aber nahm ihn eine rasche Lungenentzündung vom lieben Freihof hinweg.

[255]

Meister Hildebrand kam und maß ihm unter erhebenden Erinnerungen an den vortrefflichen Gesellen von früher den langen Sarg an, und der steife Braune führte seinen Freund auf den Kirchhof von Haldenegg hinab.

In der Kirche war die Aufmerksamkeit der vielen Dörfler, die Balz das letzte Geleite gaben, auf ein junges Paar gerichtet, das in städtischen Trauerkleidern neben dem Freihöfler Platz nahm. Bewegung und Flüstern ging durch die Reihen: »Das ist Doktor Robert Heidegger, der berühmte Anwalt, mit seiner Frau.«

Das Dorf erinnerte sich daran, daß er der Urheber des unglücklichen Osterrittes gewesen war, mit dem vielleicht der frühe Tod Bläsers in Zusammenhang stand. Doch wozu davon sprechen? Der Tote hatte ja noch etliche Jahre sorglos und glücklich auf dem Freihof verleben dürfen, und jedermann empfand etwas Versöhnendes und Heiliges darin, wie Röbi in stummer Seelenbewegung von ihm Abschied nahm. Unter den Zuschauern waren aber ein paar von jenen Gescheiten aus Haldenegg, die das Gras wachsen hörten. Sie behaupteten, daß Röbi nie der erfolgreiche Anwalt und Verteidiger aller wegen Streithändeln oder jäher Tat angeklagten jungen Leute geworden wäre, wenn er in der Ostergeschichte nicht an sich selber gespürt hätte, wie weh es dem Menschen ist, der durch eine Handlung des Leichtsinns das gute Gewissen und den guten Ruf verloren hat.

[256]

Tief trauerte der Freihöfler um den dahingeschiedenen treuen Hausgenossen. Er lebte nun neben Wälti und Vree einsam. Im hohen biblischen Alter aber war er Zeuge des unerwarteten Schauspiels, daß sich der Freihof noch einmal wie bei dem verschollenen Osterspiel schmückte und ihn eine festliche Menge umgab.

Das war, als Fürsprecher Doktor Robert Heidegger von Haldenegg, durch das einmütige Vertrauen seines Volkes zum Landammann berufen, mit seiner Frau Einzug in ihrem Vaterhaus und in der Heimat hielt.


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TextGrid Repository (2023). Swiss German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-gsw). Der lange Balthasar : ELTeC Ausgabe. Der lange Balthasar : ELTeC Ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-FDC6-5