" Ja , und doll gesund ist das der Lizzie obendrein . "
Ein inhaltsvoller Brief .
Leni reckte ihre kleine , etwas untersetzte Gestalt wichtig in die Höhe .
" Mutig , siehst du mir gar nichts an ? "
Die Mutter ließ die leise summende Kaffeemaschine einen Augenblick außer acht und wandte sich lächelnd mit prüfendem Blick ihrem erwartungsvollen Töchterchen zu .
" Hm - ich sehe da eine Sicherheitsnadel statt eines Knopfes an der Schürze , dann einen Tintenfleck am Finger und - - - "
" Du siehst wirklich alles !
Aber - Mutig , das meine ich doch gar nicht ! "
Ungestüm flog Leni auf die Mutter zu , daß die Kaffeetassen bedenklich zu klirren begannen , und der Vater mit einem " Na - du Gör " schmunzelnd von seiner landwirtschaftlichen Zeitung aufblickte .
" Halt , Vating - von heute ab darfst du nicht mehr » Gör « zu mir sagen , denn heute - na , wißt ihr es wirklich nicht ?
Heute bin ich ja ein richtiger Backfisch !
Vierzehn Jahre und sieben Wochen , es stimmt genau , Hurra ! "
Damit drehte sich Leni ein halbdutzendmal um ihre eigene Achse , bis die Mutter mit einem festen Griff dieser wirbligen Freude ein Ende bereitete .
" Mädel , du machst einen ja ganz schwindlig !
Wenn du von heute an wirklich in die würdige Altersstufe der Backfische eingereiht sein willst , dann hast du doch auch zum mindesten die Pflicht , dich danach zu benehmen . "
Mutters Blick , der mit stolzer Freude an der blühenden Ältesten hing , strafte die ernst klingenden Worte Lügen .
Leni wußte schon , wie sie gemeint waren .
" Erbpächters Lising hat eine richtige Kaffeegesellschaft gegeben an dem Tage , da sie vierzehn Jahr ' und sieben Wochen alt wurde , " berichtete Leni eifrig weiter , " mit Kuchen und Schlagsahne !
Mutig , darf die Mamsell nicht auch heute mir zu Ehren Waffeln backen ?
Ach ja , bitte , bitte ! "
" Meinetwegen , du Naschkatze ! "
Die Mutter machte sich lachend aus Lenis Umarmung los .
" Und jetzt darf auch Onkel Felix mich nie mehr mit dem gräßlichen Namen » Schmaltierchen « uzen , und Dörthe und der alte Jürgens müßten nun eigentlich » Sie « zu mir sagen und - - - "
" Ja , ja , wir sagen alle » Sie « , aber für jetzt , Fräulein Backfisch , laufen Sie Mal der zweibeinigen Post entgegen !
Ich sehe den alten Grat eben dort um das Rapsfeld biegen .
Hü - hopp - allons ! "
Der Vater schnalzte scherzhaft mit der Zunge , womit er sonst seiner großen Dogge rief , und Leni setzte sich , die täppischen Sprünge Cäsars nachahmend , in Trab .
" Du machst mir das Mädel noch wilder , als es schon ist , Alter ! "
Mit einem Seufzer schob Frau Sürsen ihrem Gatten die Tasse mit dem duftenden Mokka zu .
" Laß gut sein , Mutig ! "
Zärtlich streichelte Lenis Vater die kräftige , gebräunte Frauenhand .
" Ich bilde nur das notwendige Gegengewicht zu deinem allzu stark ausgeprägten Bildungs- und Wirtschaftssinn .
Laß die Dirn , wie sie ist : frisch , fröhlich und gesund an Körper und Geist .
Gehorchen muß sie , das ist das einzige ; aber sonst - ich pfeife auf all das Getty und Geziere !
Das lernen die Mädel noch früh genug - leider ! "
" Nun , etwas mehr von der Kultur beleckt dürfte die Leni wohl sein !
Jeden Getreideschlag kennen und auf ungesattelten Ackergäulen Einherjagen , das genügt heutzutage nicht für ein junges , gebildetes Mädchen .
Gretchen Leonhard auf Butenhagen ist viel - - - "
" Ach was , der Zieraffe !
Ich halte unsere Leni für ein ganz prächtiges Kerlchen ! "
" Kerlchen ? Siehst du , Waldemar , da sagst du es ja selbst !
Kerlchen - ist das etwa ein Ehrentitel für eine angehende junge Dame ? "
" Na , für einen bleichsüchtigen Jammerlappen danke ich , Mutig .
Leni ist ja dein Ebenbild ; laß sie nur so werden , wie du bist , dann wird sie gut ! "
Der Gegenstand der elterlichen Auseinandersetzung , die Leni , hatte inzwischen dem alten Landbriefträger mit einem aufmunternden : " Na , oll Grat , was Magd de vertrackte Gicht ? " die Postsachen abgenommen .
Dann mußte sie noch einen Augenblick im Hof beim Aufladen des Dungs zuschauen , der gelbweißen Schecke freundschaftlich eins auf die Flanken versetzen , Hänschen und Fränzchen , die sechsjährigen Verbündeten , von einer tollen Hühnerjagd zurückholen und Mamsell einen eindringlichen Wink wegen der Backfischwaffeln geben .
Immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend , erschien sie endlich wieder mit heißen Wangen in dem kleinen gemütlichen Jagdzimmer , in dem man den Morgenkaffee einzunehmen pflegte .
" Vating , aus London ein Brief von Onkel Richard , die Marke muß ich für Karl Heinz aufbewahren . "
Damit schwenkte Leni ein umfangreiches Schreiben in der Luft herum .
" Es wird auch Zeit , daß der Junge Mal wieder was von sich hören läßt , " sagte schmunzelnd der Vater , legte aber doch aus alter Gewohnheit den Brief seines Bruders zur Seite , um erst sämtliche beruflichen und amtlichen Schreiben durchzusehen .
Leni stand wie auf Kohlen .
Die große altmodische Standuhr in der Ecke , die mit ihrem dünnen , hellen Schlage bereits die dritte Generation der Sürsen durch das Leben begleitete , zeigte beinahe schon die achte Stunde .
Seit geraumer Zeit war Karl Heinz mit seiner Mappe schon ins Dorf gezogen .
Der Herr Kantor , bei dem Leni mit dem um ein Jahr jüngeren Bruder in Deutsch , Rechnen , Geographie , Geschichte und Religion gemeinsamen Unterricht erhielt , verstand in Bezug auf Pünktlichkeit keinen Spaß .
Noch zwanzig Minuten fehlten ; Leni trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen .
Selbst das Nesthäkchen Suschen , das ihr jetzt lustig vom Arm der Mutter entgegenkrähte und von Leni vergöttert wurde , bekam nur ein ziemlich gleichgültiges " Mumm - mum - kiek - kiek " zu hören .
Ob sie kommen würde ?
Darin gipfelte augenblicklich Lenis ganzes Interesse .
Seit dem Augenblick , da an Cousine Marie , die gerade wie sie selbst vor vierzehn Jahren das Licht der Welt erblickt hatte , die Einladung von den Eltern für die Zeit der Sommerferien abgegangen war , hatte Leni im Verein mit Karl Heinz jeden Tag neue Pläne zur Belustigung der fremden Verwandten geschmiedet .
Sie waren dabei auf die abenteuerlichsten Dinge verfallen , wie Wettringkämpfe , Kegelschieben , Korndreschen , Taubenschießen und Froschfang .
Nun aber lag die heißersehnte Antwort auf all die geplanten Herrlichkeiten unbeachtet in dem festverschlossenen Kuvert neben Vaters Kaffeetasse !
Endlich war der Vater über die verschiedenen Kleearten und über ein kräftiges Ochsengespann , das zu Verkaufe stand , unterrichtet ; er griff zu Onkel Richards Brief .
Umständlich löste er das Siegel , und viel zu langsam für Lenis Ungeduld entfaltete er das mit steilen Schriftzügen bedeckte Schreiben .
" Ei sieh , Mutig , haben die sich auch ein kleines Landhaus oder » Cottage « , wie sie es dort nennen , zugelegt ! . . . na , die Lizzie , seine Jüngste , ist auch mehr krank als gesund . . . der Tausend , er kommt in vier Wochen nach Deutschland ; er hat in Hamburg geschäftlich zu tun .
Das freut mich aber wirklich , mein Junge !
Wie lange habe ich ihn nun nicht gesehen ?
Wartet Mal - " und unbekümmert um Lenis Verzweiflungsseufzer begann der Vater nachdenklich die Zahl der Jahre an den Fingern herzuzählen .
" Eins . . . zwei . . . drei . . . vier . . . fünf Jahre - denke Mal , Mutig , fünf Jahre werden es nun auf Johanni , daß er das letzte Mal bei uns war ! "
" Na und Marie , wie steht es mit Cousine Marie , Vating ? " unterbrach Leni aufgeregt .
" Geduld , Jungfer Naseweis ; das wird schon noch kommen .
Also : » Mary bringe ich Euch mit « " -
Leni vollführte einen wilden Indianersprung vor Freude - " » ich nehme für mein blasses Stadtmädel , das in letzter Zeit zu schnell in die Höhe geschossen ist , gern Eure freundliche Aufforderung für einen gesunden Landaufenthalt an , aber « - nanu , ist dem Jung ' etwa der Londoner Nebel zu Kopf gestiegen ?
Nee , mein Junge , daraus wird nichts !
Leni , dich will er dafür !
Du Dreikäsehoch nach London , in die weite Welt !
Der Junge hat wirklich 'nen - - - "
Der Vater ließ den Satz mit einem für den Bruder wenig schmeichelhaften Tippen des rechten Zeigefingers gegen die Stirn unvollendet .
" Aber was schreibt er denn ? " drängten die Mutter und Leni gleichzeitig .
" Dummes Zeug ! " brummte der Vater , " hört bloß Mal : » Also ich nehme gern Eure freundliche Einladung für einen Landaufenthalt an , aber vier bis sechs Wochen nützen nach Ansicht des Arztes so gut wie gar nichts ; Mary soll womöglich für ein ganzes Jahr aus der Stadt heraus und geistig vollständig ausspannen .
Da habe ich an einen Austausch unserer beiden Mädel gedacht , wie man ihn bei uns sehr häufig hat . Dir und Deiner lieben Frau ist gewiß ebenfalls damit gedient , Euer Töchterchen , das ja nun auch bald eine junge Dame ist , für ein Jahr in eine richtige , gute Schule zu tun , und in der Großstadt all das genießen und lernen zu lassen , was man ihr auf dem Lande nicht bieten kann .
Ich bin davon überzeugt , daß Ihr mit meinem Vorschlag einverstanden seid , und bringe Mary in vier Wochen nach Hamburg .
Wir verabreden , da meine Zeit diesmal nur kurz bemessen ist , ein Zusammentreffen , und Du führst mir Dein Lenchen dort zu .
Es wird ihr sicher bei uns gefallen , und auch Mary , denke ich , wird sich auf unserem Gut an der Waterkant , wo wir beide , mein Alter , die herrlichen Jugendjahre zusammen verlebt haben , wohl fühlen und kräftigen « und so weiter , und so weiter .
Na , was sagt ihr zu dieser hirnverbrannten Idee ?
Total übergeschnappt , was ? "
Leni sagte vorerst gar nichts ; sie sperrte vor Erstaunen Mund und Augen auf , und der Ausdruck ihres niedlichen Gesichtes war nichts weniger als geistreich .
Die Mutter aber griff nachdenklich zu dem Schreiben , das der Vater unwirsch auf den Frühstückstisch hatte sinken lassen .
Und während ihr Mann mit langen Schritten wie ein gefangener Löwe in dem kleinen Raum auf und nieder schritt , las sie noch einmal bedächtig die Zeilen ihres Schwagers durch .
" Na , Mutig . . . ? " tönte es grollend von den Lippen des Landwirts , als Frau Lisabeth noch immer schwieg .
Diese übergab das laut krähende Suschen dem eintretenden Fräulein und legte dann ihrem Mann leicht die Hand auf die Schulter , ein Zeichen dafür , daß eine Beschwichtigung notwendig sein würde .
Er sah sie denn auch sogleich mißtrauisch von der Seite an .
" Ich kann in Richards Vorschlag ganz und gar nichts Hirnverbranntes oder Übergeschnapptes finden , Alter , " begann sie mit ruhiger Stimme .
" Im Gegenteil , ich meine , daß die Sache durchaus einer reiflichen Überlegung wert ist .
Schon längst habe ich innerlich die unumgängliche Notwendigkeit erwogen , Leni noch eine regelrechte gute Schulbildung zuteil werden zu lassen ; auch ihr Benehmen bedarf unbedingt noch eines gründlichen Schliffs .
Nur dein mir bekannter Widerwille gegen Mädchenpensionate hat mich bisher davon zurückgehalten , dir einen diesbezüglichen Vorschlag zu machen .
Aber nun , da sich uns die Gelegenheit so günstig darbietet , wie vielleicht nie wieder , meine ich , ist es unsere Elternpflicht - - "
Frau Lisabeth legte ihrem Manne beschwichtigend die Hand auf die Schulter .
Er unterbrach sie fast heftig .
" Elternpflicht ? Pflicht guter Eltern ist es , das ihnen vom Himmel anvertraute Gut nicht anderen zu überlassen , sondern selbst nach dem Rechten zu sehen , und wenn es Not tut , mit einem Bombenelement dazwischen zu fahren !
Komme her , mein ' Dirn ! "
Er faßte Lenis Kopf zwischen seine Riesenfäuste und zog sie so zu sich heran .
" Leni , sage , hättest du denn Lust , von uns allen hier fortzugehen , von Mutig und mir , von den Gören und unserem lieben alten Haus , was , du Lüttes ? "
" Ja , " sagte Leni mit heller Stimme zu seinem höchsten Erstaunen , und als sie jetzt die klaren blauen Augen zum Vater aufschlug , spiegelte sich darin der ganze Jubel eines vierzehnjährigen Mädchenherzens wider , dem zum ersten Male in der Ferne die fremde Welt in unbekannter , verlockender Schönheit winkt .
" Sieh Mal , Vating , ich bin doch seit heute ein richtiger Backfisch ; da ist es auch allerhöchste Zeit , daß ich anfange , meine Weltkenntnisse ein bisschen zu erweitern . "
" Vor allen Dingen erweitere Mal erst deine Weltgeschichtskenntnisse eifriger , liebes Kind , " fiel die Mutter ein , " das scheint mir entschieden das wichtigere .
Es ist ja schon acht Uhr vorbei , Leni ; die Stunde beim Herrn Kantor hat längst begonnen .
Mädel , wann wirst du endlich anfangen , dich an Pünktlichkeit und Ordnung zu gewöhnen ? "
Leni blickte entsetzt nach der Uhr .
Sie hatte während der aufregenden Erörterung vollständig das mahnende Schlagen überhört .
Aber trotzdem machte sie auch jetzt nicht die geringsten Anstalten , sich in Bewegung zu setzen ; die Sache war doch von zu großer Wichtigkeit .
" Leni , du bist hier bei der Verhandlung durchaus überflüssig ; mache , daß du zur Schule kommst ! "
Leni wußte , dem bestimmten Ton Muttings gegenüber gab es keinen Widerspruch .
Sie zauderte zwar noch eine Viertelsekunde , ob sich Vater nicht ihrer annehmen würde .
Aber als alles ruhig blieb und der Vater nur verstimmt gegen die Fensterscheiben trommelte , hielt sie es doch für geratener , sich , wenn auch verdrossen , auf den Weg zu machen .
Die Mappe war natürlich nicht gepackt .
Leni hatte gestern noch spät abends mit Karl Heinz die " süßen " jungen Karnickel besichtigen müssen , und dadurch war es in Vergessenheit geraten .
Sie begann jetzt auf ihrem Pult hastig Bücher und Hefte durcheinander zu kramen .
Wohin hatte sich denn nur das Rechenheft verkrochen !
In der Eile übersah sie , daß sie statt des Geschichtsbuches Karl Heinz' Lieblingslektüre , die lustigen Verse von Busch , die das gleiche Format hatten , in den Tiefen der Schulmappe verschwinden ließ .
Als sie endlich mit aufgeschnallter Mappe , schief sitzendem Hut und dem umfangreichen Frühstückspäckchen über den Gutshof jagte , konnte sie es sich doch nicht versagen , dem alten Jürgens , der gerade mit tiefsinnigem Gesicht Kartoffeln in den Schweinetrog schnitt , die große Neuigkeit zuzurufen :
" Jürgens - ich gehe auf ein ganzes Jahr nach England ! "
Der grauhaarige Freund ihrer Kindheit sah langsam und bedächtig , wie er ein jedes Ding handhabte , von seinem Schweinetrog auf .
Aber als er sich eben zu einer umständlichen Entgegnung anschickte , bemerkte er voll Staunen , daß Leni schon über alle Berge war .
Als bräunlicher Punkt jagte sie bereits die Landstraße hinunter und dem Dorfe zu .
Da schob Jürgens seine Pfeife in den anderen Mundwinkel , und noch ehe die Eltern oben im Frühstückszimmer zum Endergebnis ihrer Überlegungen gelangt waren , wußte man es schon drunten in der Leutestube :
" Uns' lütt Fräulein wannert ut ; sei geht nah Amerika ! "
Noch niemals waren Leni die roten Ziegelkappen der stattlichen Büdnergehöfte und die vielfach geflickten Schindeldächer der armen Tagelöhnerhütten drunten im Dorf so fern erschienen .
Ungeachtet ihrer vierzehn Jahre suchte sie sich den einförmigen Schulweg durch Hin- und Herspringen über den Straßengraben , ähnlich wie Cäsar , etwas interessanter zu gestalten .
Bald würde sie statt des einsam pflügenden Bäuerleins dort drüben auf dem Felde , das gleichmäßig seine geraden Furchen zog , glänzende Straßen , prächtige Häuser und schön geputzte , lachende Menschen schauen !
In London war sicher das ganze Jahr über " Markt " : das war das höchste der Gefühle für Leni , die der Vater ein paarmal nach Rostock zum Pferdemarkt mitgenommen hatte .
Aus den gardinenlosen Fenstern der Schulstube klang es im Chor von der Dorfjugend :
" Nun ade , du mein lieb Heimatland . "
Leni blieb einen Augenblick lauschend stehen ; es schien doch gerade , als ob das ihr gelte .
" Leni - Leni , kommst du jetzt erst zum Unterricht ? "
Frau Kantor , die am Fenster des weißen , freundlichen Lehrerhauses Goldlack und Azaleen begoß , hatte den Fensterflügel aufgestoßen .
Mit ihren guten Augen sah sie mißbilligend auf die erglühende Leni .
" Ach , Tante Kantor " - Leni hatte die Anrede " Tante " aus ihrer Kinderzeit beibehalten - " es ist ein wichtiger Brief gekommen ; ich soll doch zum Onkel nach England !
Da konnte ich wirklich nicht eher hier sein ! "
Sie reinigte sich sorgsam die Füße draußen auf der Matte , wie Tante Kantor es gern sah , und pochte , nun doch ein wenig beklommen , an der Tür zum Studierzimmer des Herrn Kantors .
Das " Herein " klang nicht sehr ermutigend .
Über seine goldene Brille hinweg schaute der Kantor ernst fragend auf die eine verworrene Entschuldigung stammelnde Leni , während Karl Heinz mit teilnehmendem Gesicht seine rechte Hand lose im Gelenk schüttelte .
Das hieß in ihrer Geschwistersprache : " Au , dir wird_es schlecht gehen ! "
" Das ist ja alles recht schön , mein liebes Kind , " sagte der Herr Kantor schließlich , als Leni ihr Kuddelmuddel von Bericht über den alten Grat , Onkel Richard , Cousine Marie , Hamburg und London beendigt hatte , " aber man darf doch nicht über Neuem seine alten Pflichten vernachlässigen .
Pflichtbewußtsein und Pflichttreue , das sind die Grundpfeiler , auf denen sich unser Lebenswerk aufbaut ! "
Er schüttelte so betrübt seinen greisen Kopf , daß Leni tief zerknirscht zu ihm aufblickte .
" Nun , mache nur kein solches Armsündergesicht , Leni , " lenkte der gutmütige Kantor , dem Leni leid zu tun begann , wieder ein , " sondern nimm das Geschichtsbuch heraus und versuche , durch doppelte Aufmerksamkeit das Versäumte nachzuholen . "
Leni nahm ihren Platz ein , zog mit abwesender Miene ein Buch aus der Mappe und schlug es vor sich auf .
Während aber Karl Heinz , der brennend gern über die auch in sein Leben einschneidende Neuigkeit näheres gehört hätte , jetzt in der Stunde jedoch nicht zu fragen wagte , weiter mit eintöniger Stimme von den Punischen Kriegen vorlas , machten Lenis Gedanken statt nach Süditalien eine Reise gen Westen über den Kanal , und statt des tapferen Feldherrn Hannibal stand im Mittelpunkt ihres Gedankenkreises Cousine Marie .
Ob sie wohl schon erwachsener aussah als sie selbst ?
Dem Herrn Kantor war ihre Unaufmerksamkeit nicht entgangen .
" Leni , fahre fort ! "
Erschrocken neigte Leni den Kopf über das Buch .
" Ich glaube , ich - " begann sie auf gut Glück irgendwo zu lesen , hielt aber gleich daraus entsetzt inne .
Himmel , was war das ?
Diese Verse konnte sie doch unmöglich vorlesen !
Wie kam nur das falsche Buch in ihre Mappe ?
" Nur weiter , Leni !
Du scheinst immer noch nicht ganz hier zu sein .
Also was rief Hannibal nach dem Siege von Kanne aus ? "
Aber als Leni auch jetzt noch schwieg und krampfhaft den Zeigefinger auf die eine Stelle ihres Buches preßte , zog es der Herr Kantor zu sich heran .
" Ich glaube , ich mache mich unbeliebt , " Spricht Fips , der sich hinwegbegibt , las er in höchstem Erstaunen .
" Aber Mädchen , was für ein Unfug ist denn das ?
Wie kommen die Buschverse jetzt in die Geschichtestunde ?
Soll ich etwa annehmen , daß du darauf ausgehst , mich zu täuschen ? "
" Herr Kantor " - Leni stieß es in so flehentlichem Tone hervor , daß der Lehrer einsah , er habe ihr mit seiner letzten Annahme Unrecht getan .
" Na also ? " forschte er weiter .
Leni drohten die Tränen in die Augen zu treten , aber sie drängte sie nach Kräften zurück .
Vor Karl Heinz weinen , das ging doch nicht ; Karl Heinz verachtete jedes flennende Mädchen .
" Es ist wirklich notwendig , daß du in andere Hände und in strengere Zucht kommst , Leni , " meinte der Kantor nach Schluß des Unterrichts .
" Ich bin schon zu alt und zu gutmütig für dich ; du lernst bei mir nicht mehr genug . "
" Aber , Herr Kantor ! "
Leni preßte erschreckt ihre Lippen auf die Hand ihres alten Lehrers .
" Ich werde bei keinem Menschen lieber und mehr lernen als bei Ihnen , und wenn Sie es nicht wollen , dann - dann will ich auch gar nicht nach England gehen - "
Der Schluß kam aber recht kleinlaut heraus .
" Na , Lauf nur erst heim , Leni , und höre , wie die Eltern sich entschlossen haben .
Ja , ja , ins Blaue hinein von der noch unbestimmten Zukunft phantasieren , das ist nun Mal die glückliche Gabe der lieben Jugend ; wir Alten schauen mehr zurück als vorwärts . "
Wortkarg trabte Karl Heinz neben der Schwester auf der Landstraße dem väterlichen Gute zu .
Er schleuderte mit der breiten Stiefelspitze harte Erdklumpen vor sich her und schien in seine geistreiche Beschäftigung völlig vertieft .
Leni puffte Karl Heinz , der stets ihr getreuer Schatten war , aufmunternd in die Rippen .
" Na , mein Leif Jung , was sagst du denn bloß dazu ? "
Noch immer gab Karl Heinz keine Antwort .
Er starrte nachdenklich auf die sich lustig drehenden Windmühlen , beobachtete angelegentlich den bogenartigen Flug der Schwalben und schwieg hartnäckig .
" Karling ! "
Das war der Kosename , der nur höchst selten in Anwendung kam .
Leni schaute dem Bruder , der sie , trotzdem er der Jüngere war , um Kopfeslänge überragte , von unten bittend in die Augen .
Da schlang Karl Heinz ungestüm den Arm um die Schwester .
" Du darfst nicht fort , Leni , du darfst nicht . . . ich will die andere nicht . . . das war alles nur schön mit dir zusammen !
Bleibe doch hier , olle Dirn , ja ? " und er streichelte mit einer an ihm fremden Zärtlichkeit Lenis Zöpfe .
Leni war gerührt .
" Vielleicht erlaubt es Vating gar nicht , " flüsterte sie dem Bruder tröstend zu und in diesem Augenblicke wünschte sie das wirklich .
Sie hatte noch öfters im Laufe des Tages Gelegenheit , zu wünschen , daß der Vater die heiß ersehnte Erlaubnis lieber nicht gegeben hätte .
Als sie heimkam und die Mutter im Verein mit dem Fräulein vor einem großen Berg Modezeitungen fand , und erstere lächelnd sagte : " Siehst du , Leni , wir sind schon mit deiner Ausrüstung beschäftigt .
Vater meint nun auch , daß er es dem Onkel nicht abschlagen könne - " und dann leiser , wie für sich , hinzusetzte :
" Nein , was wird mir meine Älteste fehlen , trotzdem sie solch ein Unnütz ist ! " da schmiegte Leni plötzlich fest den Kopf an der Mutter Brust .
Gab es in der weiten Welt da draußen denn auch noch einen solchen warmen Platz ?
Leni war heute stiller bei Tisch als je .
Von dem runden Gesicht klein Suschens , das auf dem Sofa hinter den Eltern Kriechübungen machte , glitt ihr Blick zu Hänschen und Fränzchen , den Zwillingen , die Brotstücke in ihre Bratensoße warfen und " Angeln " spielten , dann weiter zum Vater .
Mit seltsam grimmigem Lächeln erwiderte dieser ihren Blick .
Als er sie aber nach Tisch beim Ohr nahm und in rauh-zärtlichem Ton sagte : " Je , Leni , nun hilft das nicht mehr !
Nun sorge man , daß sie dort keinen Zieraffe aus meiner frischen Dirn machen ! " da erschien Leni der Ausflug in die Fremde gar nicht mehr so verlockend als am Morgen .
Doch wenn man vierzehn Jahre und sieben Wochen alt ist , gehen solche traurigen Anwandlungen schnell vorüber .
Am Abend desselben Tages hockte Leni wieder seelenvergnügt , mit den Füßen baumelnd , auf der großen Regentonne zwischen ihren guten Freunden Jürgens und der lahmen Dörthe , die sie einst auf ihren Armen gewiegt hatte .
Sie fabelte den alten Leutchen von dem fernen Lande vor , von dem sie selbst eine nur höchst mangelhafte Vorstellung besaß .
" Lehnig , " meinte die Alte schließlich , " Vadder Siewert is jo all dräuen Weste ; de seggt jo nun , de Hauptsak is , das einer dor gaud auf englisch spucken kund . "
" Wohl , Dirn , das wirst schon lernen ; das is jo nicht swer . "
Der alte Jürgens spuckte in weitem Bogen aus .
Leni ahmte ihm sogleich nach .
Er hatte recht , das war ganz und gar nicht schwer ; das würde sie schon lernen .
" Un wenn de wieder kommst , Dirn , denn möten wie jo ok wohl » Fräulein « un » Sei «
tau di sagen , " rief die alte Dörthe noch hinter ihr her .
Damit schloß der für Leni so bedeutungsvolle Tag .
Übers Meer .
Es war vier Wochen später ; man schrieb den 15. Mai .
Lenis Koffer stand gepackt .
Wie eine Prinzessin kam sie sich vor .
Was mütterliche Liebe und Sorgfalt für ein Kind , das zum ersten Male aus dem heimischen Nest fliegt , zu ersinnen vermochte , war in den dickbauchigen braunen Familienkoffer gewandert , in dem einst Lenis Großmutter , die aus dem Holsteinischen stammte , ihr Hochzeitsgut eingebracht hatte .
Lichte Kattunkleider für den Sommer , die Mutter mit Fräuleins Hilfe eigenhändig nach der neuesten Modezeitung geschneidert hatte , das Grünschottische für Sonn- und Feiertage , und das ehemalige braune Sonntagskleid , das man mit leuchtend blauen Blenden herausgeputzt und so in ein gar stattliches Schulkleid verwandelt hatte .
Lenis Hauptstolz aber war der Regenmantel .
" Den brauchst du .
In London regnet es neun Monate im Jahr , " hatte die Mutter behauptet und Vaters alten graugrünen Lodenmantel gewendet , der auf der Innenseite noch gar nicht verschossen war ; das gab einen prächtigen Mantel für die Leni .
Acht blanke Goldknöpfe opferte Mutig auch noch dazu , und daß er stark auf Zuwachs berechnet war , schadete durchaus nichts , im Gegenteil , da sah doch gleich jedermann , daß sie ein richtiger Backfisch war .
Dann die niedlichen Schürzchen , alle mit Schleifen und Spitzen , aber auch derbe große Wirtschaftsschürzen , denn für ein tüchtiges Mädel gibt es überall im Hause etwas zuzugreifen .
Nun kamen die Kunsterzeugnisse des braven Schusters Hannemann drunten aus dem Dorf an die Reihe .
Erst ein Paar dicke schwere Stiefel für schlechtes Wetter , dann feste Halbschuhe - für leichte Arbeit war Schuster Hannemann nun Mal nicht - und schließlich noch ein Paar Sonntagsstiefel .
Die hatte er , um doch auch noch ein übriges für das " arme Fräulein Lehnig , das von sin liwlichen Ölern utgesetzt wurde " , zu tun , mit Lackspitzen versehen .
Aber " so 'n Lack , de nicht up de Elsterrogen brannte " !
Immer neue Herrlichkeiten schluckte der alte Koffer .
Leni war bange , daß nicht alles hineingehen würde ; doch Mutter verstand auch das kleinste Plätzchen zu nützen .
Schließlich durfte Leni sogar die Abschiedsgaben der Geschwister , die ihr noch alle etwas Liebes antun wollten , obenauf packen .
Hänschen brachte einen Kasten geköpfter Bleisoldaten , Fränzchen seinen Lieblingsholzgaul ohne Schwanz , und selbst klein Suschen streckte mit lallendem " da " ihre naßgelutschte Gummipuppe hin .
Nur das Abschiedsgeschenk von Karl Heinz wurde von der Mutter mit lebhaftem Protest zurückgewiesen .
" Säutsnut " , Karl Heinz' Lieblingskarnickel , das er in einem Korb angeschleppt brachte , um es Leni als Reisegenossen mitzugeben , wurde , trotzdem er sich eifrig erbot , Luftlöcher in den Deckel zu bohren , aus dem Familienkoffer verbannt .
" Laß nur , Leni , " tröstete Karl Heinz sich selbst und die Schwester , die noch einmal abschiednehmend über die väterliche Scholle sprang , " Säutsnut soll doch mit ; ich habe einen famosen Plan .
Dann hast du doch wenigstens einen Landsmann in der Fremde . "
" Karling , ich schicke dir auch die feinsten Marken her , sollst Mal sehen , " versicherte Leni , die ihr Herz heute von Liebe gegen ihre Angehörigen überfließen fühlte .
" Und was soll ich euch mitbringen , ihr Lütten ? "
Sie wandte sich zu den Zwillingen zurück , die sich mit Cäsar um die Wette kugelten .
Alle gaben sie Leni noch das Geleit .
" Englisches Heftpflaster , " verlangte Fränzchen ohne Besinnen , aber Hänschen , der das gefräßige Element der Familie Sürsen vertrat , überschrie ihn : " Nee , lieber englisches Roastbeef ! "
" Du bekommst auch etwas , Cäsar , eine große Wurst , " versprach Leni , die treue Dogge zwischen den Ohren krauend und zärtlich streichelnd .
Cäsar bellte erfreut und sprang um sie herum .
" Wo gehen wir erst hin , Leni , in unseren Turm oder auf den Windmühlenberg ? " erkundigte sich Karl Heinz .
Leni schüttelte den Kopf .
" Ich muß noch ins Dorf .
Bei Tante Kantor ist jetzt gerade Kindergarten , wo ich immer so gern geholfen habe ; den Gören muß ich doch auch noch Adjüs sagen .
Und Bäcker Pichermann , und Schuster Hannemann und oll Struwenschen , der ich jede Woche die Krankensuppe hingetragen habe , und allen . . . " ihre Stimme schwankte bedenklich .
" Snak , Leni , wer wird denn heulen !
Meinst wohl , weil du von der Waterkant her bist ? " sagte der Bruder , um Lenis Abschiedstimmung scherzend zu zerstreuen .
" Sieh nur , wie der Weizenschlag hier in den letzten paar Tagen in die Halme geschossen ist ! "
" Ja - und wenn der Weizen gelb ist , bin ich weit fort , und wenn er geschnitten und eingefahren wird , bin ich auch nicht da - auch nicht beim Erntefest ! "
Es war heute mit der Leni , sonst ein solch lustiger Kamerad , nichts anzufangen .
Sie befand sich in " klüteriger Transtimmung " , nach Karl Heinz' Aussage .
Und dann legte der alte Herr Kantor ihr die Hand auf das Haupt und sprach die Worte :
" Kind , nicht darauf kommt es an , wo du deine Pflicht tust , sondern nur wie du sie erfüllst ! "
Tante Kantor aber zog sie mütterlich ans Herz und schnitt ihr noch einen großen Strauß von dem weißen Flieder , der so duftete , wie kein anderer in der ganzen Welt .
Stining , Finnig , Trining und lütt Mariken , die bei Tante Kantor im Kindergarten waren , streckten ihr die dicken , roten Patschhändchen entgegen ; Fritzing und Körling mußten noch geschwind das Näschen gewischt bekommen , und Lowessig eine ausgerissene Masche an dem schwarzgrauen Strickzeug aufgenommen werden .
Jetzt schritt Leni durch die Dorfstraße .
Aus allen Fenstern nickte und winkte es :
" Adjüs , adjüs ok , lütt Fräulein , kommen Sei ok wieder ! "
Und Schuster Hannemann stieß das kleine Fenster an der Werkstatt auf , und Büdner Swart , der am Dach seines Schweinestalls die Holzbohlen ausbesserte , rief von oben herunter : " Bliwen Sei ok gesund - adjüs - adjüs ok ! "
Nun noch schnell in den alten , viereckigen Turm , der den Seitenflügel des Gutshauses krönte , und der Lenis schönste Kinderspiele gesehen hatte !
Dort hatte sie mit Karl Heinz Verstecken gespielt ; in dem Turmstübchen , in dem man altes Gerümpel aufbewahrte , hatte sie als verwunschene Prinzessin gefangen gesessen , die ein furchtbarer Drache - diese Rolle fiel stets dem braven Cäsar zu - bewachte .
Und Karl Heinz , der schöne Königssohn , hatte sie befreit .
Robinson war dort gespielt worden , und der Kampf um Rom hatte gegen die alten Mauern getobt .
Karl Heinz umlagerte bald als Totila , bald als Teja mit seiner Streitmacht den niedrigen Turm , den Leni bis aufs äußerste verteidigte .
Jetzt stand sie nun zum letzten Male in dem von Märchen und Sagen belebten Raum , aus dem die Kinderphantasie ein Wunderland geschaffen hatte .
Auch auf den Windmühlenberg ging es noch im Sturmschritt .
Dort legte sie die Hand über die Augen , bis sie gen Norden ganz am Horizont einen schmalen weißlichgrauen Streife entdeckte ; das war das Meer , das man von hier aus sehen konnte , und das sie bald auf seinen Wasserarmen schaukeln würde .
Sie blickte in die Runde , von den Getreidefeldern , auf denen zum Teil noch fleißig geeggt wurde , zu den im zartesten Gelbgrün prangenden Buchen- und Eichenwäldern , die das Dorf umkränzten , und dann wieder zurück zu dem lieben alten Haus , auf dem der Wetterhahn lustig in der Maisonne blitzte .
Und unhörbar flüsterte auch sie :
" Adjüs - adjüs auch ! "
Pferde- , Rinder- , Schweine- und Kaninchenställe , Hühnerhof , Ententümpel und Taubenschlag wurden noch einmal besucht .
Jetzt endlich stand Leni fix und fertig mit dem neuen Regenmantel , der fast bis auf die Füße herabhing , und dem schwarzen Hut , den ein Kranz von Feldblumen zierte , am Gartentor .
Soeben fuhr die große , viersitzige Kalesche vor , der " Affenkasten " , wie Vater sie nannte .
Der Familienkoffer wurde aufgeladen , und " macht es kurz ! " rief Vater , als Mutig ihre " olle Dirn " noch immer nicht aus den Armen lassen wollte .
" Du , Leni , " -
Karl Heinz drängte die Schwester ein wenig abseits - " du hast doch Gummiband in deinen weiten Ärmeln ; fix , zieh Mal auseinander ! "
Ehe sich_es Leni versah , hatte Karl Heinz in ihren rechten Regenmantelärmel Säutsnut eingeschmuggelt , und in den linken stopfte er ihr noch so viel Kaninchenfutter , als überhaupt hineingehen wollte .
Dann saß sie im Wagen .
Jürgens knallte mit der Peitsche , Hänschen und Fränzchen johlten , Cäsar umsprang bellend die Kalesche , Fräulein ließ klein Suschen tanzen , die alte Dörthe trocknete sich mit dem Schürzenzipfel die Tränen von dem runzligen Gesicht , und Mutig lächelte mit schwimmenden Augen :
" Adjüs - adjüs , mein Lüttes !
Bleibe gesund ! "
Der " Affenkasten " rasselte davon .
Drinnen ging es gar schweigsam zu .
Brummend hatte Vater zuerst Lenis Wangen gestreichelt , als sie sich mit einem unterdrückten Aufschluchzen in die Wagenpolster zurücklehnte , und sie mit barscher Stimme , der man die verhaltene Liebe anmerkte , getröstet :
" Dirn , für Rührkartoffeln danke ich !
Wer wird denn gleich flennen ?
Ein Jahr vergeht ja schnell .
Wie lang wird es dauern , dann haben wir den Roggen herein , und wenn erst die Kartoffeln gehackt sind , dann kommt auch bald wieder die Wintersaat ; na ja - hm - und dann bist du auch wieder da .
Na also ! "
Leni erwiderte kein Wort .
Mäuschenstill saß sie da , mit angehaltenem Atem , denn Säutsnut begann sich in ihrem Ärmel unbehaglich zu fühlen und verlangte Bewegungsfreiheit .
Daß er sich nur nicht verriet , ehe sie in der Bahn saßen !
Unweigerlich wurde er sonst mit Jürgens zurückgeschickt .
Das war wirklich eine aufregende Fahrt !
Nicht nur der Mensch gewöhnt sich an alles , sondern sogar das unvernünftige Vieh .
Säutsnut sah ein , daß ihm sein rebellisches Zappeln nichts half , und gab als Klügerer nach .
Er hielt es für das Geratenste , inzwischen in der warmen dunklen Behausung ein kleines Mittagschläfchen zu machen .
Nun war auch das letzte Händeschütteln mit dem alten , treuen Jürgens vorüber , und abgespannt von all der Aufregung der Abschiedstunden , lehnte Leni stumm in ihrer Waggonecke .
Die Mitreisenden hatte sie zur Genüge betrachtet .
Die alte Dame , die aufrecht und steif ihr gegenübersaß , war ebenso vornehm als unliebenswürdig ; sie hatte Lenis freundlichen Gruß kaum mit einem Kopfnicken erwidert .
Das junge Mädchen neben ihr , wohl ihre Gesellschafterin , wagte nicht die Augen zu heben .
Das Schlipsmuster des dicken alten Herrn jenen gegenüber , der eifrig das Kursbuch studierte , kannte Leni nun schon auswendig .
Auch die Gegend draußen war eintönig und für das Landkind nicht besonders interessant .
Wiesen mit schnatternden Gänsen und barfüßigen kleinen Hirten , seltsame Vogelscheuchen auf grünenden Feldern , und hin und wieder saubere Bauernhäuser , aus deren Schornstein der Rauch kerzengerade in die blaue Luft stieg .
" Es ist Mittag , " unterbrach Leni endlich das Schweigen ; ihr Magen begann vernehmlich zu knurren .
Vater lächelte ; daran erkannte er sein vernünftiges Mädel .
Auch beim schmerzlichsten Abschiedsweh vergaß sie nicht , was Leib und Seele zusammenhält !
Er langte in die Handtasche und begann , trotzdem sich die alte vornehme Dame mit sichtbarer Mißbilligung in die äußerste Ecke zurückzog , ein leckeres Mal aufzutischen .
" Ach - Früherdbeeren von Muttings selbstgezogenen !
Die gute Mutter ! " rief Leni gerührt , und mit feuchten Augen stopfte sie die letzten Liebesgaben der Mutter in den Mund .
Aber noch einem Mitreisenden schien es plötzlich einzufallen , daß es nun wohl Mittagszeit sei .
Säutsnut war wieder zum Leben erwacht .
Er hatte die Dunkelhaft nun endlich satt ; auch machte ihn das ungewohnte Rütteln und Schütteln der Eisenbahn fast seekrank , und er wünschte , der Ursache dieses eigentümlichen Rasselns auf den Grund zu kommen .
Oder lockte ihn der herrliche Duft von Muttings Erdbeeren ?
Kurzum , ein rosenrotes Schnäuzchen bohrte sich plötzlich neugierig aus dem Regenmantelärmel .
Leni war in ihre Schinkensemmel so vertieft , daß sie von Säutsnuts abenteuerlichen Plänen nichts merkte .
Erst als dem fürwitzigen Schnäuzchen ein weicher Kopf mit wackelnden Ohren folgte und das Gummiband , das den bauschigen Ärmel zusammenhielt , mit Kraft auseinandergeschnellt wurde , erwachte Lenis Aufmerksamkeit .
Vater Sürsen brachte das Karnickel in seinem Hute unter .
Zu spät !
Säutsnut hatte bereits mit seinem kühnsten Karnickelsprung den Schoß der vornehmen Reisenden gegenüber erreicht , und unbekümmert um das entsetzte Kreischen der ehrwürdigen Dame , seinen Forschungstrieb auch auf den Platz neben ihr ausgedehnt .
Dort saß er nun seelenvergnügt und begann , die grünen Gräser anzuknabbern , womit der Hut der alten Dame geziert war .
Da aber ereilte ihn das Verhängnis , und zwar in der Gestalt Vater Sürsens , der ihn mit kräftiger Hand im Genick packte , tüchtig schüttelte und dann in dem eigenen Hut unterbrachte .
Vaters höfliche Entschuldigung wurde von der Fremden mit eisiger Zurückhaltung beantwortet ; auch Lenis schüchtern hervorgestoßene Bitte um Verzeihung fand keinen Anklang .
Empört hatte sich die Dame den Hut wieder aufgesetzt , während der dicke Herr auf der anderen Seite hinter seinem Kursbuch laut vor Lachen prustete .
Auch um des Vaters Lippen zuckte es .
Zuerst wollte er Leni den Standpunkt klarmachen , doch als er ihr zerknirschtes Gesicht sah , womit sie ihrem Mitschuldigen Säutsnut von dem Kaninchenfutter aus der Vorratskammer des linken Regenmantelärmels reichte , und mit welcher Gemütsruhe der kleine Missetäter es sich schmecken ließ , gewann die Komik der Situation bei ihm wieder die Oberhand .
Er drohte ihr zwar :
" Dirn , paß auf !
Wenn du mir noch einmal einen solchen Streiche machst , dann heißt es linksumkehrt und zurück ins Nest ! "
Aber Leni sah an dem lustigen Zwinkern seines linken Auges , daß Vating nicht gar zu böse war .
Freilich , mit Säutsnut war das eine schlimme Sache , als man nun den Hamburger Bahnhof erreichte ; er wollte durchaus nicht wieder in Lenis Mantelärmel Quartier nehmen .
Trotz ihres Bittens und Bettelns , und trotz Vaters nachdrücklicheren Wünschen , beharrte Säutsnut steif und fest bei seinem Starrkopf .
Vating mußte sich dazu bequemen , dem Karnickel seinen neuen schönen Hut zu überlassen und so seinen Einzug in die alte Patrizierstadt zu halten .
Sie mochten wohl einen sonderbaren Anblick gewähren , die hohe , vierschrötige Gestalt des Landwirts mit dem sonnengebräunten Gesicht ohne Kopfbedeckung , und das Backfischlein neben ihm in dem langen Mantel , das ängstlich Vaters Hut , aus dem lange Kaninchenohren lugten , gegen die Brust gepreßt hielt .
Die Vorübergehenden lächelten und schauten sich nach ihnen um .
Ja , der Portier des Hotels , der in seiner prächtigen Livree so riesig vornehm aussah , daß Leni vor Ehrfurcht ganz in sich hineinkroch , begann erst zu dienern , als er wirklich die Gewißheit hatte , er sehe Herrn Sürsen von Nedderdorf , der Zimmer bestellt hatte , vor sich .
Säutsnut wurde bei dem freundlichen Stubenmädchen mit dem zierlichen Hamburger Häubchen in Pension gegeben .
Nachdem dann Leni noch einmal ihren Defregger-Zopfkranz fest um den Kopf gesteckt , die Hände gewaschen , und in dem großen Pfeilerspiegel mit Genugtuung festgestellt hatte , daß sie der neue Mantel mindestens um drei Jahre älter mache , ging es nach dem Alsterpavillon .
Hier wollte der Onkel , der mit Marie bei Verwandten seiner Frau wohnte , den Bruder treffen .
Lenis Herz klopfte zum Zerspringen , als nun der langersehnte Augenblick der Bekanntschaft mit Cousine Marie immer näher rückte .
Wie mochte sie wohl ausschauen ?
Ängstlich klammerte sie sich trotz ihrer Backfischwürde an Vaters Hand .
Die vielen vorüberhastenden Menschen , die himmelhohen Häuser , klingelnde elektrische Bahnen , sausende Automobile und tutende Dampfschiffe , die den Verkehr auf der Alster unterhielten , machten ihr den Kopf ganz wüst .
Das ging ja hier auf dem Jungfernstieg noch schlimmer zu als zum Rostocker Pferdemarkt !
" Man tau , Leni , " ermunterte sie der Vater , als er ihr Zögern und ihre Benommenheit merkte , " is ja 'n beten starker Tabak für so 'n Gänschen vom Lande , aber bange machen gilt nicht ! "
Von goldenem Lenzsonnenschein eingesponnen lag der Alsterpavillon , das Schmuckkästchen der ehrwürdigen Hansastadt , vor Lenis erstaunten Blicken .
Lachende , schwatzende und trinkende Menschen in funkelnagelneuen Frühjahrskostümen scharten sich um die runden Tischchen .
" Waldemar ! " rief es aus einer Ecke , und " Richard , mein oll Leif Jung ! " tönte es in dröhnendem Bass aus Vaters Munde zurück , daß man von allen Tischen neugierig aufguckte .
Da sah man , wie zwei hochgewachsene Männer sich die Hände schüttelten , wie die rauhe , verarbeitete Hand des Älteren sanft und zärtlich die vom englischen Backenbart umrahmte Wange des Jüngeren , eleganter Gekleideten klopfte , und wie sie sich immer wieder in die hellen blauen Augen blickten , in denen für jeden von ihnen die entschwundene Jugendzeit auftauchte .
Leni aber erblickte nichts von alledem .
Die sah nur ein überschlankes , hochaufgeschossenes Mädel im kurzen blauen Matrosenkleid , auf dem lichtblonden offenen Haar , das nur im Nacken von einer schwarzen Seidenschleife gehalten wurde , die englische Matrosenmütze .
Peinlich errötend starrte die junge Engländerin auf die nun ebenfalls erglühende Leni .
Als aber Lenis Vater mit einem herzlichen " Und das ist wohl meine Nichte Mariechen ?
Willkommen , mein ' Dirn ! " die Arme nach ihr ausbreitete , blieb sie steif wie angenagelt stehen und sagte nur mit einem wohlerzogenen Knicks : " O yes - I am Mary Surfen . "
" Sprich Deutsch , Mary , " gebot Onkel Richard , dem Leni ungestüm an den Hals geflogen war .
" Siehst du , hier ist deine Cousine Lenchen .
So , ihr Mädel , nun könnt ihr euch miteinander anfreunden ; wir Alten haben uns genug zu erzählen . "
Damit nahmen sie alle vier an einem der Tische Platz .
Vorläufig ging es aber bei den Alten noch bedeutend lebhafter zu als bei den Jungen .
Stumm saßen die beiden Backfischlein nebeneinander ; scheu streifte Leni Marys reizendes bleiches Gesicht , in dem die wasserblauen Augen gar kühl und überlegen den Anzug der neuen Cousine musterten .
Wieder errötete Leni heiß unter diesem prüfenden Blick .
Das war also Cousine Marie , auf die sie sich so lange gefreut hatte ?
Mary , die weltgewandtere von den beiden , sah ein , daß es notwendig war , ein Gespräch anzubahnen .
" Wie gefällt es Sie hier in Hamburg ?
I think it zu sein very nice , " begann sie in gebrochenem Deutsch .
Leni schoß das Blut zu Kopf .
" Sie ! "
" Sie " nannte sie die neue Cousine ?
Leni , die sonst darauf brannte , von jedem mit " Sie " angeredet zu werden , fühlte , wie ihr die Tränen aufstiegen .
Sie kam sich dem viel jünger aussehenden Mädchen gegenüber gar zu unbedeutend vor , fast einfältig ; aber " Sie " ließ sie sich doch nicht von ihr nennen .
" Ich bin keine » Sie « , ich bin » Du « für dich , " stieß sie mit gepreßter Stimme heraus .
" Nanu , Leni ? "
Der Vater wurde aufmerksam .
" Was ist denn dir in die Krone gefahren ? "
" Vating - sie sagt » Sie « ! "
Die Tränen erschienen jetzt doch verräterisch in Lenis Augen .
" Was ?
Da soll doch - !
Miezeken , du hast ja wohl , was man bei uns zu Lande so 'n kleinen » Lüttiti « nennt ?
Cousinen duzen sich , " polterte Lenis Vater dazwischen .
Aber lachend legte sich Richard ins Mittel .
" Waldemar , Mary meint es nicht bös .
Sie kennt es von ihrer Muttersprache her nicht anders ; ihre deutschen Kenntnisse liegen noch recht im argen .
Meine Frau ist Stockengländerin , und in unserem Hause wird nur Englisch gesprochen .
Na - die deutsche Sprache wird sie bei euch ja bald lernen . "
" Das sollst du , Miezeken , " sagte Onkel Waldemar jetzt wieder begütigend , " und wenn du sonst Lust hast , ein ehrliches Mecklenburger Plattdeutsch dazu !
Auch tüchtig herausfuttern wollen wir dich , du spillerige Dirn ; jeden Tag einen Liter frische Milch , was , Miezeken ? "
Einen ganzen Liter Milch ?
Brr !
Mary schüttelte sich förmlich .
Und wie gräßlich sie der Onkel immer nannte !
Sie setzte sich kerzengerade auf .
" Ich heiße Mary , dear Onkel , Mary Surfen , " sagte sie mit ruhiger Stimme .
" Bei uns in Deutschland sagt man eben anders , " brummte Onkel Waldemar .
Das war ja ein greulicher Zieraffe !
Am liebsten - na , aber sie war doch die Tochter seines Richard !
Leni , der ihr vorheriges Aufbrausen leid tat , legte jetzt ihre kleine rote Hand freundlich auf Marys weiße Finger .
" Es wird dir auf unserem Gut schon gefallen , Mary ; es ist so schön bei uns , o so schön ! "
Sie schaute sehnsüchtig in die Ferne .
Mary beschäftigte sich angelegentlich mit ihrer Eisschokolade .
Sie dachte eben daran , was wohl die elegante Mama zu diesem bäurischen Landpomeranzchen sagen würde , und Bruder Bobby , ach , wie würde der lachen !
Da wandte sich auch Leni ihrer Eisschokolade zu .
Wenn sie nur gewußt hätte , was für eine Bewandtnis es mit den beiden langen Strohhalmen hatte , die aus dem Glase schauten !
Ob die Leute hier in der Stadt Stroh zur Schokolade aßen ?
Sie blickte auf Mary ; richtig , Mary hatte bereits den einen Strohhalm im Munde .
Widerwillig begann auch Leni nun an dem ihrigen zu kauen ; es schmeckte gräßlich .
Damit es besser hinuntergehe , nahm sie immer abwechselnd einen Löffel Eisschokolade und ein Stückchen Stroh .
" Na , Lenchen , das rutscht , was , du Süßschnabel ? " fragte Onkel Richard freundlich .
" Ach , Onkel " -
Leni schüttelte eifrig den Kopf - " die Schokolade ist ja recht gut , aber das Stroh dazu - bei uns auf dem Hof brauchen es nur die braune Lise , Hans und Peter zu fressen , klein geschnitten und mit Hafer vermischt ; das nennt man dann Häcksel .
Aber ich bin doch kein Ackergaul ! "
Sie schob die Eisschokolade verächtlich fort .
" Lenchen ! "
Der Onkel lachte , daß ihm die Tränen über die Wangen rollten , und auch Vating stimmte in sein Gelächter ein ; selbst Mary lachte , trotzdem sie nur die Hälfte verstanden hatte .
" Lenchen , du bist ja ein Prachtmädel !
Komme , die Strohhalme , durch die man die Schokolade emporzieht , tun wir heraus , so - und nun nimmst du den Löffel , Stroh brauchst du selbst in der Stadt nicht zu essen . "
Leni schielte seitwärts auf Mary ; die machte schon wieder so spöttische Augen wie vorhin .
Die Schokolade mundete Leni jetzt erst recht nicht .
Aber als man dann durch das im herrlichsten Maigrün prangende Hamburg zog , um die Stadt zu besichtigen , und als Mary die erste Verlegenheit wegen Lenis " dreadful dress " und wegen des gräßlichen Blumenhutes , an dem sich eine Herde Kühe satt fressen konnte , endlich überwunden hatte , kamen sich auch die ungleichen Cousinen ein wenig näher .
Lenis ursprüngliche Freude an all dem Schönen , was sie sah , wirkte ansteckend auf die ruhigere Mary , und - alle Achtung ! - von Bäumen und Blumen verstand die Leni etwas .
Freilich , das fand Mary wieder höchst ungebildet , daß sie die prächtigen Magnolienbäume , welche die vornehmen Vielen an der Harvestehuder Chaussee umbuschten , einfach " Tulpenbäume " nannte .
Und loszuschreien brauchte sie auch nicht , als die beiden Neger vorübergingen ; die hatte doch wahrhaftig in ihrem Leben noch nie einen Mohren gesehen !
Aber dazwischen war Leni wieder so natürlich und drollig , und ihre Verwunderung über die großen Karren mit Ananas und Bananen , die zum Verkaufe auf der Straße hielten , und über die schön geputzten Vierländerinnen , die Veilchensträuße feilboten , war so echt , daß Mary sich ihr gegenüber um Jahre älter vorkam .
Das ist natürlich immer ein höchst wohltuendes Gefühl , wenn man die Vierzehn noch nicht überschritten hat .
Doch als sie abends ein Boot nahmen und auf der silberig flimmernden Alster , die mit Nachen besät war , nach Uhlenhorst zum Militärkonzert hinausruderten , zeigte es sich , daß auch Leni der Cousine zu imponieren verstand .
Ihre kleinen Hände führten so geschickt und kräftig das Ruder , daß Onkel Richard ihres Lobes voll war .
" Siehst du , Mary , solche Muskeln mußt du dir auch anschaffen ; nimm dir ein Beispiel an Lenchen , " sagte er .
Mary aber dachte nicht an Muskeln ; mit angstvollen Augen saß sie auf ihrem Platz und klammerte sich furchtsam an den Vater .
Wenn Leni sie nur nicht umwarf oder in einen der großen Dampfer hineinfuhr !
Sie wurde der Fahrt nicht froh .
" Bless me - die Schiff geht unter , " rief sie voller Entsetzen , sobald der Wind das Boot seitwärts trieb .
" Du Banghase , " antwortete Leni lachend , und übermütig bespritzte sie mit dem Ruder die wasserscheue Cousine .
Noch im letzten Augenblick , ehe es am nächsten Tage an Bord ging , litt das jetzt ziemlich gute Einvernehmen zwischen den beiden Backfischchen arg Schiffbruch .
Leni hatte sich in dem Hafengewühl schüchtern an Marys Arm gehängt .
Das kribbelte und krabbelte ja beim Ein- und Ausladen der Schiffe wie in einem Ameisenhaufen durcheinander !
Diese Riesenkräne , die wie große Elefantenrüssel schwere Fässer und Ballen in die Speicher beförderten , und die vielen hohen Schiffe , die richtige Wasserstraßen bildeten , die waren ja noch höher als ihr alter Turm daheim an der Waterkant !
Und in einem dieser schwimmenden Häuser sollte auch sie die weite Reise übers Meer antreten ?
Fest preßte sie Marys Arm .
" I don't like tat ! "
Unsanft schüttelte Mary sie ab , denn sie begann sich unter den elegant gekleideten Reisenden wieder des Aussehens ihrer Begleiterin zu schämen .
" Why tust du haben deine Mantel so lang und weit ? " fragte sie ärgerlich .
Leni schaute betroffen an sich hinunter .
" Ich werde schon hineinwachsen , " tröstete sie die Cousine , " aber findest du ihn denn nicht schön ? "
Sie war so stolz auf ihren neuen Regenmantel !
" Dreadful - horrible indeed , " antwortete Mary verächtlich .
" Mary ?! "
Leni sah die Cousine mit entsetzten Augen an .
" Den hat ja Mutig selbst genäht , mein liebes Mutig ! "
Mary zuckte die Achsel .
Natürlich , wenn ihn nicht einmal ein Schneider gemacht hatte , dann mußte er ja auch so häßlich sein .
Sie verstand Lenis Schmerz nicht .
Aber Leni hatte jetzt keine Zeit mehr , ihrer Enttäuschung nachzuhängen .
Ringsum sah man Händeschütteln und Umarmungen ; nun war_es so weit .
Immer wieder schmiegte sie sich an Vaters Brust , der seiner Ältesten zärtlich die Wange klopfte .
" Zähne zusammenbeißen !
Du bist meine alte tapfere Dirn !
So - und nun noch einen letzten Kuß , den bringe ich Mutig mit !
So , so - und nun adjüs , mein Döchting ! "
Leni stand an Onkel Richards Hand hinter dem Eisengitter hoch oben auf Deck , und nur noch die schmale Schiffsbrücke verband sie mit Vating , der drüben am Ufer neben Mary mit dem Hut winkte .
Da zog auch Leni das Taschentuch .
" Good-bye , farewell ! " rief Mary , die den Abschied von ihrem Vater ruhiger hinnahm .
Lenis weißes Tuch wehte noch immer , als das Schiff schon langsam elbabwärts glitt .
Bald aber konnte sie Vating durch den dichten Tränenschleier , der sich vor ihre Augen legte , nicht mehr erkennen .
Und als sie den Kopf von Onkel Richards Brust , an die sie sich in ihrem ersten Weh geflüchtet hatte , endlich wieder hob , da grüßten schon die verstreuten Häuschen am bergigen Uferhang von Blankenese in lachender Heiterkeit herüber .
Dann kam Cuxhaven und die offene See .
Shocking .
So , my dear Jane , da bin ich wieder , und hier bringe ich dir Lenchen , die wir für unsere Mary eingetauscht haben , " sagte Onkel Richard in geläufigem Englisch , die Hand seiner schönen Frau an die Lippen ziehend .
Leni , von der langen Reise und der ziemlich heftigen Seekrankheit noch etwas blaß , wollte der Tante , die jetzt Mutterstelle an ihr vertreten sollte , zärtlich um den Hals fallen .
Aber die wohlgepflegte Hand , die Tante Jane ihr reichte , hielt sie in angemessener Entfernung .
" Ah - sieh da , Ellen Surfen !
Nun , meine liebe Ellen , sehr groß bist du nicht für dein Alter und auch sonst - na , du bist wohl noch in Reisetoilette und hast gewiß noch andere Kleider im Koffer , nicht wahr ? "
Sie warf durch die lange Lorgnette einen beredten Blick auf Lenis sonderbare Erscheinung .
Leni starrte die schöne blonde Frau in dem weißen Spitzenmorgenrock stumm an ; sie hatte kaum die Hälfte von ihrem schnellen Englisch verstanden .
Ratlos sah sie auf Onkel Richard .
" Tante fragt , ob du noch mehr Kleider hast ? " verdolmetschte der Onkel .
Leni nickte selig , in Erinnerung an all die Herrlichkeiten in dem braunen Familienkoffer .
" O , einen ganzen Berg - sehr viele - very much , " radebrechte Leni , die daheim hauptsächlich englische Grammatik getrieben hatte und nur wenig Übung im Sprechen besaß .
" Dann kleide dich nachher zum Dinner um .
Du sollst heute ausnahmsweise mit uns speisen ; von morgen an ißt du dann mit Lizzie und der Miß im Kinderzimmer .
Jetzt wirst du gewiß deine Sachen auspacken und einräumen wollen , my dear ; die Miß wird dir helfen .
Bitte , Dick " - damit war Onkel Richard gemeint - " führe Ellen in das Kinderzimmer . "
Leni warf den Kopf zurück .
Kinderzimmer ?
Sie war doch kein Gör mehr !
Daheim hatte sie mit Fräulein das Zimmer geteilt , und hier - - - Nein , so ließ sie sich nicht behandeln !
Sie war ja seit vier Wochen ein richtiger Backfisch !
Aber Tante Jane hatte bereits wieder zu ihrem Buch gegriffen .
Leni war entlassen .
Langsam folgte sie dem Onkel über die mit vornehmem Geschmack ausgestattete Diele oder " hall " , wie man es in England nennt , die Treppe empor in das erste Stockwerk .
Hier lagen die Zimmer der Jugend .
Onkel Richard öffnete eine Tür und schritt Leni voran in ein mattblau getünchtes , mit weißlackierten Möbeln eingerichtetes Zimmer .
Auf einem Streckbett am Fenster ruhte ein blondes Mädchen von vielleicht zehn Jahren ; der linke Fuß war mit Riemen in seltsame Maschinen geschnallt .
Sie wandte den Kopf nicht .
" Nun , Lizzie , mein Liebling , wie ist es dir ergangen ? "
Onkel Richard neigte sich über die Kleine und küßte leise ihre Stirn .
Ein kaum merkliches Lächeln huschte über das unkindlich ernste Gesicht .
" Tank you - nicht gut ; sie haben mich wieder gequält . "
Leni sah jetzt erst , wie gelblich das Antlitz der Kleinen war .
Ihr warmes Herz wallte von Mitleid über ; schnell trat sie an das Ruhebett , und streckte der jungen Cousine mit ungestümer Herzlichkeit beide Hände entgegen .
" Arme Dirn - hast du viel Schmerzen ? "
Sie beugte sich zärtlich zu Lizzie hinab .
Ein fast feindseliger Blick aus den graubraunen Kinderaugen antwortete Leni ; unwirsch wandte sich Lizzie zur anderen Seite .
" Sie versteht dich wohl noch nicht recht , Lenchen .
Na , das wird schon noch kommen ; unsere Lizzie ist durch das lange Kranksein ein wenig menschenscheu geworden , " sagte der Onkel , um Leni mit dem Empfang zu versöhnen .
" Aber nun muß ich noch geschwind zur City ins Geschäft , damit ich zum Dinner wieder zurück bin . "
Damit küßte er Lizzies Stirn , klopfte Leni freundlich die Wange , und fort war er .
Verlassen stand Leni jetzt in der Mitte der Kinderstube .
Es war ihr , als ob mit dem Onkel auch ihr letzter Freund hier in der Fremde von ihr gegangen sei .
Wenn Säutsnut noch wenigstens bei ihr gewesen wäre !
Lizzie kümmerte sich nicht um sie .
Langsam schritt Leni zu dem weit geöffneten Fenster .
Sie tat einen tiefen Atemzug .
Ach , da draußen gab es grüne Bäume , Büsche und Blumen wie daheim ; Vöglein zwitscherten in den Zweigen , und auf dem kurzgeschorenen Rasenteppich strickte die liebe Sonne ein gerade so goldenes Maschennetz wie in Mecklenburg auf den Lupinen- und Kleefeldern .
Freilich , in der Ferne hinter den Bäumen , die das Villenviertel abschlossen , türmten sich schwarze , große Fabrikschornsteine drohend zum Himmel empor , und statt des Zirpens der Heimchen und des Geigens der Heupferdchen , wie es Leni auf den Heimatfluren zu hören gewohnt war , vernahm sie ein dumpfes fernes Brausen ; das war der Atem der Riesenstadt London .
Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen .
Wenn Karl Heinz sie so mutlos sehen würde , Karl Heinz , der immer gesagt hatte , seine Leni sei das einzige Mädel , das nicht feige wäre !
Und Vating , dessen Wahlspruch lautete :
" Wenn man noch so sehr in der Bisternis drin sitzt , die Kandare genommen und drauf losgeritten , nicht um Tod und Düwel gekümmert ; irgendwo kommt man immer tau Enn ! "
Nein , sie wollte sich nicht so schnell unterkriegen lassen , und wenn man sie zehnmal hier " Ellen " nannte !
Sie blieb doch die Leni Sürsen von Nedderdorf , Vatings olle tapfere Dirn !
Mit den ihr eigenen schnellen Bewegungen schleuderte sie den Blumenhut auf den einen Stuhl , den Regenmantel auf den anderen und begann , ohne sich weiter um das " miesepetrige Gör " - damit war Lizzie gemeint - zu kümmern , ihren Koffer aufzuschließen .
Aber als sie nun all die Sachen ordentlich nebeneinander gereiht sah , die Muttings liebe Hand verpackt hatte , und als sie Hänschens invalides Heer und Fränzchens schwanzlosen Gaul hier in der Fremde in Händen hielt , da war es um ihren frischen Mut wieder geschehen .
Schwere Tränen rollten ihr über die Wangen und tropften auf die rosenroten und himmelblauen Kattunkleider .
Und jetzt - ein unterdrücktes Schluchzen !
Leni stopfte das Taschentuch in den Mund ; Lizzie sollte nicht hören , daß sie weinte .
Aber die Kleine hatte sich bereits umgewandt ; erstaunt schaute sie auf das junge Mädchen , das vor dem Koffer am Boden kniete und über zerbrochenes Spielzeug bitterlich zu weinen schien .
Lizzie setzte sich auf .
Es trieb sie , der neuen Cousine ein liebes Wort zu sagen ; aber plötzlich trat wieder jener gehässige Zug in ihr junges Gesicht , und sie drehte sich aufs neue zur Wand .
Die eintretende Miß schaute verwundert auf .
Leni hatte indessen die Augen getrocknet und im Zimmer Umschau gehalten .
Jener weitgeöffnete leere Schrank war sicherlich für ihre Garderobe bestimmt .
Sie wollte die unfreundliche Lizzie nicht fragen ; von der Miß aber , die ihr helfen sollte , war nichts zu sehen .
Doch sie brauchte sie auch gar nicht ; sie war ja Muttings praktische Tochter , die sich allein half .
Mit Eifer ging sie ans Einräumen .
Mutig hätte wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen , wenn sie die schöngeplätteten Kleider zwischen der dicken Wintergarderobe eingepfercht gesehen hätte ; aber Leni kümmerte sich nicht um so kleinliche Dinge .
Sie sperrte Strümpfe , Taschentücher , Tante Kantors verwelkten Flieder , die Leberwurst , die ihr die alte Dörthe noch zugesteckt hatte , und Schuster Hannemanns künstlerische Erzeugnisse in traulichem Beieinander in denselben Kasten .
Als die Stubentür aufging , stand Leni gerade hoch oben auf dem Tisch und war eben dabei , ihren Mantel und Hut wegen Platzmangel an die elektrischen Glühbirnen der Krone zu hängen ; sie wollte doch alles schön aufräumen .
Lizzie sah mit großen Augen ihrem seltsamen Treiben zu .
Auch die eintretende Miß riß die Augen verwundert auf , als sie Leni auf ihrem erhöhten Standort gewahrte , und Leni schaute ihrerseits die Miß ebenso erstarrt an .
War das ein Herr oder eine Dame ?
Die scharf geprägten Gesichtszüge hatten entschieden etwas Männliches ; das Strafe zurückgestrichene Haar , auf dem der kleine Männerhut thronte , der steife Leinenkragen mit dem schwarzen Schlips und der weite Überzieher machten es Leni zweifellos , daß sie einen Herrn vor sich habe .
Vielleicht Vetter Bobbys Lehrer ?
Aber unter dem Paletot schaute ein schwarzer Frauenrock hervor , so daß Leni ihrer Sache nicht mehr ganz sicher war .
Als die seltsame Erscheinung nun in echt englischen Kehllauten zu sprechen anhob : " O - ich habe wohl das Vergnügen , meine neue Pflegebefohlene Ellen Surfen vor mir zu sehen ?
Mein Name ist Miß Brown .
Was tust du nur da oben auf dem Tisch , Kind ? " da bedurfte es der ganzen Aufbietung von Lenis Willenskraft , um der männlichen Miß nicht laut ins Gesicht zu lachen .
Sie dachte schnell an die Hinrichtung Maria Stuarts , ein Mittel , das immer half , wenn ihre Lachmuskeln zu ungeeigneter Zeit widerspenstig werden wollten .
Aber die Miß mußte zweimal fragen , ehe sie von Lenis zuckenden Lippen eine Antwort erhielt .
" Ich hänge meine Sachen auf , " gab Leni endlich nicht ganz fehlerfrei , aber mit Selbstbewußtsein zurück .
Die Miß sprach langsam und deutlich ; Leni verstand sie recht gut .
" Tut man das bei euch in Deutschland an den Kronleuchter ? " fragte verwundert die Miß , während Leni mit einem kühnen Satz von ihrem Höhenausflug zur Erde zurückkehrte .
Die Miß hielt sich die Ohren zu .
" O - was für ein Lärm und dieser Sprung !
Wenig ladylike - shocking indeed !
Wie alt bist du denn , little ohne ? "
Leni stellte sich auf die Fußspitzen und machte ein möglichst erwachsenes Gesicht .
" I am - I shall bei - ich werde fünfzehn , " sagte sie schließlich auf deutsch , da sie bei ihrem Alter auf keinen Fall einen Fehler machen wollte .
" Ich bin ein ganz richtiger Backfisch . "
Dabei schielte sie nach Lizzie , um zu sehen , was für einen Eindruck diese Eröffnung wohl auf sie mache .
" Bek your Pardon - was ist » Backfisch « ? "
Die Miß verstand nicht allzuviel Deutsch .
" Backfisch - Backfisch ist - " , Leni zuckte die Achsel , " wenn man vierzehn Jahr ' und sieben Wochen alt ist , " half sie sich aus der Verlegenheit .
" O Yes - ein » school-girl « , so sagt man hier bei uns in London . "
Die Miß lächelte , daß ihre weißen , stark hervortretenden Vorderzähne sich leuchtend von den Lippen abhoben .
" School-girl " - also Schulmädel !
Der Titel klang doch recht wenig erwachsen , und Leni wunderte sich , daß sich die englischen Backfische das gefallen ließen .
" Lizzie , es ist Zeit , daß du dich zum Dinner ankleidest ; du darfst heute Ellen zu Ehren unten im Speisesaal mitessen . "
Die Miß schnallte Lizzie , die ein mürrisches Gesicht aufgesetzt hatte , aus ihren Maschinen los ; schwerfällig erhob sich das kranke Kind .
Leni sah jetzt erst , daß Lizzie den linken Fuß stark nachzog , und wieder empfand sie inniges Mitleid mit dem armen Mädel .
Aber sie wollte sich nicht zum zweiten Male einer häßlichen Abweisung aussetzen .
" Ellen , make haste !
Du hast nur noch eine Viertelstunde bis sieben Uhr ; geschwind hole dein Dinner-Dress , " drängte die Miß , Lizzie die langen goldblonden Haare bürstend .
Leni stand sinnend vor ihrem schön eingeräumten Schrank .
" Dinner-Dress " !
Ja , welches war nur ihr " Mittagbrotkleid " ?
Sie überlegte .
Zu Hause hatte sie nichts dergleichen besessen ; da hatte sie sich zur Mittagsmahlzeit das Haar gebürstet , die Hände gewaschen und allenfalls eine frische Schürze vorgebunden .
Aber hier schien das ja anders zu sein .
Schon daß man abends um sieben Uhr Mittagbrot aß , gerade zu der Zeit , da man daheim zu Abend speiste , war verwunderlich .
Und nun noch ein besonderes Kleid dazu ?
Ach was !
Sie nahm eins von den schönen neuen Kattunkleidern ; ihre Eitelkeit regte sich , sie wollte sich auch fein machen .
Lizzie bekam eben ein weißes Matrosenkleid übergezogen .
Schnell schlüpfte Leni in das himmelblaue Kleid , das nach Karl Heinzens Aussage genau dieselbe Farbe hatte wie ihre Augen .
Es raschelte und knisterte wie Seide ; wunderschön steif hatte es Gusting , das Stubenmädchen , geplättet .
Leni wand und drehte sich vor dem Spiegel wie ein Pfau .
" Ellen , du hast mich wohl nicht verstanden ?
Du solltest dein Dinner-Dress anziehen ; in diesem Morgenkleid kannst du doch unmöglich zu Tisch kommen ! "
Morgenkleid ?
Ach Unsinn !
Leni , die eben noch erschreckt ausgesehen hatte , lächelte schon wieder beruhigt .
Sie hatte die Miß sicherlich falsch verstanden .
Die meinte gewiß , das Kleid sei für einen Wochentag zu schade ; sie solle es für morgen , zum Sonntag , aufheben .
" Ach , dear Miß Brown , " bettelte sie , " bitte , lassen Sie es mich doch anbehalten ; es läßt sich ja waschen , und ich will mir auch ganz gewiß keinen Fleck machen ! "
Jetzt war die Reihe , verdutzt auszusehen , an der Miß .
" Aber Ellen , a Cotton-Dress ?
Was wird nur Mrs. Surfen dazu sagen , wenn ich so was zugebe !
Hast du denn kein anderes Kleid ? "
Sie öffnete den Schrank , während Leni zärtlich an dem geschmähten Kleide entlang strich .
" Himmel , das nennst du Ordnung , Ellen ? "
Die Miß fuhr vor Aufregung mit beiden Armen in der Luft herum .
" O , wie hat der Schrank ausgesehen , als Mary ihn noch hatte !
Aber , Mädchen , hat denn deine Governeß zu Hause dich gar nicht ein bißchen zur Ordnung angehalten ? "
Leni schwieg verstockt .
Mutig hatte ihr auch oft daheim die Leviten gelesen wegen des Punktes Ordnung ; " Mamsell Liederjan " hatte Mutig sie sogar gescholten .
Dann war Leni der Mutter stürmisch um den Hals gefallen und hatte Besserung gelobt , um es natürlich im nächsten Augenblick schon wieder zu vergessen .
Aber hier von einer Fremden getadelt zu werden , das ging doch tiefer , und noch dazu vor der jüngeren Lizzie !
Gewiß lächelte die gerade so spöttisch , wie Mary es in Hamburg getan hatte .
Scheu hob Leni die Augenlider .
Nein , Lizzie sah voll Teilnahme auf die gescholtene Cousine , aber als sie ihrem Blick begegnete , blitzte es wieder zornig in den graubraunen Augen auf .
Was hatte nur Lizzie gegen sie ?
" Nun , Ellen , fünf Minuten hast du noch , um dich umzuziehen ; geschwind , mache deine Haare auf , ich werde sie dir bürsten . "
Die Miß stand schon mit Kamm und Bürste bewaffnet hinter ihr .
" Ich bin ja schon gekämmt ! "
Lenis Antwort klang ziemlich brummig .
" Ja , aber mit aufgesteckten Zöpfen geht man doch nicht .
Erst mit achtzehn Jahren darf ein junges Mädchen hier in England das Haar hochstecken .
Ein Mädchen von vierzehn Jahren ist noch ein Kind und trägt das Haar offen . "
Die Miß begann Leni die Nadeln aus den Zöpfen zu ziehen .
Aber ungezogen riß sich Leni los ; ihr Trotz war erwacht ; denn Miß Brown hatte sie an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen , " Ich bin kein Gör , " rief sie mit flammenden Augen auf deutsch ; in ihrer Erregung brachte sie auch nicht ein einziges englisches Wort heraus , " und was man hier in England tut , das ist mir ganz gleichgültig !
Ich bin eine Deutsche , und das bleibe ich auch in London !
Und wenn der Tante mein Kleid nicht gut genug ist , mein schönes Kleid , das Mutig aus der neuesten Modezeitung geschneidert hat , dann will ich auch gar nicht zu Tisch kommen !
Dann kann ich ja ebensogut hier oben essen ! "
Sie war ganz außer sich .
Die Miß hatte kaum ein Wort von Lenis heftiger Auseinandersetzung verstanden , aber daß es nicht gerade höflich und artig gewesen , entnahm sie dem Ton , in dem es gesprochen wurde .
Da hatte man sich ja ein nettes Früchtchen auf den Hals geladen !
Stadt der ruhigen , wohlerzogenen Mary diesen kleinen wilden Teufel !
Für solch einen Austausch dankte Miß Brown !
Leni aber fühlte plötzlich ihre noch immer zornig geballten Hände von kühlen Fingern umschlossen ; Lizzie stand hinter ihr , " Du hast ganz recht , " sagte sie zu Lenis Verwunderung in ziemlich gutem Deutsch , " behalte ruhig deine Zöpfe und gehe in deinem Kattunkleide zu Tisch !
Wenn du der Mama nicht gefällst , mag sie es selbst sagen . "
" Du sprichst Deutsch ? "
Es war Leni , als ob all das Häßliche eben nur ein böser Traum gewesen sei , als sie ihre Mutterlaute wieder vernahm .
Lizzie nickte .
" Ich liebe die deutsche Sprache ; es ist die Heimatsprache meines Vaters , und so schöne Märchen gibt es in keiner anderen . "
Doch als ob sie schon zuviel gesagt habe , wandte sie sich schnell zur Tür .
Ein lautes Dröhnen ließ Leni plötzlich zusammenfahren .
" Es donnert ! " rief sie und stürzte zum Fenster , um es zu schließen , wie man es zu Hause stets bei einem Gewitter tat .
Aber die goldene Abendsonne strahlte noch ebenso vom wolkenlosen Himmel herab wie zuvor .
Fragend wandte Leni sich zur Miß .
" Das war das » Gong « , " erklärte diese , " das Zeichen , daß wir zum Dinner kommen sollen .
Es hängt in der hall und wird jedesmal geschlagen , wenn die Mahlzeit aufgetragen ist .
Du kannst es dir unten ansehen , komme ! "
In aufrechter Haltung schritt sie Leni voran , die Treppe hinab ins Erdgeschoß der Cottage , wo die Speise- , Wohn- und Besuchsräume lagen .
Plötzlich sah sie etwas Blaues an sich vorbeifliegen .
" Good gracious " ! schrie die Miß und hielt sich die Augen zu ; Ellen war sicherlich die Treppe hinabgestürzt .
Die aber stand unten auf beiden Füßen und lachte wie ein Kobold .
Sie hatte der Versuchung , das blankpolierte Treppengeländer hinunterzureiten , wie sie es stets daheim mit Karl Heinz um die Wette zu tun pflegte , nicht widerstehen können .
Die kleine Rutschpartie hatte sie auch wieder vergnügt gestimmt , und selbst Miß Browns " shocking " , das Wort , das sie in den nächsten Wochen am häufigsten zu hören bekommen sollte , änderte nichts mehr daran .
Sehr begeistert schien Tante Jane allerdings nicht von Lenis Dinner-Dress zu sein .
Sie selbst hatte , da man nachher noch einen Besuch machen wollte , ein helles Seidenkleid angelegt .
Aber sie war höflich genug , in Gegenwart der anderen nichts zu sagen , wenn auch ihr sprechender Blick immer wieder Lenis glattgebürsteten Kopf und das blaue Kleid streifte , von dem man , wie sie innerlich meinte , Augenschmerzen bekam .
" Ist Bobby noch nicht aus dem Kollege nach Hause gekommen ?
Es ist doch heute Sonnabend , " sagte Onkel Richard , die Augenbrauen hochziehend .
Leni war es aufgefallen , daß der Onkel hier in seiner Häuslichkeit viel stiller und zurückhaltender war als bei dem Zusammensein mit Vating .
Damals hatte auch er einen derblustigen Ton angeschlagen .
" Bobby ist bei seinem Freunde zum Dinner in der Stadt geblieben , " entschuldigte die Mutter .
" Charles Edward Gamble feiert heute seinen sechzehnten Geburtstag ; da durfte Bobby doch nicht fehlen . "
" Ich halte es für notwendiger , daß er daheim wäre , um seinen Vater zu begrüßen , der von der Reise zurückkommt , " meinte der Onkel ernst .
Leni aber wurde es leichter ums Herz ; sie wollte es sich zwar nicht eingestehen , aber ein bißchen graulte sie sich vor Vetter Bobby .
Sie mochte die " ollen dämlichen Jungs " überhaupt nicht leiden , Karl Heinz natürlich ausgenommen .
Und nun noch einen , der zwei Jahre älter war als sie !
Es war recht gut , daß Bobby die Woche über in seiner Schule blieb und nur am Sonntag herauskam .
Da sah sie ihn doch erst morgen !
Sie hatte sich heute schon genug über die neuen Verwandten ärgern müssen .
Mäuschenstill ging es bei Tisch zu , gar nicht so lustig wie zu Hause , wo Hänschen und Fränzchen jede Lieblingsspeise mit einem Freudengeheul begrüßten , und klein Suschen jauchzend dazwischen krähte .
Leni begann mit einem Male laut und hell aufzulachen ; es klang ordentlich seltsam in dem vornehm stillen Raum , in dem man nur das Klappern der Messer und Gabeln vernahm .
Aller Augen wandten sich ihr zu , die der Tante Jane in geheimer Mißbilligung .
" Ach , Onkel , " rief Leni lustig , " du tranchierst ja den Braten !
Das tut bei uns immer Mutig .
Aber Schuster Hannemann im Dorf teilt auch das Mittagessen unter seine acht Gören , weil nämlich seine liebe Frau ganz schreckliches Reißen im Arm hat .
Hast du auch vielleicht Reißen ? "
Teilnahmsvoll wandte sich Leni an die Tante .
Die hatte zum Glück Lenis etwas kräftiges Deutsch nicht verstanden , nur der Onkel schmunzelte in sich hinein .
" Nein , Lenchen , in England ist es Sitte , daß der Hausherr den Braten schneidet ; nun sprich aber Englisch , daß dich die anderen auch verstehen . "
Leni schüttelte den Kopf .
Ein seltsames Volk waren doch die Engländer !
Wieviel komische Sitten sie heute schon kennen gelernt hatte !
Was für Augen würde Karl Heinz machen , wenn sie ihm das alles erzählte !
Über diesen Gedanken an ihren guten Kameraden versank der mit englisch geradlinigen Möbeln ausgestattete Speisesaal , in dem selbst bei dieser vorgeschrittenen Jahreszeit ein lustiges Kaminfeuer flackerte , und das trauliche Familienzimmer auf dem Gut erstand vor Lenis Blick .
Ehe sie sich_es versah , hatte sie den Kompottelle an die Lippen gesetzt und machte es so , wie sie es stets zu Hause taten , trotzdem Mutig jedesmal schalt ; sie schlürfte mit lautem Behagen die Soße ein .
Vier empörte Augenpaare richteten sich zu gleicher Zeit auf die vertiefte Leni .
" Shocking ! " riefen Tante Jane und die Miß wie aus einem Munde ; selbst der Onkel sagte mit leisem Tadel :
" Aber Lenchen ! "
Nur Lizzie blieb stumm ; ihr begann die Sache augenscheinlich Spaß zu machen .
" Ellen , gehe hinauf in das Kinderzimmer ; du mußt erst lernen , wie man sich beim Dinner benimmt , " gebot die Tante , die nichts mehr haßte als schlechtes Benehmen .
Leni , der ihre Sünde jetzt erst zum Bewußtsein gekommen war , erhob sich in glühendem Schamgefühl .
Onkel Richard aber , neben dem sie saß , zog sie wieder auf ihren Platz .
" Jane , du darfst den Bogen nicht gleich zu Strafe spannen , " bat er gutmütig .
" Lenchen ist ja noch jung und hier , um zu lernen ; wo könnte sie wohl für alles , was ladylike ist , eine bessere Lehrmeisterin finden , als in dir . "
Tante Jane war versöhnt .
" Eins begreife ich aber nicht ; wie kann ihre Mutter so etwas mit ansehen , wie kann deine Schwägerin das Mädchen nur so wild aufwachsen lassen , in solchen Kleidern herumlaufen und - - - "
" Schscht - Jane ! "
Onkel Richard legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter und winkte mit den Augen zu Leni hin .
Die aber war bereits aufmerksam geworden .
Mißtrauisch hatte sie das Wort " Mutter " von Tante Janes Lippen vernommen ; wenn sie auch nicht alles erfaßt hatte , fühlte sie doch heraus , daß die Tante ihrer Mutter einen Vorwurf wegen ihrer Erziehung machte .
" Du brauchst gar nicht so mit den Augen zu blinken , Onkel Richard ; ich weiß , was die Tante meint .
Aber Mutig kann nichts dafür , wenn ich die Kompottsoße austrinke ; die hat es mir oft genug verboten .
Mutig laß aus , Tante , die ist tausendmal besser als du , mein Leif Mutig - - - ! "
Heftiges Schluchzen unterbrach Lenis Worte ; sie preßte die Serviette gegen die Augen .
" Na - na - Lenchen - Längen . . . wer wird denn gleich so heftig sein - genau so ein kleiner Heißsporn , wie dein Vater früher war !
Komme , bitte Tante Jane um Entschuldigung ; sie meint es doch gut mit dir . "
Onkel Richard wollte sie zur Tante führen .
Aber Leni hatte ihre " Nücken " , gerade so wie Vaters Reitfuchs ; das hatte schon der alte Jürgens von ihr gesagt , als sie noch eine ganz kleine Dirn war .
Wenn sie und der Fuchs nicht wollten , dann wollten sie eben nicht .
Heute , da man ihr liebes Mutig geschmäht hatte , brachte sie kein Mensch zu einer Abbitte .
Sie machte sich von Onkels Hand frei , benutzte in der Annahme , sie habe ihr Taschentuch vor den Augen , zu Tante Janes neuem Entsetzen die Damastserviette für ihre Nase und eilte mit einem unverständlichen " Gesegnete Mahlzeit ! " zur Tür hinaus .
Wo nun hin ?
Nach Hause , nur heim , auf das Gut , zu dem lieben alten Haus , zu Vating und Mutig !
Aber da lag ja das Meer dazwischen , das große Wasser und viele Meilen Landes noch obendrein !
Leni zog das Portemonnaie heraus und überzählte ihre Barschaft .
Damit kam sie nicht weit .
Und was würde man wohl zu Hause sagen , wenn die Leni , die sich so auf die Reise nach England gefreut hatte , schon nach einer Woche wieder heimkam ?
Am Ende hieß es , die Verwandten hatten sie fortgeschickt !
Nein , Lenis Selbstgefühl bäumte sich dagegen auf ; solche Schande machte sie den Eltern nicht .
Langsam schritt sie die Treppe empor zum Kinderzimmer .
Eigentlich - ganz Unrecht hatte die Tante nicht , wenigstens mit dem Schlürfen .
Leni war zu ehrlich , um sich das nicht einzugestehen .
Und sehr erwachsen hatte sie sich heute auch nicht benommen , sondern wie ein richtiges Gör losgeheult !
Onkel und Tante waren ohne " Gute Nacht " fortgefahren ; sie mußten wohl recht böse sein .
Na , morgen wollte sie die Tante um Verzeihung bitten , aber über ihr Mutig durfte sie nie wieder schlecht sprechen !
Die Miß brachte ihr den Tee in das Kinderzimmer und half Lizzie , die wieder ihr abweisendes Gesicht aufgesetzt hatte , beim Ausziehen .
" Jetzt gibt es erst noch Tee ? " fragte Leni gähnend .
" Ja , wann soll ich denn da Abendbrot essen ?
Es ist doch bald Schlafenszeit ! "
Sie war von all dem Neuen und von der Aufregung so müde , daß ihr die Augen fast zufielen .
" Abendbrot ?
Wir essen hier niemals Abendbrot , Ellen ; aber wenn du noch nicht satt bist , kannst du ja ein paar Sandwiches zum Tee bekommen . "
Leni glaubte ihren Ohren nicht zu trauen .
" Sandwichse ? Nein , danke , die esse ich nicht , " und trotzdem die Miß mehrmals versicherte , das seien ja Butterbrote mit Fleisch , verwahrte Leni sich hartnäckig gegen eine solche Zumutung .
Sie wußte auch schon einen Ausweg , denn ohne Abendbrot ins Bett gehen , das konnte sie doch nicht , selbst wenn sie ganz satt war .
Ehe sie in das niedrige Messingbett schlüpfte , in dem bisher Mary geschlafen hatte , bis sie heimlich noch ein großes Stück von der Leberwurst ab , die ihr Dörthe mitgegeben hatte .
Als sie dann den Kopf auf dem ungewohnten Roßhaarkissen - zu Hause hatte sie Federbetten gehabt - hin und her warf , und sich statt des Deckbetts die wollene Schlafdecke über die Ohren zog , da murmelte sie noch im Halbschlaf vor sich hin :
" Also ich heiße jetzt Ellen Surfen und bin ein school-girl , aber ein Zieraffe werde ' ich darum noch lang nicht ! "
An der Waterkant .
Sie hatten alle vier auf dem Windmühlenberg Posto gefaßt , Karl Heinz , Hänschen , Fränzchen und Cäsar .
Von hier aus überblickte man die Landstraße , die zum Bahnhof führte , am besten .
" Der Affenkasten - endlich - da kommt er ! " rief Fränzchen plötzlich siegesgewiß und schwenkte eifrig sein nicht gerade einwandfreies Taschentuch .
Karl Heinz legte die Hände wie ein Fernrohr an die Augen und lugte zu dem dunklen Etwas hinüber , das auf der weißen Landstraße langsam näher kroch .
" Schafskopf , " entschied er nach kurzem Blinzeln , " das ist nicht Vating und die englische Cousine ; das ist ein Karren mit Schweinen . "
Er warf sich der Länge nach in das Gras und schaute trübselig auf die großen dunklen Mühlenflügel .
" Ich wollte , Vating brächte die Leni wieder mit , statt der fremden Dirn , oder wenigstens Säutsnut . "
Es kam ihn doch gar zu hart an , zwei Spielkameraden auf einmal zu verlieren .
Cäsars kurzes Gebell rief ihn schnell wieder auf die Beine .
Richtig , der Hund irrte sich nicht ; da holperte es um die letzte Straßenbiegung .
" Sie kommen ! " schrie Karl Heinz den Zwillingen zu , die ebenfalls von ihrem Wächteramt ein wenig ausruhten ; im Nun raste das Quartett , Cäsar allen voran , dem Hofe zu .
An der Kirschenallee , die geradeswegs auf das Gutshaus zuführte , hielt die Kalesche .
Jürgens thronte im Vollgefühl seiner wichtigen Persönlichkeit kerzengerade auf dem Bock ; aus seinem dicken Flausrock , den er selbst im heißesten Sommer trug , wackelten löffelartige , seidenweiche Ohren .
Säutsnut , der Durchgänger , wurde in die Heimat zurückbefördert .
Marys Ankunft in Nedderdorf Mit einem lauten " Na , Mutig , wie steht_es ? " sprang der Vater aus dem Affenkasten , schloß erst die Mutter in die Arme , hob dann Hänschen und Fränzchen zu sich empor , drohte Karl Heinz : " Na wart , du Schlingel , wir sprechen uns noch von wegen Säutsnut ! " und klopfte den ihn in wilden Freudensätzen umspringenden Cäsar beruhigend auf den Kopf .
Nun erst wandte er sich in die Kalesche zurück .
" Man zu - man zu , Miezeken , willkommen auf Nedderdorf !
Na , woran liegt es denn noch ? "
Mary zögerte noch immer , auszusteigen .
Die kleinen Wegelagerer , die da plötzlich von irgendwoher mit lautem " Hurra " auf den Wagen losgestürmt waren , hatten sie ein wenig eingeschüchtert , und jetzt blickte sie voller Mißtrauen auf den sich wie toll gebärdenden Cäsar .
" Das Hund - das gräßliche Hund - "
Mary wies scheu auf den harmlosen Cäsar .
Als ob dieser verstanden habe , daß von ihm die Rede sei , schnupperte er aufmunternd in den Affenkasten hinein , um Mary seine freundschaftliche Gesinnung zu beweisen .
Das wurde ihm aber falsch ausgelegt .
Mary schrie erschreckt auf , und zog ihre in braunen Strümpfen steckenden Beine bis auf das Wagenpolster .
" Es beißt - es will mir beißen - nimm es away , " jammerte sie laut .
Der Vater zog lachend den arg verkannten Cäsar von dem Wagenschlag fort , Karl Heinz brummte seinem Säutsnut " Was ' ne feige Memme ! " ins Ohr , und Mutig streckte mitleidig die Arme nach der verängstigten Mary aus .
" Da wärst du ja , mein Mädel !
Na , Gott sei Dank , daß ich wieder eine liebe Haustochter bekomme !
Ich hätte nie geglaubt , daß mir meine Leni so an allen Ecken und Enden fehlen würde .
Willkommen in der neuen Heimat !
Soweit es an mir liegt , sollst du dein Elternhaus nicht entbehren , mein liebes Kind . "
Damit zog Frau Lisabeth Sürsen das fremde Mädchen mit mütterlicher Innigkeit an die Brust .
Sie merkte bei der eigenen Herzenswärme nicht , daß Mary , steif wie ein Stock , alle Liebkosungen mit einer mißmutigen Falte auf der weißen Stirn über sich ergehen ließ .
Jetzt neigte sich das junge Mädchen über der Tante Hand , machte eine regelrechte Verbeugung und sagte höflich :
" How da you da , liebe Tante . "
Frau Lisabeth lachte belustigt auf .
" Den Firlefanz kannst du dir für die Stadt aufheben , Mieze ; bei uns zu Lande nimmt man es unter Verwandten nicht so förmlich .
Hier sind deine drei Vettern , welche die Zeit schon gar nicht mehr erwarten konnten , bis du endlich hier wärst .
Karl Heinz , augenblicklich gerade in den Flegeljahren , aber sonst ein braver Junge , und da unsere Zwillinge , einer immer ein wilderer Strick als der andere .
Gebt euch nur gleich einen Kuß , und nun gute Kameradschaft gehalten , ihr Gören ! "
Hänschen und Fränzchen angelten mit beiden Armen zärtlich an der langen Cousine empor , die sich schließlich dazu bequemte , sich herunterzuneigen und jedem der kaum voneinander zu unterscheidenden Knaben einen flüchtigen Kuß auf die Stirn zu hauchen .
Karl Heinz aber , der nicht kleiner war als Mary , stand der älteren Cousine in jungenhaftem Trotz gegenüber .
" Sie kann mir ja einen Kuß geben , " meinte er heimlich , und als das nicht geschah , denn Mary dachte von ihm genau dasselbe , drehte er dem jungen Mädchen mit einem wenig ritterlichen " Na , denn eben nicht ! " den Rücken .
Frau Sürsen hatte sich in den Arm ihres Mannes gehängt und erkundigte sich angelegentlich , ob ihrer Ältesten der Abschied auch nicht gar zu hart angekommen sei .
Mary folgte langsam mit den sie wie ein Wundertier betrachtenden Kleinen .
Karl Heinz hatte es für interessanter befunden , den weitgereisten Säutsnut seiner Karnickelfamilie wieder zurückzugeben .
Marys junges Gesicht drückte eine Reihe verschiedener Empfindungen aus .
In erster Linie war es verletzte Eitelkeit wegen Karl Heinz ' ungehörigem Benehmen ; dann eine backfischmäßige Empfindlichkeit , daß Onkel und Tante , ohne sich weiter um sie zu kümmern , sie wie selbstverständlich mit den Kleinen hinterher traben ließen ; und dann - ja , dann vor allem eine riesige Enttäuschung .
Sie war von allem enttäuscht , was sie hier zu sehen bekam !
Der Garten , na , der mochte noch allenfalls hingehen , obgleich ihr Garten in London , wenn auch nicht so ausgedehnt , doch entschieden " more fashionable " war .
Nicht einmal einen anständigen Tennisrasen sah man hier , und das Haus , oder vielmehr " das Schloß " , womit Mary ihren Freundinnen und Schulkameradinnen gegenüber tüchtig geprahlt hatte , das war nichts weiter als ein grauer , viereckiger Kasten .
Greulich !
Ach , und wie begeistert hatte Leni von ihrem Turm gesprochen , diesem alten niedrigen Ding da !
In London hatte sie viel höhere gesehen !
Auch die Verwandten hatte sie sich anders vorgestellt .
Der Onkel lachte so schrecklich geräuschvoll und neckte sie in einem fort ; und die Tante hatte sogar eine Schürze vorgebunden !
O , da war ihre Mama viel vornehmer ; die trug nie eine Schürze .
Mary fand die Tante Lisabeth gar nicht ladylike .
Aber auch von Mary war jemand auf dem Gutshof arg enttäuscht , und zwar kein anderer als der alte Jürgens .
Der striegelte seines Herrn Reitfuchs mit dem tiefsinnigsten Gesicht und stellte dabei philosophische Betrachtungen an .
" Eine , was de Leute doch dämlich Sünde !
Da sagen se nun , der Herr bringt ' ne lütte englische Miß mit , un ich mag Ehre ja nun ok ' ne frische Streue in den Futterställen mang de anderen Katzen .
Aber wie ich mi das Biest nun neger bekieken will , da is das denn ja wohl en richtig utgewachsenes Fräulein , 'n beten gröter as uns ' Lehnig , aber lang nicht so freundlich , as de was .
Un so 'ne Frauensperson soll 'ne Miß sin ! " Jürgens schüttelte sein strähniges Haar , das die gleiche graugrüne Farbe aufwies wie sein Flausrock , rieb die Flanken des Fuchses blitzblank , und trieb ihn mit " Hü " und "Hott " in den Stall zurück .
Der Fuchs war gestriegelt , und das schwierige Geschäft des Nachdenkens auch beendet ; für diesmal hatte Jürgens seinen Kopf genug angestrengt . - - - Es war ein warmer , sonniger Maitag .
Man hatte den Kaffeetisch in der geräumigen Veranda gedeckt , die den Ausblick in den Obstgarten gewährte .
In ihrer schneeig schimmernden Blütenlast standen die Äpfel- und Kirschbäume ; ein Meer von Obstblüten wogte im leisen Lenzwinde .
" O , wie ist das beautiful ! "
Mary , die viel Sinn für Naturschönheit besaß , lehnte still an der Verandabrüstung .
Zum ersten Male fand sie etwas auf Nedderdorf schön .
" Ja - es kann einem schon hier auf dem Lande gefallen , was , Mieze ?
Nun sollst du auch gleich dein neues Amt als Haustöchterchen antreten .
Komme , gieße uns den Kaffee ein !
Ihr Gören trinkt Milch ; du sollst mir bald eine andere Gesichtsfarbe bekommen , Mädel , bei unserer frischen , guten Milch hier . "
Mary warf den Kopf hintenüber , daß ihr offenes Haar bis über den Gürtel herabfloß ; es paßte ihr schon wieder etwas nicht .
Sie war doch kein Dienstbote , daß sie den Kaffee einschenken sollte !
Widerwillig griff sie zur Kanne ; Tante Lisabeth aber tat , als ob sie ihr mürrisches Gesicht nicht sehe .
Unlustig und ungeschickt waltete Mary ihres Amtes .
" Paß auf , Dirn ! " rief Onkel Waldemar warnend , denn Mary ließ ihre Augen und ihre Hände verschiedene Wege wandern .
Doch da lief ihm der heiße Trank bereits über die neuen hellkarierten Beinkleider .
" Himmelbombenelement - meine neuen Büxen ! "
Er sprang ärgerlich auf .
Mit lautem Krach entglitt die schöne Meißner Kanne Marys schlafen Fingern ; in tausend Scherben deckte sie den Steinboden .
Hänschen und Fränzchen panschten sofort selig in dem braunen See herum , der sich auf der Erde gebildet hatte .
Klein Suschen , mit der Mary schon Freundschaft geschlossen , weinte erschreckt los ; Mutig wußte nicht , was sie zuerst tun sollte , die nasse Kaffeedecke abnehmen , des Vaters Hellkarierte abtupfen , die Zwillinge ins Kinderzimmer weisen oder das Kleinste beruhigen .
Nur Mary , das Unglückswurm , das diesen Aufruhr in die friedliche Kaffeestunde gebracht hatte , stand mit Seelenruhe , ohne einen Finger zu rühren , auf dem Schauplatz ihrer Heldentaten .
" Aber Mieze , willst du mir denn nicht ein wenig zur Hand gehen ?
Muß man das einem so großen Mädchen wirklich erst noch sagen ? "
Tante Lisabeth , die bis jetzt kein Wort des Vorwurfs für Mary gefunden hatte , wurde nun doch ein wenig ärgerlich .
" O , I shall rufen die Stubenmädchen . "
Mary sah sich nach einer Klingel um , während der hinzukommende Karl Heinz mit gemütlichem :
" Da liegt ja die ganze Pastete ! " sofort praktisch eingriff .
" Es wird dir nichts schaden , Mieze , wenn du selbst die Kaffeedecke abnimmst ; ein junges Mädchen muß sich nützlich zu machen suchen ! "
Frau Sürsen war unmutig über sich selbst , daß sie gleich am ersten Tage so viel an der jungen Hausgenossin herumerzog .
Die Dirn mußte ja kopfscheu werden .
Aber Mary schien sich durch Tadel nicht leicht einschüchtern zu lassen .
Sie legte die Kaffeedecke ordentlich in die Falten zusammen , daß der nasse Fleck sich auch noch dem bisher verschonten Teile des Gedecks mitteilte , und trat dann mit plötzlichem Entschluß vor die Tante .
" Verzeihung , dear Tante , I would bitten , mir zu rufen Mary .
Das ist meine Name und nicht das schrecklich Mieze .
Ich will nicht werden geruft Mieze . "
Tante Lisabeth lächelte über Marys drolliges Kauderwelsch .
Sie war eine viel zu vernünftige Frau , um nicht die Berechtigung dieses Wunsches anzuerkennen .
Das Mädel sollte sich bei ihnen heimisch fühlen ; da durfte man den ihr liebgewordenen Namen nicht willkürlich ummodeln .
" Ich werde mir Mühe geben , Mary , es nicht zu vergessen ; ich habe eine liebe Schwester , die wir Mieze rufen , und darum ist mir der Name geläufig .
Aber nun setze dich endlich her , Kind , und trinke deine Milch ; Karl Heinz brennt sicherlich schon darauf , dich durch alle Ställe und Scheunen zu schleppen , und dir jedes Winkelchen hier auf dem Gut zu zeigen . "
Die Ordnung war wieder hergestellt und dem gemütlichen Fortgang der Kaffeestunde hätte nichts im Wege gestanden , wenn Marys hübsches Gesicht nicht schon wieder einen brummigen Ausdruck getragen hätte .
Mißmutig rührte sie in ihrer Tasse mit Milch , " Ich bin Kaiser ! " schrie Hänschen und schwenkte die geleerte Tasse zum Zeichen seiner Würde .
" Und ich König ! "
Fränzchen wollte nicht zurückstehen .
Auch Karl Heinz hatte bereits zum zweiten Male seine Tasse gefüllt .
" Na , Mary , und du ?
Du mußt dich dranhalten , sonst trinken dir die Kleinen noch alles fort ; der Pott ist bald leer . "
Die Tante faßte freundlich nach dem umfangreichen Milchtopf , um Mary die Tasse aufs neue zu füllen .
Mary zog das Näschen kraus .
" Ich kann nicht dring das Milk ; es schmeckt so - so nach Kuh . "
Sie schnitt eine Grimasse .
" Wonach soll sie denn sonst schmecken , Dirn ? "
Der Gutsbesitzer lachte dröhnend .
" Man zu !
Hier heißt es stramm folgen , wie beim Militär !
Also : Gewehr an " - die Kinder führten sämtlich ihre Tassen zum Mund - " ganzes Bataillon los ! " -
man hörte eifriges Schlürfen und Schlucken - " Gewehr ab ! " -
klirrend standen die Tassen wieder in Reihe und Glied wie die Soldaten .
Nur Marys Tasse blieb unberührt .
" Miezeken , da soll doch aber gleich . . . der Arzt hat dir Landluft und frische Milch verordnet !
Das bißchen Luftschnappen tut es nicht allein ; also sei eine verständige Dirn und trinke das Zeug herunter .
Oder soll ich erst anders mit dir verfahren ?
Ich vertrete jetzt Vaterstelle an dir , also - "
Der Onkel hatte in lustig polterndem Tone gesprochen ; jetzt griff er Mary in den blonden Schopf und schüttelte sie scherzhaft .
Aber Mary verstand keinen Spaß .
Ihre blauen Augen begannen sich langsam mit Tränen zu füllen .
" O - o - laß los - es tut mich weh , you make mich Schmerz ! "
Unwirsch löste sie ihren Kopf aus des Onkels kräftiger Hand .
" Marzipanjungfer ! "
Der Onkel besah sie sich von allen Seiten .
" Ist das ein zerbrechliches Ding , das Mädel !
Nun bitte ich aber ganz ernstlich , daß die Milch getrunken wird ; ich bin gewöhnt , daß meine Gören aufs Wort gehorchen . "
" Sonst wirst du in den Holzstall gesperrt , du , " fügte Hänschen mit großem Selbstbewußtsein hinzu , da er heute ausnahmsweise artig gewesen war .
" Und dann fressen dich die Ratten ! "
Fränzchen mußte auch seine Ansicht kund geben .
Mutig machte den Erziehungsplänen ihrer hoffnungsvollen Sprößlinge ein rasches Ende .
" Habt ihr ausgetrunken ?
So , dann marsch in den Garten mit euch , Lüttzeug !
Karl Heinz , sieh doch Mal eben nach , ob Marys Koffer abgeladen und auf das Zimmer gebracht ist .
Und du , Waldemar " - sie blinzelte ihrem Manne zu - " der Erbpächter Clausen hat vorhin nach dir gefragt ; vielleicht siehst du dich Mal nach ihm um . "
Schwerfällig erhob sich der Gutsbesitzer , kniff Frau Lisabeth , deren Kriegsplan er durchschaute , pfiffig ins Ohrläppchen und schritt davon .
" So , Mary , nun ist die Luft rein . "
Frau Sürsen atmete auf .
" Nun komme Mal her zu mir , meine liebe Dirn . "
Mary stellte sich mit unnahbarem Gesicht drei Schritte von der Tante entfernt auf .
Aber Tante Lisabeth zog sie zu sich heran und auf ihren Schoß nieder .
" Mary , ich will dir Mal etwas erzählen , Kind .
Als ich meine Leni hergeben mußte , da war mir recht traurig zumute .
Aber dann dachte ich , ach , du bekommst ja dafür ein neues Töchterchen ins Haus , das dich gerade so lieb haben wird .
Die Mary ist doch kein Gör mehr ; die wird dir schon wie eine Freundin zur Seite stehen und dir bei der Erziehung der Kleinen helfen .
Sage , Mary , habe ich mich getäuscht , oder soll ich eine gute Tochter an dir haben ? "
Liebevoll streichelte sie Marys seidenweiches Haar .
Mary wußte nicht , wie ihr geschah .
Daheim , in England , war man nicht sehr für Zärtlichkeiten .
Mama hielt alle wärmeren Gefühlsäußerungen für wenig vornehm , mit Lizzie hatte sie sich in einem fort gezankt , und der Vater weilte den ganzen Tag über in der City ; wenn er auch ab und zu Mal Marys Wange klopfte , so warm und lieb sprach niemand mit ihr .
Aber mit Trotz stemmte sie sich gegen das , was ihr jetzt heiß ans Herz griff .
Wieder erschien die böse Falte auf der weißen Mädchenstirn .
Tante Lisabeth war Marys veränderter Gesichtsausdruck nicht entgangen .
Sie ließ sie mit einem unhörbaren Seufzer aus den Armen .
" So , Kind , ich habe noch im Hause zu schaffen ; nun denke Mal nach über das , was ich dir gesagt habe .
Und wenn ich zurückkomme , dann ist der Milchpott leer , was , mein ' Dirn ? "
Mary war allein ; sie sah der kraftvoll schlanken Gestalt der Tante nach .
Einen Augenblick zögerte sie noch .
Dann faßte sie mit plötzlichem Entschluß die Tasse , hielt scheu Umschau - niemand war zu sehen - und goß in weitem Bogen die gute fette Milch in das Goldregengesträuch , das die Veranda umbuschte .
Nochmals lugte sie vorsichtig um das Rankenwerk , dann folgte auch noch der Rest der Milch .
Der Topf war leer .
Beinahe aber wäre es ihm ergangen , wie vorhin der Kaffeekanne ; es fehlte nicht viel , so hätte ihn Mary ebenfalls auf die Erde geworfen .
Denn aus den Spargelbeeten , die sich längs des Obstgartens hinzogen , hob sich plötzlich ein dünner , grauer Haarzopf , und darunter tauchte das faltige Gesicht einer alten Frau auf .
Es war Dörthe , die dort Spargel stach .
Sie legte die Hand über die Augen , weil die Nachmittagssonne blendete , sah zu Mary herüber und kam dann langsam näher .
Mary rührte sich nicht ; mit Herzklopfen blickte sie auf die sauber gekleidete Alte .
Hatte die gesehen , wo ihre Milch geblieben war ?
Mit schlürfenden Schritten stieg Dörthe die Verandastufen empor , reinigte sich , oben angelangt , umständlich die Hände an der blauen Drellschürze und streckte dann Mary treuherzig die Rechte entgegen .
" Geo 'n Dag ok , lütt Fräulein ! "
Damit war das Gespräch eröffnet , Mary tat , als ob sie Dörthes Hand nicht sehe ; herablassend nickte sie mit dem Kopf .
Das sollte ihr fehlen , so einer armen Frau die Hand zu geben !
Dörthe zog langsam ihre Rechte zurück und wickelte sie verlegen in die Schürze .
" Sei Sünde doch das lütte Fräulein Miß und haben unser Lehnig unnerwegs gesprochen , " begann Dörthe nach einer Pause aufs neue , eifrig bemüht , hochdeutsch zu sprechen , " Ich wollt ' man fragen , wo das unser lütt Dirn gehen tut in Amerika ? "
Eigentlich hielt Mary es unter ihrer Würde zu antworten , aber dann sagte sie doch :
" Es geht sie well - gut , aber sie ist in London , Not Amerika , " " Das kummt ja ganz up datsülwige rut . "
Dörthe stemmte die Hände in die Seiten und hatte nicht übel Lust , mit dem fremden Fräulein einen gemütlichen Snak zu beginnen .
Aber Mary teilte ihre Wünsche nicht ; mit ärmlich gekleideten Leuten zu sprechen , das war ganz und gar nicht schicklich .
Sie wandte sich der Verandabrüstung zu und tat so , als ob sie in den Garten hinausblicke .
Dörthe dagegen hatte ihr Lebtag noch nicht gefühlt , wenn sie überlästig war ; vertraulich stellte sie sich vielmehr an Marys Seite und fuhr mit der schwieligen Hand durch die gleißenden Goldregenblüten .
" Das wird nicht mehr lang dauern , dann bläuhen auch de Rosen ; große Knuppen haben se all , da wird das Fräulein Miß Mal Augen machen .
Aber das mit Melk gießen , das hilft nicht vor ; Water is besser . "
Mary wurde glühend rot ; das Milchgespräch war ihr höchst unlieb , und aufatmend begrüßte sie Karl Heinz , der sie zu einem Streifzug über den Gutshof abholen kam .
Karl Heinz strahlte , der jungen Fremden alles zeigen und erklären zu können .
Er hatte ganz vergessen , daß er noch vor kurzem mit der " klöhnpötrigen Dirn " nichts hatte zu tun haben wollen .
Aber das Stadtkind teilte die Begeisterung des Vetters nicht sonderlich .
In den Pferdeställen , Jürgens Stolz , hielt sie sich entsetzt die Nase zu ; kräftige Ackergäule waren ihr ebenso uninteressant wie schöne Reitpferde .
Nur das Füllen , das Karl Heinz Zucker aus der Hand fraß , fand sie " Sweet " .
Und nun erst im Kuhstall !
Sie blieb am Eingang stehen und blickte unbehaglich auf die friedlich wiederkäuenden Vierfüßler , die mit melancholischem Gebrumm hin und wieder eine aufdringliche Fliege mittels der Schwanzquaste fortjagten .
" Komme doch rein ! "
Karl Heinz zog sie einen Schritt näher .
" Sieh nur , es wird gerade gemolken ! möchtest du es auch Mal versuchen ?
Ich kann_es ! "
Mary sah den Jungen so verächtlich an , als ob er ihr den Vorschlag gemacht hätte , an der senkrechten Wand des Hauses emporzuklettern .
" Komme out ! "
Sie zog ihn an seinem Jackenzipfel ängstlich zur Stalltür zurück .
" Das Bull kann werden wild ; ich habe eine roter Band . "
" Du bist ja 'n Happen hä , Dirn ! "
Karl Heinz hatte sich seiner Schwester Leni gegenüber niemals allzu großer Höflichkeit befleißigt und war auch jetzt gegen Mary nicht von der Notwendigkeit einer solchen überzeugt .
" Der Stier weidet doch auf eingezäuntem Land ; der richtet kein Unheil an . "
Er sah fast mitleidig auf die unwissende Mary .
Die fett gemästeten Schweine , die mit ihren Rüsseln die Erde aufwühlten , fand Mary dreadful ; behutsam hielt sie ihr kurzes Kleid zusammen , daß es nur nirgends an einen Schweinekoben anstreifte .
Selbst im Kaninchenverschlage war die Freude über die lustigen Sprünge , in denen Säutsnut es allen voran tat , nicht vollständig ; Mary hatte nun Mal ein eingefleischtes Mißtrauen gegen alles , was nicht aufrecht auf zwei Beinen einherging .
Sogar die Zweifüßler flößten ihr noch Schrecken ein .
Den Truthahn , der in aufgeblähtem Selbstgefühl seinen breiten Federfächer in der Sonne spielen ließ , jagte sie mit Steinwürfen davon , und als eine glucksende Henne erschrocken neben ihr aufflatterte , sprang sie mit einem gellenden Angstschrei nach der anderen Seite .
Beim Komposthaufen , wo Müll und Küchenabfälle abgeladen wurden , stieß man auf Hänschen und Fränzchen , die jenes nicht gerade saubere Erdenfleckchen zu ihrem Lieblingsplatz erkoren hatten .
Sie waren eben eifrig bemüht , die abgeknabberten Gebeine der zu Mittag verspeisten Hühner in leeren Konservenbüchsen zur letzten Ruhe zu bestatten .
Aber als sie Marys ansichtig wurden , ließen sie die Knöchelchen im Stich und schlossen sich auf der Wanderung an .
" Bist wieder artig ? " erkundigte sich Hänschen , das enfant terrible , und " Haste auch deine Milch ausgetrunken ? " wollte Fränzchen durchaus noch wissen .
Marys blasses Gesicht erglühte ; sie nickte schnell mit dem Kopf .
" Du , Lauf nicht ins Korn , " befahl der eine kleine Frechdachs , als Mary sich leuchtende Blumen pflücken wollte , " sonst kriegst kein Brot , und alle armen Leute müssen hungern ! "
Karl Heinz zog einen Halm aus .
" Kiek eins , was das Korn dies Jahr schwer ist ; das gibt ' ne feine Ernte ! "
Mit dem Blick des künftigen Herrn überschaute er den Roggenstand .
Hier draußen auf den freien Äckern gefiel es Mary tausendmal besser als in den dunstigen Stallungen .
Wenn sie nur die ungalanten Jungen nicht auf Schritt und Tritt ausgelacht hätten !
Sie zeigte nämlich den verschiedenen Getreidearten gegenüber die Unbefangenheit eines neugeborenen Kindes ; selbst die Kleinen wußten schon besser Bescheid .
Grünen Weizen hielt sie für Hafer , da sie Mal irgend was von seiner graugrünen Farbe hatte läuten hören , und Kartoffeln für Unkraut .
Am Abend des Tages , da Mary ihren Einzug auf Nedderdorf gehalten hatte , war man allenthalben auf dem Gutshof mit dem Urteil über sie fertig .
" Der Kern in ihr ist gut , " sagte Frau Lisabeth frohlockend zu ihrem Gatten , als die Gören alle im Bette lagen und für sie die Feierabendstunde gekommen war , in der sie miteinander alles besprachen , was die Tage Gutes und Böses brachten .
" Kaum hatte ich den Rücken gewandt , hat die Dirn doch die Milch rein ausgetrunken .
Jede Pflanze bedarf eben einer besonderen Pflege ; die eine verlangt fettes Erdreich , die andere trockenes .
Sonnenschein aber brauchen sie alle zum Gedeihen , Pflanze wie Mensch , und daran soll es der Dirn bei uns nicht fehlen , nicht wahr , Waldemar ? "
" So nett wie meine Leni ist sie lang nicht , aber sie hätte ja auch leicht noch schlimmer sein können , " dachte Karl Heinz und gähnte ergebungsvoll dazu .
" Eine mächtige Bangbüchs ist sie , und nicht die Spur Schneide hat sie im Leib , und denn , so 'n Stadtmädel ist doch eigentlich 'n oller Döskopp ! "
Damit schnarchte er bereits .
In der Leutestube , wo Dörthe den Vorsitz führte , drehte sich das Gespräch ebenfalls um das " Fräulein Miß " .
" Ich bin Ehre ja wohl nicht gaud genug , das se mi die Hand nicht gewen Daud , " sagte Dörthe nachdenklich und besah angelegentlich ihre Rechte , die viele Jahre schon auf dem Hofe geschafft hatte .
" Kiekt , Kinnings , das lütte Fräulein Miß hat 'n Sparren im Kopp ; das is ut 'n ganz annerm Holz Magd , as uns ' Lehnig .
Sei geht so uprecht und stiw , akkerat wie uns' Truthenne ; je , das is 'ne Stadtmamsell , de paßt nicht up't Land , 'n Goldregen gießt sei ja wohl mit Melk , und 'n Herz vor de Viecher hat sei ok nicht .
Un ich sage immer , wer tau das leiwe Vieh nicht gaud is , de hat ok nichts for de Menschen üwrig . "
Dörthe erging sich noch des weiteren in ihren Betrachtungen über Mensch und Vieh .
Cäsar lag in seiner Hundehütte und heulte verschlafen .
Er träumte .
" Das lütt Fräulein verstacht doch wirklich nicht Spaß , denn das seiht doch 'n Blinner , das ich das nur gaud mit Ehre meinen Dow .
Sei is wohl 'n bisschen dämlich ! "
Ungefähr mit diesen Worten jaulte Cäsar den Mond auf plattdeutsch an , denn er war geborener Mecklenburger .
Ellen .
Leni fuhr mit der Tante " shopping " .
Von einem eleganten Geschäft ging es in das andere ; sie wurde von Kopf bis Fuß neu eingekleidet .
Tante Jane hielt das für unumgänglich notwendig , denn wenn es einem ihrer Bekannten so mit Ellen ergangen wäre wie gestern Bobby , sie hätte sich die Augen aus dem Kopf geschämt .
Es war am Sonntagmorgen .
Leni , als Landkind an Frühaufstehen gewöhnt , schlüpfte als die erste aus den Federn , band über das Sonntagskleid eine von den schönen neuen Wirtschaftsschürzen , und stieg dann , da Lizzie und auch die Miß nebenan noch schliefen , in die Wohnräume zum Erdgeschoß hinab .
Aber auch hier war alles still und leer , weder die Verwandten noch jemand von der Dienerschaft zu sehen .
Leni wußte nichts Rechtes mit sich anzufangen .
Sie kam sich ziemlich überflüssig vor zwischen den hohen Möbeln , den seidenen Polstern im Salon und den feinen zerbrechlichen Nippes .
In dem geschliffenen Kristallspiegel hatte sie sich mit ihrer neuen Wirtschaftsschürze auch schon genügsam bewundert , da fiel es ihr plötzlich ein , daß es mit der Schürze allein nicht abgetan sei .
Mutig hatte ihr doch eindringlich aufgetragen , sich nützlich zu beschäftigen .
Sie war gestern ungezogen gegen die Tante gewesen , das wollte sie wieder gutmachen .
Die würde sich schön wundern , wenn sie im Salon schon den Staub gewischt fand !
Eifrig begann also Leni , sich nach einem Staubtuch umzusehen .
Ein Staubtuchkörbchen gab es hier anscheinend nicht , aber dort aus dem Ständer in der Erkernische schaute etwas Gelbliches hervor .
Leni zog das Ding heraus ; es war aus gelber japanischer Seide und zeigte große Blumenmuster , Mutters Staubtücher zu Hause waren einfacher , aber hier schien ja alles viel feiner zu sein , und was anderes fand sich nicht .
Lustig begann Leni die zierlichen Sächelchen abzustäuben .
Plötzlich fuhr sie zusammen und ließ den borghesischen Fechter , den sie gerade unter den Fingern hatte , erschreckt zur Erde gleiten .
Dicht hinter ihr hatte jemand mit lautem Gähnen " Morning " gebrummt .
Ein lang aufgeschossener junger Mensch in weiten hellen Beinkleidern , einen Zwicker auf der sommersprossigen Nase , bückte sich nach dem borghesischen Fechter , betrachtete die Bronze mit kritischen Blicken und stellte sie dann , in gurgelnden englischen Lauten murmelnd :
" Well , eine Beule hat sie weg ; Mama wird schön über die Ungeschicklichkeit zanken , " wieder an ihren Platz .
Das also war Vetter Bobby !
Leni sah ihm mit weitaufgerissenen Augen nach , als er jetzt mit seinen langen Beinen wie ein Storch ins Speisezimmer hineinstolzierte .
Sehr warm und verwandtschaftlich war der Willkommensgruß für die neue Cousine gerade nicht , aber Leni war von den anderen gestern auch nicht verwöhnt worden .
Wieder empfand sie ein Gefühl der Freude darüber , daß dieser unliebenswürdige Junge , der schon recht sehr den jungen Herrn herausbiß , die Woche über in seiner Pension weilte .
Den einen Sonntag , den er zu Hause zubrachte , würde sie wohl mit ihm auskommen .
" Well , eine Beule hat sie weg !
Mama wird schön zanken ! "
" Tea ! " rief jetzt Bobby aus dem Nebenzimmer , wo er die " Times " studierte , in befehlerischem Ton .
Leni blickte sich um .
Das Stubenmädchen war immer noch unsichtbar ; sollte er sie selber gemeint haben ?
Er konnte doch höflich bitten , dann würde sie ihm gern den Tee bringen .
Sie wischte ruhig weiter , ohne sich im geringsten um den " schlarksigen Schlingel " zu kümmern .
" Wird es bald ?
Ich möchte meinen Tea - beeilen Sie sich . "
Es klang noch gröber als vorhin .
Leni trat an den Frühstückstisch .
" What da you like , Bobby ? " fragte sie möglichst fließend .
Der sah sie groß an .
Über sein bläßliches Gesicht jagte erst eine Blutwelle , dann schrie er mit wütender Stimme :
" Unverschämte Person !
Ich bin » Master Bobby « für Sie , merken Sie sich das ! "
Leni lachte laut heraus .
Sie konnte sich nicht helfen .
Der aufgebracht mit seinen dünnen Armen in der Luft herumfuchtelnde Vetter kam ihr in seinem Zorn zu ulkig vor !
Und daß sie ihn " Master " nennen sollte !
Sie machte eine ausdrucksvolle Handbewegung gegen die Stirn .
" Du hast wohl 'n Lütten ? " fragte sie in nicht mißzuverstehendem Deutsch .
Bobby sprang auf .
" Raus ! " brüllte er .
" Go out . -
ich werde es der Mama sagen , daß Sie noch heute entlassen werden !
Dieses Dienstbotenpack wird doch von Tag zu Tag more insolent ! "
Sie hatten es beide überhört , daß sich die Tür zum Nebenzimmer öffnete ; der weiche Perserteppich verschlang das Geräusch der Schritte der Mutter .
" Aber Bobby , " sagte sie mit leisem Vorwurf , " boy , den heiligen Sonntagmorgen entweihst du durch wüssten Lärm ?
What is the matter ? "
Bobby war noch immer krebsrot im Gesicht .
Er wies auf die sich bescheiden zurückhaltende Leni .
" Diese dreiste Person wagt es - " er schnappte nach Luft - " sie muß heute noch aus dem Haus ! "
" Ellen ? " fragte die Tante verwundert .
" Ellen , your cousin , ja , aber weshalb denn ?
Was hat sie denn schon wieder getan ? "
Bobbys an und für sich ziemlich nichtssagende Miene wurde bei den Worten der Mutter nicht geistreicher .
Es schien Leni , als ob die abstehenden Ohren , die dem Gesicht einen drollig einfältigen Ausdruck verliehen , sich noch mehr von dem schmalen Kopf entfernten .
Plötzlich aber schlug er ein nicht endenwollendes Gelächter auf .
" Das ist Ellen - das - das hochgeborene Fräulein von Nedderdorf ?
Na , indeed ! "
Er lachte wieder und sah dabei unausgesetzt auf die erglühende Leni .
Diese wandte sich zum Salon zurück .
Das höhnische Lachen des Vetters tat ihr viel weher als vorher sein schroffer Ton .
Bobby beruhigte sich endlich wieder so weit , um der Mutter , immer noch stoßweise , erzählen zu können , daß er Ellen für das neue Stubenmädchen gehalten habe .
" Wer vermutet auch ein junges Mädchen aus der Gesellschaft hinter so einer Vogelscheuche , " sagte er in hochmütigem Ton , unbekümmert darum , daß Leni seine taktlosen Worte hören mußte .
" Unsere Maid servant sieht eleganter aus als sie !
Soll man so was für möglich halten ? "
" Leider - you are riecht , " hörte Leni die Tante vernehmlich seufzen , " aber sie ist doch nun Mal hier ; jetzt müssen wir sie so bald als möglich salonfähig zu machen suchen . "
Leni hatte die Zähne zusammengebissen , um nicht laut loszuheulen oder gar dem häßlichen Vetter ein empörtes Wort entgegenzuschleudern .
Aber die Tante wegen ihres gestrigen ungehörigen Benehmens um Entschuldigung zu bitten , wie sie beabsichtigt hatte , das brachte sie jetzt nicht mehr über sich .
" Leni , come in ; tue die entsetzliche Schürze ab , du bist kein Dienstbote , " befahl die Tante .
" Ja , aber liebe Tante , Mutig sagt immer , ein Mädchen ohne Schürze ist wie ein Schaf ohne Wolle :
es läuft unnütz in der Welt umher . "
" Bei euch im Kuhstall mag eine Schürze vielleicht am Platz sein ; hier in den Londoner Salons ist sie entbehrlich , mein holdes Cousinchen . "
Bobbys Stimme klang so boshaft , daß Leni die größte Lust verspürte , ihn durchzuprügeln .
" Du hast hier im household nichts zu tun , Ellen ; du sollst dir bei uns nur eine gute Schulbildung und anständige Manieren aneignen , " fiel die Tante ein .
" Ja , aber " - Leni quälte daheim Mutig auch stets mit ihrem " ja , aber " - " ich wische doch Staub ; da mache ich mich schmutzig . "
" Du wischst Staub ?
Womit denn , wenn ich fragen darf ? "
Leni zog ein wenig unsicher das zerknüllte gelbseidene Etwas hinter dem Rücken hervor .
" Oh - dear me !
- meine Arbeit , meine kostbare Handarbeit !
Das sollte ja ein Lampenschirm für Schwester Dolly werden !
Man hat doch wirklich nichts als Ärger von diesem girl . "
Tante Jane riß Leni den zum Staublappen erniedrigten Lampenschirm so ungestüm fort , daß Leni noch einen Fetzen in der Hand behielt .
So war die Sonntagmorgenstimmung , die daheim auf dem Gute stets festtäglich friedlich gewesen war , von Anfang an häßlich und zänkisch .
Auch der freundliche Gruß des Onkels , dem natürlich sofort die haarsträubende Tatsache berichtet wurde , daß Bobby die neue Cousine hatte für das Stubenmädchen halten können , änderte nichts an Lenis gedrückter Stimmung .
" Please , fahre morgen mit Lenchen in die Stadt , liebe Jane , und kleide sie nach englischer Art , " wandte sich Onkel Richard bittend an seine Frau .
" Dein Geschmack ist ja bei deinen Freundinnen maßgebend ; du wirst es gewiß möglich machen , das Wiesenblümchen in eine Gartenzierpflanze zu verwandeln . "
So saß denn Leni heute neben der Tante in dem weißen Automobil mit den roten Lederpolstern und klammerte sich ängstlich an den Arm der Tante , trotzdem diese ihr ein Mal über das andere versicherte , es geschehe nichts .
Hören und Sehen verging ihr .
Sie war noch niemals auto gefahren .
Das ratternde Geräusch , das durchdringende Getute und dazu noch das Leben und Treiben , das Wogen und Branden der Millionenstadt - sie kam sich wie ein losgelöster Punkt in dem ungeheuren Weltall vor .
Durch die prächtigen Alleen des Londoner Heideparks ging es sausend .
auto folgte auf auto , Hüte flogen in die Luft .
Man nickte der schönen Mrs. Surfen , die da elegant in ihrem kostbaren Automobil lehnte , freundschaftlich zu ; dann glitt das Auge der Bekannten mit sichtlichem Staunen weiter zu Lenis Figürchen .
" Nanu , wo hast du denn die aufgegabelt ? " stand deutlich in den prüfenden Blicken zu lesen .
Tante Jane stieg die Schamröte über ihre unfashionable Begleiterin in das vornehm blasse Gesicht ; sie wurde noch abweisender gegen Leni als zuvor .
Auf den weiten Rasenplätzen oder " lawns " , wie die Tante sie nannte , tummelten sich fröhliche Kinder .
Tennisbälle wurden von geschmeidigen schlanken Mädchen gewandt übers Netz geschlagen .
Der mächtige Fußball flog im großen Knabenkreis kreuz und quer , und wurde mit hellem " Hallo " weitergeschleudert .
Dazwischen sah man zierlich gekleidete Kinder an der Hand der governesses , und english nurses mit steif gestärktem Leinenhäubchen , die den eleganten Babywagen vor sich herschoben .
Leni hatte nicht Augen genug , um all das Neue zu fassen .
In dem Backfischbasar , in dem Tante Jane ein dunkelblaues Matrosenkleid , ein weißes und ein englisches Leinenkleid für sie auswählte , wäre es beinahe wieder zu einem Tanz gekommen .
Leni war empört .
Die Tante ließ ihr in alle Kleider , da diese für größere Mädchen berechnet waren , einen breiten Saum nähen !
Nicht einmal bis zu den Stiefeln gingen die Faltenröckchen ; man sah sogar noch die Strümpfe vorgucken !
Ach - Leni ballte die Fäuste - ein richtiges lüttes Gör machte die Tante wieder aus ihr !
Was nützte ihr da ihre Backfischwürde ?
Sie war machtlos gegen Tante Janes ruhige Bestimmtheit .
Breite , schwarze Haarbänder wurden gekauft , wie Mary sie trug , denn auch die Defreggerfrisur fand keine Gnade vor Tante Augen .
Stadt der klobigen Stiefel des Schusters Hannemann wählte die Tante elegante braune und schwarze Lackstiefelchen .
Am schmerzvollsten aber berührte es Leni , daß ihr schöner , neuer Regenmantel als ganz unmöglich bezeichnet wurde .
Ein blaues loses Jackett mit Goldknöpfen , gerade so , wie die kleinen Zwillinge es daheim trugen , wurde dafür angeschafft .
Es gewährte ihr nur geringen Trost , daß die Tante , von den vielen Besorgungen abgespannt , an einer Tea-cabin halten ließ .
Leni war mit Vating auch in der Konditorei am Rostocker Markt gewesen , aber so vornehme Ladies wie hier hatte sie dort nicht gesehen .
Ach , und die Mädchen , die bedienten , trugen alle mattblaue Schleifen und Schürzen in derselben Farbe .
Es war ein buntbewegtes Bild .
Aber in Rostock hatte Leni ihren Mohrenkopf mit Schlagsahne essen können , wie ihr der Schnabel gewachsen war .
Hier dagegen wachte die Tante ängstlich darüber , daß sie nicht zu sehr stopfte , die Teetasse auch zierlich faßte , und den Löffel zu guter Letzt nicht reinleckte .
Das beeinträchtigte die süße Freude sehr .
Es war am Nachmittag desselben Tages .
Lenis Sachen waren eben geliefert worden ; nun stand sie im Kinderzimmer und schaute untätig zu , wie Miß Brown die neuen Kleider mit pedantischer Ordentlichkeit in den Schrank hing , und dafür die mißachtete Heimatsgarderobe in den Familienkoffer zurückwandern ließ .
Ach , am liebsten wäre Leni hinter ihren Kattunkleidern und Wirtschaftsschürzen hergekrochen und hätte sich so auf ihr liebes Gut an der Waterkant zurücktransportieren lassen .
Nun wurde sie zur Probe umgekleidet .
Es war Leni zumute , als ob sie ihre Haut abstreifen und dafür in eine neue schlüpfen solle .
Die knochigen Finger der Miß , die ihr zur Hand ging , waren trotz des warmen Frühlingswetters draußen eisig kalt ; Leni erschauerte unter jeder Berührung .
Sie mochte sich überhaupt nicht mehr beim Anziehen helfen lassen ; allenfalls hatte Fräulein oder Gusting daheim ihr die Kleider , die auf dem Rücken zu schließen waren , auf- und zugeknöpft .
Aber die Miß tat es nicht anders .
Allein wäre Leni auch wohl kaum mit diesem " Bammelchen Zeug " zustande gekommen .
Als sie nun endlich fertig war und die Miß begeistert ausrief : " Oh , how nice da you Log now ; jetzt darfst du in den Spiegel sehen , Ellen , " stieß Leni einen lauten Schreckensschrei aus .
Aus dem Spiegelschrank schaute ihr ein kleines Mädchen , ein Kind , noch ein Ende kleiner , als sie sonst war , mit entsetzten Augen entgegen .
Das hatte ein kurzes blaues Matrosenkleid an , braune Strümpfe und braune Stiefel , die noch dazu ziemlich unbequem waren .
Die dunklen Haare hingen offen den Rücken herab .
" Wie ein Pferdeschwanz ! " dachte Leni innerlich erbost .
Bitterlich begann sie zu weinen .
" Ich will nicht so gehen !
Gräßlich sehe ich aus , wie ein Gör , als ob ich meine eigene kleine Schwester wäre !
So babylike gehe ich nicht , nein ! " und mit fliegender Hand versuchte sie die Knoten , welche die Miß mühsam geschürzt hatte , wieder zu lösen .
Das aber ging über Miß Browns Geduld .
Leni fühlte plötzlich einen derben Klaps auf ihrer rechten Hand .
" You naughty girl ! " rief Miß Brown im heftigen Ärger .
Aber auch Leni war kein Lamm .
Mutig sagte immer , in dem Mädel stecke eine ganze Bande kleiner Teufelchen , und die sprühten jetzt alle zu gleicher Zeit aus Lenis blauen Augen der Miß entgegen .
" Schlagen lasse ' ich mich nicht , das verbitte ich mir !
Zwei Jahre sind es her , daß ich von Mutig die letzte Ohrfeige bekommen habe , und Fremde haben kein Recht dazu !
Wenn man mich so - so unwürdig behandelt , dann gehe ich auf und davon ! "
Sie wollte zur Tür hinaus .
" Ellen , " rief es da plötzlich vom Bette her , auf dem Lizzie bisher ziemlich teilnahmlos dem Fortgang der Handlung zugeschaut hatte .
" Dear Ellen , bleibe hier !
She is Not Allod zu schlagen dich ; ich werde es dem Vater sagen . "
Lizzie hatte sich aufgerichtet .
Unschlüssig blieb Leni in der Tür stehen .
Ihre Wangen brannten mit der geschlagenen Hand um die Wette .
So eine Schmach !
Die Miß hatte ihr Zimmer aufgesucht , und wieder rief Lizzie mit ungewöhnlich weicher Stimme : " Komme her , Ellen , weine nicht ; es soll nie wieder geschehen ! "
" Lizzie , Dirn , sei doch gut zu mir ! "
Langsam näherte sich Leni dem Bette der leidenden Cousine .
Es erschien ihr sonderbar , daß Lizzie , die während der zwei Tage ihres Londoner Aufenthalts kaum Notiz von ihr genommen hatte , plötzlich freundlich zu ihr sprach .
Ja , damit nicht genug , streckte Lizzie ihr jetzt die beiden schmalen Kinderhände entgegen , und als nun Leni zögernd ihre gezüchtigte Rechte hineinlegte , streichelte Lizzie sie mit verstohlener Zärtlichkeit .
Das war zuviel für Leni .
Die erste Liebesbezeigung hier in der Fremde , nach der sie sich heimlich die ganze Zeit über gesehnt hatte - ungestüm umschlang sie die Cousine .
" Ach , Lizzie , liebes Lizziechen , du - gerade du bist jetzt so gut zu mir !
Was habe ich dir denn bloß getan , daß du mir so feindlich entgegengekommen bist ?
Ich habe mich ja nach einem freundlichen Wort so gebangt ! "
Leni sprach Deutsch , denn wenn Lizzie auch nicht alles verstand , es war ihr schon eine Wohltat , nicht Englisch sprechen zu müssen .
Lizzie ließ Lenis Hand los .
Verlegene Röte huschte über ihr bleiches Gesicht ; sie wandte den Kopf .
" Ich bin nicht gut , " sagte sie kurz .
" Doch , Lizzie , doch !
Wenn du häßlich zu mir bist , das ist nur Verstellung ; ich weiß jetzt , daß du anders sein kannst .
Lizzie , Dirn , sei doch gut zu mir !
Ich bin ja hergekommen mit dem festen Vorsatz , dich liebzuhaben . "
Mit einem jähen Ruck drehte Lizzie sich herum .
" Das bist du , Ellen - lieb haben wolltest du mich ?
O - und Mary told me - - - " sie brach scheu ab .
" Was , Lizziechen , was hat sie dir gesagt ? "
Leni schlang den Arm fester um die kleine zarte Gestalt .
" Sie sagte - du - du würdest es stets der Mama sagen , wenn ich die gräßlichen Stunden in den Maschinen an den Beinen und auf dem Streckbett nicht genau innehalte - "
" Was ?
Petzen sollte ich ?!
Pfui , klatschen , das ist ja gemein !
Der größte Schuft im ganzen Land , Das ist und bleibt der Denunziant ! sagt Karl Heinz . "
Lenis Augen blitzten .
" O , I see - and then - " Lizzie verbarg das Gesicht an Lenis Ärmel - " dann meinte sie noch , Vater würde mich nun gar nicht mehr so lieb haben , weil du jetzt kommst ; du bist doch die Tochter seines Bruders .
Du würdest mir , sagte Mary , Vaters ganze Liebe fortnehmen , und das - nein , das sollst du nicht !
Vater ist der einzige , der mich hier lieb hat - " ihre Stimme wurde ganz leise .
Leni lachte in ihrer herzerfrischenden Art .
" O , du blitzdumme Dirn , wenn es weiter nichts ist !
Wenn du sonst nichts gegen mich hast , davor braucht dir ganz und gar nicht bange zu sein .
Wie konnte dir Mary nur so was sagen !
Und dann , Lizziechen , was für Zeug redest du da ?
Es hat dich weiter niemand hier lieb ?
Du hast doch eine Mutig und einen Bruder !
Ach , wie gut sind wir uns , mein Karling und ich . "
" Bei uns ist das anders , " gab Lizzie mit einem Gesichtsausdruck zurück , der weit über ihre Jahre reif erschien .
" Mama mag mich nicht , weil ich nicht so schlank und gesund bin wie Mary ; sie kann keinen Staat mit mir machen , und ich habe sie doch - - - " sie vollendete den Satz nicht .
" Oh - I know - " fügte sie mit traurigen Augen hinzu , als Leni sie mit einem entsetzten " Aber Lizzie ! " unterbrechen wollte .
" Und Bobby ? " fragte Leni leise .
" Der - pah - der kümmert sich nicht um mich !
Ich kann ja nicht mit ihm Tennis und Golf spielen , sondern muß immer liegen .
Sie peinigen mich so mit den Maschinen , und dabei hilft es doch nichts ; das Knie ist und bleibt steif .
Jahrein , jahraus muß ich auf dem Streckbett liegen , nur selten komme ich ins Freie .
Darum hat Vater hier die Cottage mit dem Garten gekauft , damit ich wenigstens in frischer Luft bin .
Das Haus heißt nach mir » Lizzie « .
Spazierenfahren mag ich nicht ; Mamas Freundinnen sehen mich dann alle mitleidig an , und wenn ich die anderen Kinder alle lustig herumspringen sehe , ach - warum bin ich - nur ich anders als sie ! "
Lizzie schlug die Hände vor das Gesicht .
Stumm saß Leni neben der Kleinen ; nur ab und zu strich sie leise über Lizzies goldenes Seidenhaar .
Der Jammer dieses vereinsamten Kindes schnitt ihr tief ins Herz .
Kein Wort brachte sie heraus .
Sie bis sich die Lippen blutig , um die Tränen zurückzudämmen , die ihr mit Gewalt in die Augen stiegen , " Ich habe das noch keinem Menschen erzählt , " begann Lizzie wieder nach geraumer Weile , " aber du - zu dir habe ich von Anfang an Vertrauen gehabt .
Ich wollte es nur nicht zeigen , weil Mary mir das gesagt hatte - - - "
" Ach Lizziechen , mein Lüttes , ich will dich ja so lieb haben !
Du sollst nicht mehr sagen , daß dich nur dein Vating mag . "
Leni küßte die kleine Cousine innig .
" Sieh , ich will deine Freundin sein , wenn ich auch schon ein Backfisch bin " - es war das Höchste , was Leni in ihrem grenzenlosen Mitgefühl tun konnte , daß sie dem viel jüngeren Kinde die Freundschaft antrug .
Lizzie schien die Größe des Geschenkes zu würdigen .
Sie neigte ihren Kopf dicht zu Lenis Ohr .
" Und ich will dich nicht mehr Ellen nennen , wenn wir beide allein sind , sondern nur noch Leni , wie du daheim genannt wirst , ja Leni ? "
So war Leni in der Fremde nicht mehr ganz verlassen .
Schulmädel .
Die Schülerinnen aus der ersten Klasse der Smithschen Schule standen zu sechs an der Straßenecke .
Eigentlich war es streng untersagt , auf der Straße stehen zu bleiben , aber der alte bucklige Bettler , der dort an der Ecke mit bunter Kreide schaurig schöne Bilder auf den Straßensteinen entwarf und mit marktschreierischer Stimme erläuterte , war stets ein starker Anziehungspunkt für die Jugend .
Der dröhnende Schlag der Big-Ben-Turmuhr in Westminster verkündete die neunte Stunde und sprengte die kleine Schar auseinander .
Im Sturmschritt ging es in das rote Ziegelsteingebäude auf der anderen Seite , das mit seinem großen lindenbestandenen Hof einen freundlichen Eindruck machte .
Das war die höhere Töchterschule der Mrs. Smith , eine der besten in ganz London .
" Da kommt the neu ohne , " rief plötzlich Gerty Newton .
Leni war , trotzdem sie nun schon vier Wochen lang die Smithsche Schule besuchte , immer noch " die Neue " .
Das machte wohl , weil sie sich ungemein schwer in die Schulordnung fügen lernte .
Stundenlang stillzusitzen und vor allem nur zu sprechen , wenn sie gefragt wurde , war für die quecksilbrige Leni eine wahre Pein .
Beim Herrn Kantor daheim hatte sie ja eigentlich auch nur reden dürfen , was zur Sache gehörte ; aber wenn ihr Mal irgend etwas anderes durch den übermütigen Kopf zuckte , war der gütige alte Herr nicht gleich böse gewesen .
Hier dagegen - es war schrecklich !
" Ellen Surfen , sitze still - Ellen , drehe dich nicht um - was gibt es denn da wieder zu lachen - Ellen , ich werde dich doch noch nach vorn setzen müssen " - so hieß es in einem fort .
Das Schönste aber war , daß Leni immer völlig vergaß , daß sie damit gemeint war ; sie wandte stets neugierig nach allen Seiten den Kopf , wem wohl die Rüge galt .
Der Name Ellen klang ihr für ihre Person noch ganz fremd ans Ohr , was die erzürnte Lehrerin stets noch mehr aufbrachte .
Ihre Kenntnisse allerdings waren denen ihrer gleichaltrigen Kameradinnen überlegen , wenigstens in jenen Fächern , worin der Herr Kantor sie unterrichtet hatte .
Englisch und Französisch ließen sehr viel zu wünschen übrig , und auch in Latein - es wurde in London an der Mädchenschule Lateinisch gelehrt - war sie nicht so weit wie die anderen .
Sie hatte ja nur mit Karl Heinz , wie sie alles mit ihm zu teilen pflegte , auch seine lateinischen Studien zum bloßen Vergnügen mitgetrieben , denn Karl Heinz fand immer , es lerne sich noch einmal so leicht , wenn Leni half .
Die Schulvorsteherin hatte sie aber trotz der Lücken in den Sprachen doch in die erste Klasse aufnehmen müssen , und Leni war stolz , daß sie nicht unter " die Lütten " gesetzt wurde .
Mit den Schulkameradinnen stand sie von Anfang an ausgezeichnet .
Ihr frisches , lustiges Wesen , ihre freundliche , gutherzige Art gewann die jungen Mädchen im Fluge .
Sie hatte schon many friends .
Es imponierte auch den Backfischlein , daß die junge Deutsche in vielen Fächern mehr wußte , als sie alle .
Professor Wilkens , der in Geschichte und Geographie unterrichtete , sagte stets , wenn er vergeblich in der Klasse nach der richtigen Antwort geforscht hatte : " Oh , I have to ask our little German , " und Leni gab dann meist mit heller Stimme die gewünschte Antwort .
Gar nicht leiden mochte sie aber " Monsieur " .
Das war ein geschniegelter , eleganter Herr aus Paris , den Lenis derbfrisches , ungeschminktes Wesen und die barbarische Art und Weise , womit sie seine melodische Sprache mißhandelte , wie ein körperlicher Schmerz berührte .
Er war der einzige , der in der Konferenz gegen Lenis Aufnahme in die erste Klasse gestimmt hatte , und Leni erwiderte diese Abneigung aufs innigste .
Heute war die erste Stunde bei Monsieur .
Leni schüttelte Anny , Milly , Eveline und Vicky , die in voller Pension bei Mrs. Smith waren - die Schule war gleichzeitig eine " boarding school " - die Hände und begann ihre Mappe auszukramen .
" Oh , Ellen , Tank you - so viel Bonbons !
Wieviel Pence hast du für mich ausgelegt ? " fragte die schlanke Eveline , ihren Anteil in Empfang nehmend .
" Hast du mir die Nußschokolade mitgebracht , Ellen ? "
Anny half Leni mit hungrigen Augen beim Auspacken der heimlich eingeschmuggelten Schätze .
" Du bist die Netteste von all den Externen , " schmeichelte Vicky , eifrig an ihrem Bonbon lutschend , " du hast wenigstens keine Angst vor dem » Policeman « . "
Mit diesem wenig schmeichelhaften Titel benannten die boshaften Mädel die Oberlehrerin Miß White , die stets , mit einer langen Lorgnette bewaffnet , die Klassen wie ein Gendarm revidierte und auf ihrem Streifzug fast immer irgend eine Regelwidrigkeit entdeckte .
" Kinder , heute war es wirklich schwer , mit meiner geliebten Miß auszukommen ! "
Lenis Englisch hatte sich in den paar Wochen schon bedeutend verbessert , " Tante erlaubt durchaus nicht , daß ich allein zur Schule fahre ; immer marschiert deshalb die Miß Brown neben mir her .
Als ob ich in Deutschland nicht immer allein gegangen wäre ! "
Leni schüttelte die Haare sehr energisch zurück .
" Auch heute ging sie mir nicht von der Seite .
Ich wollte doch unbedingt in den Konfitürenladen entwischen , aber sie ließ kein Auge von mir .
Da stand an der einen Ecke zum Glück ein Straßenprediger , und dem mußte die Miß zuhören .
Ich kratzte natürlich schleunigst aus , und als ich aus dem Laden wieder herauskam , war die Miß schreckensbleich ; sie glaubte nicht anders , als ich sei unter einen Autoomnibus gekommen .
Sie war so froh , mich wieder heil vor sich zu sehen , daß sie ganz vergaß » shocking « zu rufen . "
Die Freundinnen hatten Lenis Mecklenburger Englisch so belustigt angehört und waren so in ihre Naschereien vertieft , daß sie den eintretenden Monsieur , der stets pünktlich mit dem akademischen Viertel den Klassenraum betrat , gänzlich überhörten .
Erst seine befehlende Stimme : " Aber , Mesdemoiselles , ich bitte , die Konferenz dort hinten zu beendigen - natürlich wieder der Mittelpunkt Ellen Sürsen ! " ließ jedes der jungen Mädchen hastig ihren Platz aufsuchen .
Monsieur wandte sich dem ersten Akt von Athalie zu , Leni nagte verärgert an ihrer frischen Lippe .
Es war ihr recht unangenehm , daß sie wieder der " Mittelpunkt " gewesen sein sollte .
Dem Chorgesang aus Athalie , den Monsieur gerade vortrug , schenkte sie sehr wenig Aufmerksamkeit .
Gelangweilt ließ sie ihre Augen von ihrem Buch in der Klasse herumwandern .
Alle die dunklen und lichten Mädchenscheitel waren andächtig über Racines Verse geneigt , Leni kräuselte die Lippen .
Das sollte ihr fehlen , sich mit dem ihr gänzlich uninteressanten Gedicht abzugeben , während durch das geöffnete Fenster so süßer Lindenduft in das Schulzimmer strömte !
Ach , daheim vor dem Gutshaus blühten jetzt auch die Linden , vor allem die große Linde , um deren dicken Stamm der runde Tisch gefügt war , an dem man im Sommer den Kaffee trank .
Da saß Vating mit der Zeitung - vielleicht las er auch den letzten Brief seiner Leni - und Mutig nähte , denn ihre fleißigen Hände ruhten nie .
Im Schatten des herrlichen Lindenbaumes aber stand der Wagen mit klein Suschen , und ihre rosigen Patschhändchen griffen unter Jauchzen nach dem duftenden Blütenregen , den die alte Linde auf die Kleine herabrieselte .
Ach , wer doch auch dort sein könnte !
Leni hatte unbewußt die Arme weit ausgebreitet , und auch ihre Lippen öffneten sich durstig dem schweren süßen Blütenhauch , der ihr die ferne Heimat vorzauberte .
" Tout l' univers est plein de sa magnificence - Ellen Sürsen , begeistert Sie Athalie so sehr , daß Sie die Absicht haben , nach Jerusalem zu fliegen , oder wozu sonst entfalten Sie die Arme so graziös ?
Wir brauchen keine dramatische Mimik bei unserer Übersetzung ; es genügt , wenn Sie aufmerksam sind ! "
Monsieur hatte das Wort " graziös " stark betont ; die Klasse begann pflichtgemäß über den Witz des Lehrers zu kichern .
Es war ja allgemein bekannt , daß Leni sich in den Sportstunden , die in der Schule erteilt wurden , ungewöhnlich ungeschickt anstellte .
Lenis Heimatstraum war zerflattert ; sie steckte wieder das Näschen in das französische Buch , und die schwarzen Lettern grinsten sie schadenfroh an .
Aber auch jetzt war ihre Aufmerksamkeit nicht von langer Dauer .
Es war gräßlich - die neuen braunen Stiefel , die Tante Jane gekauft hatte , waren entschieden zu klein !
" So plumpes Schuhwerk wie das von deinem Dorfschuster ist es natürlich nicht ! "
Damit hatte die Tante jede Einwendung Lenis , daß die Stiefel drückten , niedergeschlagen .
" Sie werden sich wohl austreten , " hatte auch Leni gehofft , aber die Hoffnung hatte getrogen .
Trotzdem sie nun schon vier Wochen in den Dingern herumlief , preßten sie noch ebenso arg wie am ersten Tage .
" Das hält kein Mensch nicht ut , " dachte sie mit schmerzverzogenem Gesicht in ihrem Heimatsdialekt und begann die Schnüre zu lösen .
Wenigstens den linken Stiefel mußte sie ausziehen ; Monsieur würde es ja nicht merken .
Erleichtert atmete sie dann auf und streckte den Fuß , der in einem grünkarierten Strumpf steckte , nach allen Seiten .
" Du , Ellen , was machst du denn bloß ? " flüsterte erstaunt ihre Nachbarin , die blonde Mai .
" Mein Stiefel drückte mich , da habe ich ihn ausgezogen , " war die Antwort .
Mai preßte das Taschentuch gegen den Mund , um nicht laut herauszulachen .
Leise tuschelte sie dann mit ihrer Nachbarin zur Rechten , und bald wußte es die ganze Bank :
Ellen Sürsen hat ihren Stiefel ausgezogen .
Monsieur wurde aufmerksam .
Er äugte angelegentlich über sein schwarzgerändertes Pincenez , das die ganze Klasse " very interesting indeed " fand , zu der fidelen Ecke hinüber .
" Ich habe für heute die ersten acht Verse auswendig zu lernen aufgegeben ; fahren Sie fort , Ellen Sürsen ! "
Leni erhob sich .
Sie stützte sich dabei mit den Händen auf den Tisch , da ihr linker Fuß nicht ganz auf die Erde reichte , und sah hilfeflehend auf Mai , die stets ihr Retter in der Not war .
Auch diesmal begann Mai den Anfang des vierten Verses , den Leni durchaus nicht behalten konnte , ihrer deutschen Schulfreundin zuzuflüstern .
Aber Monsieur hatte ein besseres Ohr als Leni ; er hörte , daß Mai vorsagte , während Leni achselzuckend auf Mays immer lautere Versuche , sich verständlich zu machen , antwortete .
" Ellen , kommen Sie nach vorn auf das Katheder und sprechen Sie die Verse von hier aus ; ich will wissen , was Sie gelernt haben , nicht aber ob Ihre Nachbarin lesen kann . "
Leni ließ in tödlicher Verlegenheit ihren Federkasten unter die Bank fallen , um im Aufnehmen gleichzeitig den abgestreiften Stiefel wieder anzuziehen .
Aber , o weh , der Stiefel war verschwunden !
Mai hatte sich den Ulk gemacht , ihn unter dem Tisch in der Klasse herumzugeben .
" Meinen Stiefel - my Boot - please - give it back ! " flehte Leni in heller Verzweiflung mit angstgepreßter , gedämpfter Stimme aus der Versenkung .
Ihre Hände streckten sich tastend nach allen Himmelsrichtungen aus .
Aber es dauerte eine Ewigkeit , bis der Stiefel die Rückreise gemacht hatte .
" Na , Ellen , soll ich den Federkasten suchen helfen ? " fragte Monsieur ungeduldig , als Leni gar nicht wieder zum Vorschein kam .
" My Boot - my Boot " - ertönte Lenis ängstliches Stimmchen wieder aus der Unterwelt , zum höchsten Gaudium der Klasse .
Endlich hielt sie den Unglücksstiefel in der Hand .
Nur ' rein , ob er preßte oder nicht !
Aber zuschnüren konnte sie ihn nicht mehr .
Noch krebsrot im Gesicht vom Bücken , humpelte sie mit ihrem offenen Schuh und fest zusammengekniffenen Lippen zum Katheder .
Aber als sie jetzt vorn stand , den Blicken aller preisgegeben , brachen die Mädchen in schallendes Gelächter aus .
Monsieur putzte die Gläser seines Pincenez , Leni zupfte in tödlicher Verlegenheit an ihrem Kleide .
Warum hatte es die Tante auch so kurz machen lassen !
Muttings Regenmantel hätte besser gedeckt .
Wenn sie nur erst den Anfang des vierten Verses gewußt hätte !
Sie konnte eigentlich nur die ersten drei fließend ; der Brief gestern an Karl Heinz war ihr wichtiger gewesen als das französische Gedicht .
Aber Leni ließ sich nicht leicht ins Bockshorn jagen ; dreist begann sie statt des vierten Verses , Athalie wieder von Anfang an herzusagen , in der Hoffnung , daß Monsieur die kleine Mogelei nicht merken würde .
Sie hatte sich nicht getäuscht .
Monsieur war so erstaunt über Lenis eigentümliches Schuhzeug , um das sich die offenen Schnüre wie dünne lange Regenwürmer wanden , daß er trotz des unterdrückten Gekichers der Mädchenschar , nachdem Leni ihre drei ersten Verse wie geschmiert heruntergeschnurrt hatte , ein vernehmliches " bien " hören ließ .
Ein tiefer Atemzug hob Lenis Brust ; sie war für diesmal nicht in der Patsche stecken geblieben .
Aber als sie jetzt an Monsieur vorüber wieder zu ihrem Platz hinkte , ereilte sie das Verderben .
" Man garniert die Kleider in Deutschland doch recht merkwürdig , " sagte Monsieur mit Lächeln und starrte auf Lenis Matrosenkragen .
Leni griff mit der Hand auf ihren Rücken .
O Schrecken , sie hatte dort noch die Übersetzung hängen , welche die hinter ihr sitzende Eveline ihr an den Kragen gesteckt hatte , um besser ablesen zu können !
Monsieur belegte das Papier mit Beschlag , setzte Leni ganz nach vorn in die erste Reihe , um sie besser vor Augen zu haben , und drohte , im Wiederholungsfalle bei der allgemein verehrten Mrs .
Smith Beschwerde zu erheben .
Es war heute kein Glückstag für Leni .
Die nächste Stunde war schwedisch-orthopädische Gymnastik , eine Einrichtung , mit der sich Leni ganz und gar nicht befreunden konnte .
Wie die Sträflinge sahen die Mädel dabei in ihren grauen Leinenkitteln aus !
Die Körperverrenkungen und eidechsenartigen Biegungen kamen ihr geradezu " snacksch " vor , und bei den Atemübungen mußte Leni in einem fort lachen , denn das krabbelte so eigentümlich !
Auch in der darauffolgenden " Graziestunde " erging es ihr nicht besser .
Tante Jane hatte die Lehrerin , Miß Gay , gebeten , auf Leni ein Hauptaugenmerk zu haben , was die Dame denn auch tat .
" Ellen , setze die Füße aufwärts , " sagte Miß Gay nun wohl schon zum zehnten Male .
Leni bekam ihre Nücken .
" Wenn die Hühneraugen drücken , kann man nicht auswärts gehen ! "
Kaltblütig warf sie der entsetzten Dame diese wenig ladyliken Worte an den Kopf , und wenn sich Miß Gay auch nicht der Richtigkeit dieser Behauptung verschließen konnte , wurde Leni doch wegen des ungehörigen Ausdrucks , der durchaus nicht in die Graziestunde hineinpaßte , von dem Tennisspiel ausgeschlossen , das sich immer an diese Stunde anreihte .
Das war übrigens gar keine Strafe für Leni .
Sie beherrschte das Spiel , in dem ihre Kameradinnen alle eine glänzende Fertigkeit zeigten , so mangelhaft , daß sie nur den Lachmuskeln der anderen Anregung gab .
Mit dem Rakett schlug sie in der Luft umher , als ob sie Fliegen fangen wolle , und traf alles andere , nur nicht den vorüberfliegenden Ball .
Außerdem bereitete es ihr Schmerz , daß sie in den absatzlosen Tennisschuhen noch kleiner aussah als gewöhnlich .
Wenn die Graziestunde nur erst zu Ende wäre !
Leni wurde von all den Aussetzungen der Miß Gay an ihrer kleinen Person so kopfscheu , daß sie schon nicht mehr wußte , wie weit es ladylike sei , den Mund zum Sprechen aufzumachen .
Sie sollte zeigen , wie ein junges Mädchen in den Besuchsraum zu treten und fremde Gäste zu begrüßen habe .
Als sie die Tür öffnete , war der Ausdruck ihres Gesichts zu gelangweilt ; er zeigte durchaus nichts von liebenswürdiger Verbindlichkeit .
Als sie dann mit jugendlicher Kraft die Tür hinter sich zuschmetterte , fiel Miß Gay fast in Ohnmacht .
Beim Nähertreten watschelte Leni zu sehr , die Verbeugung war nicht tief genug , und Miß Gay , die den Besuch vorstellte , die kalte Hand zu küssen , das brachte Leni mit Aufbietung aller Willenskraft nicht über sich .
Immer wieder machte die Miß es ihr vor , aber anstatt die Lippen ein wenig zu spitzen und den Kopf anmutig über die gebotene Hand zu neigen , streckte Leni schließlich rekelnd den Oberkörper nach hinten , riß den Mund auf , so weit es nur ging , und gähnte vernehmlich .
Da ließ Miß Gay sie empört stehen : lieber wollte sie einem jungen Bären Grazie beibringen als diesem ungelenken Naturkind und verzichtete auf weitere Versuche .
Prinzesschen .
In Nedderdorf blühten die Rosen zum zweiten Male .
Ein Körbchen am Arm , den breitkrempigen Strohhut zum Schutze gegen die Sonnenstrahlen auf dem Haupte , schritt Frau Lisabeth von einem Rosenbäumchen zum anderen .
Hier schnitt sie eine vollerblühte Rose ab , stützte dort einen sich unter der Last seiner duftigen Blüten neigenden Zweig und zog mit Ausdauer gegen die häßlichen Raupen und das schädliche Ungeziefer , die Feinde der lieblichen Blumenkinder , zu Felde .
" Weidmanns Heil , Mutig !
Weißt du auch , daß du dich des Jagdfrevels schuldig machst ?
Wir haben jetzt Schonzeit , " tönte es neckend über das Staket .
In hohen Stulpenstiefeln und heller Leinenjoppe kam der Gutsbesitzer von seinem Rundgang über die Felder heim .
Er fuhr sich mit dem Taschentuch über das braunrote erhitzte Gesicht .
" Was 'ne Hitze !
Das setzt heute noch ein ordentliches Wetter !
Wenn wir nur erst das Heu trocken herein hätten !
Die Knechte legen sich ja ordentlich ins Geschirr , aber die Lupinenfelder sind nun auch alle zum Schneiden reif . "
Er sah besorgt zum weißlichgrauen Himmel auf .
" Man weiß nicht , wo man jetzt in dieser Zeit Hände genug hernehmen soll ; diese vertrackten Bäder und Seehotels , die uns unsere Dorflüd Fortschnappen ! "
Frau Lisabeth kannte zur Genüge das Lieblingsthema ihres Mannes , das er morgens , abends und mittags erörterte .
Aber sie war viel zu sehr Landwirtin , um die ernste Besorgnis des Gatten heute nicht zu verstehen und zu teilen .
" Waldemar , " sagte sie überlegend , " ich werde dir die Hofmägde zum Heuen schicken .
Die Mamsell , Dörthe und Gusting können ja Mal heute die Milchkammern und das Buttern übernehmen ; im Hause werde ich mit Fräulein und Mary schon nach dem Rechten sehen .
Will gleich Mal an die Mobilmachung gehen ! "
Damit füllte sie ihr Körbchen mit weißen und roten Rosen vollends und schritt dem Gutshaus zu .
" Mutig , du bist der vernünftigste Mensch , der in Weiberröcken einherläuft , " lobte Herr Waldemar Sürsen , voll Stolz auf seine tüchtige Gattin blickend .
Auf der untersten Stufe der Leiter , die gegen den Heuboden lehnte , erwischte Frau Lisabeth einen kleinen Hosenmatz .
Hänschen war dem Fräulein beim Anziehen ausgekniffen und versuchte nun mit seinen dicken Beinchen vergebens , die Leitersprossen zu erklimmen .
Die Strümpfe hingen ihm herunter ; er war ohne Bluse und ungekämmt .
" Aber Jung , was soll das wohl heißen ?
Du bist ja noch gar nicht angezogen !
Mache , daß du hinauf ins Kinderzimmer kommst ! "
Mutig schob den Kleinen wie einen Ballen vor sich her .
" Fräulein wäscht doch erst Fränzchen , " rechtfertigte Hänschen weinerlich seine Frühpartie ; der Kindermund verzog sich viereckig .
" Und Mary , die euch beim Anziehen helfen soll , wo steckt denn das Mädel ?
Konnte sie nicht acht auf dich geben ? "
Auf der untersten Stufe der Leiter erwischte Frau Lisabeth einen kleinen Hosenmatz .
" Ach die ! " antwortete Hänschen verächtlich .
" Die liegt ja im Bett und schnarcht noch doller als Cäsar .
Fräulein hat gesagt , sie ist eine faule Lise ! "
" Was ? "
Vating zog die Uhr .
" Sieben ist_es vorbei und die Dirn liegt noch in den Federn ?
Jetzt im Hochsommer ?
Je , das ist denn doch 'n bisschen zu stark !
Solche Stadtmoden wollen wir bei uns nicht einführen .
Ich weiß schon , was du sagen willst , Mutig , " wehrte er ärgerlich ab , als Frau Lisabeth ihn zu unterbrechen versuchte .
" Das ist , meiner Meinung nach nicht richtig , wenn ihr der Arzt langes Schlafen verordnet hat .
» Mit der Sonne auf und mit der Sonne wieder ins Bett « , so lautet der Landmannsspruch .
Wie soll denn die Dirn Saft und Kraft in die Knochen kriegen , wenn sie bis Mittag im Nest liegt ?
Dann sieht man natürlich so käsig aus !
Am liebsten möchte ich sie mit dem Gartenschlauch aus dem Bett spritzen . "
" Ach ja , und ich nehme die Gießkanne , Vating ! " rief Hänschen , sich für die Idee begeisternd .
" Bei der heutigen Temperatur wäre das nicht Mal eine Strafe , " erwiderte der Vater lachend und seinen Humor schnell wiederfindend .
" Auf , eine Bombenhitze ! "
Er ging mit schweren Schritten über den sonnendurchglühten Hof .
Droben in dem kleinen Zimmer , das Mary mit Fräulein bewohnte , waren die dunklen Vorhänge noch fest zugezogen , Fräulein machte zwar stets hell , wenn sie ins Kinderzimmer ging , damit Mary den Weg aus dem Bett finde ; aber Mary hielt das für höchst rücksichtslos .
Kaum war Fräulein draußen , so erhob sich Mary wie eine Nachtwandlerin , machte mit geschlossenen Augen wieder dunkel , und im nächsten Augenblick schlief sie schon wieder , unbekümmert um das Heulen und Schreien , das beim Waschen aus der Kinderstube schallte .
Sie träumte gerade wunderschön .
Fünf " Gams " hatte sie bereits hintereinander beim Tennis gewonnen , und Nelly Johnsen barst vor Neid - da flutete mit einem Male eine blendende Helle in das verdunkelte Zimmer .
Mit ärgerlichem Grunzen zog Mary das Federbett , an das sie sich allmählich gewöhnt hatte , bis über den Kopf und versuchte weiterzuträumen .
Unbedingt mußte sie das sechste noch haben , sie mußte das gewinnen !
Aber Tante Lisabeths rasche Hand brachte Mary aus dem Traumland schnell in die Wirklichkeit zurück .
Das Deckbett flog mit kräftigem Schwunge zu Marys Entrüstung auf den nächsten besten Stuhl und Tante Lisabeth rüttelte die junge Langschläferin gehörig am Arm .
" Dirn - Mieze - Mary - so wach doch auf , Kind !
Schämst du dich denn gar nicht , jetzt noch im Bette zu liegen ?
Selbst klein Suschen ist schon fix und fertig .
Und so eins will meine Haustochter sein , solch ein verwöhntes Prinzeßchen !
Schnell , zieh dich an ; ich habe heute alle Hände voll zu tun .
Du mußt mir helfen . "
Damit zog die Tante Mary der Vorsicht halber auch noch das Kopfkissen fort , womit Mary sich vergeblich zu bedecken suchte .
" Oh - ich habe kalt , ich friere - ich werde mir bekälten , " wimmerte sie .
Tante herzliches Lachen verdroß die müde Mary noch mehr .
" Mädel , fünfundzwanzig Grad Celsius haben wir bereits im Schatten und dabei frieren ?
Du kommst wohl vom Äquator ? "
Aber Mary war durchaus noch nicht für Scherze zugänglich .
" Ich schäme mir , " brummte sie erbost und zog die Füße unter das Nachthemd .
" Hast auch allen Grund dazu , Faulpelz !
Höre nur , wie die Gören dich auslachen ! "
Aus dem Kinderzimmer ertönte eine weniger melodische als durchdringende Musik ; man brachte der faulen Mary ein Ständchen .
In langgezogenen Tönen bliesen sie auf Kämmen das militärische " Wecken " , Karl Heinz den Zwillingen voran .
Dieses Frühkonzert verbesserte Marys Laune nicht .
Als Tante Lisabeth mit einem eindringlichen :
" In zwanzig Minuten wünsche ich dich am Frühstückstisch zu sehen ! " das Zimmer verließ , überlegte das Backfischchen allen Ernstes , ob es sich die entrissenen Bettstücke nicht wieder holen sollte .
Aber die Tante hatte sich bei Mary in den zwei Monaten des Landaufenthaltes in Respekt zu setzen gewußt ; sie wagte eine so offenbare Widersetzlichkeit nicht .
Murrend entschloß sie sich also zum Aufstehen .
Mary hatte sich auf Nedderdorf doch schon ein wenig verändert .
Die blassen Wangen begannen eine leichte Röte zu zeigen , die Augen blickten lange nicht mehr so matt wie früher , und das Überschlanke ihrer langen Figur fing an , sich zu runden .
Auch die Haartracht war anders , Tante Lisabeth hatte es durchaus nicht zugegeben , daß Mary an Wochentagen mit gelöstem Haar wie eine Theaterprinzessin einherlief .
Das Fräulein flocht daher das lichtblonde Haar zu einem dicken Zopf , und Karl Heinz und die Zwillinge betrachteten es als ihr gutes Recht , bisweilen daran ein wenig zu läuten .
Wozu bammelte der Zopf denn auch sonst den Rücken herunter !
Aber zu einer Schürze konnte Mary sich immer noch nicht entschließen ; dazu bedurfte es stets noch einer unmittelbaren Aufforderung von Seiten der Tante .
Der Frühstückstisch war bereits abgeräumt .
Mary hatte in der noch schattigen Veranda Platz genommen und schon dreimal nach dem Stubenmädchen geläutet .
Niemand kam .
Schlechtes Personal hatte die Tante ; ein solches Bauernmädchen wie diese Gusting würde ihre Mama keine Woche im Hause behalten !
Mary läutete Sturm .
An der Frühstücksmilch lag ihr ja herzlich wenig ; da sie stets als letzte am Kaffeetisch erschien , wanderte der immer noch verhaßte Trank meistens denselben Weg wie am ersten Tage .
Aber sie hatte Hunger ; es war doch wahrhaftig jetzt spät genug !
Auf der Verandaschwelle erschien mit erhitztem Gesicht Tante Lisabeth .
" Dirn , was für einen Lärm machst du denn ?
Wo fehlt_es denn , Mary ? "
" Ich habe kein Breakfast , Gusting kommt nicht , " antwortete Mary vorwurfsvoll .
" Vielleicht holt das Prinzeßchen sich die Milch Mal selbst ?
Gusting ist beim Buttern ! "
Die sonst so freundliche Tante befand sich heute in einer etwas erregten Hast , " Und das reine Pikeekleid hätte ich mir morgens früh auch noch nicht angezogen , Mädel ; du sollst mir doch helfen ! "
" O - ich kann arbeiten auch sofort ; ich habe nun gar keine Hunger mehr ! "
Mary kam sich wie eine Märtyrerin vor .
" Zum Essen muß man sich Zeit nehmen , Kind , " lenkte die Tante ein .
" Frühstücke und dann komme zu mir in die Küche ; wir wollen Mal heute beide die Köchin spielen .
Aber eine Schürze bitte ich mir aus , " sagte sie noch in der Türe .
Kochen , in der Küche helfen , das war etwas Neues für Mary , wenn es ihr auch durchaus nicht ladylike schien .
Folgsam band sie eine große Schürze der Tante - sie selbst besaß keine - über das weiße Kleid , schlang geschwind eine Honigsemmel hinunter , goß die Milch zur Abwechslung Mal in die weißen Kletterrosen und trat erwartungsvoll in die große Küche im Kellergeschoß .
Eine erfrischende Kühle umfing sie nach der Glutenden Schwüle draußen .
" So , Mary , komme man her ; du kannst hier gleich Mal lernen , wie man Tauben ausnimmt .
Paß auf , Dirn ; die drei letzten darfst du dann allein machen . "
Geschickt förderte die Tante mit Daumen und Zeigefinger die Eingeweide der Vögel ans Licht .
Pfui !
Die junge Engländerin trat einen Schritt zurück , verzog das Gesicht , wickelte die zarten Hände in die Schürze und sah mit mißtrauischen Blicken dem Treiben der Tante zu .
" Tat is eine Ekel to me ; I cannot reinmachen die Taubes ! "
Damit wandte sie sich angewidert dem Ausgang zu .
Die Tante lachte .
" Kind , Karl Heinz hat wirklich recht , wenn er dich nur noch » Prinzeßchen « ruft ; du kannst das dem Jungen nicht verübeln .
Solltest Mal sehen , wie die Leni alles frisch anpackt ! "
Muttings Gedanken flogen sehnend in die Ferne .
Mary schürzte die Lippe .
" Leni - ich bin nicht Leni ! "
Gott sei Dank nicht - vollendete sie heimlich und griff in die Kleidertasche .
Da knisterte Bobbys Brief , in dem er Mary von den haarsträubenden Sachen erzählte , die Leni dort anstellte .
Und so eine wurde ihr auf Schritt und Tritt als Muster vorgehalten ?!
" Na , also mit dem Geflügel ist es nichts , Mary ; dann muß ich dir eine andere Beschäftigung anweisen .
Du kannst die Speise für heute mittag einrühren ; das ist eine leichte , hübsche Arbeit .
Aber erst gehe Mal nach dem Hühnerstall , meine Dirn , und sieh zu , was an frischen Eiern da ist .
Fräulein wird gleich Suschens Frühstücksei verlangen .
Nimm dir das Henkelkörbchen mit , Kind ! "
Die Tante kochte in einem großen Kessel die Suppe für die Leute .
Mary schlenderte langsam dem Geflügelhof zu .
Die brütende Hitze lähmte jede schnellere Bewegung .
Vorsichtig lugte sie erst über den Zaun , ob von dem noch immer gefürchteten Truthahn auch nicht Gefahr drohe .
Aber selbst dem war es heute für dergleichen zu heiß ; zu einem riesigen Federball aufgeplustert lag er im Schatten der Dachrinne .
Nur die Täubchen gurrten in dem blendend weißen Sonnenlicht .
Im Hühnerstall blieb das junge Mädchen unschlüssig stehen .
Der durchdringende Geflügelgeruch war ihrem an feines Parfüm gewöhnten Näschen höchst unbehaglich , und nun kam noch das Schlimmste :
sie mußte unterhalb einer Treppe , die nach oben führte , im Halbdunkel in den verschiedenen Heinestern nach Eiern suchen !
Es war einfach gräßlich , was die Tante alles von ihr verlangte !
Herzklopfend näherte sie sich der dunklen Ecke .
Gag - Gag - Gag - Gag - Gag - mit lautem Gackern flog eine aufgescheuchte Henne vor ihr auf .
Die junge Heldin stieß einen markerschütternden Schrei aus und stürzte zur Tür .
" Good God - die Stalltür war hinter ihr ins Schloß geschnappt , und ob Mary auch mit Leibeskräften an dem schweren Eisenriegel drückte , zog und rüttelte , der tückische Mechanismus wich und wankte nicht !
Sie war in dem dunklen Hühnerstall eingesperrt , allein mit der flatternden Henne und ihren leise glucksenden , vorläufig noch unsichtbaren Kolleginnen .
Als in Mary diese furchtbare Gewißheit aufdämmerte , begann sie wie eine Besessene gegen die Tür zu schlagen .
Vergebens , der sonst stets belebte Hof lag heute wie ausgestorben da ; alles war draußen auf den Wiesen zum Heuen .
Gräßliche Vorstellungen jagten sich in Marys erregtem Kopf .
Wenn man sie nicht vermißte , wenn niemand sie suchen kam , und sie den ganzen langen Tag hier mit den fürchterlichen Tieren zubringen mußte ! Just heaven , am Ende auch noch die dunkle Nacht allein an diesem schaurigen Orte !
Kalter Schweiß perlte auf Marys Stirn .
Alles , was sie jemals von den Schrecken des Hungertodes gehört hatte , wurde in ihrer angsterfüllten Phantasie lebendig .
Ja , so würde es sein !
Man fand sie zu spät , wenn sie bereits den Hungerqualen erlegen war .
Was für Vorwürfe würde Tante Lisabeth sich machen , daß sie selbst sie in den frühen Tod gejagt hatte , und Karl Heinz , der sie in einem fort neckte und foppte und ihr schon manchen Schabernack gespielt hatte !
Es lag etwas Schmerzlichsüßes darin , sich diese Trauergefühle der anderen auszumalen .
Aber die grausige Wirklichkeit ließ sich nicht hinwegtäuschen .
Im Stroh begann es zu rascheln - o Himmel - das waren sicher Ratten und Mäuse !
Mary hielt den Atem an und schloß die Augen .
Durch die dünnen Holzlatten drang das satte Grunzen der Schweine vom Nebenstall an ihr gespannt lauschendes Ohr , und dazwischen ein deutliches Knistern .
Es kam näher , und wieder begannen Marys schwache Hände die Stalltür zu bearbeiten .
Sie sah nicht , daß drei Hühnerköpfchen sich scheu aus den Nestern hoben und die ganze kleine Gesellschaft sich aus Angst vor dem großen Menschenkinde in dem äußersten Winkel zusammenscharte ; sie hörte nur das fortwährende Rascheln und Knistern .
Doch jetzt - ein tiefer Atemzug hob Marys gepreßte Brust - eine unmelodische Knabenstimme ließ sich vernehmen !
Wie Engelssang erklang ihr das nichts weniger als schöne Lied :
Wenn der Pott aber nun 'n Loch hat , lieber Heinrich , lieber Heinrich - Stopp zu , liebe , liebe Liese , liebe Liese , stopp zu !
" Karl Heinz - Karl Heinz - help me - Hi-i-i-lfe - "
Das Lied verstummte .
War Karl Heinz weitergegangen , ohne sie zu hören ?
Nein , die Zauntür zum Geflügelhof quietschte , Schritte hallten , kamen ungewiß näher und entfernten sich wieder ; Karl Heinz lauschte auf die Stimmrichtung .
" Hier - come here - ich bin in die Hühnerstall versperrt , " schrie Mary mit gellender Stimme .
Karl Heinz , der vom Herrn Kantor Hitsferien bekommen hatte , stellte sich breitspurig , die Hände in den Hosentaschen , vor die Stalltür .
" Guten Dag ok , Prinzeßchen , " sagte er gemütlich lachend , " nanu , wie kommen denn Euer Gnaden in den Stall ? "
" Mache auf - laß mir out - please - " heulte Mary .
" Was kriege ich denn ? " leitete Karl Heinz die Unterhandlungen ein .
" What you like - ich lerne dir Tennis - und I shall give you meiner drei India Markens und - und - auch eine Kuß , " setzte sie mit Überwindung hinzu .
Karl Heinz lachte nicht gerade höflich .
" Eine danke , Prinzeßchen , deine Kuß kannst du dir sauer kochen ; aber einen Riß sollst du mir in meiner neuen Jacke zunähen , ja , daß Mutig nicht erst was merkt . "
Karl Heinz war ein schlauer Junge .
Mary versprach hoch und heilig , sämtliche augenblicklichen und künftigen Risse auszubessern , und mit einem geschickten Griff flog der Riegel zurück .
" Boy - dear boy - Oh - ich danke dich mit all mein Herz ! "
Die sonst eiskalte Mary hatte beide tintenfingerige Hände Karl Heinz' ergriffen .
Verdutzt sah der Junge in ihr tränenüberströmtes Gesicht .
" Dirn - ja warum hast du dir denn nicht selber aufgemacht ? " fragte er erstaunt .
" Das Riegel ging nicht auf - es war dreadful , meine Fingers sind zu zart und schwächlich . "
" Prinzessin ! " Verächtlich stieß Karl Heinz , der noch eben warmes Mitleid mit der weinenden Mary empfunden hatte , ihre Hände von sich .
" Mondscheinprinzeßchen , hast du wenigstens inzwischen die Eier in deinen Korb aufgeklaubt ? "
" Mache du_es , Karl Heinz - dear Jung - ich tue nicht wieder gehen in das Stall all my liefe , " flehte Mary .
Der gutmutige Vetter ergriff das Körbchen und brachte es ihr , mit sechs frischen Eiern gefüllt , wieder zurück .
" Nun gehe man sacht , Prinzeßchen , daß du sie heil hereinbringst ; wenn du nicht schnell machst , kochen sie dir hier in der Sonne ! "
Karl Heinz folgte ihr zur Küche .
" Dirn , ich wollte eben nachsehen ob du etwa den Sonnenstich bekommen hast ; für so 'ne Köchin bedanke ich mich ! "
Mit diesen Worten empfing sie die Tante .
Mary schwieg verlegen .
" Je , Mutig , Mary hat es im Hühnerstall so gut gefallen , daß sie durchaus nicht wieder heraus wollte ; ich mußte sie mit Gewalt holen , " antwortete der Vetter neckend auf der Mutter Frage .
Mary blinzelte ihm bittend zu , seinen Mund zu halten , und Karl Heinz war nett genug , die unfreiwillige Gefangenschaft seiner Cousine nicht zum besten zu geben .
" Nun aber Fixing , Mary , wenn du die Speise noch rühren willst ; mache 'n beten tau !
Hier ist das Rezept ; es ist ganz leicht . "
Tante Lisabeth drückte Mary einen Topf und den Schneeschläger in die Hand und begann wieder emsig am Herd zu schaffen .
Mary blickte unsicher auf den Zettel ; sie hatte keine blasse Ahnung , in welcher Weise sie Eier , Zucker und Wein miteinander vermischen sollte .
" Komme , Prinzeßchen , ich werde den Küchenjungen spielen , " sagte Karl Heinz , um ihr aus der Klemme zu helfen .
" So viel wie du werde ich ja wohl auch noch von dem Rummel verstehen . "
Er schlug geschickt die Eier auf und sonderte Weißes und Gelbes .
" So - acht Eier , die hätten wir ; das ist eine lustigere Arbeit , als lateinische Verba zu konjugieren .
Jetzt kannst Schnee schlagen , Prinzeßchen .
Aber du frierst wohl gar , was ? "
Er sah voll Staunen , daß Mary graue Leinenhandschuhe über die Hände gezogen hatte .
" Oh no - aber eine vornehme Lady arbeitet niemals im Haushalt ohne Handschuhe , das verderbt der weiße Haut . "
Mary begann langsam die Schneerute in Bewegung zu setzen .
" Verziertes Ding , " knurrte Karl Heinz .
" Wenn du so dösig den Schnee schlägst , gibt es eher draußen welchen als hier drinnen ; forsch mußt du schlagen ! "
Dem empfindlichen Backfischlein waren die Tränen in die Augen getreten ; es kränkte Mary , daß Karl Heinz sich immer über ihre vornehme Art lustig machte , und über sein ständigem " Prinzeßchen " ärgerte sie sich heimlich mehr , als sie gestehen wollte .
Mit einem Ruck streifte sie die Handschuhe wieder ab und begann mit aller Kraft auf das Eiweiß loszuschlagen ; sie wollte dem " silly boy " zeigen , daß sie auch etwas verstand . O weh !
Mit lautem Geklirr flog der Topfboden auf die Küchenfliesen , und das Eiweiß rann an Marys Schürze hinab .
Sie hatte ihre Sache zu gut gemacht : der Boden des Topfes konnte ihren Anstrengungen nicht standhalten .
Karl Heinz lachte aus vollem Halse , und auch Mutig stimmte ein , als sie Marys hilfloses , verdutztes Gesicht sah , während sie sich krampfhaft den bodenlosen , rinnenden Topf vom Leibe hielt .
" Ihr seid mir zwei nette Köche !
Nun werde ich es selbst machen , Gören , sonst muß noch meine ganze Wirtschaft an Marys Kraftproben glauben . "
" Auch Mutig , " bettelte Karl Heinz , " wir wollen's schon fertig bringen ; laß uns noch einmal versuchen ! "
Er ging aufs neue ans Werk .
" Prinzeßchen , hole den Wein , fünf Eßlöffel brauchen wir ; Mutig hat ihn schon drüben auf den Tisch gestellt , " sagte er dann. O weh !
Mit lautem Geklirr fiel der Topfboden auf die Küchenfliesen .
Die ganz geknickte Mary hatte nur halb zugehört .
Sie ergriff irgendeine Flasche , die auf dem Fensterbrett stand , und goß davon in die schöne gelbliche Maße .
" Kosten ist die Hauptsache , " verkündete Karl Heinz und schwenkte den Löffel , " du darfst zuerst , Prinzeßchen . "
" Brr ! " Mary schüttelte sich .
" Du hast der Zucker vergessen , Boy . "
" Aber nee , da is ja 'n ganzes halbes Pfund in , genau nach Vorschrift , " antwortete Karl Heinz , seine Kochkunst verteidigend , und kostete selber .
" Brr ! - Mutig , komme doch bloß Mal eben her ; die Speise wird gar nicht süß ! " rief er .
Mutig ließ ihren Braten im Stich .
Sie brauchte bloß zu riechen .
" Aber Kinnings , da ist ja Essig mang , und noch dazu scharfer Essigextrakt !
Wer von euch hat denn das nun wieder fertiggebracht ?
Ihr macht doch zehnmal mehr Arbeit , als ihr helft .
Nun aber ' raus mit euch !
Mary , schicke mir Fräulein her und nimm dich inzwischen der Gören an ; sorge , daß dem Suschen nur nichts geschieht !
Zu irgend etwas wird eine so große Dirn doch wohl nütze sein !
Kannst ja das Kleine in den Sportwagen setzen und ins Wäldchen fahren ; da ist_es am kühlsten .
Aber ja nicht weiter , hörst du wohl ? "
Frau Lisabeth seufzte ; sie brachte ihrem Mann doch ein großes Opfer , daß sie die Leute alle ins Heu geschickt hatte .
Mary war mißgestimmt ; sie schämte sich ihrer Fehlgriffe vor dem jüngeren Vetter .
Wenn nur der Onkel nichts von ihrer Essigspeise erfuhr !
Das gab sonst endlose Neckereien .
Sie war überhaupt ärgerlich .
Mir nichts dir nichts machte sie die Tante bald zum Küchenmädel , bald zur Kinderbonne , wie es ihr gerade paßte !
Sie war doch zu ihrer Erholung aufs Land geschickt worden !
Aber als Mary nun Baby auf dem Schoße hielt , und der kleine Liebling ihr immer wieder mit den dicken Fingerchen in das Blondhaar griff und das nasse Mäulchen zärtlich an ihre Wange wischte , da verflog des jungen Mädchens garstige Laune im Umsehen .
Baby war ihr Abgott ; immer schon hatte sie sich eigentlich gewünscht , Baby Mal ganz allein für sich zu haben , aber Tante war stets zu ängstlich .
Jetzt sang und lachte sie mit dem süßen , kleinen Ding , daß niemand mehr ihr brummiges Gesicht von vorhin wiedererkannt hätte .
Fränzchen und Hänschen , die beide auf dem Fliegenfang waren , kamen langsam näher ; so ausgelassen hatten sie die große Cousine noch nie gesehen .
Suschen juchzte und krähte , daß es eine Lust war , und als Mary ihr jetzt den weißen Helgoländer zum Schutz gegen die Sonne auf die krausen Haare setzte , sagte sie deutlich : " Ada , " und zeigte dabei ihre vier funkelnagelneuen Zähne .
" Boys - kommt , wir sollen gehen in the U-äldken . "
Mary stülpte den blauen Leinenhut auf und nahm Baby auf den Arm .
Hänschen und Fränzchen griffen zu Schmetterlingsnetz und Botanisiertrommel und folgten , einander stoßend und knuffend , dem Sportwagen .
An der Wagenremise blieben die Zwillinge zurück , Mary merkte es nicht .
Sie strebte danach , so schnell als möglich den schattengebenden Ahornweg zu erreichen , der ins Wäldchen führte .
Kein Lüftchen regte sich ; wie ein großer Dunstball hing die Sonne am bleiweißen Himmel .
Hänschen und Fränzchen fühlten nichts von der lähmenden Temperatur .
Sie hatten eine Entdeckung gemacht .
Der alte Jürgens hatte vergessen , seine Farbentöpfe fortzuräumen , mit denen er Ausbesserungen an Hof- und Hausgeräten vornahm .
Einträchtig standen die blauen , gelben , roten und grünen Gefäße nebeneinander .
" Wir wollen Maler spielen , " schlug Fränzchen vor , und im Nun waren Mary , Suschen und das Wäldchen vergessen .
" Au ja - fein !
Was wollen wir malen ?
Ob sich Jürgens wohl freut , wenn wir Cäsars Hundehütte anstreichen ? "
" Nee , " war Fränzchens einsilbige Antwort ; er sah sich nach einem anderen Kunstobjekt um .
" Was meinst zu der ollen grauen Regentonne ?
Die könnte man fix feuerrot anmalen , und dann spielen wir damit Sprengwagen .
Unserer , den Vating aus Hamburg mitgebracht hat , ist ja man so lütt . "
Hänschen begann bereits an der zu so Großem ausersehenen , bedenklich wackelnden Tonne emporzuklettern .
Aber Fränzchen zog ihn energisch an den kurzen dicken Beinen wieder auf die weiße Erde herunter , die das Glutgeflimmer der Sonne zurückzustrahlen schien .
" Nee , laß man , ich weiß was viel famoseres .
Wir spielen Struwwelpeter .
Unsere ollen Leinenkittel sind nicht 'n bisschen fein ; die kleinen Jungs im Struwwelpeter sehen alle so nüdlich aus .
Ich will auch so 'n hübschen bunten Anzug anhaben .
Man los ! "
Damit tauchte er den Pinsel kräftig in das Zinnoberrot .
Die gelblichgrauen Pumphöschen seines Zwillingsbruders , die unschuldig unter dem Faltenkittel hervorlugten , begannen sich seltsam zu färben .
Feuerrote Striche , Kleckse und Farbenbächlein ergossen sich darüber , und betroffen schaute Hänschen auf die eigentümliche Verwandlung , die mit seinen Beinen vorging .
Dann aber machte auch er kurzen Prozeß .
Er griff zu dem grasgrünen Pinsel , mit dem die Fensterladen ausgebessert worden waren , und bemühte sich nun seinerseits ebenfalls , Fränzchens Untergestell einer leuchtenden Wiese möglichst ähnlich zu machen .
Breitbeinig standen sich die kleinen Künstler gegenüber , ganz in das heilige Schweigen ihrer hehren Kunst vertieft .
Dicke Schweißtropfen , von dem eifrigen Schaffensdrange und der brennenden Mittagsglut erzeugt , rannen ihnen über die heißen Gesichter .
Mit breitem Grinsen sah Frau Sonne auf das seltsame Bild in dem Gutshof herab ; solange sie die Erde beschienen , hatte sie nichts so Lustiges geschaut .
Hei , da war sie auch dabei , da wollte sie auch mittun !
Und sie schickte ihre heißesten Strahlen zu den drolligen kleinen Burschen hernieder , damit die schönen roten und grünen Höschen auch recht schnell trockneten .
" Auf , " stöhnte Fränzchen , wie er es von Vating oft gehört hatte , richtete sich aus seiner gebückten Stellung auf und wischte sich mit dem Jackenärmel Stirn und Nase .
" Das ist 'ne Arbeit !
Aber macht nix ; fein wird_es ! "
Frohlockend besah er sein Werk , Hänschen wie einen Kreisel herumdrehend .
" Unterwärts siehst du nun schon ganz aus wie Hans Guckindieluft ; willst oben nun der Suppenkaspar werden ?
Der ist blau , oder vielleicht lieber der Konrad ? " erkundigte sich Fränzchen angelegentlich .
" Nee aber - du bist wohl - den Konrad mal ich doch gerade ! "
Hänschen schwenkte den Pinsel mit zitronengelber Ölfarbe kriegerisch in der Luft umher und zeigte nicht übel Lust , auf seinen Kunstkollegen loszugehen .
" Na , dann wirst du eben der Kaspar , " entschied Fränzchen , der heute in merkwürdig friedfertiger Stimmung war , " von Blau ist noch viel da ; da hat Jürgens den Leiterwagen mit gestrichen .
Man tau ! "
Wieder hörte man eine geraume Weile nichts weiter , als das leise Klackern der Farben und das unterdrückte Schnaufen und Pusten der beiden kleinen Maler .
" Au nicht doch - nicht die Haare - laß sein , laß los - ich krieg ja das olle Zeug all ins Gesicht , " schrie Fränzchen plötzlich wie besessen .
Hänschen ließ sich nicht stören .
" Konrad hat blonde Haare , " meinte er mit Gemütsruhe und bearbeitete den dunklen Schopf seines Brüderchens menschenfreundlich weiter mit dem Pinsel .
Aber was zuviel ist , ist zuviel !
Fränzchen hob das glühende Gesicht , über das ein breiter gelber Streifen lief , zornig empor , riß sich von Hänschen , dem Haarkünstler , los und streckte die kleinen Arme boxbereit .
Im Verlauf einer weiteren Sekunde hielten sich die beiden hoffnungsvollen Kunstjünger aufs innigste umschlungen , eifrig bemüht , den anderen möglichst schnell die Bekanntschaft mit Mutter Erde machen zu lassen .
Schweigend rangen sie miteinander , unbekümmert darum , daß sich gelbe , grüne und rote Farbenbächlein um sie herum über den staubigen Boden ergossen .
Suppenkaspar und der Daumenlutscherbub kämpften ergrimmt in der drückenden Schwüle .
Was hätte Frau Sonne erst zu diesem Anblick gesagt !
Die jedoch machte inzwischen hinter schwefelgelben Wolkenvorhängen ihr Mittagschläfchen .
In dem Türrahmen des Wirtschaftsgebäudes erschien jetzt Mutig und blickte besorgt in die unheilvollen Wolkengebilde .
" Das gibt ein böses Wetter , " murmelte sie vor sich hin .
Ihr Auge glitt über den stillen Hof , wo nur Mary mit den Gören blieb ?
Da - die Haare standen ihr plötzlich vor Entsetzen fast zu Berge .
Grundgütiger Himmel , waren das ihre Lütten , die beiden farbenprächtigen Stieglitze da drüben an der Wagenremise , die mit krebsroten Gesichtern gegeneinander zu Felde zogen ?
Mutig fackelte nicht lange ; mit schnellen Schritten stand sie neben den kleinen Missetätern , und im nächsten Augenblicke brannten zwei kräftige Ohrfeigen auf den Wangen der kunstbeflissenen Zwillinge .
Das mütterliche Gewitter entlud sich rascher als das himmlische .
Es schlug sogar ein .
" Herr du mein - die schönen neuen Anzüge !
Na , laßt Vating man kommen !
Nein , solch nichtsnutzige Gören !
Wollt ihr wohl auseinander , ihr Vagabunden , ihr ? "
Sie versuchte die beiden kleinen Ringkämpfer zu trennen .
Das war aber leichter gesagt als getan , denn das gelbe Röckchen des Konrad und das leuchtend blaue des Suppenkaspar klebten fest aneinander ; die Ölfarben waren während des Krieges eingetrocknet .
" Rauf mit euch ins Kinderzimmer !
Fräulein soll euch Haare , Gesicht und Hände mit Terpentin waschen ; die teuren Anzüge können wir wegwerfen .
Und dann werdet ihr zur Strafe ins Bett gesteckt , verstanden !
Solche böse Jungs mag ich heute den ganzen Tag nicht mehr vor Augen sehen . "
Mit lautem Geplärr trollten sich Hänschen und Fränzchen , eng aneinander geschmiegt wie die siamesischen Zwillinge .
" Wo steckt denn die Mary ?
Hat die so schlecht acht auf euch Rangen gegeben ? " rief die Mutter noch hinter ihnen drein .
" Mary ist doch mit Suschen im Wäldchen , " heulten beide Kleinen wie aus einem Munde .
Mutig legte die Hand über die Augen und spähte den Ahornweg entlang .
Keine Spur von Mary und dem Sportwagen ; nur der starke Wirbelwind , der Vorbote des Gewitters , trieb Staubwolken vor sich her .
" Mary ist ja kein Kind mehr ; sie sieht das drohende Wetter doch so gut wie ich , " tröstete Frau Lisabeth ihr unruhig schlagendes Herz .
Durch das weitgeöffnete Hoftor holperte der erste hochbeladene Heuwagen .
Hinter ihm sprengte der Gutsbesitzer auf seinem Fuchs daher .
" Das kommt fixer , als man dachte , Mutig , " rief er , abspringend und einem Knecht die Zügel zuwerfend .
" Na , viel Schaden kann es heute nicht mehr anrichten ; so weit is nun alles tau Reih .
Schließt Fenster und Türen !
Ist das Lüttzeug im Nest ? "
Sein Blick suchte die Kinderstubenfenster .
" Suschen - sie ist mit Mary - "
Der erste dumpf grollende Donnerschlag machte Frau Lisabeth verstummen .
Aber sofort kam wieder Leben in die Mutter .
" Suschen , mein Lüttes - " wieder verschlang der rollende Donner den Rest .
Der Gutsbesitzer aber sah sein verängstigtes Weib kurz entschlossen den Rock zusammenraffen und den Weg zum Wäldchen entlangeilen .
Der Sturm zauste ihr unbedecktes Haar ; schwere Regentropfen schlugen ihr in das erhitzte Gesicht .
Mit langen Schritten war er an ihrer Seite .
" Lisabeth , Mutig , gehe zurück , Kind ; ich will sie dir schon bringen .
Aber hat denn die Dirn , die Mieze , so wenig Grütze im Deetz , daß sie nicht von allein nach Haus kommen kann ?
Da Schlag denn doch ein Don- - "
Ein schwefelgelber Zickzack zuckte dicht vor ihnen hernieder ; wildes Krachen in den Lüften begleitete ihn .
" Waldemar , versündige dich nicht !
Gott sei unserem Kinde gnädig ! "
" Gehe zurück , Lisabeth , " bat der Landwirt , der sein Weib noch nie so aufgeregt gesehen hatte .
" Du bist völlig durchnäßt , und am Ende sind sie auch inzwischen auf der Landstraße nach Hause gekommen . "
Der letzte Grund war maßgebend ; Frau Lisabeth stürmte wieder zurück .
Karl Heinz stand trotz des peitschenden Regens an der Gartenpforte mit wartenden Augen .
" Nichts , Mutig , " war seine gepreßte Antwort auf die stumme Frage der Mutter .
" Wenn sie sich man nicht beim Gewitter unter einen Baum gestellt hat ; dämlich genug ist die Dirn ja dazu . "
Mit teilnahmsvoll verlegenen Gesichtern standen die Leute im Scheunentor ; in den Ställen erscholl dumpfes Brüllen und aus dem Kinderzimmer tönte ab und zu das stoßweise Schluchzen der Zwillinge .
Die Mutter vermochte nicht ins Haus zu treten ; mit unruhvollen Schritten ging sie unter dem schutzgebenden Gebälk der Kornböden auf und nieder . Hin und wieder machte sich ihr gedrücktes Herz in einem schweren Seufzer Luft .
Starren Auges blickte sie in das wütende entfesselte Element .
Ein Wagen nach dem anderen kehrte von den Wiesen heim .
In dem gelbgrauen Regendunst tauchte eine hohe , breitschulterige Mannesgestalt auf ; der Vater kam allein .
" Noch nicht da ? "
Er spritzte das Wasser von dem Hut .
Frau Lisabeth schüttelte stumm den Kopf ; sie bebte am ganzen Körper .
" Je , da haben sie sicher einen Besuch im Dorf gemacht und sind dort vom Wetter überrascht worden , vielleicht beim Kantor .
Aber kommt mir man tau Hause ! "
Aus den Worten , die scherzhaft klingen sollten , hörte das Mutterherz die bange Sorge .
" Nirgends eine Spur von ihnen , Waldemar ? " fragte Frau Lisabeth tonlos .
Der Landwirt verneinte .
Seine Stimme klang rauh .
Er pfiff Cäsar und schritt wieder in das Unwetter hinaus .
Seine Hand aber griff angstvoll in die Rocktasche .
Dort hatte er den kleinen weißen Kinderschuh verborgen , den er am Rand des Rieds im Wäldchen gefunden hatte .
Ihm schauderte .
Das Ried - das Ried - hatte es ihr Herzblatt und das ihm vom Bruder anvertraute Gut verschlungen ?
Frau Lisabeths Gedanken wanderten dieselben grauenvollen Wege .
Niemals hatte sie des Rieds wegen gebangt ; es war ja den Kindern strengstens verboten , auf jener Seite des Wäldchens zu spielen , oder sie waren dort stets unter Aufsicht .
Aber heute ?
Ihre gequälte Phantasie konnte sich nicht von dieser schaurigen Vorstellung losreißen ; immer sah sie das schwarze gähnende Ried - - - " Holla - stopp ! "
Mit dröhnender Stimme hielt der Gutsbesitzer den letzten Heuwagen an , neben dem der alte Jürgens einherschritt .
" Hast nix von den Gören gesehen , Jürgens ? "
Jürgens kratzte sich den Kopf .
" Wenn der Herr das Fräulein Miß meinen Daud und uns' lüttes Worm , de hew ich seihn . "
" Wo - wo denn ? "
Der Landwirt schüttelte in der Erregung den alten Knecht an den Schultern , daß dieser verdutzt auf seinen sonst immer ruhigen Herrn blickte .
" Kiek der Herr man 'n beten höger ! "
Jürgens wies mit dem Peitschenstiel schmunzelnd zu dem Wagen empor .
Da ragte aus den Heimassen ein blauer Leinenhut empor .
" Mary ! " rief der verängstigte Vater .
Ein verweintes Gesicht , das sich aus Furcht vor den flammenden Blitzen hinter beiden Händen verbarg , hob sich scheu empor .
" Mary . . .
Suschen ? "
Der Vater vermochte nicht mehr zu fragen , " Well - Baby schläft warm hier in Gras - o , ich fürchte so der Gewitter ! "
Wieder vergrub Mary das Gesicht .
In einem großen Heubündel wurde das sanft schlafende Suschen behutsam abgeladen , und ein heißes Dankgebet stieg aus tiefstem Elternherzen zu dem Himmel empor .
Die regennasse Mary steckte Tante Lisabeth sofort ins Bett .
Dort erst berichtete das junge Mädchen voller Scham , daß sie , die Suschen bewachen sollte , gleich der Kleinen im Wäldchen eingeschlafen sei .
Als sie der rollende Donner weckte , sei sie in sinnloser Furcht vor dem Gewitter in entgegengesetzter Richtung gelaufen , immer am Ried entlang bis zu den Wiesen .
Dort habe sie Jürgens mit seinem Ochsengespann aufgenommen .
Die Tante hatte kein Wort des Vorwurfs für die junge Pflichtvergessene ; die ausgestandene Angst war Strafe genug .
Suschen aber wurde ihr nie wieder anvertraut .
Five-o' clock-tea .
Über den sonnenbeschienenen frischgrünen Rasenplatz sprühte in bunten Regenbogenfarben der silberne Wasserstrahl ; in hohem Bogen zerstäubte das erquickende Naß .
Leni schaute , in ihren Korbsessel zurückgelehnt , nachdenklich dem Gärtner bei seiner Arbeit zu .
Ein englisches Buch lag unbeachtet in ihrem Schoß .
" Komme , Leni , ich werde dir helfen , " sagte eine weiche junge Stimme .
Lizzie ruhte halbliegend auf einem verstellbaren Stuhl ; sie hatte sich mühsam emporgerichtet .
Ihr Gesicht war noch bleicher und durchsichtiger als im Frühjahr .
" Du wirst ja heute gar nicht mit deiner Übersetzung fertig , und du wolltest doch mit mir spielen ! "
Ein weinerlicher Zug trat um ihren farblosen Mund .
Leni fuhr sich mit der Hand über die Stirn .
Sie war wieder einmal mit ihren Gedanken weit fort gewesen , daheim , wo der alte Jürgens kunstvoll den schillernden Wasserstrahl auf Baum und Busch spritzen ließ , und sie mit Karl Heinz als Gör jauchzend im frischgewaschenen Kleid unter dem lustigen Sprühregen dahingelaufen war , bis Mutig sie pitschenass erwischte .
Jetzt sah sie Lizzie groß an .
" Leni , du träumst ja ; bist du wieder Mal zur Abwechslung an der Waterkant gewesen ? "
Ihre schmale Hand suchte die der Cousine .
Leni nickte .
" Erzähle , darling , " bat Lizzie , während sie sich matt in die Kissen zurückfallen ließ .
" Du weißt schon , von dem deutschen Wald , wo die Eichen rauschen und die Vöglein singen , und von dem weiten , brandenden Meer .
O , könnte ich das doch auch nur ein einziges Mal schauen ! "
Sehnsuchtsvoll suchten die großen Kinderaugen die Ferne .
" Laß , Lizziechen ! "
Leni hatte ihren Stuhl neben die Cousine gerückt und schlang fest den Arm um die gebrechliche Gestalt der Freundin .
Dicht neigte sie ihren Mund zu Lizzies Ohr herab .
" Nun dauert es gar nicht mehr lange , nur noch acht Monate , dann darf ich wieder heim - ach ! "
Ihre Brust dehnte sich jubelnd .
Das jüngere Mädchen war erschreckt zusammengezuckt .
" Nee , sei nicht bange , meine olle Dirn , dich lasse ich nicht allein !
Du kommst mit mir , ja ?
Auf unserem Gut , da wirst du ganz sicher gesund , sollst bloß Mal sehen , Lizziechen !
Solch gute Seeluft wie bei uns gibt_es nirgends mehr in der Welt , und wie Mutig zu pflegen versteht , ach , das kann ja gar kein anderer so ! "
Lenis Augen bekamen einen warmen Glanz .
" Weiter , Leni , erzähle mehr , " bat Lizzie .
" Und dann gehen wir allesamt auf den Windmühlenberg ; da kannst du das Meer sehen , Lizzie , denke nur , das Meer !
Und wenn du müde wirst , dann machen Karl Heinz und ich einen Teufelsknoten und tragen dich .
Deine häßlichen Beinmaschinen brauchst du dann gar nicht mehr umzutun , nie mehr , mein Lüttes ; dann läufst du mit uns um die Wette , ja ? "
Lenis Hände strichen liebkosend an Lizzies Kleid herunter .
Ihre halblaute Stimme hatte einen zärtlich-mütterlichen Ton .
" Das wäre schön - Oh - das wäre schön , Leni ! "
Das kranke Kind hatte die Augen halb geschlossen .
Plötzlich aber umklammerte sie wild den Arm des jungen Mädchens .
" Leni , nicht wahr , ich muß doch nicht sterben ?
Nein - ich will noch nicht sterben - Sterben ist gräßlich , und ich - ach , ich möchte doch so gern leben ! "
Mit verängstigten Augen starrte sie in die Ginsterbüsche , als ob der knochige Sensenmann ihr schon daraus winke .
" Aber Lizziechen , Dirn ! "
Leni schlang auch noch den anderen Arm schützend um die bebende Gestalt .
" Wie in aller Welt kommst du denn bloß auf so was ?
» Zum Sterben kommt man allemal noch früh genug « , sagt Vating immer . "
Leni versuchte mit schwimmenden Augen zu scherzen .
" Ich habe_es gehört , Leni , deutlich habe ich es gehört ; Margaret und John sprachen miteinander , unten in der Küche .
Sie wußten nicht , daß mein Stuhl dicht am offenen Fenster stand .
» Lange treibt sie es nicht mehr , « hat John gesagt , » das Wurm ist ja nur noch Haut und Knochen ; sicherlich , she is konsumtive . «
Weißt du , was das ist , Leni ? "
Ihre Stimme flüsterte heiser .
Leni versuchte zu antworten - vergebens ; das Entsetzen lähmte ihr die Sprache .
Sie schüttelte gequält den Kopf .
" O das ist , was ihr in German » Schwindsucht « nennt , eine böse Krankheit !
Und Margaret sagte :
» Du hast recht , John ; wenn die Blätter fallen , dann ist_es aus .
Bei meiner Mutter Schwestersohn war_es gerade so .
Und das ist auch das beste für das arme , lahme Ding ; das wird niemand hier im Hause fehlen .
Die Frau ist froh , wenn sie das schwache , ewig kränkelnde Kind los ist .
Miß Mary , her favourite Kilt , bleibt ihr ja .
Und der Herr - dear me - der sieht sie ja nur des Abends ein paar Minuten , wenn er zum Diner kommt .
Poor little ohne ! «
Das hat sie gesagt , Leni , aber ich will nicht - ich will nicht - o Lord ! "
Sie schluchzte leidenschaftlich .
" Ich gebe dich nicht , Lizzie , mein Lizziechen !
Ist ja alles Unsinn !
Die Köchin und der Kutscher , die können viel reden !
Nach den Tropfen , die der Arzt dir verschrieben hat , geht dein Husten fix über ; sollst Mal sehen , meine Dirn !
Und nun fahren wir auch bald ins Seebad auf die Insel Wight ; da siehst du noch eher das Meer als in Nedderdorf .
Wunderschöne Kleider kauft Tante Jane für uns , graue Strandanzüge mit blauen und roten Borten , und dann bauen wir im Sande große Ritterburgen mit bunten Fahnen , und einen Eisenbahntunnel grab ich dir ; Karl Heinz hat es mir gezeigt .
Ja , Lizziechen ? "
Leni wußte nicht , was sie dem verängstigten Kinde alles Schöne vorerzählen sollte , und dabei war ihr doch das Herz schwer , so grenzenlos schwer , wie damals , als es vom Elternhause in die Fremde ging .
Die Kleine wurde ruhiger ; still lehnte ihr blondlockiges Köpfchen an Lenis Schulter .
So saßen sie schweigend nebeneinander .
" Ellen - Ellen ! "
Miß Browns kräftige Stimme hallte durch das Haus .
Leni rührte sich nicht .
Lizzie hatte die Augen geschlossen ; sie mochte sie nicht stören .
" Ellen - girl - I call to you - hörst du denn nicht ? "
Miß Brown kam mit langen Schritten über den knirschenden Kies .
" What da you like ? "
Lenis Englisch ließ kaum noch etwas zu wünschen übrig , obgleich sie mit Lizzie nur Deutsch sprach , wenn sie beide allein waren .
" Es ist Zeit , Klavier zu üben ; muß man dich denn jeden Tag noch daran erinnern ?
This afternoon empfängt Mrs. Sürsen zum five-o' clock-tea ; sie wünscht , dich den Ladies vorzustellen .
Dann wird wieder nichts aus dem Üben , und wenn Master Bobby heute abend erst mit seinen drei Freunden für die holidays einrückt , dann ist es so wie so mit jedem Ernst vorbei ! "
Miß Brown seufzte vernehmlich .
Leni tat desgleichen .
Sie war in den letzten Wochen tüchtig in die Höhe geschossen .
Als sie jetzt leichtfüßig über den grünen Rasen sprang , hätte wohl niemand das untersetzte Ding wiedererkannt , das vor fast drei Monaten in dem lächerlichen Regenmantel seinen Einzug hier gehalten hatte .
Der breite Saum , den die Tante damals zu Lenis Schmerz in die neuen Kleider hatte nähen lassen , mußte längst aufgetrennt werden , und wenn sie jetzt aus der Schule nach Hause kam , brauchte sie sich nicht mehr auf die Fußspitzen zu recken , um an den Türklopfer zu reichen , der die Klingel in London vertrat .
Das war die Errungenschaft der vielen Sportstunden und körperlichen Übungen .
Mit geschlossenen Augen saß sie nun am Klavier und übte Tonleitern .
Aber bald ließ sie die Hände von der Tastatur sinken und tat das , womit sie meistens die Übungsstunden ausfüllte : sie döste .
Erst dachte sie darüber nach , was Lizzie ihr erzählt hatte , und wieder legte sich eine große Traurigkeit um ihr junges Herz .
Nein , das konnte der Himmel nicht wollen ; dieses süße , blumenhafte Geschöpf , das sich mit einer grenzenlosen Liebe an sie geklammert hatte , durfte nicht von einer so furchtbaren Krankheit dahingerafft werden !
Lizzie konnte nicht von ihr gehen ; es war ja die einzige , die sie hier in der Fremde liebhatte .
Ob sie den Onkel darauf aufmerksam machen sollte , was sich die Dienerschaft zuflüsterte , und was nur den Eltern verborgen zu bleiben schien , daß das zarte Lebenslicht still dem Verlöschen entgegenflackerte ?
Ach , der Onkel kam jetzt abends immer so abgespannt und nervös vom Geschäft heim !
Leni hatte etwas von starken Verlusten , die er in Südamerika hatte , aufgeschnappt ; sie durfte ihm augenblicklich nicht damit kommen .
Und die Tante , die von Lizzie heimlich angebetet wurde , trotzdem diese selbst der älteren Freundin gegenüber nie ein Wort davon hatte verlauten lassen , und nach deren mütterlichen Liebe sich die Kleine innerlich verzehrte ?
Heute hatte die Tante überhaupt keine Zeit , da sie ihren letzten five-o' clock-tea vor der Reise gab .
Leni tat das , womit sie zumeist die Übungsstunden ausfüllte , sie döste .
Lenis Herz klopfte ein wenig schneller .
Zum ersten Male sollte sie zugelassen werden !
Endlich hatte Tante Janes strenges Urteil sie für genügend dressiert erachtet , um die anwesenden Ladies nicht mehr durch unvorhergesehene Tollheiten in Schrecken zu versetzen .
" Ph ! " machte Leni recht wenig respektvoll .
Was lag ihr daran , sich bei diesem mopsigen tea wie ein Wundertier betrachten zu lassen und den Damen wohlerzogen die behandschuhte Rechte zu küssen !
Viel lieber blieb sie bei ihrer Lizzie .
Zum Dinner war sie heute auch gnädigst befohlen worden , zur Empfangsfeierlichkeit für Bobby und seine drei Freunde .
Leni empfand ein Gefühl des Unbehagens , wenn sie an die kommenden Tage dachte .
Ein " bisschen " hochnäsig sind die " ollen Jungs " in diesem Alter wohl immer , sagte ihr ihre Backfischweisheit , aber so wie Bobby , na das war denn doch schon nicht mehr schön !
Sie lebte mit dem Vetter in ewigen Hecheleien .
Auf Schritt und Tritt versuchte er , sie lächerlich zu machen und ihr gegenüber den jungen Herrn herauszubeißen , und gerade , daß Leni sich so wenig von ihm imponieren ließ , ärgerte ihn wohl am meisten .
Einmal hatte sie ihn mit einigen Kameraden im Museum getroffen , wohin Mrs .
Smith ihre Klasse eines Aufsatzthemas wegen führte .
Recht sonderbar hatten sie ausgesehen , die halbwüchsigen Schlingel , mit den kleinen Zylinderhüten auf dem Kopf , die sie nach Vorschrift ihrer Anstalt tragen mußten .
Als die Hütchen wie auf Kommando grüßend in die Luft flogen , hatte Leni hell aufgelacht .
Das hatte ihr natürlich eine kleine Vermahnung von der Schulvorsteherin eingetragen , aber sie konnte sich nicht helfen ; es war ja das erstemal , daß jemand vor ihr den Hut zog .
" Na , noch schlimmer als Bobby können seine Freunde wohl nicht sein ! "
Damit tröstete sich Leni und machte sich aufseufzend wieder an ihre Tonleitern .
Einige Stunden später wogte in dem luxuriös ausgestatteten Drawingroom , dessen weitgeöffnete Glastür zum Garten hinausführte , ein Spitzenmeer von eleganten Damenkleidern , ein Durcheinander von raschelnder Seide , hellen Stimmen , vornehm gedämpftem Lachen und leisem Klirren der Teetassen .
Die Hausfrau , im rosaseidenen tea-gown , der Hals und Arme frei ließ , waltete an dem silbernen Thetisch anmutig und geräuschlos ihres Amtes .
Für jeden neueintretenden Gast hatte sie ein verbindliches Wort und ein liebenswürdiges Lächeln .
Die Gäste waren versammelt , und die Unterhaltung im Fluß .
Plötzlich verstummte das Gespräch an jedem Tischchen .
Die Augen bewaffneten sich mit der langgestielten Lorgnette ; aller Blicke richteten sich auf die Tür .
Da war aber eigentlich gar nichts Besonderes zu sehen .
In dem Türrahmen stand mit ziemlich hilflosen Augen ein nettgewachsenes Backfischchen im weißen Mullkleid , durch das in dunklen , weichen Wellen herabfließende Haar ein mattblaues Seidenband geschlungen .
" Bäh ! " hätte Leni am liebsten gerufen , dem innersten Drang ihres Herzens folgend , als sie sich von all den bebrillten Augen förmlich durchbohrt fühlte .
Aber sie dachte zum Glück noch rechtzeitig an die Anstandslektion , die ihr Tante Jane für alle Fälle noch vorher erteilt hatte .
Mit zierlichen Schritten , wie man es ihr in der Graziestunde eingetrichtert hatte , ging sie auf die Tante zu , bemühte sich aber vergeblich , auf ihr Antlitz ein holdseliges Lächeln zu zaubern .
Sie empfand , daß es vielmehr einer Mundverzerrung glich , als ob sie heftige Zahnschmerzen habe .
" Oh , my dear Ellen " -
Leni fühlte sich fast bedrückt von der ungewöhnlichen Freundlichkeit der Tante - " komme , laß dich meinen Freundinnen vorstellen . "
Sie ergriff Lenis Hand .
" Mrs. Fewson , allow - meine Nichte Ellen - " und nun ging es von einer zur anderen .
Leni machte Knicks auf Knicks .
" Da kann man ja 'nen Wadenkrampf von kriegen , " dachte sie in heimlichem Ärger .
Nach Vorschrift berührte sie die grauen und weißen , die seidenen und ledernen Handschuhe mit ihren Lippen .
Vating hätte das mitansehen müssen , das Gehabe , Getty und Geziere !
" Wenn ihr mich noch länger so beguckt , nehme ich Entree dafür , " dachte die unverbesserliche Leni wieder , als die Damen anerkennend sagten :
" Oh - what a sweet little ohne - allerliebstes Ding , indeed - nein , Mrs. Sürsen , was haben Sie nur in der kurzen Zeit aus der Kleinen gemacht - so verstehen auch Sie nur , eine junge Wilde zu zähmen ! "
Die Tante lächelte geschmeichelt ; Leni aber war empört .
Es war doch hier nicht Kirchweih , daß man sie wie einen dressierten Pudel vorführte !
" Ellen , come here - lässt Not least möchte ich dich mit Exzellenz von Hillersdorp bekannt machen , leider immer nur ein vorübergehender Gast hier in London .
Exzellenz , eine junge Landsmännin ; ich empfehle sie Ihrer bekannten Liebenswürdigkeit . "
Leni hob das Auge und ein überraschtes " Nee aber ! " entfuhr ihrem Munde .
Das war ja die vornehme Dame aus dem Eisenbahncoupe , der Säutsnut damals seinen Besuch abgestattet hatte !
Vergessen hatte Leni die einstige Unfreundlichkeit ; warme Freude , wieder jemand aus der Heimat zu sehen , durchflutete sie .
Sie dachte nicht an Knicks und Handkuß ; beide Hände streckte sie der Exzellenz entgegen .
" Wir kennen uns doch , gnädige Frau , " rief sie mit heller Stimme in deutscher Sprache .
Exzellenz lehnte sich hoheitsvoll in ihren Sessel zurück und übersah die sich ihr freundlich bietenden Mädchenhände .
" Ich erinnere mich nicht , liebes Kind , " sagte sie sehr von oben herab , das dreiste junge Ding durch ihr Glas musternd .
" Na aber , gnädige Frau ! "
Leni ließ sich durch Tante Janes beschwörende Blicke nicht in dem eingeschlagenen Fahrwasser stören .
" Wissen Sie denn wirklich nicht mehr ?
Damals in dem Zuge nach Hamburg , als das Rackertüg von Karnickel auskniff , und Sie vor Angst so losschrien ?
Na , und nachher , da waren Sie eklig böse - und denn " - Leni begann jetzt ihrerseits die Exzellenz zu mustern - " und denn , " begann sie aufs neue , trotzdem Tante Jane sie nachdrücklich auf die Fußspitze trat , um sie endlich zum Schweigen zu bringen , " damals hatten Sie noch graue Haare , gnädige Frau , und jetzt sind Sie ganz hellblond ! "
Leni blickte mit offenbarer Bewunderung auf diese Verwandlung .
Die umsitzenden Damen , die fast alle der deutschen Sprache mächtig waren , zogen wie auf Kommando ihr Spitzentüchlein aus der Tasche , um das verräterische Lächeln zu verbergen .
Sie gönnten der sich gern jugendlich machenden Exzellenz , die sich neuerdings die Haare färbte , diese öffentliche Niederlage .
Exzellenz hatte sich mit einem vernichtenden Blick von Leni abgewandt .
Tante Jane aber ergriff mit zuckender Lippe die Hand des enfant terrible .
" Es ist Zeit , daß du wieder in das Kinderzimmer hinaufgehst , my dear Ellen , " sagte sie mit einem Lächeln , das nicht ganz natürlich war .
Der Sicherheit halber führte sie Leni selbst bis zur Tür .
Oben bei Lizzie machte Leni ihrem Herzen Luft .
" Aex , bei solchem five-o' clock-tea ist ja nichts weiter als Händeküssen und Knicksemachen , daß es einem in den Beinen davon wie Selterwasser kribbelt !
Nee , das ist nichts für Vating seine Dirn ! "
Lizzie lächelte müde , aber als Leni ihr nun einen etwas ausführlicheren Bericht von ihrem ersten Debüt gab und damit schloß :
" Die alte Exzellenz hat doch aber wirklich graue Haare gehabt ! " machte Lizzie ein entsetztes Gesicht .
Trotzdem sie vier Jahre jünger war als Leni , wußte sie mehr von der Welt als diese .
" Mama wird sehr böse sein , Leni , " sagte sie ängstlich .
Ja , Tante Jane war schrecklich böse , wenn sie es auch beim Dinner noch nicht zeigen konnte , da Bobby mit seinen Freunden zugegen war , deren Ferien schon einige Tage früher begonnen hatten als Lenis .
Mit einem schnippischen Knicks hatte Leni die tiefe Verbeugung der drei Boys bei der Vorstellung entgegengenommen .
Die waren gerade so geziert wie Bobby .
Warum gaben sie ihr denn nicht einfach die Hand , wie die Gutsbesitzerjungen daheim es alle taten ?
Als der Kleinste von ihnen , der nach Lenis Dafürhalten den größten Spleen hatte , erst Tante Jane die Hand nach dem Dinner küßte und dann auch Anstalten machte , Lenis Finger an die Lippen zu ziehen , entriß sie ihm hastig ihre Rechte .
" Handküssen ist nicht - ich bin keine alte Lady , " erklärte sie mit gerunzelter Stirn .
Man promenierte in den Gartenwegen auf und nieder .
Der Onkel gab sich Mühe , an der Unterhaltung der jungen Leute teilzunehmen ; aber man merkte , daß seine Gedanken nicht recht dabei waren .
" Mein Bobby ist der stattlichste von allen , " stellte Tante Jane innerlich frohlockend fest .
" Ich wünschte , die ollen Jungs wären , wo der Pfeffer wächst , und mein Leif Karling dafür hier , " dachte Leni voll Sehnsucht .
Oben aber am geöffneten Kinderzimmerfenster ruhte ein heißer blonder Kopf und lauschte auf die frischen jungen Stimmen und auf das fröhliche Lachen , das ab und zu hinaufschallte .
" Wenn ich doch auch wäre , wie die übrigen Kinder - ich möchte doch so gerne gesund sein - warum bin ich anders - warum , lieber Gott ? "
Träne auf Träne löste sich von den seidenweichen Wimpern des selbst an diesem warmen Juliabend leis fröstelnden Kindes .
" Junge - das ist deine Cousine Ellen , von der du uns solche Wunderdinge vorgefabelt hast ?
Die Vogelscheuche - der Bauerntrampel - um derentwillen ihr euch geschämt habt ? "
Charles Edward hatte Bobby beiseite genommen .
" Good gracious , die ist doch weder häßlich noch klein und dick ; I Thing her to bei a beautiful girl ! "
" Oh I see , sie macht sich indeed , " erwiderte Bobby einräumend und die kleinen Augen zusammenkneifend .
" Wollen gleich Mal eine Partie Tennis mit ihr spielen ; es ist noch hell genug .
Hallo , Boys ! "
Charles Edward pfiff nach den übrigen .
Lenis Augen blitzten vor Freude , als Bobby sie im Namen der Freunde zu einem Spiel aufzufordern geruhte ; er hatte sie bis jetzt niemals dazu für würdig erachtet , und doch hatte sie auch in der Sportkunst inzwischen erhebliche Fortschritte gemacht .
" Gleich , gleich , ich hole nur noch mein Rakett ! "
Damit wollte sie ins Haus stürmen .
Aber Tante Jane hielt sie zurück .
" Ellen wird heute nicht mit euch spielen ; sie hat sicher noch Schularbeiten zu machen , " sagte sie in bestimmtem Ton .
" I wo - I have done all ! "
" Du wirst trotzdem nicht mitspielen , my dear ; es ist Zeit für dich , schlafen zu gehen .
Du magst im Kinderzimmer noch darüber nachdenken , wie sich ein großes Mädchen in Gegenwart von fremden Ladies zu benehmen hat . "
Das war die Strafe für die Blamage beim five-o' clock-tea !
" Allright , es ist time für das Baby , ins Bett zu gehen ! "
Bobby lachte wieder höhnisch , während Leni heimlich vor Wut mit dem Fuß aufstampfte .
Charles Edward zupfte bedauernd an seinem Bärtchen , das dereinst sprießen sollte , während seine beiden Gefährten verlegen grinsten .
Aber es half nichts , Leni mußte wie ein Gör gute Nacht sagen und verschwinden .
Als sie in das Kinderzimmer trat , lag Lizzie mit hochroten , brennenden Wangen im Bett .
Ihre Augen suchten unstet umher ; der Atem ging schnell .
Erschreckt beugte Leni sich über die Cousine .
" Lizzie - Liebling - was ist dir ? "
Leni hatte den eigenen Kummer im Augenblick vergessen .
Unzusammenhängende Worte stieß Lizzie angstgequält hervor ; ein neuer Fieberschauer schüttelte den schmächtigen Kinderkörper .
Da eilte Leni wie gehetzt in den Garten hinab , wo alle in heiterem , nichtsahnendem Gespräch beieinander saßen .
Qualvoll aufschluchzend umklammerte Leni des Onkels Hals .
" Onkel Richard - Lizzie - Lizzie stirbt ! "
Sie zitterte am ganzen Leibe .
Eine halbe Stunde später saß der Arzt mit besorgter Miene an dem Lager des kranken Kindes .
In der dunkelsten Ecke des Zimmers kauerte leise vor sich hinweinend Leni ; sie hatte sich nicht hinausweisen lassen .
Der Arzt gab seine Anweisungen für die Nacht und schied mit dem Versprechen , am nächsten Morgen früh wieder zu kommen .
Unten in der Halle fühlte er seine herabhängende Linke plötzlich von kalten Mädchenhänden umklammert .
" Doktor - dear Doktor - muß sie sterben ? "
Leni war ihm nachgeschlichen .
" Das steht bei Gott , liebes Kind , " war die tiefernste Antwort .
" Wir Menschen müssen tun , was in unseren Kräften liegt , aber helfen kann hier nur er ! "
" Is she - is she konsumtive ? " kam es kaum hörbar von Lenis zuckenden Lippen .
" Schwindsucht ? Dummheiten ! " polterte der alte Arzt .
" Ein schweres Nervenfieber ist ausgebrochen , dem der zarte Organismus der armen Kleinen schwerlich gewachsen sein wird .
Na , die Hoffnung wollen wir darum noch nicht sinken lassen . "
Damit klopfte er beruhigend Lenis tränenüberströmte Wange .
Bald darauf lag das am Nachmittag recht belebte Haus still und dunkel da .
Nur im Krankenzimmer schien man noch zu wachen ; aus den Fenstern fiel ein Schein des Nachtlämpchens .
Ruhelos wälzte sich das fiebernde Kind dort in den Kissen .
Erntefest .
Mary , ach , komme doch eben Mal her !
Du könntest mir einen Weg abnehmen ; ja , willst du ? "
Tante Lisabeth rief es aus der Vorratskammer , in der es verheißungsvoll nach frischgebackenem Kuchen duftete .
Hänschen , Fränzchen und Cäsar waren denn auch nicht von dem in den Hof hinausgehenden Fenster fortzubringen ; alle drei hockten sie mit schnuppernden Nasen und begehrlichen Augen vor dem ihnen noch verschlossenen Schlaraffenland .
" Mary - Dirn - wo steckst du denn wieder ?
Immer , wenn man das Mädel braucht , ist sie unsichtbar ! "
Frau Lisabeth hielt nach allen Seiten hin Umschau .
Auf der obersten Treppenstufe , die zur Tenne führte , wurden zwei schlanke Mädchenfüße in Halbschuhen sichtbar ; ein heller Leinenrock wehte , und nun tauchte auch ein etwas zerzauster Blondkopf auf .
" Ja , Tante , was tust du wünschen ? "
" Sieh Mal , Mary , ich habe hier ein Körbchen gepackt für die alte Struwensche ; die arme kranke Alte möchte gewiß auch gern beim Erntefest dabei sein .
Da soll sie wenigstens 'n bisschen Erntekuchen und einen Happen Braten haben .
Und sage auch , die Hühnersuppe sei von der gelben Henne , die ich ihr damals abkaufte ; sie soll sie sich gut schmecken lassen !
Also , mache dich auf den Weg , mein ' Dirn ! "
Tante Lisabeth wurde schon wieder von der Mamsell in Anspruch genommen .
Mary machte ein verzweifeltes Gesicht .
" Ich kann jetzt nicht , Tante ; Karl Heinz braucht mir .
Wir machen der Tenne schön , mit roter Tuchlappens und grünes Girlande ! "
Tante hörte nicht mehr .
Mary wandte sich ärgerlich der geräumigen Tenne zu , aus der Karl Heinz " Mary , lang Mal eben den Hammer her ! " kommandierte .
" Boy , ich soll in Dorf gehen , zu der alte kranke Frau , wo es riecht so horribly nach arm Leute .
Aber ich kann jetzt doch nicht fort - no - und ich will auch nicht ! "
Sie schüttelte sich förmlich .
" Mußt , " sagte Karl Heinz mit Gemütsruhe .
" Wenn Mutig es sagt , wäscht dich kein Regen ab .
Aber wart , ich komme ein Ende lang mit ; will Mal eins zusehen , ob Radmachers Krischan mir nicht 'n beten zur Hand gehen kann .
Der versteht das Ding doch noch anders , wie so 'ne Stadtdirn ! "
Mary setzte ihr beleidigtes Gesicht auf .
Karl Heinz hatte ihr in seiner geraden derben Mecklenburger Art die Backfischempfindlichkeit ziemlich abgewöhnt ; nur ab und zu meldete sie sich noch .
Mit brummiger Miene trat sie zur Tante .
" Warum muß ich mitnehmen das häßliche Korb ? " fragte sie .
" Aber Kindchen , wie willst du es denn sonst hinbekommen ?
Ein junges Mädel wird doch wohl noch mit einem Korb am Arm gehen können !
Oder meinst du , du wirst den Ochsen und Kühen im Dorf nicht gefallen ? " scherzte Tante Lisabeth , die stets am lustigsten war , wenn es am meisten zu schaffen gab .
Schweigend und mit einer Duldermiene griff Mary nach dem braunen Henkelkorb .
" Kind , wenn man armen Leuten etwas Gutes antun will , soll man es aus fröhlichem Herzen tun oder gar nicht , " sagte die Tante , jetzt ernst werdend .
" Dann lieber gar nicht , " hätte Mary am liebsten gerufen , aber sie wagte es nicht .
" Und auf dem Rückweg , Dirn , spring ins Lehrerhaus und frage , ob die Frau Kantor auch nicht vergessen hat , mir die Lampions aus der Stadt mitzubringen . "
Stumm stapfte Karl Heinz an Marys Seite ; hin und wieder versetzte er ihr einen kleinen Stoß mit dem Ellenbogen .
Mary beachtete es nicht .
" Du schwippst ja die Suppe aus . "
Er blieb stehen und sah halb belustigt , halb ärgerlich , daß Mary im Gehen den Korb wie eine Schaukel hin und her fliegen ließ .
" Na , gib man her , Prinzeßchen ! "
Gutmütig griff er nach dem Henkelkorb , der Marys Selbstbewußtsein so arg verletzte .
" Bist noch immer bockig ? "
Mary nickte .
" Na denn man tau - viel Vergnügen ! "
Damit hatte er ihr den Korb wieder vor die Füße gestellt und stürmte mit langen Sätzen feldein .
Kurz vor dem Dorf bog Mary von dem geraden Wege ab und schritt , einen hastigen Blick zu dem von Obstbäumen verdeckten Gutshause zurückwerfend , den schmalen Wiesenpfad entlang , der sich seitwärts zum Walde hinschlängelte .
Unter einer breitästigen Eiche warf sie sich in das weiche Moos und stellte den Korb neben sich .
Durch die zackigen Eichenblätter starrte sie zu dem klaren blauen Himmel empor .
Ihr Herz klopfte wieder vernehmlich , wie schon manches Mal , wenn die Tante sie zu armen Leuten gesandt hatte .
Aber auch heute hörte sie nicht auf das mahnende Pochen .
" Ich sein zu fashionable für das arme pople , " versuchte sie ihr Gewissen zu beschwichtigen .
In der Stadt , da war man auch wohltätig ; dort gab man Geld an die verschiedenen Vereine und veranstaltete große Wohltätigkeitsfeste und Basare .
Ja , so machte es ihre Mama in London ; das war mehr nach Marys Geschmack .
Aber hier selbst in die elenden Hütten zu gehen , wo nur selten ein Fenster aufgemacht wurde , den Kranken gar noch vorzulesen und Mut zuzusprechen , wie die Tante es von ihr verlangte , nein , das brachte sie nicht fertig !
Ein einziges Mal hatte sie es getan und dann nicht wieder .
Dann hatte sie jedesmal gelogen - jawohl , die Tante belogen !
Die unbequeme Stimme in ihrer Brust sprach hell und laut das häßliche Wort .
" Ich sein zu fashionable für das arme pople . "
Mary lachte , aber es war ein unfreies Lachen .
Es merkte ja niemand - sie nahm den Topf mit der kräftigen Hühnerbrühe und goß diese in den leis dahinplätschernden Waldbach .
Von dem Kuchen bis sie ein großes Stück ab , und den Rest verwahrte sie in der Kleidertasche ; der war zu schade zum Wegwerfen .
Nun noch der Braten ; auch der hatte schon seinen Platz .
Den Rückweg nahm sie übers Ried ; dort suchte kein Mensch das Fleisch .
Als Mary das Lehrerhaus betrat , hörte sie aus dem großen Parterrezimmer frohe Kinderstimmen .
Es war wieder einmal Kindergarten .
Auf niedrigen Stühlen saßen die Kleinen , wanden aus Eichenlaub Kränze und Blattgewinde zum Erntefest und sangen dazu ihre Liedchen .
Mary öffnete die Tür , und im Augenblick verstummte der helle Sang ; scheu sahen die Tagelöhnerkinder , die doch mit Leni so gut Freund gewesen waren , auf das fremde schöne Fräulein .
" Ei , Mary , das ist nett , daß du dich auch Mal wieder um meine kleine Gesellschaft kümmerst .
Ein junger Mensch versteht es immer besser , mit den Gören fröhlich zu sein , " sagte Frau Kantor freundlich .
" O , Mrs. Kantor " - Mary zupfte verlegen an ihren Halbhandschuhen , die sie selbst hier im Dorf trug " ich muß home sofort . "
Die Kinder hatten alle vielfach geflickte Kleidchen an , und ganz sauber sahen ihre Hände auch nicht aus ; mit denen mochte Mary sich nicht gern abgeben .
" Aha ! "
Die gute Frau Kantor lächelte .
" Du hilfst wohl der Tante fleißig , Kind ?
Na , wo kommst du denn her ? "
" Von - von old Mrs. Struwen ; ich habe gebracht sie Erntekuchen , Braten und Suppe . "
Mary beugte sich tief zu lütt Lising hinab und strich ihr über die roten Wangen .
Die Frau Kantor hatte so durchdringende graue Augen .
" Und Tante Lisabeth läßt Ihnen grüßen , " fuhr Mary sich überstürzend fort , " und ich soll mitbringen der Lampions , der Lampions fromm town , " wiederholte sie noch einmal , als Frau Kantors leuchtende Augen immer noch mit seltsamem Blick auf ihr ruhten .
" Hat sich denn die alte Struwensche mit dir gefreut , Mary ? "
" O Yes , very Much , " log das junge Mädchen , seinen ganzen Mut zusammenraffend " Und hat sie sich die guten Sachen alle schmecken lassen ? "
Warum in aller Welt stellte Frau Kantor nur diese eingehenden Fragen ?
" Sie hat only die Suppe Gest . "
Mary wußte schon nicht mehr , was sie antworten sollte .
" Komme mit ins Nebenzimmer , Kind ; ich werde dir die Lampions in dein Körbchen packen , " sagte Frau Kantor , plötzlich das Gespräch abbrechend .
" Mary , wo bist du gewesen ? " fragte die alte Dame drin noch einmal ; ihre gütigen Augen blickten ernst und streng .
" Bei - bei - "
Mary brachte die Lüge das zweite Mal nicht über die Lippen .
" Die Wahrheit - ich wünsche die Wahrheit zu hören ! "
Die grauen Frauenaugen schienen auch die geheimsten Fältchen ihres Herzens zu durchdringen .
" Im Wald , " kam es leise von den Mädchenlippen .
Mary hatte den Kopf tief gesenkt .
" Und warum lügst du ?
Weißt du nicht , daß die Lüge das Verabscheuungswürdigste und Feigste auf der ganzen Welt ist ? "
Niemals hatte Mary die gute Frau Kantor so böse gesehen .
" Ich - ich kann nicht atmen das Luft bei arm Leute ; ich tue nicht lieben Krankheit und Schmutz ! "
Unsicher stieß Mary es hervor .
" Wo hast du die Suppe zur Labung der armen Kranken gelassen ? " wurde das Examen fortgesetzt .
Schluchzend gab Mary Auskunft .
" Hast du das schon öfters getan ?
Hast du die Tante schon wiederholt belogen ? "
Mary vermochte nicht zu sprechen ; sie nickte nur und verbarg ihr Antlitz .
" Ich habe dir nichts weiter zu sagen , Mary , " fuhr Frau Kantor mit abgewandtem Gesicht fort .
" Du bist groß genug , um allein das Schlechte und Häßliche deiner Handlungsweise einzusehen .
Ich will nur wünschen , daß dich der Himmel nicht für deine kalten , hartherzigen Worte straft !
Man ist nicht immer jung , gesund und reich ; daran denke , Mary !
Und nun gehe nach Haus ; du selbst sollst der Tante Lisabeth aus freien Stücken erzählen , was für ein böses Mädchen du bist .
Sage ihr , die arme , verlassene Frau , die du schon oft um eine kleine Erquickung gebracht hast , sei vor einer Stunde gestorben . "
Mary stand allein in dem Zimmer ; Frau Kantor war ohne Gruß von ihr gegangen .
Aufschluchzend warf sich das junge Mädchen auf einen Stuhl ; die Nachricht von dem Hinscheiden der armen kranken Frau , der sie die letzte Liebesgabe der Tante vorenthalten hatte , griff tief an ihr Herz .
Sie war ja nicht schlecht , nur leichtsinnig , verwöhnt und hochmütig .
Leise weinend schlich sie sich davon .
Hinter dem Gutshaus , auf dem großen Rasenplatz , wo sonst die Wäsche zur Bleiche ausgebreitet wurde , war man gerade dabei , lange Holztafeln aufzustellen .
Überall herrschte rege , frohe Geschäftigkeit .
Was würde nur die Tante sagen ?
Tante Lisabeth , welche die verkörperte Wahrheitsliebe war , und die nichts bei ihren Kindern so hart strafte , wie gelegentliches Flunkern und kleine Schwindeleien !
" Gut , daß du kommst , mein Mädel , " rief ihr die Tante entgegen , " geschwind , hilf hier die Tassen herumsetzen , immer zwanzig an einer Tafel .
Und dann ordne die Feldblumen in die Vasen ; das versteht ja niemand so hübsch wie du . "
Mary schwankte .
Sollte sie jetzt , da die Tante so lieb mit ihr war , ihre Schuld eingestehen ?
Sie zögerte noch , da - dem Himmel sei Dank ! -
holte der alte Jürgens Tante Lisabeth .
Man konnte über den geeignetsten Platz zur Aufstellung der Tonnen mit Erntebier nicht einig werden .
" Na , Dirn , was hat die alte Struwensche gesagt ? "
Die Tante setzte Berge von Kuchen auf die Tafel .
" Sie - sie hat vor einer Stunde gestorben . "
Mary brach in heftiges Weinen aus .
" Kind - Kindchen - " Tante Lisabeth zog das erregte Mädchen zu sich heran , " wer wird denn so weichherzig sein ! Habe ja gar nicht gewußt , daß du ein so gutes , mitfühlendes Herz hast .
Lüttes !
Na , nimm dich Mal 'n bisschen zusammen , Dirn ; ist wohl das erste Mal , daß sich dir der Ernst des Lebens offenbart hat . "
Sie streichelte an Marys verweintem Gesicht herum .
" Tante Lisabeth " - in plötzlicher Aufwallung preßte Mary , die sonst sehr wenig zärtlich war , die Hand der Tante an die Lippen - " ich muß dir sprechen ; ich bin so schlecht , ich bin eine Scheusal ! "
Sie zog die Tante ins Haus .
In dem kleinen , abgelegenen Jagdzimmer verbarg Mary den Kopf in den Schoß der Tante , und nun beichtete sie , von Anfang an .
Sie beschönigte nichts .
Wie sie am ersten Tage ihrer Ankunft auf Nedderdorf die Milch heimlich fortgegossen , und wie sie die Tante seitdem durch Wort und Tat oft getäuscht hatte , bis zu dem heutigen Tage , da der Himmel ihre Schlechtigkeit durch den Tod der alten Frau ans Licht brachte .
Es blieb still in dem kleinen Zimmer , als Mary geendet hatte ; das junge Mädchen wagte nicht den Kopf zu heben .
Aber als Tante Lisabeth noch immer nicht sprach , als sich ihr Zorn nicht entlud , wie Mary es doch erwartet hatte , da warf das Backfischchen einen scheuen , schnellen Blick auf die Tante .
Was war das ?
Tante Lisabeth weinte !
Über ihr sonst immer heiteres Gesicht rannen große Tränen !
Die Tante weinte um sie - über ihr böses Tun . . .
" Nein , Tante Lisabeth , du sollst nicht weinen um mir !
Das verdiene ich nicht .
Du sollst mir schelten , mir strafen , aber nicht weinen - dear aunt Lisabeth ! "
Mary schlang beide Arme um die Tante ; das sonst so zurückhaltende Mädchen versuchte immer wieder ihre Lippen auf die Hand der Tante zu drücken , die sich ihr entzog .
" Dear aunt Lisabeth , sprich doch endlich eine Wort !
Ich will mir ja besseren ; ich will sagen kein Lügens mehr all my live !
Ich werde immer sein aufrecht - sei doch nicht traurig um mir ! "
Tante Lisabeth erhob sich .
" Ich kann es nicht mehr glauben , daß du von nun an aufrichtig sein wirst , Mary ; ich habe kein Zutrauen mehr zu dir .
Ich habe dir mütterliche Liebe und Vertrauen entgegengebracht , wie ich es für meine Leni empfand ; meine Liebe hast du unerwidert gelassen , mein Vertrauen getäuscht ! "
Die Tante faßte nach der Türklinke , aber noch einmal hielt Mary sie zurück " Ich - ich - Tante Lisabeth - ich habe dir ja lieb - ich habe dir gleich lieb bekommen - ich habe mir nur geschämt , es zu zeigen .
Ich habe gedenkt , es sei kindisch und unfair .
Und dann - später hast du mir auch nicht mehr geliebt ! "
Mary ließ den Kopf tief sinken .
Frau Lisabeth hemmte den Schritt ; überrascht blickte sie auf ihre Nichte .
Hatte sie hier etwas versäumt und das junge Herz , das sich nach Zuneigung sehnte , nach den ersten mißglückten Versuchen nicht genug zu sich herangezogen ?
Ihre eigene Ehrlichkeit konnte sie nicht ganz von einem Vorwurf freisprechen .
Rasch schlang sie mit festem Druck den Arm um Marys schlanke Gestalt .
" Dirn - ich bin wohl auch mit schuld an deiner Unaufrichtigkeit .
Hätte dich mehr an mein Herz und in meine Hut nehmen müssen !
Jawohl , " nickte sie , als Mary den blonden Kopf schüttelte .
" Aber das läßt sich ja wieder gutmachen ; es ist noch nicht zu spät dazu , wenn wir zwei nur wissen , wie wir zueinander stehen .
Freilich , mein Vertrauen , das mußt du dir erst wieder erringen ; aber wenn du mich wirklich lieb hast , wird dir das wohl nicht zu schwer fallen .
Komme nur immer zu mir , mit allem , was dich bedrückt ; ich will dir schon helfen , das Unkraut auszujäten , damit das Gute in deinem Herzen emporblühen kann .
Ja , Dirn , soll es so sein zwischen uns ? "
Mary vermochte nicht zu antworten .
So hatte noch niemand zu ihr gesprochen ; solche ernste , gute Worte waren noch nie an ihr Ohr gedrungen .
Aber sie hatten auch den Weg zu ihrem Herzen gefunden ; heiß stieg es ihr wiederum in die Augen .
Sie schmiegte fest den Kopf an die Brust der Tante .
" Mutig - Lisabeth - in welches Mauseloch bist du nur geraten ?
Du fehlst an allen Ecken und Enden !
Hat dich der Erdboden etwa verschluckt ? "
So ertönte von draußen her die laute Stimme des Gutsbesitzers .
Noch einmal klopfte Tante Lisabeth aufmunternd Marys Wange .
" So , und nun wird ein anderes Gesicht aufgesetzt , Dirn !
Onkel ruft , der braucht nichts von der Sache zu wissen ; er würde sich bloß um sein Bruderkind grämen .
Der heutige Tag gehört unseren Arbeitern , die sich die » Austköst « durch wackeres Schaffen redlich verdient haben .
Jetzt ist genug geschnackt ; nun heißt_es Fixing an die Arbeit ! "
Damit schritt die Tante Mary voraus in den breiten Hausflur .
" Je , Mutig , wo hast du dich denn verkrochen ?
Nanu , Regenwetter ?
Donnerlitchen , hat hier etwa jemand den Kopf gewaschen bekommen ? " setzte Onkel Waldemar mit hochgezogenen Augenbrauen hinzu , Marys verweintes Gesicht musternd .
Frau Lisabeth winkte ab , und Herr Waldemar Sürsen verstand seine Fran auch ohne Worte .
" Mutig , du wirst an vier Orten zu gleicher Zeit gewünscht , " begann der Landwirt aufs neue .
" Karl Heinz und Jürgens sind uneins , ob die Musikanten sich schöner an der Scheunentreppe oder nach den Kornböden zu machen .
Mamsell kann den Leinenschrankschlüssel nicht finden , Gusting will die Görentafel gar nach dem Meßhof zu decken , und Fräulein fragt , in welchem Kleide Suschen heute erscheinen soll . "
Frau Lisabeth war mit einem kurzen Stoßseufzer bereits wieder davon , um überall ihre Meinung abzugeben und selbst mit Hand anzulegen , wo es Not tat .
Mary lief wie ein Hündchen hinter der Tante her und vollführte eine jede ihrer Anordnungen mit grenzenlosem Eifer .
Wie stolz war sie aber auch , als Tante Lisabeth anerkennend sagte :
" Sieh , Dirn , du läßt dich ja recht brav an ; bist gar nicht so dämlich , wie du manchmal aussiehst . "
Punkt drei Uhr war alles zum Empfang der Gäste bereit .
Die drei Tafeln standen in Reihe und Glied ; Mary hatte jede in einer anderen Farbe mit Feldblumen geschmückt .
Die dickbäuchigen Riesenkaffeekannen , noch aus Großvaters Zeiten , dampften auf dem Herde , und Karl Heinz war endlich mit seiner Arbeit , die braunen Holzpfeiler der Tenne mit rotem Tuch zu benageln , zu Ende gekommen .
Draußen aber in der Kirschenallee stolzierte mit heißem Gesicht und weißbaumwollenen Handschuhen der alte Jürgens ; in seinem grüngrauen Flausrock prangte eine leuchtende Nelke .
Er war heute der Minister an dem Hofe und empfing die Gäste .
Da kamen sie auch schon .
Zuerst sah man nur eine mächtige graue Staubwolke sich auf der Straße näherschieben , dann vernahm man die nicht ganz rein geblasenen Klänge :
" Deutschland , Deutschland über alles " , und schließlich erkannte man voran den fast tauben Nachtwächter , den Schneider , der gleichzeitig Barbier war , und den Gemeindeschäfer mit ihren Blasinstrumenten .
Das war die Musikkapelle .
Daran reihte sich der Zug der Tagelöhner und ihrer schön herausgeputzten Weiber ; mit Kind und Kegel ging es auf den Hof zur Gutsherrschaft .
Den Schluß bildeten die Gören ; singend , johlend und sich balgend zogen sie den kommenden Erntefreuden entgegen .
Blondzopfige Mädchen mit hellen , runden Gesichtern und blanken Augen , Erntekränze in den Händen und den buntbebänderten Rechen über der Schulter , umgaben " Snutkens Marieken " , die mit steif ausgestreckten Armen die Erntekrone vor sich her trug .
Sie war als das " schmuckste Maten " zu dieser Ehrenrolle ausersehen worden .
Durch den Garten ging der Zug , von Jürgens geführt , vor das große Hausportal , wo der Gutsherr seine Arbeiter empfing .
Die Musikkapelle blies einen gutgemeinten Tusch , nur der taube Nachtwächter war um fast vier Takte zurück ; aber es machte sich auch so ganz schön .
Dann trat Marieken glutübergossen hervor , stotterte in unverständlichen Worten den althergebrachten Erntespruch und überreichte ihre Erntekrone .
Der Herr erwiderte ein paar aus dem Herzen kommende Worte vom treuen Zusammenhalten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer und von dem Segen Gottes , der ihren Fleiß auch in diesem Jahre gekrönt hatte .
Damit war die offizielle Feier vorüber , und die Fidelitas konnte beginnen .
Zum Zeichen , daß der offizielle Teil des Erntefestes vorüber sei und die Lustbarkeit nun in ihre Rechte trete , zog Jürgens seine weißbaumwollenen Handschuhe aus und führte die Mannslüd , alle seine guten Freunde , zu der ersten Tafel .
An der zweiten nahmen die Weiber unter Dörthes Vorsitz Platz , und an der Görentafel präsidierte Karl Heinz , während Hänschen und Fränzchen ihm Adjutantendienste leisteten .
Mary aber lief im weißen Sommerkleide , einen Kranz von tiefroten Mohnblumen in dem lichten Blondhaar , von einer Tafel zur anderen .
Sowie eine der Kaffeetassen leer war , winkte sie Gusting und Kerlin mit ihren schweren Kannen herbei ; sie sorgte auch für Milch und Zucker und eilte dann wieder zu Tante Lisabeth , um eine neue Ladung Kuchen in Empfang zu nehmen .
Sie ermunterte die Leute so freundlich , zuzugreifen , daß oll Riebensam , der sich der Vorsicht halber schon gleich drei Stück Topfkuchen auf einmal genommen hatte , nicht umhin konnte , das halbe Dutzend auf seinem Teller voll zu machen .
Das heißt neben seinem Teller , denn es schien ihm doch schade darum , den schönen " Blagen Teller " erst noch schmutzig zu machen .
Es sah aus , als ob Mary bemüht sei , hier an den armen Leuten ihren häßlichen Hochmut vom Vormittag wieder gutzumachen .
Sie ließ sich sogar dazu herbei , lütt Wising über das mit Wasser glattgestriegelte Haar und die steif abstehenden Zöpfchen zu fahren , und Körling eine große Rosine in das stets geöffnete Mäulchen zu schieben .
Als die Leute ihr möglichstes in Essen und Trinken getan hatten , wurde der noch übrige Kuchen verteilt .
Frau Lisabeth schritt von einer Hausmutter zur anderen und legte in den neben einer jeden stehenden Korb ein umfangreiches Stück .
Dann setzten die Gäste ihre Tassen zusammen , und die Frauen trugen sie eigenhändig in die Küche .
Anders taten sie es nicht ; es war ihnen schon peinlich genug , sich beim Essen bedienen zu lassen .
Gleich nach dem Kaffee ging das Tanzen los .
Wer von den Mannsleuten nur über einigermaßen gerade Knochen verfügte , ließ das kurzstummeliche Pfeifchen ausgehen und führte seine Schöne auf den Tanzboden .
Ein allgemeines " Ah " der Überraschung wurde laut .
Wie prächtig hatte Karl Heinz aber auch die Tenne hergerichtet !
Eichenlaubgewinde , die jedem tanzenden Paare störend um den Kopf baumelten , zogen sich von einem rotbehängten Pfeiler zum anderen .
Als es schummerig wurde und Jürgens die sechs an dem Holzgebälk befestigten , ein wenig nach Petroleum riechenden Stahllaternen entzündete , denn jedes offene Licht war beileibe in der Scheune verboten , da wurde es erst recht schön .
Karl Heinz , der Tausendsasa , hatte jede Laterne mit rotem , blauem , grünem und gelbem Papier beklebt , und wenn man auch eigentlich " nicht recht was bi das olle bunte Tüg kieken kund " , wie der praktische Jürgens meinte , schön war es doch !
Unten im Hof tanzten die Gören ; was Beine hatte , sprang durcheinander .
Fränzchen blies dazu auf seiner Kindertrompete , und Hänschen auf seiner Mundharmonika , daß Mutig sich verzweifelt die Ohren zuhielt .
Plötzlich setzte die Musik besonders schön ein ; der Nachtwächter , der Schneider und der Schäfer trompeteten , was das Zeug hielt .
Jürgens hatte die Weißbaumwollenen wieder übergestreift und ging mit feierlichem Gesicht auf die Scheunentür zu , in die soeben Frau Lisabeth zum Zusehen getreten war .
Dann stampfte er , seine Gutsherrin behutsam von sich abhaltend , mit schweren Schritten , daß die Holzfugen krachten , im Hopsertakt " up un dal " , während sich der Gutsbesitzer lächelnd mit " Snutkens Marieken " , der Erntekönigin , drehte .
Noch einmal sollte am heutigen Tage Marys nicht ganz geheilter Hochmut zum Ausbruch kommen .
Das war , als der brave Jürgens nun mit breitem Lächeln auch zu ihr trat .
" Na , lütt Fräulein Miß , nun möten wie twei will ok noch 'n Bummelschottschen maken , was ? "
Er streckte wie selbstverständlich die Hand nach ihr aus , um sie zum Tanz zu führen .
Mary aber zog sich in die äußerste Ecke zurück .
" Oh , no - ich kenne das Tanz nicht ! "
Damit machte sie dem verblüfften Knecht eine kunstgerechte Verbeugung und lief schnell aus der staubigen , dunstigen Tenne hinaus in den Hofraum .
Mit Jürgens tanzen , dessen graugrüner Flausrock so nach dem Pferdestall roch ?
Oh no , tat was Not possible !
Tante Lisabeth , die nicht weit von ihr gestanden hatte , folgte ihr .
" Mary , " sagte sie vorwurfsvoll , " du hast den guten Jürgens mehr gekränkt , als du ahnst .
Wer in die Tenne kommt , muß auch tanzen ; hier auf dem Land ist das nicht so wie bei den Stadtbällen .
Hast du so schnell vergessen , daß du deinen häßlichen Stolz beiseite lassen wolltest ? "
Mary senkte die Wimpern , und als der Nachtwächter kurz darauf zur Damenwahl blies , trat sie mit plötzlichem Entschluß auf Jürgens zu .
" Das ist eine Galopp ; von dieses Tanz weiß ich mehr , " und sie ließ sich von ihm herumschwenken , links und rechts , bis er sie mit einem schmunzelnden " Ich heut jo immer seggt , uns' Fräulein Miß is nicht schlicht , man bloß so 'n beten verbohrt , " wieder absetzte .
Draußen auf dem Wäscheplatz hatte man inzwischen quer herüber Leinen gezogen .
Aber statt Handtüchern , Bettstücken und Kinderkleidern wippten heute runde und längliche Lampions , die Vating selbst angezündet hatte , daran auf und nieder .
" Das ist eine Galopp ; von dieses Tanz weiß ich mehr , " sagte Mary und ließ sich von Jürgens herumschwenken .
Im magischen Schein dieser feenhaften Beleuchtung mundete der " Swinebraden mit Klüte " und das Erntebier noch Mal so gut , und oll Riebensams Rede auf die Gutsherrschaft blieb an derselben Stelle stecken , wie in jedem Jahr .
Zum Schluß wurde gesungen ; frische , klangvolle Stimmen mischten sich mit alten , ausgeleierten , aber jeder gab_es , so gut er es konnte .
Doch plötzlich horchte alles auf .
Diese glockenreinen , hellen Töne , so konnte es niemand von ihnen !
Aller Blicke wandten sich zu dem Herrschaftstisch .
Da sang das lütt " Fräulein Miß " , die das Lied kannte , lustig mit den anderen im Chor , und ihre Stimme schwebte wie Engelgesang durch die linde Augustnacht .
Als das Lied zu Ende war , zog der Onkel die große Mary auf sein Knie .
" Dirn , " sagte er mit bewegter Stimme , " solch einen Schatz hast in deiner Kehle , und den verbirgst du vor uns ?
Du bist ja kein Piep Tabak wert , du Schlingel !
Täuw du man , jetzt wirst du mir jeden Abend ein Lied vorsingen !
Strafe möt sin ! "
Die Gäste verabschiedeten sich endlich mit einem treuherzigen " Ich bedank ' mi ok velmals " , und den brennenden Ballons , wovon jedermann einen mitnehmen durfte .
Mary stand allein in der dunklen Veranda und schaute dem Zuge der Dorfleute nach .
Die schrille Musik klang noch lange zu ihr herüber .
Da mußte sie mit einem Male an das letzte Haus im Dorf denken , wo die stille Alte im ewigen Schlaf ruhte .
Es wurde ihr weh um das eben noch fröhliche Herz .
" Ich werde das heutige Tag nicht vergessen , " sagte sie leise vor sich hin .
" Ich will nicht wieder sein schlecht und stolzmütig , und ich will sagen von jetzt stets ehrbar das Wahrheit .
Du sollst sein zufrieden mit mir , Tante Lisabeth ! "
Genesung .
Laue Luftwellen der warmen Sommernacht fluteten durch das weit geöffnete Fenster .
Sie mischten sich mit dem scharfen Medizingeruch und durchdringenden Lysoldunst , der durch die Türspalte aus dem Kinderzimmer hereindrang .
Tiefe Stille herrschte .
Nur das ruckweise Atmen der schlafenden Miß , das leise Rauschen und Flüstern in den Zweigen des Akazienbaumes draußen ließ sich vernehmen .
Leni lauschte mit verhaltenem Atmen .
Alles still und friedlich ; selbst das todkranke Kind nebenan schien ruhiger geworden zu sein .
Der heiße Kopf warf sich nicht mehr unstet hin und her ; das wilde , zusammenhanglose Phantasieren war verstummt .
Dennoch fand Leni keinen Schlaf .
Mit weitgeöffneten Augen starrte sie in das Dunkel der Nacht .
So lag sie schon stundenlang .
Morgen sollte es sich entscheiden - endlich !
Tag für Tag hatte Lenis Auge mit banger Frage an den ernsten Zügen des Arztes gehangen ; ein Achselzucken war meist die Antwort , die ihr zu Teil wurde .
Heute hatte der verzweifelte Vater wieder drei der berühmtesten Ärzte an das Lager seines Lieblings berufen .
Sie taten alle den gleichen Ausspruch :
" Die Krisis abwarten !
Sie wird voraussichtlich morgen eintreten , und von ihr allein wird Leben oder Tod abhängen ! "
Onkel Richard war , trotzdem der alte Hausarzt ihm sagte , daß ein Professor der Chirurgie bei dieser Krankheit gar nichts tun könne , doch noch zu dem bekannten Mr .
William Humpty gefahren , von dem man sich wahre Wunderkuren erzählte .
Auch er wollte am nächsten Morgen eine Untersuchung vornehmen , und wenn dann alle diese Ärzte der Kleinen nicht zu helfen wußten , dann - Leni vermochte den Gedanken nicht zu Ende zu führen .
Es wurde ihr plötzlich Angst und heiß auf ihrem Lager ; sie schlug die Decke zurück und fuhr in die Schlafschuhe .
Unhörbar glitt sie durch das Zimmer ; noch einmal lauschte sie zur Kinderstube nebenan .
Alles blieb ruhig wie zuvor .
Schwer lehnte sie das müde Haupt gegen die Fensterbrüstung .
Der blaßgrünliche Zitterschein der dünnen Mondsichel huschte über ihr Gesicht .
Es war in den acht Tagen der qualvollen Sorge und zagen Hoffnung schmal und bleich geworden .
Leni hatte sich nicht in ein anderes Stockwerk betten lassen , sondern gebeten und gefleht , bei ihrer Lizzie bleiben zu dürfen , so daß man schließlich ihre Schlafstätte im Nebenraum , dem Zimmer der Miß , aufschlug .
Und es war gut , daß sie Tag und Nacht in der Nähe war .
Das schwer fiebernde Kind verlangte unausgesetzt nach Leni ; oft hatte nur ihre Stimme die Macht , die erregte Kranke zu beruhigen .
Wenn Leni mit weicher Hand über die glühende Kinderstirn fuhr und mit tränenerstickter Stimme flüsterte : " Mein Dirn , mein oll Leif Dirn , bleibe man ruhig , schweig man rein still ; das wird ja alles wieder gut , mein Lüttes ! " , dann ließ das krampfartige Zucken und Arbeiten der Gesichtsmuskeln sofort nach .
Die Hände griffen nicht mehr so angstvoll in die leere Luft , und die wirren Reden , bei denen Leni fast das Herz vor Entsetzen stillstand , wurden leiser .
Mit Gewalt schickten der Onkel und die nurse , die sich in die Nachtwache teilten , sie des Abends ins Bett ; aber nur selten kam ihren heißen , brennenden Augen der erlösende Schlaf .
Leni erschauerte in dem linden Hauche der Nacht .
Wie schwarz und gespensterhaft sich die Baumschatten dort unten dehnten !
Sie , die niemals Furcht gekannt hatte und als kleines Kind ohne jede Angst in dem dunkelsten Stall und dem finstersten Bodenraum herumgekrochen war , konnte plötzlich ein unheimliches Gefühl nicht unterdrücken .
Leni graulte sich ; und als jetzt von dem Lager der Miß her ein seltsames Fauchen , Pfeifen und Prusten herüberdrang , riß sie ihre Blauaugen entsetzt auf .
Was war das ?
Scheu blickte sie in dem vom bleichen Schein des Mondes matt belichteten Raum umher .
Das harmlose Schnarchen der Miß erklang ihrer überreizten Phantasie wie das Fauchen eines Raubtieres , das seine Krallen nach ihrer lieben Lizzie spreizte .
Beide Hände preßte sie gegen das laut schlagende Herz .
Da - eine Sternschnuppe !
Im silberigen Bogen schoß das glitzernde Licht durch die dämmerige Nacht .
Drüben am Ende der hohen Pappelallee zuckte es verlöschend zur Erde .
Ach , hätte sie sich doch nur etwas gewünscht !
Die alte Dörthe daheim , die voll Waldsagen und wundersamer Märchen steckte , hatte ihr einst erzählt , auf jeder Sternschnuppe reite ein Engel zur Erde hernieder , und wenn ein gutes Kind im selben Augenblick einen Wunsch ausspreche , erfülle er ihn .
Von jetzt an wollte sie aber besser achtgeben !
Die nächste Sternschnuppe - da - " Mache Lizzie gesund ! " stießen Lenis Lippen bebend hervor , denn ein flammender Stern war durch das lautlose Dunkel wieder zur Erde geglitten .
Gleich darauf aber schlug das junge Mädchen beide Hände vor das Gesicht .
Was Vating wohl dazu sagen würde , ihr kluger Vater , der jeden Aberglauben haßte , der seinen Kindern nicht früh genug die wunderbaren Naturerscheinungen erklären und ihrem Verständnis zugänglich machen konnte !
Es war Leni , als ob seine liebe grollende Stimme durch den Frieden der Nacht zu ihr drang : " Leni , Dirn , Kopf hoch !
Bist etwa eine zimpferliche Stadtjungfer geworden ?
Mein frisches , wildes Mädel kannte weder Furcht noch Aberglauben !
Ich sollte doch denken , ich hätte mein Tüchtig so erzogen , daß es allerwärts , wo immer es ist , den Lehren seines Vaters eingedenk bleibt ! "
Und die Mutter ?
" Ach , Mutig , liebes , liebes Mutig ! "
Lenis Augen suchten voll Sehnsucht die schwarze Ferne .
Nie hatte sie solche Bangigkeit nach der Heimat gespürt , nie so den heißen Wunsch gehegt , nur ein einziges Mal wieder den Kopf an der treuen Mutterbrust bergen zu dürfen .
Dann wäre ja alles gut - das wußte sie - wenn Muttings weiche Hand ihr das Haar streichen , und ihre beruhigende Stimme zärtliche Worte sprechen könnte .
Aber sie war allein in der Fremde , mit ihrem jungen , angstvollen Herzen auf sich selbst angewiesen .
Allein ?
Sie blickte zu der mit Milliarden von funkelnden Sternen besäten schwarzblauen Himmelskuppel empor .
Trostverheißend und friedenatmend sandten die Sternlein da oben ihren milden Schein zu dem jungen , zagenden Erdenkind hernieder .
Und plötzlich wußte Leni auch , wie Mutig zu ihr sprechen , sie auf den verweisen würde , der immer und überall mit uns weilt .
Hatte sie denn zu ihm schon recht innig gebetet ?
Hatte sie den lieben Gott schon richtig um Lizzies Leben angefleht ?
Eine rasche Blutwelle jagte über Lenis Gesicht .
Ach , sie hatte hier in dem lauten Getriebe der Millionenstadt , bei den stets wechselnden , sich jagenden neuen Eindrücken ihren alten innigen Kinderglauben überhaupt ganz vergessen .
Sie hatte keine Zeit gefunden , morgens und abends zu beten , wie sie es von daheim gewöhnt war .
Sie war des Sonntags wohl mit den anderen zur Kirche gegangen , aber die Gotteshäuser waren hier so riesengroß .
Da gab es viele schön geputzte Menschen ; man sang in einer fremden Sprache fremde Lieder .
Es war ganz anders wie daheim in ihrem schlichten kleinen Dorfkirchlein an der Waterkant .
So fest , daß es sie schmerzte , preßte Leni die pochenden Schläfen gegen das kühle Fensterkreuz .
Aber jäh hob sie mit einer schnellen Bewegung das Haupt .
Wieder suchten ihre Augen die Sterne dort oben .
Ihre Hände falteten sich , die Lippen bewegten sich lautlos ; ein stummes Gebet rang sich aus der jungen Mädchenseele zum Allvater empor .
Ruhiger und stiller wurde es in ihr ; mit dem alten frommen Glauben zog auch der alte Frieden und die feste Zuversicht auf den Helfer in der Not wieder in ihr stürmisch erregtes Gemüt .
Sie fühlte plötzlich eine schwere , wohltuende Müdigkeit in ihren Gliedern ; langsam wandte sie sich ins Zimmer zurück .
Ihr Fuß stockte .
Hatte da nicht eine Tür leise in der Angel geknarrt ?
Durch die schmale Spalte konnte sie gerade die Zimmerecke nebenan überschauen , in der Lizzies Kinderbett stand .
Das trübselig flackernde Nachtlämpchen malte seltsame Schatten auf das weiße Kissen und die wirren blonden Kinderlocken .
Der Kopf der übermüdeten Pflegerin war schwer nach vornüber gesunken ; sie schien eingeschlummert .
Leni hielt den Atem an ; sie rührte sich nicht .
Ein scheuer Fuß nahte sich behutsam dem Lager der jungen Kranken ; eine helle schlanke Gestalt mit flatterndem Haar wurde sichtbar .
Es war Lizzies Mutter , die tagsüber nur für Minuten am Bett ihres kranken Kindes zu verweilen pflegte .
" Ihre zarten Nerven vertragen den Karbolgeruch nicht , " hatte der Onkel mit einem herzzerreißenden Lächeln gemeint .
Und jetzt ?
Leni sah , wie die Tante die emporfahrende Pflegerin zur Ruhe schickte und selbst den Platz an dem Kinderbett einnahm .
Lenis Herz schlug so laut , daß sie meinte , es müsse der Tante die Lauscherin verraten ; sie wagte nicht , sich zu bewegen .
Die Tante war an Lizzies Bett niedergesunken ; ihr blonder Kopf ruhte an der kalten Messingstange .
Eine starke Erschütterung schien ihren Körper zu durchbeben .
Was war das ?
Tante Jane , die kühle und stets gemessene lady , war einer tiefen Empfindung fähig ?
Sie , die sich die ganze Zeit nur so wenig um ihr Kind gekümmert hatte ?
Wie oft hatte Leni an ihr Mutig denken müssen , die nicht vom Bett eines Kindes wich , selbst wenn nur eine leichte Kinderkrankheit die Kleinen ans Lager fesselte .
Fühlte auch Lizzies Mutter heute den düsteren Flügelschlag des finsteren Todesengels , der seine Kreise enger und enger um dieses Haus zog ?
Leises , unterdrücktes Weinen rang sich von den Lippen der Tante , fast unhörbar .
Leni fühlte , wie es auch ihr heiß in die Augen stieg .
Ihrem feinen Empfinden widerstrebte es unbewußt , hier den großen , geheimen Schmerz einer Mutter zu belauschen .
Geräuschlos tastete sie sich zu ihrem Lager zurück .
Da hielt sie aufs neue inne .
Wieder hörte man die Tür gehen .
Die schweren Tritte mit rührender Sorgfalt dämpfend , trat der Onkel ins Nebenzimmer , um die nurse in der Nachtwache abzulösen .
War es der fahle Schein des knisternden Nachtlichtes , der Onkel Richards Züge so grau und verstört erscheinen ließ , oder die heiße Angst um seinen todkranken Liebling ?
Oder waren die häufigen , erregten Besuche seines alten Buchhalters daran schuld ?
Überrascht hemmte der Onkel den Schritt und beschattete die Augen mit der Rechten .
Nein , es war kein Trugbild , kein Hirngespinst .
Dort am Bettchen kniete Jane , seine Jane ; die Mutter kam endlich zu ihrem Kinde .
Schwer legte sich seine Hand auf die Schulter der Zusammenzuckenden .
" Jane - du - du ? "
Mehr vermochte er nicht hervorzubringen .
Es blieb lange still in dem Kinderzimmer .
Leni zitterte an allen Gliedern .
Mit beiden Händen hielt sie den Metallpfosten ihres Bettes umklammert .
Sie getraute sich kaum noch zu atmen .
Wieder drang des Onkels Stimme ihr ans Ohr .
Sie klang heiser ; die Worte lösten sich nur schwer von seinen Lippen .
" Jane , daß du doch gekommen bist - wie danke ich dir , Jane ! "
Leni konnte die Zimmerecke nebenan nicht mehr überblicken , aber an den riesenhaft verzerrten Schatten , die an der Wand hin und her zuckten , erkannte sie , wie der Onkel die Hand seiner Frau an die Lippen zog .
Dann sah sie , wie Tante Jane sich erhob ; bis ins Unendliche wuchs ihr Schatten und verschmolz mit dem breiteren , plumperen des Onkels .
Tante Jane hatte den Kopf an Onkel Richards Brust geborgen .
Eine seltsam geformte Riesenhand schien über den Frauenkopf zu streichen .
" Dick - ich wäre auch heute noch nicht gekommen , wenn - "
Der Schatten bewegte sich zitternd auf und nieder , und immer leiser wurde das Flüstern im Nebengemach .
Leni wollte nicht horchen , aber ihre Gehörnerven waren in der tiefen Stille der Nacht , in der sie fast das Gleiten der dahinfliehend Sekunden zu hören vermeinte , bis aufs äußerste gespannt .
Ein jeder Laut drang bis zu ihr .
" Ich bin schlecht , Dick !
Ich habe mich vor der Krankheit und dem Sterben gefürchtet ; es ist so häßlich , und du hattest mich wie selbstverständlich ausgeschaltet , hast alles mit der nurse allein besorgt .
Im innersten Herzen war es mir recht so .
» Ihr macht das ja tausendmal besser ! «
Damit versuchte ich , mein Gewissen zu betäuben , das sich manchmal nicht zum Schweigen bringen ließ .
Lizzie war immer ein störrisches Kind .
Ihre Augen hatten immer etwas unbequem Fragendes , ihr Wesen war mir immer fremd geblieben .
Aber heute Nacht , da wurde es mir offenbar !
Da hat Gott es mich fühlen lassen , daß es mein Kind ist , das da mit dem Tode ringt , mein Fleisch und Blut - o , dieser Traum , dieser schreckliche Traum ! "
Wieder strich die riesige Schattenhand beruhigend das lange , gelöste Frauenhaar .
" Jene anklagenden Kinderaugen - o , sie darf nicht sterben , Dick !
Keine ruhige Minute könnte ich mein ganzes Leben lang mehr haben ! "
Wildes Entsetzen schien Tante Janes Gestalt zu schütteln , aber die Männerhand legte sich ihr weich und fest auf die zuckenden Lippen .
" Still , Kind , still ! " flüsterte er sanft beschwichtigend .
" Nicht mehr daran denken !
Du hast den richtigen Weg ja nun mit Gottes Hilfe gefunden .
Nun wollen wir gemeinsam gehen , Hand in Hand , und miteinander versuchen , dem schwarzen Würger unser Kind abzuringen ! "
Er trat an den Eisbehälter und erneuerte die Eisfüllung für die glühende Stirn der Kranken .
Als er zum Kinderbett zurücktrat , streckte ihm Tante Jane beide Hände entgegen .
" Ja , Dick , wir wollen zusammengehen , miteinander - wie ganz zuerst !
Ich weiß , du hast auch sonst Sorgen - ich weiß es , Dick , " fügte sie mit festerer Stimme hinzu , als Onkel Richard müde das Haupt schüttelte .
" Nichts heute davon , Jane !
Das ist ja alles gleichgültig , klein und nichtig diesem Einen , Großen gegenüber . "
Aufs neue schlang er den Arm um sie .
" Ich habe dich heute wiedergefunden .
Gott gebe , daß ich auch mein Kind behalten darf !
Dann will ich allem anderen mutig entgegentreten . "
Sie verstummten wieder .
Nur das Knistern und Knacken des Öllämpchens ließ sich hören , das seltsame tickende Geräusch der dahineilenden Zeit .
Hand in Hand wachten die Eltern am Bette ihres Kindes .
Im Nebenzimmer aber drückte ein Backfischchen das tränenüberströmte Gesicht in das Kissen .
Dann verlangte die Natur auch hier ihre Rechte ; Leni weinte sich allmählich in den Schlaf .
Als sie aus unruhigem Schlummer wieder emporfuhr , stand die Sonne schon hoch .
Das Bett der Miß war bereits leer , die Tür zum Krankenzimmer geschlossen .
Die Augenlider wollten Leni noch nicht gehorchen ; sie konnte sich nicht gleich in der blendenden Tageshelle zurechtfinden .
Was für ein wüster Traum war das doch heute Nacht gewesen ?
Nein , es war ja Wahrheit !
Lizzie war sterbenskrank ; heute sollte die Krisis eintreten !
Mit einem Satz fuhr Leni aus dem Bette .
Ach , wie gut tat das kalte Wasser den brennenden , übernächtigen Augen und der schmerzenden Stirn !
Immer wieder preßte Leni den Schwamm mit dem erfrischenden Naß über das bleiche Gesicht .
Horch - sang da nicht jemand ?
Leise und wehmütig klangen die Töne aus dem Nebenzimmer herein ; es war Lizzies dünnes Stimmchen :
" Wenn ich ein Vöglein wäre , Und auch zwei Flüglein hätte - - - " Klagend und sehnsüchtig zogen die Töne des deutschen Liedes , das Leni sie gelehrt hatte , durch den stillen Morgen .
Mit fliegender Hast warf das junge Mädchen die Kleider über .
Lizzie sang !
Ging es ihr besser , war die Krisis gekommen ?
Leni breitete die Arme aus ; sie hätte im Überschwang der Gefühle die ganze Welt umarmen mögen .
Wie die Blumenkinder sind die jungen Menschenkinder !
Eines Sonnenstrahls nur bedarf es , und die Blütenköpfchen , die noch eben kleinmütig zu Boden hingen , richten sich empor , um beim nächsten Windstoß wieder zagend das Haupt zur Erde sinken zu lassen .
Erstarke , Leni !
In dir selbst mußt du den festen Halt finden , daß Wind und Wetter dir nichts mehr anhaben können .
Sturm und Regen bleiben keinem Leben erspart .
Es ging nicht besser mit Lizzie !
Das Fieber stieg immer mehr .
Sie sang , lachte , schlug um sich ; böse Fiebergebilde ängstigten die arme Kranke .
An ihrem Bett saß noch immer regungslos die Mutter ; kaum hatte Onkel Richard sie dazu gebracht , einen Schluck Tee zu nehmen .
Sie hielt die brennende kleine Hand in ihren kühlen Fingern und sah mit großen , tiefumschatteten Augen auf das zuckende Gesicht .
" Ist die Krisis noch immer nicht da ? "
Wie ein Hauch wagte Leni es der Krankenpflegerin zuzuflüstern .
Wieder nur ein ernstes Kopfschütteln .
Das Thermometer in der Hand trat die nurse an die Fiebertabelle , um das Ergebnis der eben stattgefundenen Messung aufzuschreiben .
Leni lugte ihr über die Schulter .
Himmel - über vierzig Grad ! Seit einer Stunde war das Fieber wieder um fast fünf Striche gestiegen !
Scheu schlich Leni sich aus dem Zimmer Sie hielt es dort oben nicht aus ; ihr war so eng , so Angst , die Brust so eingepreßt - ach - einmal nur den herben kräftigen Meereshauch wieder einatmen können , wie er daheim von der Waterkant her über den Windmühlenberg wehte !
Es war still im Hause .
Onkel Richard hatte sich auf eine halbe Stunde hingelegt , den Bitten seiner Frau nachgebend , trotzdem er wußte , daß er keinen Schlaf finden würde .
Sie selbst war nicht zur Ruhe zu bewegen .
Auch Bobby schien noch zu schlafen .
Leni hatte ihn die Zeit über nur zu den Mahlzeiten zu Gesicht bekommen .
Er steckte den ganzen Tag mit seinen Freunden , die natürlich gleich nach Ausbruch der Krankheit ihren Besuch auf eine gelegenere Zeit verschoben hatten , in den Sportparks .
Er ritt auf Puck , Charles Edwards neuem Pony , genau so einem , wie er es sich brennend wünschte , schoß mit dem Rohr nach den Spatzen und fand es im übrigen von Lizzie unverantwortlich rücksichtslos , gerade in der Ferienzeit krank zu werden .
Das Breakfast stand bereit , bestehend aus Tee , Brot , Butter , Marmeladen , dem geräucherten Fisch , der nie fehlen durfte , und kaltem Fleisch .
Leni nahm einige Bissen ; sie würgten sie im Halse .
Unter des Onkels Briefschaften lagen zwei Karten an sie .
Die eine , von einer unfertigen Knabenhand an " Fräulein Leni Sürsen " adressiert , wurde zuerst gelesen .
Aber selbst die frischen , lustigen Zeilen ihres leiwen Karling vermochten Leni heute kein Interesse abzugewinnen .
Die Nachricht , daß Säutsnut Mutter von sechs prächtigen Karnickelbabys geworden sei , und Jürgens sich einen grasgrünen Kragen auf seinen Flausrock habe nähen lassen , ließ das junge Mädchen ganz teilnahmlos .
Auch die an " Miß Ellen Surfen " gerichtete Ansichtskarte aus den Scottish Highlands , die von ihrer Schulfreundin Gerty Newton herrührte , wurde schnell beiseite gelegt .
Die Schule - ach , wie weit lag das alles zurück !
Es schien Leni , als ob sie in dieser einen Woche um Jahre älter geworden sei .
Sie trat an das Fenster und schob die Scheibe in die Höhe .
Auch draußen im Garten kein erfrischender Hauch ; eine seltsam drückende Schwere schien alles zu umhüllen .
Einförmig grauer Dunst lag über Busch und Gras .
Kein Blättchen erzitterte , keine Blüte wiegte sich auf schlankem Stängel .
Nur ein blendendes Luftgeflimmer zeigte , daß die Sonne noch hinter dem dicken Gewölk verborgen war , bereit , durch den kleinsten Wolkenriß ihre tröstenden Strahlen zur Erde zu entsenden .
Draußen gerade so schwül wie drinnen !
Der Türklopfer schallte hart und laut durch das stille Haus .
Leni zuckte zusammen .
Mit langen Schritten durchquerte sie die hall und öffnete .
Es war die Gemüsefrau .
Margaret verhandelte bereits durch das Küchenfenster im Unterstock eifrig mit ihr wegen der Äpfel zum applepie und frischen Eiern .
Als sie Lenis ansichtig wurde , erkundigte sie sich angelegentlich bei der jungen Miß , was die Herrschaften heute speisen wollten , ob spinage oder cabbage .
Leni vergaß zu antworten .
Es war doch völlig gleichgültig , ob sie Spinat oder Kohl aßen !
Sie stand an der hohen , eisernen Gartentür .
Wie war es nur möglich , daß da draußen in der Welt alles ruhig seinen alten Gang ging , daß lachende , geputzte Menschen schwatzend an ihr vorüber zur Stadt zogen , ohne etwas von der düsteren Sorge zu wissen , welche die blumenumrankte freundliche Cottage , die Lizzies Namen trug , in graue Schleier eingesponnen hatte !
Vergeblich spähte Leni die Pappelallee entlang .
Der Professor ließ sie im Stich - Lizzie mußte sterben !
Blitzschnell drehten sich die Gedanken in Lenis Kopf .
Ob sie Mr. William Humpty aufsuchen und herbeiholen sollte ?
Ja , das wollte sie tun ; sie hatte seine Adresse behalten .
Ohne weiter zu überlegen eilte sie zurück zur hall , um ihre Leinenmütze vom Haken zu reißen .
Ein seltsamer Anblick hemmte für eine Sekunde ihren raschen Schritt .
Die offene Tür zum smoking-room war mit einem Plättbrett versperrt ; darüber setzten im wilden Sprunge Bobbys lange großkarierte Beine , und dahinter in plumpen , ungeschickten Sätzen ein weißes Etwas mit schwarzen Flecken am Schnäuzchen und einem kurzen Stummelschweif .
" Bobby , ums Himmels Willen , was treibst du denn da ? " rief entsetzt Leni , die nicht anders glaubte , als der Vetter habe seinen Verstand verloren .
" O , ich dressiere Fox .
Look tat Sweet little dog !
Ich habe ihn Charles Edward abgekauft . "
Lenis Nasenflügel bebten vor Empörung .
" Schämst du dich denn gar nicht ?
Deine Schwester ist sterbenskrank , und du hast Sinn für solche Allotria ?
Hast du denn gar kein Herz ? "
Ohne dem verlegen murmelnden Vetter auch nur einen Blick noch zu schenken , drückte sie sich die Mütze aufs Haar und schritt mit festem Entschluß der Straße zu .
Sie wollte ihr möglichstes tun , um Lizzie zu retten !
Die lange Pappelallee , die zur town führte , lief sie im Galopptempo hinunter .
Manch erstaunter Blick folgte dem hübschen , großen Mädel mit den fliegenden Haaren , das so wenig ladylike vorüberraste .
Jetzt war sie in der Stadt , mittendrin in dem Gewühl , Getriebe und Gejage , in der unendlich großen Stadt , die sie noch niemals ohne Begleitung betreten hatte .
Es schwindelte Leni ; ein beklemmender Druck legte sich wieder um ihr eben noch mutig pochendes Herz .
Sollte sie umkehren ?
Nein - Lizzie mußte gerettet werden !
Es war wohl auch nur die Schwüle , die hier in den staubigen , stickigen Straßen noch schwerer lastete als draußen in der Vorstadt .
Leni trocknete sich die heiße Stirn und verlangsamte den Schritt .
Vorläufig wußte sie hier noch Bescheid ; es war ja ihr täglicher Schulweg , den sie stets in Gesellschaft von Miß Brown zurücklegte .
Ja , dies hier war die Bond-Street , in der es die herrlichen Geschäfte gab .
Herrje , so ein Gewühl !
Richtig , es war ja Fryday heute , an dem die vornehmen Ladies ihren shopping-day hatten .
Leni wäre auch gern vor den verlockenden Auslagen der glänzenden Magazine stehen geblieben .
Aber der Gedanke an ihre arme kleine Lizzie trieb sie vorwärts .
Dort in der Regent-Street befand sich das gebogene Riesenhaus mit den siebzig Fenstern Front , das so merkwürdig in der Rundung gebaut war ; Miß Brown hatte es ihr oft gezeigt .
Wie aber kam sie nun in das Stadtviertel , in dem Mr. William Humpty wohnte ?
Zum Gehen war es sicherlich zu weit , auch kannte sie die Richtung gar nicht .
Eile tat aber Not , das fühlte sie ; wenn Lizzie nicht bald geholfen wurde - das Fieber stieg ja mit erschreckender Schnelligkeit !
Sie blieb stehen , um zu überlegen .
Aber der Menschenstrom riß sie unbarmherzig mit fort .
Leni fühlte sich plötzlich vorwärts gedrängt , geschoben und gestoßen , sie wußte nicht wohin .
Ob sie mit der " Tube " fahren sollte ?
Ach , dann mußte sie erst mittels des Lifts in die Erde hinunter , und außerdem - Miß Brown hatte ihr erzählt , daß die teilweise unter der Themse entlang geleitet sei .
Das Landkind vermochte sich noch immer nicht des unheimlichen Gefühles zu erwehren , daß die Wasser der Themse plötzlich die Erdschicht durchbrechen und sich auf die Bahn herabstürzen könnten .
Nein , sie fuhr lieber mit dem bus , oder besser noch mit dem Autobus ; das ging herrlich schnell .
Nur erst eine Haltestelle finden !
Vergebens drehte Leni den Kopf nach allen Seiten .
Sie war in eine der verkehrsreichsten Adern Londons geraten .
Dem Backfischchen war es unmöglich , über das Menschengewühl ringsum zu blicken , trotzdem es doch in England schon ein beträchtliches Stück gewachsen war .
Halt , hier an dem großen Platz war ja eine Hauptstation für die Omnibusse !
Sie lief die Stufen zu dem Passantentunnel hinab , der unterhalb der Straße zur anderen Seite hinüberführte , weil der Wagenverkehr oben zu gefährlich war .
Hier unten konnten ihr die rasselnden Lastkarren , die zierlichen handsome-cabs und knatternden Automobile nichts anhaben .
Jetzt war Leni bei den Omnibussen angelangt , die zu Dutzenden nebeneinander standen .
Welches mochte nun der richtige sein ?
Gar lustig sahen die Omnibusse aus ; von oben bis unten waren sie mit bunten Reklameschildern geschmückt , aber keine Tafel zeigte den Namen ihres Endziels an .
Daß dieser längs des Geländers angebracht war , das sich um die kleine gewundene Treppe zu den Deckplätzen hinaufschlang , wußte das junge Mädchen nicht .
Aber die Kutscher riefen ja mit lauter Stimme die Straßen ab , die sie auf der Fahrt berührten , freilich mit rasender Geschwindigkeit ; Lenis noch ungeübtes Ohr versuchte vergeblich den gewünschten Namen herauszuhören .
Sie faßte sich endlich ein Herz und fragte mit leiser Stimme einen Schaffner .
Einen Augenblick später saß sie hoch oben auf dem Deck und sah mit leuchtenden Augen auf die durcheinander hastenden Menschen herab .
Das war doch ein viel vergnüglicheres Stück , hier allein auf eigene Faust in die Welt hineinzugondeln , als immer nur mit der Miß zur Seite .
Zeitweise vergaß Leni über all dem Neuen , das auf sie einstürmte , ganz den traurigen Zweck ihrer Fahrt .
Aber dann kam es wie ein plötzliches Erwachen über sie .
Der Wagen kroch ja förmlich !
" Fixing - man bloß Fixing tau ! " murmelten ihre Lippen .
Der Schaffner kam , um das Fahrgeld einzustreichen .
Leni fuhr in die Tasche - ihr Herz setzte vor Schreck aus .
Sie hatte ja in der Eile vergessen , das Geldtäschchen einzustecken !
Was nun ?
Hilflos sah sie sich um , und vor ihr stand ungeduldig der Mann mit den Tickets .
" Wie weit fahren Sie ? " fragte er nun schon zum dritten Male .
" Ich - ich - ich bin in einem falschen Wagen , " stotterte Leni , dunkelrot vor Verlegenheit .
" Sie haben ja vorher noch gefragt , " gab der Schaffner unhöflich zurück .
" Das Billett ist jetzt abgerissen ; das müssen Sie bezahlen . "
Leni wurde es schwarz vor den Augen .
Da war gerade der Tower , das uralte Londoner Gefängnis ; düster und unheimlich groß , wie ein kauerndes Ungeheuer , lag es vor ihr .
Würde man sie jetzt gleich dort hineinschleppen ?
" Ich habe kein Geld - ich habe mein Geldtäschchen vergessen , " stieß sie mit zuckenden Lippen hervor .
" Ist mir ganz gleichgültig !
Wer fährt , muß auch bezahlen , " war die wenig höfliche Antwort ; der Mann sah sie an , als ob sie eine Betrügerin sei .
Sie fühlte die Blicke aller Mitfahrenden auf sich gerichtet .
So sehr sie sich auch dagegen wehrte , die Tränen stiegen ihr heiß in die Augen .
Ach , wäre sie doch niemals nach London gekommen , sondern daheim geblieben an der Waterkant , bei Vating und Mutig , bei den Brüdern und dem lütten Schwesting !
Da - was war das - hatte eine gütige Fee sie in die Heimat zurückgezaubert ?
Deutsche Laute trafen plötzlich ihr Ohr .
" Sollte man es für möglich halten ?
Das sind nun die gepriesenen höflichen Schaffner in London ! " sagte ein blondbärtiger Herr ihr gegenüber , mit dem roten Baedeker in der Hand .
" Hier haben Sie das Geld für die junge Miß , und kein Wort weiter , verstanden ! "
Er händigte dem immer noch brummenden Manne ein Geldstück ein und reichte dem armen , verängstigten Backfisch den Fahrschein .
Leni hob die schwimmenden Augen zu ihrem Retter empor .
Heißer Dank stand darin zu lesen .
Endlich fand sie auch wieder Worte .
" Ich danke Ihnen - tausend Dank ! " sagte sie aus tiefstem Herzen in deutscher Sprache .
" Ah sieh da ! "
Der Herr blickte überrascht auf .
" Eine junge Landsmännin !
Nun freut es mich doppelt , mein Fräulein , daß ich Ihnen behilflich sein konnte . "
Leni war wie erlöst , aber plötzlich kam ihr ein neuer Gedanke .
Sie konnte doch nicht von einem Fremden Geld annehmen !
" Darf ich - darf ich " - die sonst ziemlich dreiste Leni war durch das Erlebnis völlig eingeschüchtert - " vielleicht um Ihren Namen und die Adresse bitten , damit ich Ihnen das Geld wieder zustellen kann ? "
Ob der Herr ihre Frage auch nicht zudringlich fand ?
Er lächelte ein wenig .
" Ich werde es mir lieber von Ihnen abholen lassen , Fräulein .
Wie heißen Sie denn ? "
" Leni - Leni Sürsen " - das Backfischchen dachte gar nicht mehr daran , daß es ja seit drei Monaten " Ellen " hieß .
Da rief der Schaffner mit schallender Stimme die Station , an der sie aussteigen mußte .
Leni sprang erschreckt auf .
Noch ein herzliches " Vielen Dank " , und dann winkte der Fremde freundlich der ziemlich unschlüssig in der Straße Umschau haltenden jungen Deutschen ein Lebewohl zu .
Der bus ratterte davon .
Ach du lieber Himmel - Leni wollte hinter dem Wagen her - sie hatte ja ihre Adresse nicht angegeben , nur ihren Namen genannt !
Das fiel ihr jetzt erst ein .
Aber der Autobus war längst um die Ecke verschwunden .
Sie empfand ein beschämendes Gefühl .
Ob jeder selbständige Schritt in die Welt mit einer solchen Niederlage verknüpft war ?
Aber schließlich war es doch ein Erlebnis , ein richtiges Abenteuer .
Wenn sie das Lizzie erzählte - lieber Himmel , Lizzie !
Leni war sich noch nie so schlecht vorgekommen wie in diesem Augenblicke .
Wie war es nur möglich , daß sie das Furchtbare , wenn auch nur auf Minuten , vergessen konnte !
Da , das große Schild an dem breiten Torweg trug den Namen des berühmten Arztes , den sie suchte .
Sie riß an der Haustürklingel , und mit eiligen Sätzen sprang sie die Treppe zu der Wohnung empor .
Es war das erste Mal , daß Leni solch ein Miethaus betrat ; ihre Freundinnen wohnten alle in Landhäusern .
Ein sauberes Stubenmädchen öffnete .
" Ich möchte Mr. Humpty sprechen , " sagte Leni , sich in die Höhe reckend , mit möglichst ruhiger Stimme .
" Ich bedaure , es ist keine Sprechstunde mehr , " erwiderte das Mädchen freundlich .
Leni war_es , als ob sich ein schweres Eisengewicht an ihr eben noch hoffnungsvoll schlagendes Herz hänge .
" Ich muß ihn sprechen - ich muß , " stieß sie erregt aus , " Lizzie " - es kam ihr zum Bewußtsein , daß das Mädchen unmöglich wissen konnte , wer Lizzie sei - " das Kind muß sonst sterben ! "
Das einfache Mädchen empfand die Seelenangst , die aus Lenis Worten sprach .
" Mr. Humpty ist in seiner Klinik ; das ist weit von hier , aber ich will ihn telephonisch anrufen , " setzte sie gutherzig hinzu .
Leni atmete auf und trat in den Vorraum .
Ach , dauerte das eine Ewigkeit vom ersten Anruf bis zum Schlußzeichen .
" Er ist bereits wieder unterwegs und macht Besuche , " lautete endlich der wenig tröstliche Bescheid .
Langsam und schwerfällig schlich Leni die Treppe hinab , die sie noch vor kurzem leichtfüßig emporgesprungen war .
Also hatte sie den weiten Weg umsonst gemacht !
Wenn der Arzt nicht von selbst kam , half niemand Lizzie !
Es mußte stark auf Mittag gehen .
Die Schwüle in den Straßen hatte sich fast bis ins Unerträgliche gesteigert .
Wie kam sie nun wieder nach Haus ?
Geld zum Fahren hatte sie ja nicht ; sie mußte versuchen , immer den Omnibussen nachzugehen .
Das war eine schwierige Sache .
Der Magen , der am Morgen nicht sein Recht bekommen hatte , begann nun auch knurrend sich zu melden .
Ach , wenn sie doch nur ein paar Pence bei sich gehabt hätte !
Da waren die Lyons , hier die A B C , wo es leckere Brötchen gab .
Und ob es auch tausendmal shocking war , dort allein hineinzugehen , Hunger tat weh .
Aber sie hatte ja keinen Penny !
Wie lange war sie denn wohl schon gegangen ?
Es fehlte ihr jede Zeitbestimmung .
Zu Hause saßen sie sicher schon beim Lunch .
Leni fühlte plötzlich einen Stich durchs Herz .
Man würde sie vermissen !
Kein Mensch wußte , wo sie geblieben war ; zu der einen schweren Sorge hatte sie leichtsinnig noch eine neue gehäuft !
Ihr erster selbständiger Schritt erschien ihr mit einem Male in einem ganz anderen Licht , gar nicht mehr harmlos .
Sie begann zu laufen , bis Füße und Lungen den Dienst versagten .
Jetzt stand sie an der Towerbrücke .
O weh , diese war aufgezogen ; hohe Schiffe fuhren gerade hindurch .
Das bewegte Treiben auf dem breiten Flusse , das sie sonst stets mit Entzücken beobachtet hatte , sah sie heute nicht ; sie starrte in die graugelben Fluten .
Wie zähes Blei wälzte der Strom sein Wasser langsam dahin .
Sie wußte nicht , wie sie schließlich nach langem Kreuz- und Querirren , nach vielem Hin- und Herfragen wieder in die bekannte Pappelallee gekommen war .
Die starke Erregung der Nacht , die Übermüdung , der Hunger und die drückende Temperatur hatten sie ganz stumpf und gleichgültig gemacht .
Sie fürchtete sich nicht einmal mehr vor dem Heimkommen .
Am Gartentor standen der Onkel , die Miß , Bobby und Fox .
Laut kläffend sprang der kleine Terrier ihr entgegen .
Die Miß empfing sie mit einer berechtigten Strafrede .
Bobby fletschte lachend seine großen Zähne und brummte etwas von " ausreißen " und " anbinden " .
Onkel Richard aber zog sie wortlos in die Arme .
Ganz still lag Lenis Kopf an seiner Schulter ; sie wagte nicht , die Frage nach Lizzie zu tun .
Da berührte plötzlich ein seltsamer Laut ihr Ohr .
War es ein Lachen , ein Schluchzen , oder beides zugleich ?
Zum erstenmal zog die Tante ihre Nichte liebevoll ans Herz .
" Lizzie lebt - Lizzie wird gesund , ganz gesund , Kind ! "
Des Onkels Augen schimmerten feucht .
Leni hatte noch nie einen Mann weinen sehen .
Dieser Anblick griff ihr gewaltig an das Herz .
Die jähe Freudenbotschaft , dazu ihre körperliche und seelische Abspannung , alles das löste sich in einem heißen Tränenstrom aus .
Endlich hob sich ihr wirrer Kopf wieder von des Onkels Brust .
" Vor zwei Stunden etwa " - Onkel Richard führte Leni sorgsam zärtlich wie ein Baby ins Haus - " ist die Krisis eingetreten , und mit ihr das Fieber gleich um mehrere Grade gesunken .
Ach , diese Stunden , diese Stunden ! "
Es ging wie ein Ruck durch die kraftvolle Männergestalt .
" Dann kam Mr. Humpty ; er hat das Kind eingehend untersucht .
Die Kraft der Krankheit sei nun gebrochen , die Gefahr vorüber , meinte er , und das Knieleiden - ach Kind , ich wage es gar nicht zu hoffen - das sei heilbar , sagte er !
Er habe schon mehrere solche günstig verlaufenden Fälle gehabt .
Lizzie soll später in seiner Klinik eine leichte Operation durchmachen ; sie wird richtig gehen lernen wie andere Kinder .
O , mein Himmel , es ist ja zuviel des Glücks ! "
Leni schritt wie im Taumel dahin ; eine nie gekannte Seligkeit sprengte ihr fast die Brust .
Dreimal mußte Onkel Richard fragen , wo sie denn gewesen sei .
" Ich war bei Mr. Humpty ; er kam ja gar nicht , und - ich wollte Lizzie retten . "
Ein wenig unsicher sah Leni zum Onkel auf .
Der aber klopfte ihr gerührt die Wange .
" Du liebes , böses Kind , wie habe ich mich um dein Ausbleiben gesorgt ! "
Da fühlte sich Leni plötzlich von weichen Armen fest umfangen ; sie blickte in Tante Janes leuchtende Augen .
" Das hast du getan , Kind , für Lizzie ?
O my dear little ohne ! "
Zum ersten Male zog die Tante ihre Nichte ans Herz .
Auf der Insel Wight .
An der Waterloostation in London erregte ein blondes Mädchen mit krankhaft weißem Gesicht , das im Rollstuhl durch die sich überstürzende , auf und ab hastende Menge geschoben wurde , die Aufmerksamkeit vieler Reisenden .
Manch mitleidiger Blick folgte der kleinen Karawane , die möglichst schnell die für sie belegten Plätze in einem Abteil zweiter Klasse zu gewinnen bestrebt war .
Der elegante Herr mit dem kurzgeschnittenen Backenbart hob zart und behutsam das federleichte Kind auf den Eckplatz des Abteils , den die schlanke Dame im grauen Reisekostüm mit weichen Kissen belegt hatte .
Jetzt beugte sie sich besorgt zu der Kranken herab .
" Nun , Lizzie , darling , wie fühlst du dich ?
Hat dich die Wagenfahrt sehr angegriffen , Kind ? "
Lizzie lächelte ein wenig müde , aber ihre Augen blickten dankbar zu der Mutter empor .
Ein glücklicher , zufriedener Ausdruck verschönte seit der Krankheit ihr Gesicht , das früher oft mürrisch und verdrossen ausgesehen hatte .
" Es wird alles wieder gut , wenn ich nur erst das Meer sehe , nicht wahr , Leni ? "
Sie wandte sich erwartungsvoll an das Backfischlein , das ihr gegenüber Platz genommen hatte .
Leni nickte strahlend .
Sie freute sich " bannig " auf die Reise und blickte mit großen Augen auf alles Neue .
" Wie ulkig !
Hier in London liegen ja die Hotels gleich im Bahnhof drin , " rief sie verwundert .
Bobby und die Miß hatten die großen und kleinen Gepäckstücke gut verstaut .
Nun ging es ans Abschiednehmen .
" Well , Dick , sieh zu , daß du bald nachkommen kannst , und überanstrenge dich ja nicht !
Bobby , benimm dich bei Charles Edward gentlemanlike , hörst du , mein boy ! "
Die Mutter sah mit bedauerndem Blick auf ihren armen Sprößling , der mit Rücksicht auf das nahe Ende der Ferien nicht mit ins Bad genommen wurde .
Leni hatte einige Wochen Urlaub von der Schule erhalten ; bei Bobby aber , mit dessen Versetzung es ziemlich wackelig stand , war die Sache zu bedenklich .
Noch einmal erschien Onkel Richards Gesicht über der schon geschlossenen Waggontür .
" Good-bye , Lizzie !
Schaffe dir rote Wangen an , mein Kleines !
Du auch , Lenchen ; kannst es gebrauchen !
Sorge dich nur nicht um mich , Jane .
Die schlimmste Zeit liegt ja nun hinter mir .
Good-bye , Miß Brown ! "
Mit schrillem Pfiff setzte sich die Lokomotive in Bewegung .
" Lizzie , eine Windmühle !
Lizzie , ein Storch !
Sieh nur , wie drollig wichtig er auf seinem Bein steht !
Ach , so viel Schwalben !
Nein , ein richtiger Gänsjunge hütet da seine Gänse , und die lütten Gössel all !
So was gibt es in England auch ? "
Alles das , was Leni früher als selbstverständlich und alltäglich erschienen war , erweckte jetzt nach dem langen Stadtaufenthalt ihr helles Entzücken .
Wie einem gefangenen Vogel , der die goldene Freiheit endlich wieder winken sieht , war ihr zumute .
" Was 'n herrlicher roter Mohn !
O je , die prächtigen Pflaumenbäume !
Aber die müssen gestützt werden .
Gören , wollt ihr wohl aus den Runkelrüben rut ?
Jürgens wird euch ! "
Ach , sie war ja nicht daheim ; sie sauste pfeilgeschwind in der rasselnden Eisenschlange über fremde Erde !
" Lizziechen , haste schon Mal Garben gesehen ?
Da , Dirn , dort drüben !
Aber snaksch richten eure Landlüd die Schober aus ; die sehen ja auf 'n Haar wie Frauenzimmer aus .
Kiek eins , einen richtigen Kopf , und darunter der bauschige , weite Ährenrock , und eine immer achter der anderen !
Die spielen wohl » Greifen « ?
Bei uns da reift das Korn all aus ; da ist die Aust längst vorbei .
Nee , und hier sind ja wohl noch nicht Mal die Teuften gehäufelt . "
" Wer ? " fragte Lizzie , die Lenis jubelnde Ausrufe nur zum Teil verstand .
" Die Teuften , die Kartoffeln ! "
Unbewußt kam Leni beim Anblick der sie an die Heimat gemahnenden Scholle wieder der heimatliche Dialekt .
" So , my dear Ellen , nun wollen wir Mal unsere Rekonvaleszentin ganz in Ruhe lassen !
Auch zum Freuen muß man Kräfte haben .
Jetzt wird Lizzie schlafen , und wir anderen sind ganz still ; Talking Not Allod ! "
Die Mutter hüllte Lizzie weich und warm in Decken und strich ihr mit der Hand über die blaugeäderte Stirn .
Lizzie schloß Gehorsam die Augen .
Ihre noch immer blutlosen Lippen öffneten sich ein wenig ; ein wohliges Mattigkeitsgefühl durchströmte ihre Glieder .
Sie griff nach der Hand der Mutter .
Ach , wie segnete Lizzie ihre Krankheit , wie dankbar war sie dafür !
Hatte sie doch das , wonach sie sich ihr ganzes Leben lang gesehnt , endlich durch diese gefunden - die Mutterliebe !
Als sie zum ersten Male aus dem fieberhaften Dämmerzustande die Lider klar und bewußt aufgeschlagen hatte , da waren es die Mutteraugen , in die sie zuerst blickte , und die sich voll Angst und Liebe auf sie richteten .
Das hatte Lizzie schneller gesund gemacht als alle Medizin .
Ach , und nun ging es nach der Insel Wight , wo das Meer rauschte .
Die einschläfernde Rasselmusik des Zuges verwandelte sich allmählich in das brausende Lied der Meereswogen ; ein erquickender Schlaf umfing die Rekonvaleszentin .
Die drei übrigen gaben ihren Gedanken Audienz .
Leni dachte eigentlich gar nichts ; aber sie verwandte kein Auge von den gelbreifen Getreideschwaden , zwischen denen die blanke Sense im grellen Mittagsonnenlicht funkelte , von den dunklen Waldungen , durch die grüngoldene Funken zuckten , und den sauberen Anwesen , an denen sie vorüberflog .
Schnuppernd hob sie das Näschen .
Durch das halb heruntergelassene Fenster kam frischer Erdgeruch ; es duftete nach gemähten Wiesen und getrocknetem Gras .
Ihre bleich gewordenen Wangen begannen sich wieder ein klein wenig zu färben .
Tante Jane lehnte den Kopf an das Lederpolster und blickte starr auf das gegenüberhängende Plakat .
" Rauchen verboten . "
Immer wieder las sie die beiden Worte , ohne zu wissen , was sie sagten .
Ihre Gedanken gingen andere Wege .
Sie dachte daran , wie viel sie an diesem Kinde gutzumachen habe , das auch für das geringste Körnchen Liebe dankbar war .
Dann flog ihr Sinnen rückwärts nach London in die City , wo ihr Mann arbeitete und kämpfte , um die großen Schwierigkeiten , in die viele überseeische Geschäfte Londons verwickelt worden waren , klug und besonnen zu entwirren .
Auch im Geschäftsleben eine Krisis , gerade wie bei Lizzies Krankheit , aber der Himmel würde auch hier helfen ; es war ja schon viel besser geworden , als sie gefürchtet hatten .
Auf der anderen Seite in der Ecke saß aufrecht die Miß .
Selbst hier hatte sie sich nicht von ihrer Lieblingsbeschäftigung , dem endlosen Streifen Madeirastickerei , trennen mögen .
Sie zog die schwarzen Augenbrauen noch dichter zusammen und überlegte nach einem jeden Stich kritisch , ob er auch ganz so gleichmäßig geworden sei wie sein Vorgänger .
In Portsmouth , der Hafenstadt , ging man zu Schiff .
Lenis munteres Plaudern war verstummt .
Die massigen englischen Kriegschiffe , die ringsum im Hafen lagen , einförmig grau , ernst und wuchtig , mit ihren Riesenmaschinen und ragenden schwarzen Schornsteinen , wirkten fast beklemmend auf das fröhliche Backfischchen .
Nach kurzer Seefahrt bestieg man in Ryde noch einmal das fauchende Dampfroß , und endlich war das Ziel , Ventnor auf der Insel Wight , erreicht .
Lizzie hatte gehofft , daß sie nun gleich zum Meer hinuntergehen dürfe , aber für heute hieß es Mal erst ausruhen .
" Leni , das ist das Dornröschenschloß aus dem deutschen Märchen , das du mir erzählt hast , " jubelte sie , in die abgezehrten Hände klatschend .
Wirklich , es war wie ein Märchen !
Das leuchtend weiße Haus , in dem man bereits Zimmer bestellt hatte , war über und über mit schimmernden , tiefroten Rosen , crimson rambler , überwuchert .
Wie in einem purpurnen Rosenkleid schaute das blitzsaubere Landhaus aus dem Gerank .
Daheim in Nedderdorf hatte man auch Kletterrosen , wunderschöne weiße , längs der Veranda , aber vor dieser Fülle und Farbentiefe mußte selbst Leni die Waffen strecken .
Was für eine Pracht !
Als sie nun erst mit Miß Brown einen kleinen Besichtigungsgang durch den Badeort unternahm , da verblaßten die Farben der Heimat vollends .
Ventnor glich einem blühenden Blumengarten .
Terrassenförmig bauten sich die Straßen übereinander ; man sah die blendend weißen Häuser kaum hinter ihrem duftigen Blütenschleier .
Hier war ein Haus ganz und gar von Fuchsien umklettert , dort ein größeres von leuchtenden Pelargonien , so groß und üppig , wie Leni sie nie gesehen hatte .
" Miß Brown , richtige lebendige Palmen wachsen hier im Freien ! " rief sie plötzlich so laut , daß Miß Brown ihr mitteilen mußte , palmtrees seien durchaus kein Grund , sich ungehörig zu benehmen .
Leni ließ sich ihre gute Laune dadurch nicht verderben .
Als sie nun endlich wieder ihr liebes Meer sah , als sie unten an dem weißen Strande stand und mit leuchtenden Augen auf die heranrollenden Meereswogen schaute , die bald tiefblau , bald durchsichtig grün flimmerten , als auf den weißen Wellenköpfen in der untergehenden Sonne bald rote , bald goldene Sprühlichter wie verstreute Diamanten aufblitzten , da traten Leni die Tränen in die Augen .
Aber schnell und verstohlen trocknete sie sie mit dem Handrücken ab .
Schauderhaft , was für 'ne Heulrieke sie in der Stadt geworden war !
Auch die Miß schritt mit sorgsam gerafftem Rock , in die hehre Schönheit des ersterbenden Tages vertieft , langsam und nichts Böses ahnend , am Meeresrand dahin .
Da hörte sie ein seltsames plätscherndes Geräusch dicht hinter sich .
Ein wenig mißtrauisch wandte sie sich zurück .
Good gracious !
Harmlos ragten aus dem weißen Sande Ellens braune Stiefel und Strümpfe .
Das Unglückskind selber hatte den blauen Leinenrock aufgeschlagen und patschte mit den bloßen Füßen seelenvergnügt bis an die Knöchel in dem silberig weißen Schaum umher .
Eine tückische Welle trieb sie wieder an den Strand zurück ; jauchzend wischte sie sich den sprühenden Gischt von dem heißen Gesicht .
Ringsum aber auf den Strandbänken saßen elegante Damen und Herren , schauten durch ihre Lorgnetten zu dem ungenierten Backfisch herüber und lachten oder kicherten .
Leni ahnte nichts davon , auch nichts von dem drohenden Ungewitter , das sich auf Miß Browns Stirn zusammenzog .
" Man merkt den Golfstrom , " rief sie lachend der Miß zu .
" Herrlich warm ist das Wasser , wie in einer Badewanne !
Und morgen schreibe ich Karl Heinz , daß ich im Atlantischen Ozean gepanscht habe ! "
" Ellen , ziehe dir Strümpfe und Schuhe an , make haste !
Schämst du dich denn gar nicht , you naughty girl , dich so unanständig zu benehmen ? "
Die Miß sagte es mit erregter , aber gedämpfter Stimme .
Leni sah sie verständnislos an .
" Wir sind doch immer am Strande gewatet , Karl Heinz , Cäsar und ich , und Vating hat sogar noch ein Stück Holz hineingeworfen , wer von uns drei es zuerst wiederbringe .
Meistens war es Cäsar ; der brauchte ja keine Angst zu haben , daß seine Kleider naß würden . "
Leni lachte in der Erinnerung hell auf .
Miß Brown , die schon viele junge Ladies erzogen hatte , sogar zwei vornehme little Countesss , von denen Leni längst nichts mehr hören mochte , weil sie ihr allenthalben als Muster aufgestellt wurden , schüttelte verzweifelt den Kopf .
Hier war alle Arbeit vergebens , Ellen blieb unverbesserlich !
" Du bist doch kein Kind mehr , Ellen , sondern ein Mädchen von bald fünfzehn Jahren !
Was du damals getan hast , schickt sich heute nicht mehr für dich . "
Die Miß versuchte ihr Ehrgefühl zu wecken .
Das war jedenfalls der richtigere Weg , um bei Leni etwas zu erreichen .
Miß Brown hatte recht ; sie war kein Gör mehr .
Aber wenn das Erwachsensein nur in Verboten bestand und so langweilig ehrpusselig war , dann - nein , doch nicht , ein Gör wollte sie trotzdem nicht mehr sein !
Als Leni mit ihrer Handvoll Muscheln zu Lizzie zurückkam , konnte sie dieser nicht genug erzählen von all dem Schönen , was ihrer in Ventnor wartete .
Aber auch Miß Brown erzählte der Tante , und zwar weniger erfreuliche Dinge .
Seit Lizzies Krankheit war es das erste Mal , daß Tante Jane mit Leni unzufrieden war .
Ein für allemal erging das Verbot , außerhalb der Badestunde weder im Meer zu waten noch zu panschen .
" Das fängt ja hier nett an , " dachte Leni , als sie abends im Bette lag , " das kann noch gut werden ! "
Aber es wurde viel herrlicher , als die Mädchen sich den Sommeraufenthalt jemals gedacht hatten .
Einen Tag wie den anderen lachte goldener Sonnenschein vom wolkenlosen Himmel ; die Luft war von jener wunderbaren Klarheit und Frische , wie sie nur schönen Herbsttagen eigen ist , und das Meer erschillerte jeden Tag in anderen Farbentönen .
Und nun erst Ebbe und Flut !
Das war etwas ganz Neues für Leni , die bisher nur die Ostsee kannte .
Von frühmorgens an lagen die beiden Mädchen am Strande ; Lizzie blühte zusehends bei dem milden Seeklima auf .
Leni , die stets einen weißen Leinenhut trug , behauptete von sich , sie sehe damit aus wie ein Mohrenkopf mit Schlagsahne , so braungebrannt war sie bereits .
Aber sie machte sich ihr Gesicht auch immer mit Seewasser naß und legte sich dann zum Trockenen in die grelle Sonne .
Das sei das beste Mittel , um braun zu werden , hatte Karl Heinz immer gesagt , und der wußte in solchen Dingen Bescheid .
Leni und Lizzie kamen sich in diesen Wochen ständigen Beieinanderseins womöglich noch näher .
Der Altersunterschied zwischen ihnen war vollständig ausgelöscht ; sie wurden Freundinnen fürs ganze Leben .
Wenn sie still in dem warmen Sande ruhten , in die blaue Luft hineinträumten , auf das Meeresrauschen lauschten oder zu den blühenden Gärten und den sich in der leisen Brise wiegenden Palmen emporblinzelten , dann sagte Lizzie oft schwärmerisch :
" So muß es in Italien sein ! "
Sie hatte recht .
Der Badeort , zugleich Winterstation , trug den Typus der südlichen Länder .
Wight wird ja auch der Garten oder die Kornkammer Englands genannt .
Wie herrlich spielte es sich am Strande !
Unzählige Spiele wußte Leni , und viele davon hatte sie selbst erfunden .
Die Hauptsache war natürlich " das Buddeln " .
Auch Lizzie durfte sich bald daran beteiligen .
Hei , wie die Sandschollen flogen !
Leni äugte zu Lizzie hinüber , und Lizzie zu Leni , wessen Burg wohl schon höher sei .
Ein richtiger Sandwall wurde errichtet , ein Bollwerk mit Luglöchern und Schießscharten ; Leni pflanzte dann auf ihr Sandtürmchen die deutsche Flagge , und Lizzie die britische .
Am nächsten Tage aber hatte die Flut die ganze Herrlichkeit davongespült , und die Arbeit begann von neuem .
Auch eine Muschelcottage mit Garten wurde für Lizzies doll gebaut , breite Wege angelegt , eine kleine Laube aus Zweigen für das Püppchen geflochten , und zwei schwarze Krebse lagen vor der kleinen Blätterhundehütte an der Kette als Haushunde .
Wie verstand Leni aus brauner Baumrinde winzige Borkenschiffe zu schnitzen , eine richtige elegante kleine Jacht mit weißen Papiersegeln und bunten Wimpeln !
Die Sportmützen wurden zu diesem Spiel in das Haar gedrückt und mit lautem " Hip-hip-hurra ! " setzte jedes sein Schiffchen aus .
Wettsegeln spielten sie , wie es Bobby mit seinen Freunden in größerem Maßstabe auf dem Serpentine im Hydepark zu betreiben pflegte .
Die Augen blitzten , die Wangen brannten , und die Hände klatschten .
" Look here , meins ist schon hinter dem Anlegesteig - well , I see , meins hat ein Haifisch verschluckt , " rief Leni dann schließlich , wenn die Wellen das winzige Ding überspült hatten .
Lizzie aber blickte mit geheimnisvollen Augen in das unabsehbare Wasser und malte sich aus , wo das Schiffchen wohl ans ferne Gestade gespült würde .
Ob es in einer großen Hafenstadt in Amerika landen , ob kleine Cowboys es auf ihre einsame Farm ziehen , oder gar little Niggers an der afrikanischen Küste das weitgereiste Schiffchen mit Gold und Elfenbein befrachten würden ?
Stundenlang konnte das Mädchen so in die Ferne schauen und sinnen .
Am liebsten war es Lizzie , wenn Leni ihr Märchen erzählte .
Von dem funkelnden Kristallpalast auf dem Meeresgrund , wo die schöne Nixe mit dem schimmernden Goldhaar und dem häßlichen Fischschwanz haust - da - flimmerte es dort nicht wie lichtes Nixenhaar in der grünen Tiefe , tönte es nicht wie weicher Frauensang in dem einförmigen Brausen der Wogen und des Windes ?
Wie viel Sagen kannte Leni , von den lustigen Waldkobolden , die den müden Wanderer necken , von den schlanken Nebeltöchtern , die des Abends ihre Schleier über dem Moor waschen , und der Roggenmuhme , die am hellen Mittag durch die sich vor ihr neigenden Ähren schreitet !
All die Märchen der Heimat , die Leni längst vergessen glaubte , wurden hier im fernen Lande wieder lebendig und erweckten in Lizzies phantastischem Kopf einen Widerhall .
Aber es wurde nicht den ganzen Tag am Strande gefaulenzt .
Zur Flutzeit ging Leni baden , einen Tag um den anderen ; das war ihr größtes Vergnügen .
Die Badeeinrichtung war ziemlich einfach , aber Leni dünkte sie ideal .
Sie kannte das Hinausfahren in den hochrädrigen Karren von der Ostsee her nicht ; das war entschieden das Wonnigste an ganz Ventnor .
Sie bedauerte Lizzie heimlich , die diesen Genuß ihrer immer noch zarten Gesundheit wegen entbehren mußte .
Da wurde eine lange Kette am Ufer abgerollt , und ihr fahrendes Häuschen glitt weit ab vom Strand , mitten in das Meer hinein .
Lustig sah das aus , wenn viele Badekarren draußen hielten .
Ein Mann in hohen Wasserstiefeln - " Transtiebel " nannte Leni sie - ging am Badestrand auf und ab , um bei irgendwelcher Gefahr gleich bei der Hand zu sein .
Das gab ein beruhigendes Gefühl .
Aber Leni fürchtete sich sowieso nicht .
Freilich , das erste Mal wäre sie am liebsten in ihrem netten Badehäuschen geblieben ; sie fand es zu gemütlich darin .
Eine kleine Puppenwohnung war_es , mit Fensterchen und einer Treppe , die ins Meer hinunter führte .
Aber die Miß rief aus dem Nachbarkarren :
" Ellen , where are you ?
Come here ! " bis Leni in ihrem neuen roten Badeanzug mit weißer Borte und dem reizenden Badehut , den sie von der Tante erbettelt hatte , auf der Treppe erschien .
Prüfend berührte sie das Wasser mit der Zehenspitze ; dann sprang sie mit einem kühnen Entschluß und lautem " Hoiho " mitten in die anstürmende Welle .
Sie machte die Bekanntschaft des Meeres gleich gründlich .
Sie hatte vergessen , den Strick zu ergreifen , der vom Dach des Karrens herabhing .
In den Mund , in die Augen , in Ohren und Nase drang ihr das salzige Seewasser .
Sie spuckte und schüttelte sich wie Cäsar , wenn er aus dem Dorfteich kam .
Leni war eine flotte Schwimmerin , aber als sie jetzt ihre Künste recht stolz vor der Miß , die immer nur an ihrer Treppe auf und nieder tauchte , zu entfalten gedachte , schluckte sie wieder eine gehörige Menge Wasser .
Es war hier doch nicht so leicht zu schwimmen wie daheim .
Als sie dann endlich heraus hatte , daß man sich von jeder Welle heben lassen muß , machte die Miß diesem neuen Vergnügen ein jähes Ende .
" Dear me , Ellen , daß du nicht die Füße vom Grund hebst !
So ein leichtsinniges Ding !
Es ist nicht die Ostsee .
Schwimmen ist hier sehr gefährlich ! "
Leni verzog den Mund .
So 'ne Bangbüx !
Die Miß ließ ja keinen Augenblick den Rettungsstrick los !
Ja , als es gerade anfing , am schönsten zu werden , verschwand die Miß wieder in ihrem Karrenhäuschen und befahl auch Leni , sich schnell anzukleiden , da das lange Verweilen im Seewasser schwäche .
Leni aber dachte nicht daran zu gehorchen .
Jetzt , da sie sich sicher wußte , wurde es ja erst fein !
Sie schwamm wie ein Aal um ihren Karren herum , vorwärts und auf dem Rücken ; sie trat lustig wie ein Scherenschleifer Wasser , und versuchte sogar den Kopfsprung von der obersten Treppenstufe aus , wobei sie sich allerdings tüchtig weh tat .
Am Karrenfenster erschien drohend die geballte Hand der Miß .
Da trommelte es aufgeregt gegen das Karrenfenster der Miß . O je , das hatte Leni ja rein vergessen .
Die Miß stand mit empörtem Gesicht an dem kleinen bespritzten Glas , und machte seltsame Zeichen zu Leni hin , auf die diese zuerst nur mit einem verständnislosen Achselzucken antwortete .
Als aber am Karrenfenster die geballte Hand der Miß erschien , hielt das nichtsnutzige Backfischchen es doch für geratener , sich ebenfalls in seinen Karren zurückzuziehen .
Dieser offenbare Ungehorsam hatte zur Folge , daß Leni drei Tage lang nicht baden durfte .
Erst als Lizzie für sie bat , und sie selbst hoch und heilig versprach , der Miß aufs Wort zu folgen , wurde sie wieder mit hinausgenommen .
Nach dem Lunch mußte Leni jeden Tag eine Stunde arbeiten .
Sie las mit der Miß " the Laie of the lässt Minstrel " und gähnte dabei herzhaft .
Als danach die anderen Fächer wiederholt wurden , damit sie nicht allzuviel vergesse , dachte sie mehr an Seemöwen , Quallen , Krabben und Hummern , als an Geschichte , Geographie und Literatur .
Sie gab der kopfschüttelnden Miß oft die schnurrigsten Antworten .
Wenn Zauberkünstler oder gar Leute mit dressierten Kaninchen am Strande ihr Wesen trieben , konnte die Miß mit ihrer Arbeitsstunde lange warten .
Leni blieb unsichtbar .
Sie war von den herumziehenden Gauklern nicht fortzubringen .
Während Lizzie am Nachmittag im Park in der Hängematte mehrere Stunden schlief , spielte Leni mit einigen jungen Mädchen aus Manchester , die in demselben Boarding-House wohnten , Tennis , oder sie machten in Tante Janes Begleitung herrliche Spaziergänge in die hügeligen Wälder .
Niemals hatte Leni gedacht , daß Tante Jane so lustig sein könne .
Lizzie ging nur wenig ; sie hatte das Laufen nach der schweren Krankheit fast ganz verlernt .
" Laß man , mein oll lütt Dirn , " tröstete Leni sie , " ein paar Wochen noch , dann macht Mr .
Humpty dein Knie ganz heil. Paß auf , dann holen wir alles nach ! "
Lizzie lächelte ein wenig ungläubig dazu ; sie wagte es gar nicht , an das kaum faßbare Glück zu denken .
Lenis Lieblingsausflug war nach dem kleinen weltvergessenen Kirchdorf , das unter blühenden Bäumen Jahrhunderte verträumt zu haben schien .
Oft war sie über die down - so nannte man die Kreidehügel - an dem märchenstillen Teich entlang zu ihrem lieben alten Kirchlein gewandert .
Sie ruhte nicht eher , bis auch Lizzie es zu sehen bekam .
Ein kleiner Eselwagen wurde gemietet .
Leni und Lizzie nahmen vorn Platz ; der Eselboy saß hinten_auf , und mit lautem Zuruf ging die lustige Fahrt vonstatten .
Aber nicht lange dauerte es , so hatte die quecksilbrige Leni trotz der angstvollen Augen Lizzies dem boy Leine und Peitsche entwunden .
Kerzengerade saß sie auf ihrem Platz .
" Hü - ho - hü - ho ! "
Gerade so , wie sie es von den Knechten daheim kannte , feuerte sie zungenschnalzend ihr Eselchen an .
Lizzie brauchte keine Angst zu haben .
Wie oft hatte Leni oben zwischen Heubündeln auf dem Leiterwagen gestanden und selbständig die plumpen Ackergäule vom Felde heimgelenkt !
Tante Jane aber , die mit einigen Damen zu Fuß gegangen war , starrte mit entsetzten Augen auf das niedliche Eselfuhrwerk , das in flottem Galopp um das Kirchlein sauste .
" Blesse me , Ellen , wie unmädchenhaft !
Stop !
Wenn euch etwas geschehen wäre !
Es ist doch gar kein Verlaß auf dich , du großes Mädchen ! "
Leni ging jeder Vorwurf Tante Janes jetzt viel mehr zu Herzen als früher , wußte sie doch nun , daß diese es auch mit ihr gut meinte .
Daß sie nicht wieder zurückfahren durfte , weil die Tante ihr Lizzie nicht anvertraute , war auch recht schmerzlich .
Von nun an wollte sie aber auch bestimmt immer ladylike sein .
" Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert , " sagt ein Sprichwort .
Als Leni zu Fuß mit den anderen in Ventnor angelangt war , stieß sie auf ihren kleinen Freund , den Eselboy , der gerade seine Grauchen ausspannte .
Da waren alle guten Absichten vergessen .
Eins , zwei , drei , hatte sich Leni auf das ein erstauntes " I-ah " ausstoßende Tierchen geschwungen .
Ohne Sattel ritt sie zum Gaudium der Badegäste die Strandpromenade bis zu ihrem Boarding-House entlang .
Da standen sie alle schon im Dinner-Dress auf der Veranda , die vornehme alte Lady aus Southampton , die wohlerzogenen Mädchen aus Manchester und der nervöse Herr aus Greenwich , der immer zankte , weil Leni die Türen zu sehr zuwarf und die Treppen so laut herabpolterte .
Unter ihnen saß auch Tante Jane und Miß Brown .
Diese wurden sehr ungehalten , als sie ihr Pflegekind in diesem Aufzug erblickten .
Leni , die durchaus nicht begriff , was sie denn nun schon wieder angestellt habe , wurde auf ihr Zimmer verbannt ; das Schlimmste aber , das über sie verhängt wurde , war , daß sie nicht am Diner teilnehmen durfte .
Das war peinlich , sehr peinlich sogar , den dämlichen Gören aus Manchester gegenüber ; an dem Diner selbst lag ihr nicht viel .
Jeden Tag gab_es Mutton , den Leni gar nicht liebte .
Aber nach dem Diner war es immer wunderhübsch .
Da wurden bei den schon ziemlich lang werdenden Abenden im Drawingroom oder in der hall Gesellschaftsspiele veranstaltet .
Ob sie heute wohl wieder spielten ?
Leni schlich die Treppe hinab ; sie wollte nur ein ganz klein wenig durch das Fenster lugen .
Richtig , da saßen sie alle ; selbst der junge lawyer , der lustige Rechtsanwalt aus London , spielte mit .
Jetzt tat es Leni doch recht leid , daß sie um das Vergnügen kam .
Was spielten sie denn ?
Die fünf dort in der hall waren eifrig beim Pingpong .
" Ach , Tischkrocket ist ja mopsig ! "
Leni wandte sich dem hellerleuchteten Fenster des Drawingroom zu .
Da saßen die anderen alle im Kreise , selbst Lizzie tat mit .
Einer erzählte eine Geschichte , in der eine family-coach den Mittelpunkt bildete .
Jeder Mitspielende stellte einen Teil der Familienkutsche vor , und sobald er in der Erzählung genannt wurde , mußte er sich drehen .
Wer nicht aufpaßte , gab ein Forfait .
Pfänderspiele fand Leni reizend .
Das heutige schien völlig neu zu sein .
Aber nein , irgendwo hatte sie schon etwas Ähnliches gespielt .
Wo denn nur ?
" Ja , ich habe_es !
Das ist genau so wie ein Spiel bei uns , nur daß die family-coach ein Doktor ist und das Pferd ein Apotheker , und statt Peitsche , Deichsel , Räder und so weiter sind es Pillen und Medikamente , aber sonst ganz genau so ! "
Diese Erklärung erscholl plötzlich zum Schrecken der Mitspielenden aus dem nächtlichen Dunkel laut in das Zimmer hinein .
Alles stürzte zum Fenster , aber da war nichts mehr zu sehen .
Leni , die im Spieleifer ganz vergessen hatte , daß sie ja in Acht und Bann getan war , hatte , als sie sich bei dem Ausruf ertappt sah , sofort Fersengeld gegeben ; nun saß sie herzklopfend wieder oben im Zimmer , der Dinge gewärtig , die da kommen sollten .
Es kam aber nichts ; kopfschüttelnd hatte man sich drunten wieder zum Spiel gesetzt .
" Es geistert , " flüsterte der lustige Rechtsanwalt mit einem unheimlichen Blick in alle Ecken den ängstlichen Damen zu .
Nur Lizzie lächelte spitzbübisch und verschmitzt .
Sie wußte genau , wer der Geist gewesen war . -
Onkel Richard kam endlich auch .
Als weißgekleidete Ehrenjungfrauen , mit Rosen in den Händen , empfingen ihn die Mädchen .
Er glaubte , seinen Augen nicht trauen zu dürfen .
Aus dem bleichen , abgemagerten müden Kinde mit den krankhaft großen Augen war in den paar Wochen ein rosiges Mädchen geworden , braungebrannt wie eine Bauerndirn war seine Lizzie , und die Augen blitzten mit denen Lenis um die Wette !
Aber auch Onkel Richard kam mit freiem , frohem Herzen zu den Seinen .
Die schweren Geschäftssorgen waren zerstreut ; das Fürchten und Hoffen lag hinter ihm , wenn es auch nicht ganz ohne Verluste abgegangen war .
Es blieb ihm und den Seinen doch genug zu einem vollständig sorgenfreien Leben , und vor allem war der Glanz seiner Firma rein erhalten .
Tante Jane atmete auf .
Sie war bisher nur halb auf Ventnor gewesen ; ihr Denken hatte sich nicht von London lösen können .
Jetzt unternahm Onkel Richard mit " seinen vier Damen " -
Leni und Lizzie waren stolz darauf daß sie dazu gerechnet wurden - auch größere Ausflüge .
Mit der mail-coach ging es nach Cowes , wo die große Königsregatta stattfindet .
Leni , die am liebsten auf dem Bock gesessen hätte , wurde von Tante Jane ganz nach hinten gesetzt , denn diese traute ihr nicht wegen des Kutschierens .
Auf dem Bock saß auch a Young lady nicht .
" Ich bin keine Young lady , ich bin ein junges Fräulein , " erklärte Leni zur Heiterkeit der übrigen Ausflügler .
Bald aber hatte sie ihre Schmerzen vergessen ; die zauberhafte Schönheit des Weges ließ keine kleinlichen Gedanken aufkommen .
Vorbei ging es an den ehrwürdigen Ruinen des Schlosses Carisbrooke , wo Karl I. ein Jahr lang gefangen saß .
Das Geschichtliche war das einzig Unangenehme an der Fahrt .
Miß Brown ließ nicht locker ; sie wollte genau von Leni wissen , wann und durch wen Karl I. in London später gerichtet wurde .
Leni wußte das nicht zu sagen ; sie verwechselte sogar zu Miß Browns Empörung die Jahrhunderte .
Ja , als Lizzie , die in der Geschichte ihres Vaterlandes besser bewandert war als die junge Deutsche , ihr zuflüsterte :
" Leni , 1649 , durch Cromwell " , zuckte der Backfisch ärgerlich die Achsel .
" Ist mir höchst egal , wie der Scharfrichter im Jahre Anno Tobak geheißen hat , " sagte sie stirnrunzelnd , zum Glück in deutscher Sprache .
Osborne-House , der feenhafte Sommersitz der Königin Viktoria , interessierte sie schon eher , und als man nachher den internationalen Hafen in Cowes besichtigte , zeigte sich auch Lenis patriotisches Gefühl .
" Lizzie , sieh bloß Mal das deutsche Schiff da , das helle , mit den lustigen Wimpeln !
Viel freundlicher und schöner sieht das aus als die grauen englischen ; die schauen ja alle so griesgrämig drein wie drei Tage Regenwetter ! "
Auch eine Seerundfahrt um die ganze Insel machte der Onkel mit Leni ; die drei übrigen blieben daheim , weil sie Angst vor der Seekrankheit hatten .
Leni aber fürchtete sich nicht vor " Dod und Düwel " , wie sie dem Onkel lachend versicherte .
Es war auch gar nicht arg ; als sie mit dem Onkel von Deutschland herüberkam , hatten sie einen großen Sturm erlebt .
Das " bisschen Seebrise " , das ihnen um die Nase wehte , warf höchstens Mondscheinprinzessinnen um , aber nicht eine kernige Dirn von der Waterkant .
Sie mußte doch die Needles sehen , jene schroff zerklüfteten , senkrecht ins Meer abfallenden Felsen , die schon manchem Schiff gefährlich geworden sind .
Einige Tage vor der festgesetzten Heimkehr nach London sprang der Wind plötzlich um .
Er brachte Regen mit ; grau , vernebelt und trostlos lag der Strand da .
Der feine weiße Sand glich einer zähen braunen Breimasse .
" Jetzt waschen die Nebeltöchter ihre Schleier , " sagte Lizzie traurig .
Es war kalt und ungemütlich .
Der Herbst nahte mit langen Schritten .
Da , am letzten Tag gegen Mittag ein Sonnengruß !
Die dicken Wolkenmassen schoben sich auseinander ; ein paar armselige Sonnenstrahlen stahlen sich schüchtern zur Erde nieder .
Leni , die eben daran gewesen war , ihren Badeanzug in den Koffer zu packen , hielt damit inne .
Mit einem Sprunge war sie im Nebenzimmer , wo Tante Jane und die Miß ebenfalls mit Einpacken beschäftigt waren .
" Tante Jane - die Sonne - da ist sie !
Nun darf ich noch einmal baden gehen , nicht ?
Du hast es mir versprochen , Tante ; sowie die Sonne scheint ! "
Leni rollte bereits das Badezeug in den Riemen .
" Ellen , ich weiß wirklich nicht - Miß Brown kann nicht mitgehen , und du allein ?
Bleibe lieber hier , Kind !
Es wird auch schon wieder dunkel . "
" Nein , die Sonne scheint , und was man verspricht , muß man auch halten , " beharrte Leni weinerlich .
Tante Jane wandte sich seufzend wieder ihrem Koffer zu .
" Well , you Mai go , aber daß du ganz vorsichtig bist , Ellen , hörst du ? "
Leni hörte aber nicht mehr ; längst war sie schon zur Tür hinaus .
Sie stapfte über den noch immer nassen Strand .
Gar nicht schön sah ihr liebes Meer heute aus .
Schmutziggrau zerschellten die Wogen am Ufer .
Muscheln , tote Fische und schwarzen Seetang warfen sie aus .
Kein einziger Badekarren war draußen .
Die Sonnenstrahlen hatten sich wieder verkrochen ; düstere , zerfetzte Wolkentücher flatterten über dem unheimlich daherrollenden Meer .
Ob sie nicht doch lieber umkehrte ?
Das Bad konnte heute nach den schmutzigen Regenmassen kein Genuß sein und ganz allein - " Feige Memme ! " sagte Leni laut zu sich selbst , und mit raschem Schritt trat sie an den Karren , der das Badebureau vorstellte .
" O , Miß , Sie wollen bei dem schlechten Wetter baden ? " sagte der alte Fred mit der verdächtig leuchtenden roten Nase .
" Freilich , vorhin haben auch drei Damen gebadet , aber die Flut ist jetzt im Steigen . . . "
Ach was , die Flut !
So schnell geht das nicht !
Das Wasser stand ja noch ganz flach ; bis zur Hochflut war sie längst wieder außer Wasser , und was die drei Damen konnten , war für sie Kinderspiel !
Sie ließ sich in ihrem fahrenden Häuschen hinausrollen .
Noch ein kurzes Zögern auf der untersten Treppenstufe - wie der schwarze Rachen eines lauernden Ungeheures gähnte sie das weite einsame Meer heute an - dann ging ihr die erste Welle über den Kopf .
Pfui !
Abscheulich schmeckte das Seewasser heute , so schlammig !
Hatte sie auch keine weichgliederige Qualle mit verschluckt ?
Viele winzige weiße Fischchen trieben in der Nähe des Strandes ; sie mußte ein bißchen mehr hineingehen .
Das Wasser reichte ihr ja kaum bis unter die Arme .
So , hier draußen war es besser .
Jetzt freute sich Leni doch , daß sie noch einmal baden gegangen war .
Morgen saß sie wieder in dem staubigen London , und alles hatte ein Ende .
Und es war auch bei diesem trüben Wetter schön im Meer ; soweit sie blickte , war sie der einzige farbige Punkt in den düsteren unabsehbaren Wassern .
Hoiho - eine Welle !
Das war lustig .
Noch eine ?
Die kam ja sehr rasch !
Schon wieder - von allen Seiten jagten jetzt die Wellen heran !
Die Flut kam schneller , als sie geglaubt hatte .
Zurück , flink zurück zum Badekarren !
Himmlischer Vater , wo war der ?
Schwarze , wild einherstürmende Wellen und schaumiger Gischt , wohin sie auch blickte !
Kaum hatte sie sich unter einer Welle geduckt , so faßte sie schon wieder eine neue !
Himmel , das war die Springflut , von der man gestern beim Diner gesprochen hatte !
Nun war sie verloren !
" Mutig - - - ! " schrie sie mit gellender Stimme ; die Todesangst ließ sie den Namen rufen , der in der Kinderzeit stets Hilfe gebracht hatte .
Aber Mutig war heute weit !
Was war das ?
Welches Ungeheuer hatte seine Scheren um ihr linkes Bein geschlagen und zog sie zum Grunde ?
Mit der Kraft der Verzweiflung riß sie sich aus dem sie umstrickenden Seetang los .
Dann fühlte sie , wie Arme und Beine , mit denen sie gegen die ungestümen Wogen steuerte , allmählich erlahmten .
Es war ja auch umsonst .
Der Wellenstrudel täuschte über jede Richtung ; jeder Stoß trieb sie vielleicht weiter ins offene Meer hinaus .
" Hilfe - - ! "
Das Brausen und Heulen des unbarmherzigen Wassers übertönte den matten Ruf .
Die Sinne begannen ihr zu schwinden .
Willenlos ließ sie sich von den heranrasend Fluten bald hierhin , bald dorthin treiben .
Da - ein starker körperlicher Schmerz !
Sie war gegen etwas Hartes geschleudert worden .
Unbewußt griffen die Hände danach .
Fest hielt Leni das Treppengeländer umklammert , das zu ihrem Karren emporführte .
Wieder ging eine Welle über sie hinweg , dann erst zwang sie der Selbsterhaltungstrieb , die Stufen emporzutaumeln ; die Tür schlug hinter ihr zu .
Sie war gerettet .
Ja , war sie denn wirklich schon gerettet ?
Zähneklappernd , mit blauem Gesicht und am ganzen Körper zitternd , stand sie mit dem nassen Badezeug in dem kleinen Raum .
Es verging eine Zeit , ehe sie überhaupt daran dachte , sich abzutrocknen .
Dann schritt sie , in ihren weißen Bademantel gehüllt , mit angstvollen Augen von einem Fensterchen zum anderen .
Immer noch stiegen die Wellen .
Sie überspülten schon die Treppenstufen . Bald würden sie auch ihr kleines Eiland überfluten .
Zog man sie denn nicht zum Strand zurück ?
Wo war nur der Wächter mit den Transtiefeln ?
Man wußte doch , daß ein Badekarren draußen war !
O , wie ein Stich ging es Leni durchs Herz : der alte Fred war ja wieder einmal nur halb nüchtern gewesen !
Sie empfand nichts von dem großartigen Naturschauspiel , das die entfesselten Wasser boten .
Sie sah nur mit entsetzten Blicken , wie die ruhelosen Wellen gierig Stufe um Stufe verschlangen .
Soweit sie schaute , graue Fluten , graue Wolken .
Wild mit den Flügeln schlagende Möwen flatterten kreischend mit langen Stößen über das brandende Meer .
Woge um Woge , Minute um Minute rollte dahin .
Leni dachte nicht daran , sich anzukleiden .
Immer stierer wurde ihr Blick .
Die Flut stieg noch immer !
Halt - sie wollte ein Notsignal geben !
Das war die letzte Rettung .
Mit steifen Fingern band sie ihr hellrotes Musselinkleid an die Regenschirmkrücke und öffnete behutsam das Fenster .
Das Wasser spritzte zu ihr empor ; sie achtete dessen nicht .
Mit beiden Händen hielt sie ihren Regenschirm umklammert und ließ die rote Notflagge im Sturme wehen .
Wieder vergingen Minuten .
Sie dünkten Leni eine Ewigkeit .
Da , ein Knirschen - noch einmal - ihr hochrädriges Häuschen bewegte sich !
Rissen die Wellen es mit sich fort ?
Nein , langsam und sicher glitt es Strandwerts .
Die lange Kette rollte sich auf .
In ohnmächtiger Wut brüllten die Fluten dem ihnen entrungenen Opfer nach .
Man hatte vom Strande aus das flatternde Notsignal gesehen und den schlafenden Beamten darauf aufmerksam gemacht .
Das Entsetzen über den draußen vergessenen Badekarren hatte ihn schnell ernüchtert .
Leni hatte später keine Ahnung mehr davon , wie sie in ihre Kleider und wieder heimgekommen war .
Aber einen Bombenschnupfen nahm sie zur Erinnerung an das grausige , ihr unvergeßlich bleibende Seeabenteuer nach London mit .
Halali .
Mary hielt nicht immer Wort .
Es war zu schwer , stets des Versprechens eingedenk zu sein , das sie Tante Lisabeth am Erntefest reumütig gegeben hatte .
Sie war bereits so daran gewöhnt , es mit der Wahrheit nicht genau zu nehmen und gelegentlich ein wenig zu flunkern und zu mogeln , daß sie sich stets zu spät auf ihrem alten Fehler ertappte , und nicht immer besaß sie den Mut , es Tante Lisabeth einzugestehen .
Der klugen Frau entgingen die kleinen Unwahrheiten meistens nicht - Marys scheuer Blick war der beste Verräter - aber sie wußte , daß auf einen Hieb kein Baum fällt ; mit gleichmäßiger Liebe kam sie daher dem jungen Mädchen entgegen .
Auch der " hochnäsige Spleen " der jungen Engländerin , wie Karl Heinz sich drastisch ausdrückte , war noch nicht völlig geheilt ; das " Prinzeßchen " kam allenthalben wieder einmal zum Vorschein .
Jürgens und die alte Dörthe , die doch eine Vorzugsstellung unter dem Gesinde einnahmen , wußten ein Lied davon zu singen .
Mary hatte von Lizzies schwerer Krankheit erst erfahren , als die Gefahr vorüber war .
Sie dachte jetzt mit zärtlicher Sehnsucht an die arme Schwester , die so viel aushalten mußte ; vergessen war , wie oft sie Lizzies trauriges Dasein durch kindische , häßliche Zänkereien noch unerfreulicher gestaltet hatte .
Auch Tante Lisabeth hörte mit warmer Teilnahme von den bösen Wochen , und das Mutterherz fühlte noch nachträglich den schweren Ernst der trüben Zeit nach , die Leni mit durchlebt hatte .
Auf Nedderdorf hatte sich viel verändert , nicht nur draußen auf den Feldern , wo die liebe Sonne jetzt ihre wärmsten Herbststrahlen auf leere Stoppeln , dickfleischige Rübenblätter und bräunliches Kartoffelkraut spielen ließ .
Zarte , silbrige Sommerfäden flatterten durch die Luft ; sie hingen sich an den plumpen Spaten , der , von kräftigen Männerfäusten gestoßen , in das braune Erdreich drang .
Das " Tüftenbuddeln " hatte begonnen .
Nebeneinander schritten die Leute die langen Furchen ab , hinter jedem Knecht eine Hofdirn , zum Auflesen der Kartoffeln .
Aus den Kraut- und Rübenäckern flog zuweilen ein Volk Rebhühner auf ; Schüsse knallten lustig über Wald und Feld .
Die dreisten Häschen , die zu Marys Ergötzen im Sommer oft possierliche Männchen gemacht hatten , setzten jetzt im gestreckten Galopp durch die Wälder ; nur selten wagte sich noch eins bis zum Krautacker .
Vating hatte die helle Leinenjoppe mit dem grünen Jagdwams und dem kecken Jägerhütchen vertauscht ; das Gewehr über der Schulter , strich er des Morgens und Abends durch die Waldungen .
Die Gutsbesitzer ringsum , die während der arbeitsreichen Sommer- und Erntezeit nur wenig Muße zu nachbarlichem Verkehr gefunden hatten , wurden jetzt wieder gesellig .
Auch Mary war schon einige Male mit Tante Lisabeth über holperige Landwege zu befreundeten Familien gefahren .
Die Fahrt war zwar für das ängstliche Stadtdämchen immer ein wenig aufregend .
Hü und hott ging es über Stock und Stein ; gar oft klammerte sie sich furchtsam an Karl Heinz .
Der übermütige Nichtsnutz rief alle Augenblicke Mal :
" Prinzeßchen , du fällst !
Kiek nur den großen Stein ; da fahren wir sicher an !
Jürgens , smet uns man blot nicht hier in 'n Watergraben ! "
Aber nachher auf den Gütern war es very interästig indeed !
Es schmeichelte Marys Selbstgefühl nicht wenig , daß die Tante sie manchmal mitnahm , freilich nur da , wo es Mädchen in ihrem Alter gab .
Vating hatte die helle Leinenjoppe mit dem grünen Jagdwams vertauscht .
In England mußte man bis zum achtzehnten Jahr in der Kinderstube hocken .
Mary hatte bereits in London jedes achtzehnjährige Mädchen beneidet , das sein Haar hochstecken durfte und ausgeführt wurde .
" She comes out , " das ist der Zeitpunkt , der jedes englische Backfischherz höher schlagen läßt .
Mit Mietteig Dürenfurt auf Staveneck hatte Mary innige Freundschaft geschlossen ; man traf auf der Waldwiese , die gerade die Mitte zwischen den beiden Gütern bildete , jede Woche wenigstens einmal zusammen .
" Die jungen Lämmer gehen auf die Freundschaftswiese grasen , " sagte dann Karl Heinz , der Bösewicht ; aber der war nur " tücksch " , daß Mary ihn nicht mitnahm .
Tante Lisabeth freute sich darüber , daß Mary nun auch mit jungen Mädchen zusammenkam , und begünstigte den Verkehr gern .
Minder gefiel es ihr freilich , daß die Nichte dabei immer eitler wurde .
Keine Haarschleife war ihr jetzt breit genug , und neulich - es zuckte Tante Lisabeth noch in der Hand , wenn sie daran dachte - neulich war die unvernünftige Dirn gar mit vollständig abgesengten Haaren erschienen !
In die Plättküche hatte sie sich eingeschlossen , und die Scheren , womit die Spitzen an den Windelhöschen gekräuselt wurden , zum Haarbrennen benutzt !
Zahllose Locken und Löckchen krausten sich um ihre Stirn .
" Wie Kantors weißer Peter siehst_du aus , Prinzeßchen ; es fehlen nur noch die dalhängenden Ohren ! " rief Karl Heinz lachend .
Tantig aber lachte nicht , sondern fuhr kräftig dazwischen , und alles Betteln und Heulen half nichts , Mary mußte das weiße Kleid wieder ausziehen und zu Hause bleiben , denn " mit einem solchen Pudelkopf fahre ich nicht über Land ! " erklärte die Tante streng .
Auf dem Gutshof selbst war auch manches anders geworden .
Hänschen und Fränzchen , die beiden Lütten , waren Fräuleins Spielschule entwachsen und hatten ihre Balgereien jetzt auf die Dorfstraße verlegt .
Sie waren seit dem Herbstanfang zu Abcschützen aufgerückt , und der gute alte Herr Kantor , der stets trennend zwischen den beiden kleinen Kampfhähnen saß , mußte mit seinen Beinen manchen brüderlichen Stoß und heimlichen Knuff unter dem Tisch auffangen .
Die größten Fortschritte aber hatte sicher klein Suschen gemacht .
Tap - tap - tap - ging es den ganzen Tag auf den Strampelbeinchen durch Haus und Garten ; wie ein Wiesel kroch die kleine Dirn in allen Ecken und Winkeln herum .
Kein Kasten war mehr vor ihr sicher .
Dreimal hatte sie Muttings Nähtisch schon einer gründlichen Prüfung unterzogen , Knöpfe , Haken und Ösen wie ein Sämann im Zimmer umhergestreut und die vielen Meter Band zu weißen Schlangen aufgerollt .
Als Mutig hinzukam , stand sie gerade mit der Schere bewaffnet vor dem Spiegel , um sich die Haare abzuschneiden ; so hatte es Fräulein neulich mit ihr gemacht .
Die Mutter wußte nicht , wie sie der Kleinen schnell genug das gefährliche Instrument entreißen sollte .
Mary aber , die nur ein Viertelstündchen hatte achtgeben sollen , saß in eine Freundschaftsepistel an Mietteig Dürenfurt vertieft am Schreibtisch , mitten in diesem Drüber und Drunter !
Sie hatte nichts von all dem Unheil gemerkt .
Suschens erste Sprechversuche bildeten Marys höchstes Entzücken .
Das süße Plappermäulchen , in dem jetzt neun kleine Zähne blitzten , stand keinen Augenblick mehr still .
Aber als Karl Heinz Mary den Schabernack spielte und Suschen heimlich das verhaßte Wort " Mieze " beibrachte , so daß Klingen sie plötzlich " Mische " rief , mit demselben Namen , womit sie jede Katze auf dem Hof benannte , da weinte Mary heimlich Tränen heißen Zornes .
Wenn sie doch Karl Heinz auch Mal eins auszahlen könnte !
Heute herrschte reges Leben auf dem Gutshof .
Die Obstbäume , die bei Marys Einzug in schimmernder Blüte gestanden hatten , wurden geplündert .
Reich behangene Zweige beugten sich unter der schweren Last der goldgelben , rotbäckigen und rötlich violetten Früchte .
Lange Leitern waren angesetzt ; aus dem breitästigen Gezweig der Apfelbäume schimmerte es graugrün ; Jürgens trieb darin sein Wesen .
Mit umständlicher Ordentlichkeit nahm er die prächtigen Grafensteine und Goldparmänen ab .
Drei oder vier Äpfel aber ließ er , wie es der Landmannsglaube will , an jedem Baume hängen ; das gibt im nächsten Jahr dann eine um so reichere Ernte .
In dem frischgrünen Blätterdach der Birnbäume tauchte sogar Vatings braunrotes , bärtiges Gesicht auf ; eigenhändig pflückte er mit inniger Freude Stück für Stück seine Edelbirnen , die Gute Luise von Avrenges und die goldgelbe William-Christ-Birne .
Am Fuß der Leiter stand Mutig , um die kostbaren Exemplare behutsam zum Nachreifen zu verpacken ; niemand anderem überließ Vating das .
Karl Heinz hatte seine Tätigkeit " mang 'n Plummenboom " verlegt ; sein heißes , ewig kauendes Knabengesicht wurde immer da sichtbar , wo die meisten Früchte hingen .
Er machte sich die Sache einfacher ; er schüttelte seine Bäume , daß ein blauer Pflaumenregen plötzlich herabprasselte .
" Achtung , Steinschlag ! " schrie er .
Zu spät !
Mary und Mietteig , die zur Obsternte nach Nedderdorf geladen war , hielten sich lachend und zankend die Hände über den Kopf .
Dann sammelten sie das Schüttelobst in große kippen und vergaßen bei dieser lustigen Arbeit auch den eigenen Magen nicht .
Aber was hatten die beiden Mädel da plötzlich geheimnisvoll zu flüstern ?
Karl Heinz ließ , um sie auseinander zu bringen , wieder einen derben Pflaumenguß auf sie hinabhageln .
Hui , wie sie da sprangen !
" Na täuw du man , mein oller Jung ! " rief Mietteig übermütig und begann , den wehrlos in den Zweigen Sitzenden mit Pflaumenkernen zu werfen .
Mary aber hatte mit aller Kraft die lange Leiter ergriffen ; mit einem Ruck zog sie sie zur Erde .
" Well , my boy , nun bist du gefangen ; ohne mir kannst du nicht wieder auf das Erde !
Now mußt du dir nähren only von Pflaumens , " rief sie lachend und um den Baum herumtanzend .
Dear me - was war das ?
Sie fühlte sich plötzlich von oben gefaßt ; ihr langer Blondzopf wurde in die Höhe gezogen , und ehe sie sich losmachen konnte , war sie schon mit der seidenen Haarschleife an einem knorrigen Ast festgebunden .
Nicht einmal bewegen konnte sie sich , denn das schmerzte horribly .
Karl Heinz aber , der Racker , war an dem Stamm heruntergerutscht und machte der kläglich winselnden Mary eine verbindliche Verbeugung nach der anderen , freilich auf armlange Entfernung .
" Kiek , Prinzeßchen , so kommt meines Vaters Sohn » ohne dir « vom Baum herunter !
Du kennst doch das schöne deutsche Sprichwort : » Wer anderen eine Grube gräbt , fällt selbst hinein . «
Nee - nicht ?
Na , denn kannst_du Mal 'nen lütten Aufsatz darüber machen ; überlege dir es man immer schon 'n beten , Prinzeßchen !
Mietteig und ich benutzen dich inzwischen als Zielscheibe .
So , meine Herrschaften , großes Scheibenschießen mit Pflaumenkernen auf Miß Miezeken Sürsen ! " verkündete er mit Jahrmarktstimme und begann geschickt zu zielen .
" Mein Kleid , o , mein weißer Kleid !
It will geht Obstflecke - au , Not in die Gesicht !
Ich ekle mir vor abgelutschter Steine .
Mieting , dear Mietteig , help me ! "
So jammerte Mary ohne Unterlaß .
Die Freundin hatte sich schon längst um den Stamm geschlichen , um Mary heimlich loszubinden ; vergebens , sie langte nicht bis zu dem Ast hinauf .
" Wirst schon noch wachsen , Mietteig , " tröstete Karl Heinz , dem man nicht leicht ein X für ein U vormachen konnte , mit verschmitztem Augenblinzeln .
" Bis dahin bleibt das Prinzeßchen aber am Pflaumenbaum hängen .
So ein nettes Früchtchen hat der olle Baum noch kein Jahr getragen . "
" Tante Lisabeth - Tantig - der gräßlicher fellow !
Oh , come here , please - er wirft mir mit fortgespuckte Kerner ! "
Tante Lisabeth hörte nicht ; sie betete die Lieblinge ihres Mannes gerade in den Obstkammern in weiches Stroh .
Aber Fränzchen und Hänschen wurden von dem Geschrei angelockt .
Hurra , da taten sie auch mit !
Dem Beispiel des großen Bruders folgend , bewarfen sie die lange Cousine , vor der sie sonst einen heillosen Respekt hatten , frechdachsig mit kleinen grünen Äpfeln , dem Fallobst , das sie für die Schweine und Karnickel auflesen sollten .
Sie rechneten nicht mit der Möglichkeit , daß Mary jemals wieder freikommen könnte .
Denn als es der treuen Mietteig nach vielfachen Versuchen endlich geglückt war , die Leiter hinter dem Baum anzulehnen und heimlich die Fesseln ihrer englischen Freundin zu lösen , waren sie so starr vor Staunen , daß sie sogar das Fortlaufen vergaßen .
Erst als Marys fünf Finger sich rot auf ihren Wangen abzeichneten -
denn ihren ganzen Zorn über die unfreiwillige Gefangenschaft hatte Mary in diese beiden Ohrfeigen gelegt - liefen sie aufheulend zu Mutig .
" Mieze haut uns , Mutig , huuuh !
Mieze hat uns so doll verwichst , kiek bloß Mal , Mutig ! "
Sie wiesen ihre gestreiften Bäckchen .
" Je , Kinnings , seid ihr wehleidig !
Was ein richtiger Junge ist , der wischt sich so 'ne Tracht Prügel bloß ab .
Mary , Dirn , ein Klaps schadet den Lütten ja nix , aber gar so arg zu hauen brauchst du auch nicht gerade .
Daß das Lüttzeug doch nicht Ruhe halten kann !
Nun habt ihr euch so sehr auf die Obsternte gefreut , und jetzt wo es so weit ist , verderbt ihr euch selbst das Vergnügen ! "
Mary stand mit trotzigem Gesicht da .
Sie schämte sich , daß die Tante sie vor Mietteig getadelt hatte .
Diese aber zog ein weißes Taschentuch heraus und ließ es im Winde flattern .
" Recht hat dein Tantig , Mary !
Wir wollen uns den hübschen Tag nicht verderben , Karl Heinz , komme her ; Mary tut dir nichts , die Friedensflagge weht . "
Karl Heinz , der gerade noch rechtzeitig ausgekniffen war , folgte ein bißchen argwöhnisch Mietings Aufforderung .
" So , Kinnings , jetzt geben wir uns alle drei die Hand , und nun wird Urfehde geschworen für den ganzen Tag ; verstanden , ihr Raufbolde ? "
Das geschah denn auch , und die heitere Arbeit verlief ungestört .
Tante Lisabeth nahm die beiden Mädel ordentlich heran ; überall mußten sie mit Hand anlegen .
Sie betteten die Winteräpfel in die Streue und halfen , die Riesenbleche mit Äpfeln , Birnen und Pflaumen zum Dörren belegen .
Erstaunt sah das Stadtkind , wie das in London immer gekaufte Backobst hier selbst fabriziert wurde .
Die Hauptsache aber war das Obsteinkochen .
Es roch jetzt im weiten Umkreis des Hauses bis zu den Kleefeldern hin nach Essig und Zucker .
In ganz Mecklenburg gab es nicht so viele " Hafen " , wie Tante Lisabeth voll herrlicher Früchte , mit Pergamentpapier verbunden und mit einem weißblauen Schild versehen , in ihren Vorratskammern aufreihte .
Die eingemachten Früchte waren Frau Lisabeths größter Stolz .
Das Bekleben war Karl Heinz' Arbeit , und Mary band die Gläser mit himmelblauen Schleifchen zu .
Das gefiel ihr tausendmal besser als das vorangegangene Schälen und Entkernen des Obstes .
Himmel , ihre Hände !
Die hätte Mal Mama sehen müssen !
Und Mietteig hatte sie noch dazu ausgelacht , als sie sich zum Pflaumenabziehen weiße Handschuhe über die feinen Finger streifte !
" Du , Mary , sehr zuträglich wird das den hellen Handschuhen nicht sein , und ob die Pflaumen besser danach schmecken , glaube ich auch nicht , " neckte das lustige Mädel die Freundin .
" Ich mag nicht haben Fingers wie ein Kuhmagd , " verteidigte sich Mary .
" Prinzeßchen ! " antwortete Mietteig lachend , die den Spottnamen von Karl Heinz aufgeschnappt hatte .
Das nahm aber Mary gewaltig krumm .
" Du brauchst ja kein friend zu sein von eine Prinzeßchen !
Du brauchst auch nicht more to come auf unserer Freundschaftswiese !
Hier hast du dein vierblattriger Kleeblatt back ; give me mine ! "
Mit zuckenden Lippen riß sie aus ihrem Blusenlatz das in rosa Seidenpapier gewickelte Freundschaftszeichen , das sie in jener himmlischen Stunde auf Staveneck hinter den Dunggruben getauscht hatten .
Mietteig aber war nicht so zart besaitet ; sie dachte nicht daran , auch Mary die Freundschaft zu kündigen .
" sü , was 'n olle lütte Kratzbürste !
Komme her , Marychen , sei kein Starrkopp ! "
Sie faßte Mary rund um die schlanke Taille und gab ihr einen herzhaften Kuß .
" Nun zieh Mal deine feinen Handschuhe aus und pell die Pflaumen wie ich ab .
Mit den ollen Dingern ist das ja so schmierig , und Bimsstein nimmt nachher das ganze Zeug wieder weg ! "
Prinzeßchen geruhte wirklich , Mietings gutem Beispiel zu folgen ; sie war ja froh , daß sie beide wieder gut waren .
" Mary - Mary ! "
Karl Heinz kam wie ein junges Füllen über den Hof zur Weinlaube gesprungen .
" Du , Mary , Vating will mich morgen früh mit auf die Jagd nehmen ; ich wollt ' schon immer Mal so bannig gern .
Möchte ihr auch mit , Dirn ? "
Mary warf das Messer in den Napf , steckte die Pflaume , die sie gerade in der Hand hielt , in den Mund , weil sie in der Eile keinen passenderen Platz dafür fand , und sprang auf .
" O Yes , indeed - aber poor Mietteig muß zum Abend wieder home ; sie kann nicht auf Jagd .
Glaubst du , daß Onkel will nehmen mir mit , boy ? "
" Frag ihn ; er ist bei den Futterspeichern . "
Karl Heinz half Mietteig , die der Meinung war , schlafen sei zehnmal besser als die schönste Jagd , beim Abziehen der Früchte .
Mary sauste ähnlich wie Karl Heinz vorhin über den Gutshof .
Sie achtete nicht einmal der ihr unsympathischen , rotgelappten Puten .
Ein Bild , das daheim in London im smoking-room hing , eine Fuchsjagd , Herren und Damen im grellroten Frack zu Pferde darstellend , erstand vor ihrem Auge . O Yes , sie würde ihr rotes Jäckchen anziehen und die weiße Jockeimütze aufsetzen , dann war sie allright !
" Onkel U-aldemar , dear Onkel U-aldemar ! "
Die sonst sehr kühle , zurückhaltende Mary schlang die Arme bettelnd um den Hals des ihr den Rücken kehrenden Onkels .
Der schob sie erstaunt nach vorn .
" Miezeken - je , daß dich !
Was ist denn in dich gefahren , Dirn ?
Diese Liebe kommt mir zu plötzlich !
Hast wohl wieder was utfreten , mein Gör , was ? "
Mary schüttelte stumm den Blondkopf .
" Nee nicht ?
Na , wo fehlt es denn ?
Man 'n bisschen tau ! "
" O Onkel , ich würde lieben very Much , zu kommen heute abend auf Jagd .
Nehme mir doch mit , please , dear Onkel U-aldemar ! "
Der Onkel zog die Augenbrauen in die Höhe .
" Hm , so , so , euch Lüttzeug mit auf Anstand nehmen !
Na - ja - hm - wollen Mal hören , was Tantig dazu meint .
Freut mich aber , daß du so viel Courage hast , Dirn ; hätte ' dir es nicht Mal zugetraut . "
Mary stürmte bereits dem süßen Essigduft nach in die Küche ; der Onkel folgte langsamer .
Aber an der Tür machte er kehrt ; es waren ihm da unten zu viel Frauenzimmer bei der Obstkocherei .
Das Backfischchen drang bis zu Tante Lisabeth durch , die , mit einem Schaumlöffel bewaffnet , wie ein Feldherr ihre an großen Kupferkesseln beschäftigten Truppen befehligte .
" Tante Lisabeth - - "
" Einen Augenblick , Kind , ich kann jetzt nicht - - " Mary wartete geduldig .
Sie mußte den günstigen Augenblick abpassen , sonst konnte sie schon von vornherein auf ein kurzes " Nein " gefaßt sein .
Als die großen Kessel endlich vom Feuer waren , und der Obstbrei recht langsam und bedächtig durch die Seihbeutel sickerte , hielt Mary ihre Zeit für gekommen .
Sie wagte einen kühnen Vorstoß .
" Tante Lisabeth , Onkel will Karl Heinz und mir schrecklich gern mitnehmen auf Jagd - " es kam ihr jetzt wirklich selbst so vor , als ob der Onkel keinen sehnlicheren Wunsch hätte - " nicht wahr , dear Tanting , will you allow it ? "
" Kerlin , zieh das Pflaumenmus vom Feuer , " war Tante Antwort .
Mary brachte noch einmal ihre Sache vor .
Jetzt wünschte der Onkel schon auf » jeden Fall « , sie beide mitzunehmen .
" Aber Mary , am späten Abend oder am Morgen zu nachtschlafender Zeit . . . ? "
" O , Tante Lisabeth , bitte , bitte ! "
" Na , meinetwegen , wenn es euch Spaß macht !
Mir dünkt das ein Vergnügen etwas zweifelhafter Natur zu sein . - Herrje , Mining , die Dirn läßt ja wohl gar den Zucker anbrennen ! "
Tante Lisabeth war mit ihren Gedanken schon wieder bei den Früchten .
Mary genügte der Bescheid auch vollends ; jubelnd teilte sie ihrem Gefährten Karl Heinz die Freudenkunde mit .
Mietings Besuch war jetzt ein bißchen ins Hintertreffen gekommen .
Marys Gedanken drehten sich nur noch um die bevorstehende Jagd .
Was für einen Rock sollte sie zu dem roten Jäckchen anziehen ?
Am flottsten war der gute weiße , neue ; der war fashionable .
Wenn Tante Lisabeth nur nicht Einspruch erhob !
Ob die lustigen Herren von Neu Dobberow auch wieder dabei waren ?
Diese behandelten sie schon völlig wie eine Lady .
Oh Lord - es fiel ihr plötzlich schwer auf das Herz - sie konnte ja nicht reiten !
Auf dem Bilde in London waren alle zu Pferd , sie aber - daß sie sich es nur eingestand - hatte insgeheim sogar Angst vor Pferden !
Selbst wenn eins der niedlichen Füllen ihr Zucker und Mohrrüben aus der Hand fraß , blickte sie mit ängstlichem Lächeln auf das drollige Schnuppern und besah nachher genau ihre Finger , ob auch noch alle heil waren .
Nicht einmal ihrer Busenfreundin Mietteig , mit der sie doch erst vor kurzem das Gelöbnis getauscht hatte , kein Geheimnis voreinander zu haben , teilte sie ihre Bedenken mit .
Oh no !
Wenn etwas davon verlautete , mußte sie am Ende daheim bleiben !
So kam der Abend heran .
Die Einmachgläser standen alle in Reihe und Glied ; die Tüftenbuddler rückten , den Spaten über der Schulter , heiß und bestaubt wieder auf dem Hofe ein , und die saure Milch nebst den großen Schinkenbroten hatte herrlich gemundet .
Mary allerdings nicht .
Sie war zu aufgeregt zum Essen .
Die Jagdvorbereitungen nahmen sie zu sehr in Anspruch .
Selbst der Abschiedskuß für Mietteig , die Jürgens im Affenkasten nach Hause fuhr , fiel heute etwas lau und gleichgültig aus .
" Mary - pst - Mary ! "
Karl Heinz winkte ihr mit den Augen .
In der dunklen Ecke hinter dem großen , weitausladenden Mottenschrank erwartete er sie .
" Da , Prinzeßchen , " - er drückte ihr etwas Kaltes , Blinkendes in die Hand - " wenn du auf die Jagd gehen willst , mußt du auch 'n Gewehr haben , da ! "
Mary wagte nicht zuzugreifen .
Sie hielt das unheimliche Ding auf der flachen Hand .
" Das ist keine Ge-u-ehr , " sagte sie ein wenig furchtsam .
" Nee -
ich habe nur noch ein altes von Vating gefunden ; das brauche ich aber selber .
Das Ding hier tut es auch ; das ist eine von Vatings Pistolen " " For goodness sake ! "
Mit lautem Krach warf Mary die gefährliche Waffe weit von sich und sprang entsetzt nach der anderen Seite .
" Kinnings , was geht denn da draußen vor ?
Ich bitte mir Ruhe aus ; die Gören schlafen doch schon ! "
Tante Lisabeth steckte den Kopf aus der Stubentür .
" Nix nicht , Mutig . "
Karl Heinz hatte die Pistole schnell unter seiner Joppe verborgen .
" Dämliches Gör , " knurrte er dann Mary verächtlich an , " hat Angst vor 'ner Pistole und noch dazu vor 'ner ungeladenen ! "
Er trug sie wieder auf ihren alten Platz .
Mary sagte gute Nacht ; um vier Uhr am anderen Morgen wollte der Onkel sie wecken .
" Kind , willst du denn nun im Ernst in finsterer Nacht mitgehen ?
Ausschlafen täte dir besser , " sagte die Tante .
" Oh dear Tante , du jagst mir doch sonst immer aus der Bett ! " Wirklich , nie machte sie Tante Lisabeth etwas recht !
Doch als es nun mitten in der Nacht plötzlich laut gegen ihre Tür pochte - " Vier Uhr , Dirn !
Raus , Fixing !
Wir brauchen den Mondschein noch für unseren Weg ! " -
da hielt auch Mary eine solche Jagd für ein recht zweifelhaftes Vergnügen .
Ja , hätte sie sich nicht vor Karl Heinz geschämt - ach , wie süß die Gören da drin schlummerten ; die hatten_es gut !
Noch ein neidischer Blick auf die schlafenden Kinder , dann folgte Mary dem Rufe des Onkels .
Hu - Mary bebte förmlich vor Kälte .
Noch nie war sie vor Tagesanbruch aufgestanden !
Mit zitternden Händen warf sie sich in Gala .
" Holla , Dirn !
Wo steckst du denn ?
Wir marschieren jetzt los , " rief Onkels polternde Stimme wieder .
Noch ein neidischer Blick auf die schlafenden Kinder , ein sehnsüchtiger nach ihrem schönen , warmen Bett , dann knarrten die Treppenstufen durch das stille Haus .
" Donnerkiel , Miezeken - willst du etwa in dem Aufputz da gehen ?
Du verscheuchst mir ja mit der hellen Kledasche das Wild !
Hier , nimm mein Cape ! "
Der Onkel zog ihr zum Überfluß auch noch die Kapuze über den Kopf .
Ein bitterböser Blick lohnte ihm .
Die feine Frisur , die sie mit vieler Mühe zustande gebracht hatte , war verdorben !
" Prinzeßchen , du siehst mit dem kurzen roten Jäckchen und der Mütze ' gerade so aus wie 'n Affe ' auf dem Leierkasten , " neckte sie der unhöfliche Vetter .
Mary stieß ihn etwas unsanft in die Rippen , verbrannte sich in der Eile den Mund mit dem heißen Kaffee und folgte dann , in allen Tonarten gähnend , dem voranschreitenden Onkel .
Cäsar sprang blaffend nebenher .
Über die im milchweißen Mondlicht träumenden Felder und Äcker ging_es .
Der Onkel machte lange Schritte ; Mary trabte , fest in ihr Cape gewickelt , hinterdrein .
Jetzt bog man in den düsteren Wald .
Dear me , war das hier dunkel !
Durch das dicht verzweigte Eichendach stahlen sich nur vereinzelte Mondstrahlen .
Dort drüben lag das Ried .
Was hatte die alte Dörthe neulich von den bösen Moorgeistern erzählt ?
Kalter Angstschweiß perlte Mary auf der Stirn .
Wäre sie doch bloß zu Hause geblieben !
" Karl Heinz , dear boy faße mir an ; ich stolpere über das Wurzel , " bat sie ängstlich .
Karl Heinz griff nach ihrer Hand , und von seinem frischen Jungenmut strömte etwas auf das furchtsame Backfischchen über .
Sie hielt eine Weile rüstig Schritt .
" Wo ist das Meeting ? " fragte sie endlich , stehen bleibend .
" Was für 'n Ding ? "
Karl Heinz sah sich mit leuchtenden Augen in dem märchenhaft schönen Nachtwald um .
" Die Treffpunkt , wo man das Gesellschaft trifft ? "
" Ja , weiß der Himmel , wo Vating die Gesellschaft treffen wird ; das ist bannig swer vorherzusagen .
Dort nach dem Sturzacker zu sollen sie ihren Wechsel haben - kiek , Prinzeßchen , Vating scheint sich hier auf Anstand zu legen . "
" Brav gestiebelt , Miezeken ! "
Onkel Waldemar umkreiste prüfend eine breitästige Blutbuche am Waldrand .
" So , hier wollen wir dem Rehwild Mal den Wechsel verlegen . "
Er trat auf einen moosbewachsenen Stein und schwang sich elastisch in das tiefhängende Geäst .
Mary sah mit großen Augen zu .
Das sollte eine Jagd sein ?
" So , Dirn die Eberesche dort wird deine vierzig Kilo wohl tragen .
Junge , hilf ihr Mal 'n beten in den Sattel !
Na , hopp , Dirn , allons !
Ach , was ist das Mädel steifbeinig , wie ein oller Schimmel !
Hopp !
Meine Leni müßtest du Mal sehen ; die klettert wie 'ne Katze - - - "
Karl Heinz hatte Mary endlich schnaufend in den niedrigen Ebereschenbaum hinaufbefördert .
" Na , Junge , du nun ein Ende davon weg , auf den nächsten Baum und Fixing Ansitz genommen !
Die Frühdämmerung kommt uns auf den Hals .
Und daß mir keines von euch Gören irgendwelches Geräusch macht !
Mäuschenstill geblieben !
Verstanden ? "
" Ja , Vating , aber wenn eins zu mir ran kommt , kann ich es doch mit Hussa - ho - zu dir hinjagen ? " fragte Karl Heinz eifrig , der für sein Leben gern Jagdgeschichten las .
" Untersteh dich , Jung !
Mir die Beute vertreiben , was ? "
Vating hielt das Gewehr im Anschlag .
Beide Arme ängstlich um den Baumstamm geschmiegt , hockte Mary mit unglücklicher Miene auf ihrem schwankenden Sitz .
So was nannte man " auf Anstand liegen " ?
O , da hatte man in London doch einen anderen Begriff von Anstand !
Miß Brown würde sicherlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen , wenn sie ihren Zögling hier nachts auf einem Ebereschenbaum sitzen sähe .
Das war nicht ladylike ; Oh no , shocking war das !
Und noch dazu so ganz allein in dem dunklen Baum !
Dear me , was für ein Rauschen war das in der Blätterkrone ?
Mary spähte zitternd in die Höhe .
Gestern erst hatte Karl Heinz ihr etwas vom wilden Jäger vorgelesen ; mit weitaufgerissenen Augen starrte die junge Engländerin in das grünliche Dämmerlicht .
Horch !
Flatterte es da nicht im Gezweig ?
Hatten etwa Nachtvögel hier im Baum ihren Schlupfwinkel ?
Marys Herz klopfte hörbar .
" Karl Heinz ! " rief ein furchtsames Stimmchen .
" Schscht - still doch ! "
" Dear Jung , ich drücke mir dreadfully ! "
" Macht nix , halte den Schnabel , Prinzeßchen ! " flüsterte es von dem Baum , auf dem Karl Heinz saß , aufgebracht zurück .
Wieder tiefe Stille .
Die Gesellschaft , für die sie sich fein gemacht hatte , schien nicht mehr zu kommen ; o , war das ein gräßliches Vergnügen , diese Jagd !
Mary gähnte laut und vernehmlich .
" Pst - pst - " Kaum hörbar stieß der Onkel es heraus .
Cäsar war unruhig geworden ; er schien etwas zu wittern .
Da drüben hinter dem Brachfeld , da schimmerte es graubraun ; ein Rudel Rehe wechselte an .
Nur näher , immer näher !
Jetzt standen sie in der Schußlinie , Vating hob das Gewehr an die Wange , legte die Finger an den Hahn und prüfte das Büchsenlicht .
Plötzlich blieb die führende Rice äugend stehen und hob den spitzen Kopf ; sie sicherte .
Mit entsetzten Augen sah Mary auf die herannahenden Tiere .
Oh Lord , was für Ungeheuer waren das ?
Jetzt machten sie einen Bogen zu ihrem Baum hin ; sie wollten sie sicherlich beißen !
" Indeed , sie wollen mir fressen , " schrie Mary los , und - husch , husch - war das Rehwild davon .
" Pots Bomben und Granaten - Dirn , bist du denn ganz des Düwels , mir den feisten Gabelbock zu verjagen ?
Da soll denn doch - " erscholl es grimmig aus den Zweigen der Blutbuche .
Mary hatte den Onkel noch nie so böse gesehen .
" Ich will home - ich will nicht go auf Jagd - I am so Tiret , Oh , I have so viel Angst ! "
Das große Mädchen weinte wie ein Gör .
" Still , still , Miezeken ; du bist mir ja eine nette Diana !
Na , Karl Heinz , setze dich man neben den Hasenfuß ; aber daß ihr mir keinen Ton miteinander schnackt ! "
Mary trocknete ihre Tränen , und Karl Heinz kletterte mit einem wenig freundlichen " Wie kannst du bloß so grützdämlich sein , Dirn , und losschreien ! " an ihrem Baum empor .
Marys Augen begannen wieder zu tropfen .
" Olle Tränenjule ! "
Der Vetter äugte angelegentlich übers Brachfeld .
Jetzt fühlte sich Mary sicher .
Wenn es auch abscheulich kalt und feucht war , und ihr alle Glieder von der unbequemen Lage weh taten , sie brauchte doch wenigstens keine Furcht mehr zu haben .
Plötzlich kniff Karl Heinz sie aufgeregt in den Arm .
" Ruhig jetzt !
Da hinten , sie äßen , da - "
" Wird es auch nicht knallen ? " fragte Mary zitternd .
So was ging nun mit auf Jagd !
Aber Karl Heinz verschluckte sein " Feigling " , denn die Rehe kamen näher .
Was machte denn die Dirn nun schon wieder ?
Sie begann plötzlich sich zu bewegen .
" Willst du wohl still liegen ! " zischte Karl Heinz sie an .
" Au , mein Bein !
Mein rechter Bein ist verschlafen , " wimmerte Mary leise .
" Stst ! "
" O , mein Bein ich kann nicht - es krabbelt so ! "
Mary ließ sich mit einem Jammerlaut an dem Baumstamm niedergleiten .
Plumps - lag sie auf der Erde , und in weiten Sätzen sprangen die Rehe feldein .
Karl Heinz zankte wie ein Rohrspecht , während Mary auf dem linken Fuß um den Baum hüpfte und leise winselnd das eingeschlafene Bein rieb .
Von der Blutbuche aber , wo Vating lag , wurde ein dröhnendes Lachen laut ; der Humor überwog dort den Ärger über die entwischte Beute .
" So , Kinnings , nun wird wieder abgesattelt ; marsch ins Nest !
Einmal und nicht wieder !
Allenfalls kann man dich noch zu 'ner Treibjagd gebrauchen , Miezeken ; du verstehst das Wild famos zu scheuchen ! "
Der junge Tag , der im glutroten Streifenkleide über das graue Gelände lugte , beleuchtete drei verfrorene übernächtige Gesichter .
Recht wenig erbaut von ihrem Weidmannsheil , zogen die drei stumm wieder nach Haus .
Eine Jagdbeute brachte Mary allerdings mit heim :
ihr neuer weißer Rock war über und über voll von grünen und braunen Flecken .
Hausmütterchen .
Es wollte Leni zuerst gar nicht wieder in London gefallen .
Als das Häusermeer mit den schwarzen rauchenden Fabrikschloten und der große , gläserne Kristallpalast , der schon außerhalb des Weichbildes Londons sichtbar wird , wieder vor ihr auftauchte , hätte sie am liebsten kehrt gemacht .
Daheim in der Cottage hatte sich inzwischen ein Wechsel vollzogen .
Das weiße Automobil war verkauft , der kostspielige Chauffeur abgeschafft , das erste Stubenmädchen entlassen worden , nur old Margaret , die Köchin , und ein servant-maid erwarteten die Herrschaften .
Tante Jane hatte sich mit bewunderungswürdiger Gelassenheit in die notwendigen Veränderungen gefügt .
Ja , sie war ihrem Gatten , der gezagt hatte , sie auf verschiedene kleine Einschränkungen aufmerksam zu machen , sogar mit diesen Vorschlägen entgegengekommen .
Nur daraus , daß sie ihn bat , alles in ihrer Abwesenheit zu ordnen , weil es ihr sonst vielleicht nahe gehen würde , erkannte er , wie schwer es ihr wurde .
Sie war ein lebensfrohes Weltkind , an vornehmen Luxus und kostbare Eleganz gewöhnt .
Aber als ihr Mann mit bitterem Tone seufzte :
" Jane , daß du mir solche Opfer bringen mußt ! " da wies sie mit ernsten Augen in das Nebenzimmer , in dem Lizzie fröhlich mit Leni lachte .
" Uns ist noch viel geblieben , Dick ! " sagte sie leise .
Leni war der jetzige Zuschnitt des Hauses bedeutend sympathischer .
Die viele Dienerschaft hatte sie nur scheu und unselbständig gemacht ; sie fühlte sich jetzt viel mehr zu Hause .
Am wenigsten von dem Wechsel merkte Lizzie .
Sie hatte bisher immer auf der Schattenseite des Lebens gestanden ; nun , da die ersten Sonnenstrahlen der Mutterliebe ihr junges Dasein erwärmten , blieben ihr die kleinen Äußerlichkeiten gleichgültig .
Gar nicht hineinfinden aber konnte sich Bobby in die neue Hausordnung .
Das erste Verständnis dafür war ihm aufgegangen , als er den Vater bat , ihm ein solches Pony zu kaufen , wie Charles Edward es besaß .
Noch nie war Bobby in seinem sechzehnjährigen Leben ein Wunsch abgeschlagen worden .
Ungläubig sah er jetzt den Vater an .
Aber als dieser , ihm die Hand auf die Schulter legend , ernst und liebevoll zu ihm sprach , nicht wie man mit einem unerwachsenen Sohne , sondern wie man zu einem Freunde spricht , da zeigte Bobby , daß er dessen nicht würdig war .
Er weinte vor Ärger über das versagte Pony , ballte die Hände und fand das Leben schal und ekelhaft .
Der Vater furchte die Stirn .
" Du bist ein ganz unreifer fellow !
Ich habe nicht gewußt , daß du auf dem besten Wege bist , ein nettes Bürschchen zu werden .
Für dich freut es mich , daß du jetzt nicht mehr das Kind eines reichen Mannes bist ; du sollst arbeiten lernen , mein Sohn ! "
Bobby aber machte wenig Anstalten dazu , und Tante Jane , so einsichtig sie auch sonst sich bewies , war ihrem darling Bobby , dem Goldsöhnchen , gegenüber schwach .
Er war gewöhnt zu befehlen .
Wenn Master Bobby klingelte , stürzte die Dienerschaft herbei , denn jeder fürchtete seine Grobheit .
Jetzt mußte er oftmals fast die Klingel abreißen , bis jemand erschien ; dann tobte er und schimpfte , gleichviel wer es war , ob die Miß , Leni oder gar seine Mutter .
Leni , die in Liebe und Ehrerbietung zu den Eltern groß geworden war , konnte das auf die Dauer nicht mitanhören .
Mit flammenden Augen trat sie ihm eines Tages entgegen .
" Wenn du mich so anranzest , well , ich lasse es mir einfach nicht gefallen ; aber wenn du ebenso zu deiner Mutter bist - feie upon you !
Das erlaube ich nicht ! "
" O , du hast nothing to allow , little thing " antwortete Bobby mit unnachahmlich hoheitsvollem Gesicht , " you are here only ohne sufferance ! "
" Was ?
Ich bin hier nur geduldet ? "
Das Blut wallte Leni jäh zu Kopf ; ehe sie sich dessen versah , hatte sie an dem langen Vetter emporgelangt und ihm eine schallende Ohrfeige in das sommersprossige Gesicht versetzt .
Sie wurde ganz blaß vor Schreck , nachdem es geschehen war .
Dann eilte sie auf ihr Zimmer und weinte eine ganze Stunde lang , ohne zu wissen , warum .
Das hatte sich am ersten Sonntag nach ihrer Heimkunft abgespielt ; seitdem sprach Leni mit Bobby kein Wort mehr , nicht Mal das Notwendigste , und auch er ging ihr scheu aus dem Wege .
Lizzie war mit der Mutter in die Kinderklinik des Mr. Humpty übergesiedelt .
Das junge Mädchen hatte sich auf Wight so gekräftigt , daß man mit der Operation nicht länger zögern wollte .
Lizzie selbst trieb dazu .
Endlich , endlich sollte sie ja vollständig gesund werden !
Leni hatte tapfer die Tränen hinuntergeschluckt , als Lizzie ihr zum Abschied zuversichtlich um den Hals fiel .
" Leni , wenn ich wiederkomme , springe ich ohne Stock die Treppen herauf ! "
" Gott geb's , mein ' Dirn ! " hatte Leni nur leise geantwortet , aber als der Mietwagen davonrasselte , da sah sie sich mit schwimmenden Augen in dem Kinderzimmer um , das sie mit der kranken Lizzie geteilt hatte .
Wie leer es plötzlich hier war !
Ach , Leni graute vor den einsamen Wochen , die vor ihr lagen .
Und die Sonntage , wenn die bloß nicht gewesen wären !
Die Miß sprach wenig , Onkel Richard noch weniger , besonders wenn er seine Newspaper studierte , und Bobby schmollte andauernd weiter .
Das mußte ja höchst gemütlich werden !
Der Aufenthalt in der Schule war jetzt noch am angenehmsten ; da wenigstens hatte sie junge Mädchen , mit denen sie lachen und fröhlich sein konnte .
Ihre " drei besten Freundinnen " , Mai , Gerty und Eveline , hatten schon ungeduldig auf die lustige Deutsche gewartet , die stets Leben in den Schulaufenthalt brachte .
Zu vieren eingehakt , zogen sie über den Hof , ob Miß White sie auch noch so oft auseinander scheuchte .
Leni gab ihre Seeabenteuer zum besten , und ihr Ansehen in der Klasse stieg dadurch ungeheuer .
Wer mit einem Fuß bereits im Jenseits gewesen ist , den umstrahlt immer eine besondere Glorie .
Aber auch die Londoner school-girls wußten viel zu berichten , nicht nur von ihrem Landaufenthalt und den vier Wochen fleißiger Schularbeit , die Leni versäumt hatte .
Die alljährliche Preiswettprüfung für Sportübungen stand im nächsten Monat bevor ; man sprach in den Pausen von nichts anderem mehr .
" Ellen , du mußt dich tummeln , denn du hast viel nachzuholen !
Denke nur , wir radeln schon eine Acht !
Was meinst du , ob Gerty diesmal den ersten Preis im Tennis davonträgt ?
Ich glaube , Anny wird sie schlagen ; was wetten wir ? " flüsterte Mai ihr in einer französischen Stunde zu .
" Ich wette nicht ; mir ist das alles gleich .
Ich weiß nur , daß ich bestimmt reinplumpse und mich unsterblich blamieren werde , " gab Leni tiefsinnig zur Antwort .
" Taisez-vous , Ellen , ich bemerke avec beaucoup de plaisir , daß das Mundwerk noch ebensogut funktioniert wie vor der Reise .
Allerdings , in der Grammatik bekomme ich wenig davon zu hören ! "
Monsieur strich sich den dunklen Spitzbart .
Leni runzelte die Augenbrauen .
Sie stand mit Monsieur noch immer nicht besser .
" Ich habe die Lektion über den Konjunktiv nicht mit durchgenommen , " gab sie zur Antwort .
" Dann würde ich raten , es bald nachzuholen , vite-vite ! "
Leni schüttelte den Kopf .
" Qu' est-ce à dire ? "
Monsieur glaubte nicht recht zu sehen ; er setzte den Kneifer fester .
" Cela ne dit rien ! "
Leni warf die Haare in den Nacken und blickte Monsieur herausfordernd an .
" Ellen Sürsen , Sie scheinen auf der Reise noch mehr verlernt zu haben als nur Grammatik , auch wie sich eine junge , wohlerzogene Demoiselle dem Lehrer gegenüber zu benehmen hat ! "
" Das brauche ich nicht erst zu verlernen ; das habe ich nie gewußt , " gab Leni gleichmütig zur Antwort .
Es war , als ob ein böses Teufelchen ihr die ungezogenen Worte auf die Lippen lege .
Die Klasse brach in ein lautes Gelächter aus .
Aber als die Mädel sahen , daß Monsieur sehr zornig dreinblickte , wurde das Lachen leiser , scheuer und gedämpfter .
" Ellen Sürsen , folgen Sie mir zu Mrs. Smith , " gebot Monsieur mit bebenden Nasenflügeln .
Leni schlug ihr französisches Buch zu und erhob sich .
" Oh , Ellen , dear me , poor Ellen ! " flüsterte ihr Mai teilnahmvoll zu .
Ein geringschätziges Lächeln antwortete ihr , dann schnappte die Tür hinter Monsieur und Leni ins Schloß .
Tiefe Stille herrschte in der Klasse .
Die lustigen Backfischchen , die sonst jede Gelegenheit zum Lärmen ergriffen , sahen sich stumm und betroffen an .
Seit Jahren war es nicht vorgekommen , daß eine Schülerin zur Vorsteherin geführt wurde .
Das war eine Schande für die ganze erste Klasse , und außerdem war Ellen Sürsen allgemein beliebt .
Da war nicht eine , die nicht warmes Mitleid mit dem armen Mädel hatte .
" Wenn man sie nur nicht von der Preiswettprüfung ausschließt ! " sagte eine Stimme endlich in scheuem Flüstern .
Das erschien als die schlimmste Strafe , die Mrs. Smith erteilen konnte .
Leni folgte inzwischen Monsieur durch lange Korridore und über viele Treppen .
Hart schlugen ihre Absätze auf dem Steinfußboden auf .
Der höfliche Franzose ließ Leni zuerst eintreten .
" Gehen Sie leise , Sie stören den Unterricht in den Klassen , " befahl Monsieur .
Leni trippelte auf den Fußspitzen , wobei ihre Stiefel ein lautes Gecknarr hören ließen , das den nervösen Monsieur innerlich noch mehr erregte .
Mit dem Fingerknöchel pochte er an das Zimmer der Schulvorsteherin .
Wie das in dem stillen Korridor hallte !
Lauter aber pochte Lenis Herz .
Ob sie noch auskratzen sollte ?
Da ertönte bereits ein helles " Come in ! " aus dem Zimmer .
Der höfliche Franzose öffnete die Tür und ließ Leni zuerst eintreten .
Das elegant möblierte Zimmer mit Mrs. Smith verschwamm vor Lenis Augen ; sie machte eine tiefe Verbeugung .
Wenn sie doch überhaupt nicht wieder hätte in die Höhe zu kommen brauchen !
Mrs. Smith richtete ihre langgestielte Lorgnette schweigend auf die beiden .
" Ah , Monsieur le docteur ?
I tont hope - " eine Handbewegung auf Leni vervollständigte den Satz .
Monsieur nickte bedeutungsvoll .
" Leider , Mrs. Smith , ich fühle mich genötigt - "
Er öffnete den Mund und suchte nach den passenden Worten. Mrs. Smiths sympathisches Gesicht , das weder jung noch alt erschien , zeigte einen traurigen Ausdruck .
" Ellen , was hast du wieder angestellt ?
Erzähle es nur selbst , " sagte sie mit klangvoller Stimme .
Leni sah auf ; es war ein trotziger und zugleich angstvoller Blick .
Aber die Ehrlichkeit in ihr siegte .
" Ich habe gesagt , daß ich nicht weiß , wie man sich einem Lehrer gegenüber benimmt , " stieß sie schnell hervor .
Mrs. Smith bis sich auf die Lippen .
" Schlimm genug , daß ein so großes Mädchen wie du es nicht weiß ; but tat will Not bei all , I Thing - was war sonst noch , Monsieur le docteur ? "
" Ellen Sürsen hat sich höchst ungebührlich benommen ; sie hat den Gehorsam verweigert - - "
" Das ist nicht wahr ! " fuhr Leni empor .
" Ellen , gehe aus dem Zimmer !
Ein Mädchen , das sich so wenig beherrschen kann und so wenig Achtung vor seinem Lehrer hat , mag draußen warten ! "
Mrs .
Smith verlor niemals ihre vornehme Ruhe .
Leni stand wieder auf dem Korridor .
Sie zitterte vor Erregung am ganzen Körper .
" Leiwer Gott - du mein leiwer Gott , " murmelten ihre Lippen , ohne daß sie es wußte , wohl zehnmal hintereinander .
Auskneifen ?
Wie eine Erlösung kam ihr plötzlich dieser Gedanke .
Einfach durchbrennen !
Aber nein !
Leni richtete sich in ihrer ganzen " stattlichen Größe " auf ; was sie sich eingebrockt hatte , wollte sie auch ausessen !
Aus den umliegenden Klassen schallten monotone Stimmen ; jetzt wurde die Monsieurs für einen Augenblick laut , und dann wurde die Tür schon wieder geöffnet .
" Entrez ! "
Monsieur kniff die Augen zusammen und ließ das ziemlich blasse Mädchen an sich vorbei in das Zimmer treten .
Leni zupfte an ihrem Gürtel und heftete das Auge starr auf die Kronenkuppel .
" Ellen Sürsen , du wirst Monsieur um Entschuldigung bitten ! "
Leni schwieg .
" Ellen , I wish you to excuse yourself . "
Leni preßte die Lippen fest aufeinander .
" Monsieur le docteur , darf ich Sie bitten , mich mit Ellen allein zu lassen ?
Ich hoffe , die betrübende Angelegenheit zur Zufriedenheit zu ordnen . "
Monsieur dankte mit einer eleganten Verbeugung und ging .
Leni war mit Mrs. Smith allein .
" Ellen , " begann die würdige Dame , " are you Not ashamed of your behaviour ? "
" Nein , ich - ich - - - "
" Ruhig Kind , ruhig !
Dein Benehmen schmerzt mich tief , Ellen .
Du bist mir immer eine liebe Schülerin gewesen ; auch die anderen Ladies und Gentlemen sind mit dir zufrieden , nur Monsieur - immer Monsieur hat über dich zu klagen .
Woran liegt das , Ellen ? "
" Weil - weil - - - "
Leni brach jäh ab .
Jemand hinter seinem Rücken " verpetzen " , nein , und wenn es selbst " Monsieur " war !
" Wenn du mir keine Antwort gibst , Ellen , nehme ich an , daß du dein Unrecht einsiehst .
Entweder wirst du dich bis zum Schulschluß heute entschuldigen , oder ich muß , so leid es mir tut , deine Angehörigen brieflich von deinem Benehmen in Kenntnis setzen . "
Die Schulglocke hallte dröhnend durch das stille Gebäude und verkündete die Zwischenpause .
Leni konnte gehen .
Diesmal lief die erste Klasse nicht wie sonst sogleich auf den Hof hinunter ; alle erwarteten die Mitschülerin .
" Ellen , wie war_es ?
Was hat es gegeben ?
Was für eine Strafe hast du bekommen ?
Darfst du die Preiswettprüfung mitmachen ? "
Mit derlei Fragen umringte man sie .
Leni schüttelte auf alles nur stumm das Haupt .
Mit zusammengekniffenen Lippen ergriff sie den Arm ihrer Freundin Mai und zog diese die Treppe hinab zum Hof .
Es war ihr zumute , als ob man ihr die Kehle zuschnüre .
" Well , " sagte Mai endlich , als Leni andauernd schwieg , " will you Not tell me ?
Ist es sehr schlimm ? "
" Ich soll mich entschuldigen , " preßte Leni heraus .
" Weiter nichts ? " fragte Mai erleichtert .
Leni ließ den Arm ihrer Freundin los .
Wie wenig verstand Mai sie doch !
Alles in ihr bäumte sich gegen die Zumutung der Vorsteherin auf .
Jeden anderen , aber Monsieur - - - nein !
Wenn Mrs. Smith nun an den Onkel schrieb ?
Ach , vielleicht gar an die Tante , der man jetzt in der Klinik doch jeden unnötigen Ärger ersparen mußte ?
Morgen früh würde der Brief ankommen , gerade am Sonntag !
Wie würde Bobby höhnisch grinsen , wenn er von der Sache erfuhr !
Nein , bloß das nicht !
Das durfte erst recht nicht geschehen !
Die letzte Stunde , französische Literatur , hatte Monsieur zu geben .
Er nahm keine Notiz von Leni , und sie zeigte ebenfalls wenig Teilnahme .
Sie dachte unaufhörlich :
" Soll ich - soll ich nicht ? "
Der Riesenzeiger der Uhr von Westminster , den man durch das Klassenfenster sehen konnte , rückte unerbittlich vorwärts .
Ach , du leiwe Tide !
Noch eine halbe Sekunde - wie von unsichtbaren Händen geschoben stand Leni plötzlich am Katheder .
" Excuse me , please ! "
Mehr drohend als bittend rangen sich die Worte von den trotzigen Backfischlippen .
Es läutete .
Ehe sich Monsieur von seiner Verwunderung erholt hatte , war Leni schon längst zur Tür hinaus .
Von diesem Tage an war scheinbar Waffenstillstand zwischen Monsieur und Leni .
Er verschonte sie mit seinem Spott und behandelte sie mit eisiger Höflichkeit .
Leni aber konnte " ein Kröte " sein , wie Vating behauptete ; sie vergaß es ihm nicht , daß sie sich seinetwegen hatte demütigen müssen .
Als Leni auf die Straße trat , sah sie sich vergebens nach Miß Brown um .
Sie wartete , aber die Miß kam nicht .
Ein plötzlicher Schreck durchzuckte Leni .
Es würde doch in der Klinik alles gut gegangen sein ?
Sie hatte keine Ahnung , wann die Operation stattfinden sollte .
War sie am Ende nicht geglückt ?
Das junge Mädchen wußte nicht , wie es schnell genug nach Haus kommen sollte .
Als es das Kinderzimmer betrat und die Bücher gewohnheitsgemäß in die Ecke schleuderte , sah es durch die geöffnete Tür Miß Brown auf dem Bett hocken .
Sie hielt sich den Kopf .
" Miß Brown , what is the matter ? "
" Oh , I caught Colt !
Ich habe solche Schmerzen im Kopf und in den Gliedern ; ich kann kaum die Augen offen halten ! "
" Das ist Influenza , " rief Leni , mit verblüffender Sicherheit die Diagnose stellend , " kenne ' ich ganz genau !
Unsere olle Dörthe hat es im vorigen Winter gehabt und ein paar von unseren Dorfjungen auch .
Und Jöching Swart sein Großmutter ist sogar daran gestorben !
Sie müssen ins Bett , Miß Brown , und schwitzen !
Schwitzen ist gut gegen alles , sagt Mutig ; ich bringe Ihnen gleich heißes Zitronenwasser . "
Wenn es irgendwo zu helfen galt , war Leni sofort bei der Hand .
Sie packte die sich nicht länger sträubende Miß , der wirklich jämmerlich zumute war , unter fünf dicke Decken , daß sie fast ersticken mußte .
Aber als Onkel Richard nach Hause kam , gab er sich doch nicht mit Lenis ärztlicher Behandlung zufrieden , sondern hielt es für geratener , den Doktor kommen zu lassen .
Wie stolz war Leni , als dieser wirklich Influenza bestätigte , die heftig in London hauste .
" Sie Kurpfuscherin , " drohte er Leni lächelnd , fand aber ihre Verordnung recht vernunftgemäß .
" Ich pflege die Miß , " äußerte Leni mit Selbstgefühl , als darauf die Rede kam .
" Wenn ich so lange in der Schule gefehlt habe , kommt es auf ein paar Tage mehr nicht an ! "
" Nein , Lenchen , du sollst die Schule nicht länger versäumen !
Vormittags kann Margaret das besorgen ; nachher magst du sie ablösen , " entschied der Onkel .
Sie aß heute mit Onkel Richard allein .
Das servant-maid stellte die Suppenterrine wie selbstverständlich vor ihren Platz .
Leni wurde rot und sah den Onkel fragend an .
" Nur , zu , Lenchen !
Du bist jetzt hier die Hausfrau , " sagte dieser ermunternd .
Leni füllte mit Zagen die Suppe auf .
" Ganz wie Mutig ! " dachte sie und ertappte sich zugleich auf den weiteren Gedanken , es sei doch eigentlich recht nett , daß die Miß erkrankt war .
Aber sie schämte sich dessen sofort .
Einen schwippenden Teller reichte sie für den Onkel .
" Hast du auch genug ? " fragte sie ängstlich .
" Ich glaubte , wir sollten alle von dem Teller essen , Kind , " neckte er und lachte .
Wirklich , reizend war es mit Onkel Richard allein , wenn Leni auch jetzt so ladylike aß , daß sie Tante Janes und Miß Browns prüfendes Ange nicht mehr zu scheuen brauchte .
Sie fühlte sich völlig erwachsen , und das tat ihr nach dem Vormittag in der Schule , der sie recht klein gemacht hatte , besonders wohl .
Onkel Richard brachte ihr Grüße von Lizzie ; Leni sollte sie noch nicht besuchen .
Die Operation hatte bereits stattgefunden ; ob sie jedoch gelungen war , ließ sich erst später bei einem Gehversuch feststellen .
Aber der Arzt hatte dem Vater durchaus Hoffnung gemacht .
Vorläufig lag die arme Lizzie im festen Gipsverband und konnte sich nicht bewegen .
Leni nahm es mit der Krankenpflege sehr ernst .
Ja , sie erhob sich sogar ganz verschlafen mitten in der Nacht , um die kranke Miß durch einen Trunk Limonade zu erfrischen .
Freilich mußte Leni sie zu dieser Erquickung erst aus dem wohltuenden Schlaf wecken , den Miß Brown endlich gefunden hatte .
Die Miß tat Leni wirklich leid .
Jetzt , da sie so hilflos dalag , und nicht Mal " shocking ! " rufen konnte , kam es dem jungen Mädchen zum Bewußtsein , daß sie mit all ihrem " Mäkeln und Krakeln " doch nur ihr Bestes wollte .
Sie wich den ganzen Sonntag über nicht von ihrem Bett , und die Miß drückte ihr dankbar die Hände .
" You are a good little girl , " sagte sie immer wieder .
Leni aber fand gar nicht , daß sie gut war ; sie handelte doch aus einem gewissen Eigennutz .
Bobby strich heute drunten in allen Zimmern umher ; es war gräßlich , wie der Junge sich in Tante Janes Abwesenheit herumlümmelte .
Sie vermied jedes Zusammentreffen mit ihm , aber beim Diner freilich war das unmöglich .
Am liebsten hätte Leni ihm heute wieder eins versetzt , und zwar mit der Suppenkelle .
Er lächelte " so entfamtig " , als Leni mit wichtigem Gesicht ihren Hausfrauenpflichten nachkam .
Natürlich , das allein war schuld , daß sie einen großen Klecks auf das weiße Tafeltuch machte !
Wütend war sie , daß sie sich so blamiert hatte .
" Lenchen , " sagte Onkel Richard nach dem Essen , " daß du mir nicht etwa deine schönen roten Wangen wieder verlierst !
Du mußt in die frische Luft !
Ziehe dich an ; heute wird der Onkel Mal seine Nichte ausführen .
Margaret mag bei Miß Brown bleiben . "
Leni hätte , wenn Bobby nicht dabei gewesen wäre , sicherlich einen Luftsprung gemacht ; so aber flog sie dem Onkel nur freudestrahlend an den Hals , das war more ladylike .
" Bobby , gehst du mit ? "
Onkel Richard griff nach seinem Panamahut .
Bobby schüttelte brummend den Kopf ; er war immer noch beleidigt , daß er das Pony nicht bekommen sollte .
So zog Leni seelenvergnügt mit dem Onkel allein los .
Es war das erstemal , daß sie mit ihm ausging ; stolz hing sie sich an seinen Arm .
" Jetzt denken die fremden Leute sicher , ich bin deine Frau , nicht Onkelchen ?
Wenn das dumme weiße Kleid nur nicht schon wieder so ausgewachsen wäre ! "
Heute ging es nicht zum Hydepark , wie sonst immer .
Onkel wollte Leni etwas Neues zeigen .
Sie fuhren mit dem Dampfschiff nach Hampton Court , dem alten Palast der Könige .
So einen herrlichen , großen Garten hatte Leni noch nie gesehen .
Wie aber staunte sie erst , als Onkel ihr den Riesenweinstock zeigte , und ihr erzählte , daß es der größte auf der ganzen Erde sei .
Und dann - nein , das war aber snaksch !
Die Kronen der Bäume waren zu drolligen Figuren verschnitten , allerlei Tiere , Katzen , Hunde und Vögel , ja , sogar einen Eisenbahnzug konnte Leni erkennen .
Schließlich aber zeigte sich doch wieder das Naturkind .
" Weißt du , Onkel Richard , das ist ja alles recht ulkig ; aber ein gewöhnlicher Lindenbaum , wie der liebe Gott ihn auf Nedderdorf wachsen läßt , ist mir doch zehnmal lieber als all das Zeug hier ! "
Als Leni am nächsten Mittag aus der Schule nach Hause kam , öffnete ihr Kitty , das servant-maid , mit roten , verschwollenen Augen .
" O , Miß Ellen , wie gut , daß Sie kommen !
Margaret hat sich bei Miß Brown angesteckt ; sie mußte sich ins Bett legen .
Und ich - ich kann doch nicht kochen !
Nun ist kein lunch für Miß Ellen fertig .
Und was wird bloß heute abend mit dem Diner ? "
Das Mädchen war ganz aufgeregt .
Auch Leni bekam im ersten Augenblick einen Schreck .
Dann aber siegte ihr gesunder Humor .
" Nur keine Angst , das werde ich alles schon besorgen ! " dachte sie bei sich , laut aber sagte sie :
" Dann werden wir uns eben Mal mit Sandwiches zum lunch begnügen , "
Sie hatte die " Sandwichse " inzwischen essen gelernt .
Nun war es doch gut , daß Mutig ihr die derben Wirtschaftsschürzen eingepackt hatte !
Leni entwickelte eine fieberhafte Tätigkeit .
Bald war sie im ersten Stock , bald im Dachgeschoß , in dem die servants-rooms lagen , und bald im Souterrain , wo sie unternehmungslustig an die Vorbereitungen zum Diner ging , Was hatte denn der Schlächter geschickt ?
Cops .
Leni fühlte ihr Herz ungeheuer erleichtert ; sie hatte die Mamsell daheim oft Koteletten braten sehen .
Aber die Suppe machte ihr noch heftiges Kopfzerbrechen .
Zu einer Bouillon gehört Fleisch , so viel wußte sie ; aber das hatte sie nicht .
Also was nun ?
Das Stubenmädchen verstand noch weniger vom Kochen als sie selbst .
Das hatte Leni schon inzwischen herausbekommen , Ob sie sich von Margaret Bescheid sagen ließ ?
Nein , ein solches Armutszeugnis durfte sie sich nicht ausstellen .
" Wir wollen heute nur einfach kochen , " sagte sie möglichst unbefangen zu dem Stubenmädchen , " Pflaumensuppe mit Grießklößchen ; die mag der Onkel gern " - und sie selbst nebenbei auch - " und dann , ja dann nach dem Fleisch vielleicht einen apple-pie . "
Du lieber Himmel , wie machte man den bloß ?
Aber sie ging jedenfalls mit Feuereifer ans Werk .
Zuerst Mal die Ärmel aufgekrempelt , das ist ja die Hauptsache bei jeder Kocherei , Pflaumen waren im Hause , Leni setzte den größten Topf , den sie finden konnte , mit unausgekernten Pflaumen und Wasser auf den Gasherd .
Sie war von Nedderdorf her an Riesenkübel gewöhnt .
Was mochte sonst wohl noch " in " kommen ?
Zucker ?
Nein , die Pflaumen waren ja süß .
Na , eben bloß die Grießtüte !
Leni ließ sich von dem Mädchen , das ihr mit wohltuender Bewunderung zuschaute , den Grieß reichen .
Eifrig begann sie das pulverige Zeug zwischen den sauber gewaschenen Händen zu drehen .
Aber das wurden keine Klöße ; der Grieß zerrann ihr unter den Fingern .
Da stimmte etwas nicht .
Halt , Eier !
Leni legte den Finger gedankenvoll an die Nase .
Die Dinger sahen ja immer gelb aus , sicher gehörten Eier dazu .
Sie schlug ein paar in den Grieß .
Na also , nun wurde die Geschichte schon breiig ! Aufs neue begann Leni zu formen und zu drehen ; jetzt zerrann der Grieß nicht mehr , aber er klebte ihr dafür wie Kleister an den Fingern .
Das versprach wenig Erfolg und war obendrein ein unangenehmes Gefühl .
" Was Stein Se denn un kieken ? " fuhr sie das Stubenmädchen an , das zum Glück kein Wort von ihrem Plattdeutsch verstand .
Wenn jemand einem immerzu auf die Finger guckte , konnte es doch auch nicht gelingen .
" Sie könnten vielleicht Salat holen ; Onkel ißt Fleisch nicht ohne Salat ! "
So , nun war sie das Mädchen für 'ne Weile los !
Mit den dämlichen Klüten gab sie sich nicht länger ab ; die wurden einfach mit dem Löffel abgestochen - was roch denn bloß mit einem Male so gräßlich ?
Herrjemine , die Pflaumensuppe kam aus dem Pott heraus !
Margarets sauber gescheuerter Herd sah lustig aus !
Warum wurde sie auch krank !
Leni kostete ihre Suppe .
Pfui , wie saures Pflaumenwasser schmeckte sie !
Doch Zucker war ja genug im Hause , und dick würde sie wohl nachher von den Grießklüten werden .
Wenn nur nicht die ollen Pflaumensteine wie breite braune Karpfen in dem mattrosa Obstsee herumgeschwommen wären !
Leni versuchte , sie mit einem Löffel herauszufischen .
Da konnte sie aber bis morgen früh dabei stehen bleiben , und in einer halben Stunde kam der Onkel zu Tisch !
Zum apple-pie war es zu spät geworden - sie atmete auf .
Aber die Koteletten mußte sie nun panieren .
Das Kunststück gelang über Erwarten gut .
" Wenn Mutig mich doch so sehen könnte ! " dachte Leni in heimlichem Stolz .
Wo bloß die Kitty mit dem Salat blieb ?
Braten durfte sie die Cops noch nicht , das tat man ganz zuletzt ; aber die Suppe konnte sie fertigmachen .
Sie begann , ihren Grießbrei löffelweise mit dem heißen Pflaumenwasser zu verbinden .
Was gerann denn da ?
Das mußte das Ei sein !
Dicker wurde die Suppe auch nicht ; nein , statt " Klüte " wurde es " klüterig " .
Sonst schmeckte es aber recht gut .
Als Onkel Richard nach Hause kam , trat ihm Leni mit feuerroten Wangen entgegen .
Sie strahlte ; es war alles wundervoll geraten .
Den Salat verstand Kitty zum Glück anzumachen , und die Koteletten hatte Leni eigenhändig goldbraun gebraten ; nur einmal war ihr die Pfanne heruntergepurzelt .
Onkel klopfte Leni die heißen Wangen .
" Lenchen , so angestrengt hast du dich ?
Wir hätten doch ins Restaurant gehen können !
Nun wollen wir Mal sehen , was unsere junge Köchin fertiggebracht hat ! "
Der Onkel kostete die Suppe .
Leni sah ihn erwartungsvoll - er sie fragend an .
" Pflaumensuppe mit Grießklößen , die du doch sehr gern ißt , Onkel Richard , " beeilte sich Leni , ihm das seltsame Gericht vorzustellen .
" Wir kochen sie wohl in Mecklenburg ein bißchen anders als ihr in England , was ? " setzte sie schon etwas kleinlauter hinzu .
Onkel Richard suchte in seinen Erinnerungen nach .
Hatte denn die Pflaumensuppe in seiner Kindheit immer so gräßlich geschmeckt ?
Kerne und das gelbe , geronnene Zeug war jedenfalls niemals darin gewesen .
Er schob mit plötzlichem Entschluß den Teller fort .
Fünf Löffel voll hatte er schon hinuntergewürgt .
" Schmeckt es dir nicht , Onkel ? "
Leni machte ein enttäuschtes Gesicht .
Sie löffelte mit Todesverachtung .
" Vorzüglich , wirklich vorzüglich !
Aber man soll des Guten nicht zuviel tun .
Ich muß doch deinen Braten auch noch versuchen , Lenchen , " antwortete der Onkel , obwohl er auch gegen diesen ein geheimes Mißtrauen nicht unterdrücken konnte .
" Schmeckt es dir nicht , Onkel ? " . . .
" Vorzüglich , wirklich vorzüglich ! "
Aber er hatte der Nichte Unrecht getan .
Die Koteletten sahen tadellos aus .
Mit Salz und Pfeffer allerdings war Leni etwas verschwenderisch zu Werke gegangen ; das Fleisch brannte auf der Zunge .
" Heute schmecken die Koteletten Mal pikant , nicht , Onkelchen ? " fragte Leni , die jedem Ding im Leben die beste Seite abgewann .
Der Onkel , der an die englische Wurzlosigkeit der Speisen gewöhnt war , hatte eine andere Meinung .
" Der Salat ist wohl noch ein bißchen sandig , was ?
Ich muß der Kitty sagen , daß sie ihn morgen mittag vorher waschen soll . "
Er knirschte nämlich ordentlich zwischen Lenis weißen Zähnen .
" Nein , Lenchen , " - der Onkel wehrte sich mit allen Kräften gegen diese Zumutung - " nein , morgen mache ich dir nicht wieder die Last , mein Kind !
Ich speise irgendwo in der City ; da spare ich auch Zeit .
Und du , willst du mitkommen ? "
" Ich habe doch zwei Kranke , und muß die ganze Wirtschaft führen ; ich kann nicht von Hause weg ! "
Noch nie im Leben war Leni so von der Wichtigkeit ihrer Person überzeugt gewesen wie heute .
Heimlich aber dachte sie :
" Nur gut , daß ich Margaret bloß 'ne Wassersuppe gekocht habe !
Die olle Pflaumensuppe hätte mich am Ende doch 'n beten vor ihr blamiert . "
Das Schlimme aber war , daß die Pflaumensuppe ewig zu sein schien .
Sie wollte kein Ende nehmen ; drei Tage aß Leni davon !
Am vierten endlich goß sie das olle Zeug , das gar nicht weniger wurde , in den Ausguß , denn Margaret hielt wieder ihren Einzug in das Souterrain .
Dazwischen aber lagen noch drei schwere Tage für das Backfischchen .
Pünktlich wie immer , um halb sieben , erwachte Leni am anderen Morgen und wartete auf Kittys Klopfen .
Dieses blieb aus ; Leni fühlte sich daher verpflichtet , noch bis sieben Uhr im Bett liegen zu bleiben , wenn sie auch deshalb zu spät in die Schule kam .
Man mußte sie doch wecken !
Totenstille herrschte im Hause .
Keine Spur von Margaret und Kitty !
Leni ging der Sache endlich auf den Grund .
Da lag auch das servant-maid , ihre einzige Rettung , die gestern schon so " herumgequient " hatte , mit heißem Kopf und geschlossenen Augen im Bette ; auch sie hatte die Influenza nicht verschont .
" Nun komme ich ' ran , " dachte Leni ergeben , und nahm für alle Fälle eine Aspirintablette , eingedenk der Worte ihres Heimatdichters :
" Was dich nachher Not tut , kann dich vorher nicht schaden ! "
Sie setzte Teewasser auf , deckte den Frühstückstisch und begann , mit dem Besen und dem schweren Bohner zu Felde zu ziehen .
Denn praktisch war die Leni , wenn sie auch noch nicht alles verstand .
Sie bürstete dem Onkel die Kleider und bearbeitete , als er zum Breakfast herunterkam , gerade seinen Stiefel .
Sie hatte ihn auf die linke Hand gezogen ; mit der Rechten fuhrwerkte sie lustig darauf los und sang dabei ein plattdeutsches Lied .
" Lenchen , das brauchst du doch nicht zu tun !
Ich lasse mir die Stiefel unterwegs bürsten .
Doch was soll nun werden , Kind ?
Ich werde dir eine Hilfe besorgen . "
" Aber Onkel , " erwiderte Leni abwehrend , " das bißchen Arbeit schaffe ich doch !
Die Miß ist ja bald wieder gesund ! "
Sie wollte zu gern allein wirtschaften .
Onkel Richard war es zufrieden ; er fühlte sich in diesen häuslichen Dingen ziemlich unbewandert .
Nachdem er ihr das Versprechen abgenommen hatte , daß sie sich auch was Ordentliches zum Mittagbrot koche , ging er .
Niemand war glücklicher als Leni , denn sie brauchte nicht in die Schule .
Ihr Lazarett , Station eins , zwei und drei , machte ihr nicht zuviel Mühe ; das Dumme war nur , daß die Miß schon wieder anfing , Hunger zu empfinden .
Leni war aber eine strenge Krankenwärterin .
Sie setzte ihre Patienten ganz auf Milchkost , und gab der hungrigen Miß ernsthaft zu bedenken , daß man von Fleisch Fieber bekomme .
Leichte Bouillon hatte der Arzt verordnet ; die konnte Leni aber nicht kochen , Pflaumensuppe hatte die Miß einmal versucht , und fand dann , daß es ihr schädlich sei .
" Eine Hausfrau hat es wirklich schwer ! " seufzte Leni kummervoll .
Das Beefsteak , das sie sich zum Diner briet , schmeckte wie Schuhsohle , Leni nährte sich in der Folge nur noch von Eierspeisen .
" Nächstens werde ich noch selber ein Huhn , " dachte sie .
Das Schlimmste aber war das Rechnen .
Das Backfischchen kam mit dem " verflixten englischen Geld " nicht zurecht ; bittere Tränen vergoß sie beim Abrechnen .
Die Wirtschaftskasse stimmte nie .
Manchmal wünschte sie ganz im Ernst : " Ach , wenn ich doch bloß auch krank würde ! "
Aber sie blieb kerngesund .
Als Margaret endlich wieder auf der Bildfläche erschien , war Leni innerlich recht froh , daß ihr die Hausfrauenpflichten abgenommen wurden .
Denn erstens bekam man doch wieder ein anständiges Stück Fleisch in den Magen , und dann - " wirtschaften ist ja recht schön , aber nur - - - mit Mutig ! "
Ferienkolonie .
Mary saß am Klavier .
Wenn sie auch hier keinen Unterricht empfing , machte es ihr doch Freude , das bereits Erlernte wieder für sich zu üben .
Sie war ziemlich weit vorgeschritten , spielte technisch sauber und recht musikalisch .
Oft stellte sich der Onkel , der Musik besonders liebte , zu diesen Übungsstunden ein .
Still saß er dann in einer Ecke , und erst wenn Mary geendet hatte , tat er mit einem lauten " Brav , Dirn ! " seine Anwesenheit kund .
Heute ließ er sich nicht in dem Klavierzimmer sehen , aber seine Stimme schallte laut durchs Haus .
" Mutig - Frau - Lisabeth ! "
Was gab es denn da Wichtiges ?
Mary , die einen guten Teil Neugier besaß , sprang zum Fenster .
Tante Lisabeth war bei dem herrlichen Spätsommerwetter mit Suschen im Garten ; die klare Oktoberluft trug jeden Ton des Gespräches zu der jungen Engländerin .
" Mutig " - der Onkel entfaltete ein großes Schreiben - " da fragt mein Freund Engelhardt , der Vorsitzende der Ferienkolonien , an , ob ich nicht während der Kartoffelferien ein Paar Gören , so Stücker acht , hier auf meinem Gut ' rausfuttern möchte .
In den Hundstagen habe ich es ihm ja abschlagen müssen , da hatte man den Kopf mit der Ernte voll ; aber jetzt - was meinst , Mutig ? "
" Je " - Tante Lisabeth zögerte etwas mit der Antwort - " acht nichtsnutzige Gören , und die Leni nicht Mal hier ?
Ich werde es nicht allein schaffen .
Mit dem Essen ist es nicht getan ; die Kinder wollen gewaschen , gekämmt , angezogen und unterhalten sein .
Das Haus werden sie uns ja wohl auf den Kopf stellen . "
" Macht nix , Mutig !
Es ist Nächstenpflicht , die spillerigen Dinger , die da in der Großstadt verkümmern , hier Luft und Sonnenlicht genießen zu lassen .
Wo fünf herumtoben , kommt es auf ein paar mehr schon nicht mehr an .
Und wozu wäre denn die Dirn , die Mieze , da ?
He , Miezeken , komme doch Mal eben her ! "
Onkel Waldemar hatte sie am Fenster erblickt .
Mary lief eilig den Kiesweg entlang ; Suschen sprang ihr jauchzend in die Arme .
" Na also - kinderlieb ist die Dirn ja !
Sage , Miezeken , möchtest du wohl vier lütte Gören unter deine Flügel nehmen ?
Mußt aber für sie sorgen wie 'ne Glucke für ihre Küchel ! "
Onkel Waldemar hatte sie beim Schopf gefaßt .
Jetzt riß sich Mary nicht mehr los ; sie hatte sich an die derben Liebkosungen des Onkels inzwischen gewöhnt .
" O Yes - bitte , laß mir , Tantig .
Ich will sorgen für ihnen Tag und Nacht , " versprach Mary , die das Neue , Abwechslungsreiche an der Sache lockte .
Tante Lisabeth überlegte .
Am Ende war es der Dirn recht gut , wenn sie einen kleinen Pflichtenkreis bekam , damit sie es verlernte , ihr hübsches Ich als den Mittelpunkt des Weltalls zu betrachten .
" Na , ja - hm - wenn Karl Heinz die vier Jungen übernehmen will , dann laß sie man kommen ! "
Mary sprang mit Suschen jubelnd im Garten umher und hatte durchaus kein Interesse für Tantings praktische Überlegungen , wo man die Gören wohl am besten unterbringe .
In drei Tagen sollten sie schon ihren Einzug halten ; die Schulferien begannen .
Man räumte und kramte jetzt in Nedderdorf , als ob es einem prinzlichen Empfang gelte .
Die Zwillinge und Klein-Suschen wanderten mit Fräulein ins Parterregeschoß .
Die Kinderzimmer oben sollten Marys Reich sein .
Am glückseligsten war Karl Heinz ; der war Feuer und Flamme für die Sache .
Er und Jürgens zeigten diesmal wieder ihre Talente .
Die Turmzimmer wurden für die Jungen wohnbar gemacht ; Karl Heinz kam sich vor wie ein Raubritter , der auf der Burg seinen Troß erwartet .
Überall legte er mit Hand an .
Er half das alte Gerümpel herausschaffen , wobei Mutig ihn allerdings ertappte , wie er mindestens eine Stunde lang träumend bei dem ausgedienten Kaufmannsladen hockte , um ihn für die kleinen Gäste wieder instand zu setzen .
Aber " 'n fixen Kerl " war er doch !
Muttings Auge blickte voll Stolz auf den Jungen , wie er die Bettstellen aufschlagen half , Haken und Nägel einklopfte , an der Tapete herumkleisterte und sogar eine ausgediente Pferdedecke als Teppich über den etwas schadhaften Fußboden breitete .
" De kreg alles fahrig , " schmunzelte Jürgens seiner Herrin vertraulich zu , " das is 'n negenklauker Schlingel ; alles weit de better as uns'eins .
Das giwt Mal 'n deckten Strom . "
Frau Lisabeth nickte ihm zu .
Ja , ihr Karl Heinz würde einst einen tüchtigen , praktischen Landwirt abgeben ; na , noch hatte es damit gute Wege !
Vorläufig lagen sich der zukünftige Herr und Jürgens Mal wieder in aller Freundschaft in den Haaren .
Jürgens wollte es nicht leiden , daß der Junge all die alten zerfetzten Kinderfahnen als Wandschmuck an die Tapeten nagelte .
" Das is ja blot 'n Wanzenfretten ! "
Der alte Knecht ließ es sich nämlich nicht ausreden , daß die kleinen Berliner Gäste diese niedlichen Tierchen mit einschleppen würden .
Er hatte als junger Bursche drei Jahre in einer Berliner Kaserne zugebracht und wohl böse Erfahrungen gemacht .
Wie aber staunte er , als die lütten Gören nun wirklich einrückten .
Der Affenkasten reichte nicht aus , um sie von der Bahn zu holen ; man hatte den blauen Leiterwagen mit Heu und Decken sitzbar gemacht .
Da hockten sie nun , zum größten Teil ängstlich und schüchtern , auf " einem Hümpel " , die blonden und braunen Köpfe neugierig nach allen Seiten drehend , und in den blauen , grauen und braunen Kinderaugen ebensoviel glückliche Erwartung als bange Scheu .
" Ordentlich Schmuck Sünde se , ordentlich nüdlich , " meinte Jürgens , als er sie " Mann für Mann " ablud , bis auf einen echten , rechten Berliner Jungen , der sich durch nichts imponieren ließ .
" So was machen wa allemal alleine , " rief der und sprang mit einem Satz vom Wagen herunter , was ihm ein anerkennendes " Du bist ja 'n hellschen Jung ! " von Karl Heinz , seinem zukünftigen Erzieher , eintrug .
Muttings freundliches Gesicht wurde ein klein wenig länger .
Für den Anfang genügte das ja !
Aber als derselbe ranghafte Gast , kaum in das Parterrezimmer getreten , wo der Kaffeetisch gedeckt stand , mit einem Satz bereits wieder zum Fenster in den Garten hinaus war , und Hänschen und Fränzchen es ihm natürlich sofort nachmachten , da dachte sie doch , ihr Mann treibe die Nächstenliebe ein wenig zu weit .
Sie hatte genug an ihren eigenen zu erziehen ; sie brauchten sich nicht noch fremde Gören auf den Hals zu laden .
Doch die anderen ließen sich so bescheiden und artig von Mary die Kinderservietten umbinden , sie zupften bei jeder Frage , die man an sie stellte , so ängstlich an ihren Sonntagskleidern herum , und die kleinen Mädchen knicksten so tief , daß Muttings gutes Herz bald wieder die Oberhand gewann .
Sie strich ihnen tüchtige " Butterstuten " , denn die lütten Würmer sahen doch gar zu schmalwangig aus .
Herzklopfend nahm Mary ihre kleinen Pflichtbefohlenen in Empfang .
Wenn sie bloß Respekt vor ihr haben würden !
" Das ist Mary , die für euch sorgen und mit euch spielen wird , " sagte Tante Lisabeth , sie den Kleinen vorstellend .
Das Backfischchen beugte sich freundlich zu dem hübschesten der kleinen Mädchen , einem braunen Krauskopf , herunter .
" Wie heißt du , mein Kind ? " fragte sie in mütterlichem Ton , bemüht , möglichst richtig Deutsch zu sprechen .
" Anneken , " sagte die Kleine mit einem Knicks , der mehr einem Hüpfen glich , und steckte den etwas bräunlichen Zeigefinger in den Mund .
Mary war an die peinlichste Sauberkeit gewohnt .
Es widerstrebte ihr , daß die Kleine sich mit diesen wenig appetitlichen Fingern an den Kaffeetisch setzen sollte .
" Komme , wir wollen waschen erst der Hand , " meinte sie , die Kleine vor sich herschiebend .
" Der Hand ?
Aber , Fräuleinken , det heißt doch die Hand , " antwortete das naseweise Ding lachend und stieß eine Freundin an .
" Det jroße Mädchen kann noch nicht der und die unterscheiden , " flüsterte sie ihr zu .
Mary wurde blutrot vor Ärger .
Sollte sie gleich ihr Erziehungsrecht geltend machen ?
Sie wagte es noch nicht .
Tante Lisabeth war mit am Tisch ; die hätte sicherlich einen derartigen Empfang ihrer kleinen Gäste streng verboten .
Mary machte also gute Miene zum bösen Spiel .
" Seht ihr , Gören , ich habe meine Milk schon ausgetrinkt , " tat sie ihren schon wieder verstohlen kichernden Mädchen kund ; sie fühlte sich verpflichtet , den " little ones " mit gutem Beispiel voranzugehen .
Ihr eigener Empfang auf Nedderdorf stand ihr noch lebhaft vor Augen .
Wehe , wenn die Kinder ihre Milch nicht austranken !
Aber die Tassen waren sämtlich leer ; gierig stürzte sich die kleine Gesellschaft auf die zweite Ration .
Marys Erziehungspläne , die sie sich den ganzen Vormittag über zurechtgelegt hatte , waren überflüssig .
Die Schüchternheit der Kinder verlor sich allmählich durch die reichliche Mahlzeit ; sie begannen aufzutauen .
" Au nicht doch - Fräuleinken , der Fritze Knautschke schuppst mir unteren Tisch immer mit die Beine - ach , sehen Se doch bloß die Fridan ; die leckt ja die Butter vom Brot ! "
Einige wohlgesittetere Kinder aus besseren Familien warfen verlegene Blicke zu der Wirtin hin , was die wohl dazu meinte .
Mutig hielt es für geraten , die Tafel aufzuheben .
" So , Mary , nun gehe mit deinen Lütten nach oben , die Schubfächer einräumen , und du , Junge , führe deine kleinen Banditen in den Turm .
Nachher könnt ihr ja allesamt auf dem Wäscheplatz spielen . "
Sie atmete erleichtert auf , als das Tappeln der vielen Füße verhallte .
" Det is eine Ausländische , eine aus Rußland , " flüsterte Frida ihrer Freundin Anneken auf der Treppe zu , " bei meine Mutter ihre Cousine hat Mal eine jewohnt ; die hat jrade so verkehrt jeredet . "
Sehr erbaut war Mary nicht von ihren vieren .
Anneken war dreadful , dreist und keck , Frida schlecht erzogen , Trude schielte und Sophie war so schüchtern in der neuen Umgebung , daß sie in einem fort weinte und rief , sie wolle nach Haus .
Das schlimmste war , daß Mary nicht mehr wagte , den Mund aufzumachen , aus Angst , daß die Kinder sie wieder auslachen konnten .
Das war aber nicht mehr der Fall ; nachdem nun einmal festgestellt war , daß sie eine Russin sei , imponierte ihr Sprechen den Kleinen .
Drei Handkoffer und eine Pappschachtel hatte Jürgens ins Kinderzimmer geschafft .
Mary nahm die Haltung einer governess an und ahmte Miß Browns Ton nach .
" Well - jeder Kind packt jetzt sein Sache in dem Schubfach !
Aber Frida , hast du denn keinen Taschentuch ?
Das Kleiderärmel ist doch nicht für der Nas !
Komme hier , Sofiecken ; ich werde ' help dir .
Tu nicht weinen mehr ; ich schenke dich auch eine Bonbon . "
Diese Aussicht wirkte .
Sofichen begann , ihre Pappschachtel auszuräumen ; sie besaß am wenigsten von den vieren .
Dear me - wie bescheiden war die Ausrüstung der Kinder !
Die verwöhnte Mary verzog die Lippen .
Brrr !
Und wie geschmacklos war das grellrote Samtkleid , das Anneken ihr voll Stolz wies !
" Det is mein Jeburtstagskleid ; nächstes Jahr jibt es noch 'n viel feinet ! "
Da gefielen Mary die armseligen , aber sauber gewaschenen Kattunkleider der anderen drei doch noch besser .
Beim Einräumen der Sachen gab es fortwährend Streit .
" Fräulein , das ist doch mein Schubb- au , Fräulein , die stellt ja ihre Stiebel auf meine Strümpe , " rief Frida weinerlich .
" Quatsch keine Opern ! "
Anneken hatte ihre kleine Person breitspurig vor das betreffende Schubfach aufgepflanzt .
" Aber Kinder , wer wird sein immer in Streit ?
Oh , tat is shocking ! "
Mary wurde bei ihrem Tadel plötzlich rot ; wie oft hatte sie sich selbst mit Lizzie um so kleinliche Dinge herumgezankt und gestritten !
Das sollte aber anders werden , gelobte sich das Backfischchen .
Sie sah jetzt erst bei den fremden Kindern , wie häßlich solcher Unfrieden war .
Frida weinte , weil die andere ihr das Schubfach fortgenommen hatte ; Mary schob Anneken mit festem Griff zur Seite .
" Au , nicht doch !
Au , Fräulein , Sie knuffen mir ja ! "
Anneken begann jetzt auch laut loszuheulen , und als Sophie ihre kleinen Gefährtinnen weinen sah , erinnerte auch sie sich ihres Heimwehs ; sie vervollständigte das Terzett .
O Himmel , wenn Tante Lisabeth nur nicht das Geplärr hörte , und Karl Heinz nicht erfuhr , daß sie gleich in der ersten Stunde eine jämmerliche Niederlage mit ihrem Amt als Erzieherin erlitten hatte !
Ratlos und verzweifelt stand Mary unter den schluchzenden Würmern .
Da bekam Mary Hilfe von einer Seite , von der sie es am wenigsten erwartete .
Die schielende Trude hatte still und verständig ihre Habseligkeiten fortgeräumt ; jetzt wandte sie sich mit ernsthaftem Gesicht zu den anderen .
" Aber schämt ihr euch denn gar nicht ?
Seht ihr , ich bin fertig ; ich darf jetzt spielen gehen , nicht wahr , Fräulein ? "
Sie hob die rechte Hand mit emporgespreiztem Zeigefinger in die Luft , wie sie es von der Schule her gewöhnt war .
Das nützte ; spielen wollten sie alle gern .
Anneken brummte zwar etwas , aber der Rest des Auspackens und Einräumens vollzog sich jetzt verhältnismäßig ruhig .
Mary warf freundlichere Blicke auf das wenig anziehende Gesicht der kleinen Trude .
Sie hatte schon wieder etwas gelernt .
Wie wenig kam es doch auf die äußerliche Schönheit an !
Man durfte sich nicht durch ein hübsches Gesicht beeinflussen lassen ; aber - Mary warf heimlich einen schnellen Blick in den Spiegel - es war doch immerhin eine recht angenehme Zugabe im Leben !
" Erst werden die Hände gewascht und die Haar gekämmt , " befahl Mary , als die kleine Gesellschaft nun spornstreichs nach unten zum Spielen wollte .
Ein Gefühl des Stolzes durchdrang wieder ihr Herz .
Sie machte ihre Sache gerade so gut wie Miß Brown .
Acht mattblaue Seidenschleifchen brachte sie aus ihrem Zimmer ; die hatte sie sich schon vormittags zurechtgelegt .
Ihre Kinder sollten alle ganz gleich frisiert werden , die Haare an jeder Seite abgebunden , wie die Londoner kleinen Mädchen es trugen .
Mary wollte Staat mit ihren vieren machen .
Trotzdem Frida unaufhörlich wimmerte :
" Sie ziepen mir ! " und Anneken sogar ärgerlich rief :
" Ich will meine Zocken behalten ! " , gelang die Prozedur über Erwarten gut .
Nur Trude sah mit den ausgeputzten Schleifchen etwas lächerlich aus ; aber das schadete nichts , sie vervollständigte doch den einheitlichen Eindruck .
Tante Lisabeth würde Augen machen .
Ja , Tante Lisabeth machte Augen , aber keine freundlichen .
" Herrjeh , so ein Putznickel !
Nichts als Flausen hat die Dirn im Kopf !
Da staffiert sie die Gören wie die Äffchen heraus und läßt sie dabei ohne Schürze herumlaufen !
Gleich werden Schürzen umgetan , und daß du mir nicht wieder solchen Firlefanz mit den Lütten machst !
Das sind einfache , bescheidene Bürgerkinder ; denen darf man nicht solchen Unsinn in den Kopf setzen . "
Herrjeh , so ein Putznickel !
Nichts als Flausen hat die Dirn im Kopf ! "
Mary verzog den Mund .
Tante Lisabeth hatte doch gesagt , sie solle die Kinder allein übernehmen , und nun wurde ihr dreingeredet !
Dann hörte ja jeder Spaß dabei auf .
Karl Heinz hatte seine Jungs tüchtig " gestriegelt " ; die Haare glänzten zwar vor Nässe , aber wenigstens sahen sie nicht wie die Butterschäfchen aus .
Noch eins war es , was Mary die ganze Freude an ihrer neuen Tätigkeit verdarb .
" Fräulein , spielen Sie ooch mit ? " drängte Anneken , die sich nun endlich austoben wollte .
" Ich werde sehen zu , " sagte Mary sehr von oben herab , obwohl sie eigentlich recht gerne mitgespielt hätte ; sie hielt das Verlangen nicht im Einklang mit ihrer Würde .
" Was - Fräulein und Sie ?
Aber Mary , bist du denn nicht gescheit ?
Ist selbst noch 'n halbes Gör und läßt sich » Sie « rufen !
Nee , nee , Kinnings , sagt man ruhig » du « und » Mary « zu eurer großen Freundin hier !
Was , Mary , das ist dir doch auch viel lieber , mein ' Dirn ? "
Tante Lisabeth hob Marys Kinn in die Höhe .
" O Yes - es ist mir viel mehr angenehm , " stotterte Mary blutübergossen , während ihr Tränen des Ärgers in die Augen traten .
Jede Freude wurde ihr verdorben !
Zu Karl Heinz hatten die Kinder gar nicht erst " Sie " gesagt ; der war schon dick mit ihnen befreundet .
Vorn und hinten hingen sie ihm am Jackenzipfel und nannten ihn voll Zärtlichkeit " Karlken " .
Nur der Fritze Knautschke , dieser Schlingel , ging seine eigenen Wege .
Mit lautem " Ksch - ksch " machte er Puten , Hühner und Enten wild und zielte mit Kieselsteinen nach den harmlosen Tauben auf dem Dachfirst .
Als Karl Heinz ihm das streng untersagte , tippte der Junge auf seine Stirn und fragte unverblümt :
" Du hast wohl 'n Webefehler ? "
Karl Heinz wurde die Hand locker .
" Jung , täuw , ich werde dich - " aber der andere hatte bereits Fersengeld gegeben .
" Was wir Berliner sind , wir sind helle , Uns rückt man nicht so leicht auf de Pelle , " rief er gleich darauf triumphierend aus der offenen Luke der Futterböden herab .
Nein , wie schwer hatte man es doch als Erzieher !
Karl Heinz seufzte .
Und ehe man die Gören nun zu einem Spiel , das sie alle kannten und mochten , glücklich beisammen hatte !
Eins machte immer " Spermang " , bis Fränzchen schließlich mit dem Vorschlag kam :
" Wir wollen » Blinn' kauh « spielen . "
Das wurde einstimmig angenommen .
Jubelndes Lachen und glückseliges Jauchzen hallte bald über den Wäsche-Rasen .
In der Tür standen Vating und Mutig und schauten mit frohen Augen dem hellen Kinderglück zu .
Jürgens , der am Tüftenland Mieten für die Winterrüben grub , hob lauschend den Spaten und seinen grauen Kopf .
" Je , das Rackertüg rumort ja nicht schlecht ! "
Dörthe ließ sich von Mamsell die zartesten Schinkenscheiben schneiden .
Sie suchte die größten Eier heraus und schöpfte die fetteste Milch ab , denn " die ollen blaßschnabeligen Lütten , die sich da draußen so verlustierten , mußten ja wohl einen Hunger as de Schündreschers hewen " .
Selbst Cäsar hatte seinen Stammplatz am Gartentor aufgegeben , wo er alltäglich den Abendfrieden zu genießen pflegte , und nur hin und wieder einem fremden , von der Feldarbeit heimkehrenden Taglöhner kläffend um die Beine fuhr .
" Das Ding möt ich mi doch ok 'n beten Neger bekieken , " dachte er .
So wäre die Zeit bis zum Abendbrot einträchtig und friedlich verlaufen , wenn Anneken nicht fortwährend unter dem weißen Taschentuch hervorgeblinzelt hätte .
Als man ihr das Mogeln vorhielt , war sie gekränkt und wollte nicht mehr mitspielen .
" What a naughty girl , " flüsterte Mary ihrem Leidensgefährten Karl Heinz zu , " so empfindsam und unverträglich !
I tont like it . "
" Na , na , Prinzeßchen , " antwortete der , mit einem Auge zwinkernd .
" Ich kenne eine junge englische Miß , die ist noch viel rascher beim Schleusenaufziehen ; wenn man sie nur schief ansieht , dann ist der Tränenpott schon da !
Kennst du die auch , Prinzeßchen ? "
" Garstiges boy ! "
Mary hatte sich , die Beleidigte spielend , abgewandt .
" Wohl ok , Prinzeßchen , wir meinen dieselbe , " rief Karl Heinz triumphierend .
Mary wurde nachdenklich .
Sie hatte bei den ihr anvertrauten Kleinen heute schon manche häßliche Eigenschaft entdeckt , die auch ihr anhaftete , und was alle Rügen nicht bewirkt hatten , das machte das selbständige Herausfinden dieser Fehler , denen sie bei den Kindern erzieherisch entgegentreten sollte .
Mary erzog sich selbst mit .
Auch Geduld und Sanftmut konnte Mary ihren Pfleglingen gegenüber lernen , und vor allen Dingen ein Hintansetzen ihrer eigenen Person .
Sie , die sich selbst nur zu gern bedienen ließ , kam beim Abendbrot kaum zum Essen .
" Marie , wenn ich bitten derfte , noch 'ne Stulle ! "
- " Ach , je , meine Saviette is abjejangen ! "
- " Auweh , die schwappst ja ihre janze Milch ! "
Mary blieb in ständiger Bewegung , und überall mußte sie die Augen haben .
Die unschönen Gewohnheiten der Kinder beim Essen verletzten sie , die von klein auf dazu angehalten worden war , sich ladylike bei Tisch zu benehmen , mehr noch als die übrigen .
" Dear me , Anneken , nicht mit die Fingers ins Salz !
Frida , stopf das Mund nicht so voll !
Aber Sofiecken , du trinkst ja dein Milk so hörbar wie Cäsar ! "
Nur Trude aß manierlich ; ihre Eltern hatten früher bessere Tage gesehen und erzogen ihr Kind dementsprechend .
Als Mary ihre Gören endlich im Bette hatte und das letzte " Jute Nacht " verklungen war , ließ sich das Backfischchen mit einem verzweifelten Seufzer auf einen Stuhl sinken .
Mary war todmüde ; in den vierzehn Jahren ihres Lebens hatte sie noch keinen so anstrengenden Tag gehabt !
Und das sollte sie zwei ganze Wochen ertragen ?
Nein , das hielt sie nicht aus !
Sie opferte sich auf !
Sie gab ihre Gesundheit dran , im Dienst um die Menschheit !
Arme Mary !
Hättest du geahnt , was dir am anderen Morgen bevorstand , du wärst dir als die größte Märtyrerin erschienen !
Der Kuckuck hatte eben sechsmal den Kopf aus dem kleinen Holzfenster an der Uhr gestreckt , als Mary von einem vierstimmigen Konzert erwachte .
Sie rieb sich verschlafen die Augen .
" Am jrünen Strand der Spere . . . "
Ohrenzerreißend klangen die schrillen , zum Teil unmusikalischen Kinderstimmen ineinander .
Es dauerte eine ziemliche Weile , bis Mary sich die Ursache dieses ungewohnten Genusses klargemacht hatte .
Dann aber sprang sie empor .
Ihre kleinen Peiniger - zu nachtschlafender Zeit schon begann die Qual !
" Still - bei silent - sst !
Es ist ja noch in die Nacht !
Ihr müßt Schlepp noch a little - indeed , ihr seid noch müde , " verlangte sie von den unentwegt weitersingenden Kindern mit empörter Stimme .
" Nee , Jahr nicht !
Wir sind schon ganz Aussieschlafen , " klang es von Annekens Lippen zurück .
Trude war wieder die Verständige .
Sie beschwichtigte den heimatlichen Patriotismus der kleinen Berlinerinnen ; die Wogen " der jrünen Spree " verrauschten .
Aber nicht lange sollte sich Mary dieses Waffenstillstandes erfreuen .
" Piepmatz !
Die tut ja bloß so ; die schläft Jahr nicht !
Die blinzelt ja mit die Augen , " vernahm sie aus erschreckender Nähe , und da pikte auch schon ein fürwitziger Zeigefinger ihr schmerzhaft auf das geschlossene Augenlid .
Entsetzt fuhr sie auf .
Vier kleine Hemdenmätze standen barfüßig vor ihrem Bett und knicksten wohlerzogen :
" Guten Morjen ! "
" Wir wollten bloß Mal sehen , wie du aussiehst , wenn du schläfst , " sagte Frida , ihre Morgenpromenade zu begründen .
Fürchterliche Kinder !
Sie brachten selbst die nicht sehr temperamentvolle Engländerin aus ihrem Gleichmaß .
" Wollt ihr wohl in your beds , ihr schreckliches Kinder !
Ihr bekältet euch - ha - u - ah - I am so Tiret ! "
Ihre Augenlider klappten schon wieder zu .
" Nichts zu machen - schließt von selbst , " hörte sie noch im Halbschlaf Annekens scharfe Kinderstimme .
Dann umfing sie eine wohltuende Stille .
Da - ein durchdringendes Geräusch , wie von tausend zersplitternden Scherben , ein Plätschern von Wassermassen , erschrockene Ausrufe , Gejohle und Schluchzen !
Mary erwachte aus ihrem tiefen Schlummer und eilte zum Kinderzimmer .
Was sie dort sah , ermunterte sie im Augenblick .
Die Stube stand unter Wasser .
Neben einem Trümmerhaufen von Waschschüssel- und Wasserkrugscherben kauerte schluchzend Sophie , die sich allein hatte anziehen wollen .
Anneken und Frida tanzten mit bloßen Füßchen in tollen Sprüngen um sie herum , während Trude sich bemühte , die zu Boden gefallenen Kleidungsstücke den um sich greifenden Fluten zu entreißen .
Mary stand wie vom Donner gerührt .
Dann aber kam Leben in sie .
Sie packte erst das sich sträubende Anneken an beiden Schultern und fischte es aus dem Wasser ; nachdem sie auch die drei anderen herausgeangelt und jedes in sein Bett befördert hatte , begann sie Sturm zu läuten .
In fliegender Eile erschienen zu gleicher Zeit Gusting , Kerlin , Fräulein und Tante Lisabeth .
Die schlugen die Hände über dem Kopf zusammen .
Im Nebenzimmer aber hockte im langen Nachtgewande Mary und weinte heiße Tränen über die Ungerechtigkeit der Welt im allgemeinen und über die Tante Lisabeths im besonderen .
Denn Tantig Maß ihrer Schlafmützigkeit die ganze Schuld an dem Unheil bei !
" Wenn man ein Amt übernimmt , soll man es auch pflichttreu erfüllen , " sagte sie sehr ernst .
" O Tante Lisabeth hat gut reden ; die überläßt mich das ganze Arbeit , " dachte Mary erbost und vergaß ganz , wie sehr sie sich um den Posten einer Erzieherin beworben hatte .
Ehe all die Kleider geknöpft , die Knoten gebunden , die Ohren trotz des jämmerlichen Gebrülls geseift und die kleinen Zöpfe alle geflochten waren !
Mary besorgte jede Sache mit pedantischer Langsamkeit ; sie war nicht gewöhnt , sich schnell zu drehen und zu wenden .
Es war gegen neun Uhr , als sie mit ihren vier Küchlein endlich am Frühstückstisch erschien .
Ergebungsvoll tauschte Mary mit Karl Heinz ihre Erlebnisse aus .
Im Turm war es bei weitem ruhiger zugegangen .
Nur ganz zuerst hatte Karl Heinz dazwischenfahren müssen , weil Fritze Knautschke durchaus von dem alten Turm behauptete :
" Es jeistert ! "
Das Bettlaken über dem Kopf , wollte er die anderen Jungs graulen machen , aber mit der zu erziehlichen Zwecken mitgenommenen Fliegenklatsche hatte Karl Heinz ihm das Geisterhandwerk alsbald gelegt .
Am Vormittag saßen die vier kleinen Mädchen artig und friedlich in der jetzt von der Oktobersonne blutrot gefärbten Weinlaube , als ob sie kein Wässerchen trüben könnten .
Stundenlang spielten sie mit Lenis Puppen , mit Puppenhaus und -küche , und Mary sah voll Staunen , wie die stummen , steifen Dinger bei den deutschen kleinen Mädchen Leben und Sprache bekamen .
Wie die Puppenbabys spazieren gefahren wurden , wie man für sie kochte und sie fütterte , und wie sie sogar Gesellschaften gaben !
So hatte Mary nie mit ihren doll gespielt , solche Liebe niemals für sie empfunden , wie hier die kleinen Puppenmütter für ihre Kinder .
Das junge Mädchen wollte sich eben zur Erholung ein wenig ans Klavier setzen , da kam schon wieder ihr Quälgeist Anneken .
" Marie , ich habe 'n Notausjang in mein Ärmel ; kiek bloß Mal ! "
Der kleine Wildfang war mit dem Kleid an einer Zaunlatte hängen geblieben .
" Ich will nähen es in die Nachmittag , " versprach Mary , aber Anneken gab sich damit nicht zufrieden .
" Nee , ich bin doch de jnädige Frau ; da kann ich doch nicht mit so 'n verlumptes Kleid jähen , " beharrte sie .
Tante Lisabeth , die zu Marys Unglück im Garten Bohnen abfädelte , gab der Kleinen Recht .
" Ein ordentliches Kind läuft nicht im zerrissenen Kleid umher , und was man tun will , soll man gleich tun , Mary . "
Brummend machte sich das Backfischchen an die Arbeit .
Sie hatte kaum eine Ahnung von Nähen und Flicken ; die Schäden in ihren eigenen Kleidern pflegte sie von links mit großen Stichen heimlich zusammenzuziehen .
Nun saß sie hier neben Tante Lisabeth und lernte , wie man einen Flicken schön sauber und geduldig einsetzt .
Schweißtropfen perlten Mary von der ungewohnten Anstrengung auf der Stirn .
Und noch dazu für fremde Gören !
Auch Hänschen und Fränzchen hatten jetzt allerlei zu lernen , nicht gerade zur Freude von Mutig und Jürgens .
Ihr Lehrmeister war Fritze Knautschke .
Sie erfuhren , daß die Pflüge bei fachmännischer Benutzung eine wunderschöne Wippe gaben , daß die Mieten mehr zum Distanzspringen als zum Aufbewahren der Kartoffeln und Rüben gegraben wurden , daß man von den Kornböden aus am Blitzableiter auf die Erde herunterrutschen konnte , wie man " Rippentriller " austeilte , und was der nützlichen Dinge mehr waren .
Das ganze Jahr über hatte es nicht so viel zerschundene Knie und zerlöcherte Höschen bei den Lütten gesetzt wie in diesen vierzehn Tagen !
Aber als sie einmal unter Fritzes Führung es wagten , die Pferde selbständig in die Schwemme zu reiten , und nur der hinzukommende Jürgens Gören und Gäule aus dem unfreiwilligen Bade ans Land beförderte , machte Vatings Hand ihren etwas verfrühten landwirtschaftlichen Bestrebungen nachdrücklich ein Ende .
Anneken wiederum schwindelte .
Mary hatte es schon öfters bemerkt , daß sie ein bißchen flunkerte ; aber heute war es offenbar .
Das junge Mädchen hatte von seiner Freundin Mietteig ein wunderhübsches , sinniges Freundschaftsgeschenk vom Rostocker Jahrmarkt mitgebracht bekommen , ein kleines Glückschweinchen aus Porzellan .
Mary behütete es wie ihren Augapfel ; sie staubte es selbst ab .
Gusting durfte es nicht in die Hand nehmen .
Am letzten Tage vor der Abreise der Kinder fehlte es .
Mary suchte an allen Ecken und Enden ; das Schweinchen blieb verschwunden .
Unwillig über den Verlust begann Mary ein Verhör .
Ihre Pfleglinge behaupteten , das Glückschweinchen nirgends gesehen zu haben .
Anneken legte der Sache keine Wichtigkeit bei .
Sie stand am Fenster , lugte in die schwarzen drohenden Wolkenmassen und verkündete :
" Es wird jleich kleine Schusterjunge reinen . "
Als Mary nicht locker ließ und sie sich noch besonders vornahm , erklärte sie obenhin : " Ach , die Juste macht doch hier reine , " aber ihre schwarzen Augen irrten unstet im Zimmer umher .
Gusting wollte es aber auch nicht gewesen sein ; die Sache blieb unaufgeklärt .
Am Nachmittag packte Mary die Koffer ihrer Kleinen .
Es war ihr traurig zumute .
Wenn ihr auch viel Arbeit und Last entstanden war , sie hatte sich jetzt an die Mädchen gewöhnt , und besonders die sanfte Trude war ihr ans Herz gewachsen .
" Nun bin ich am dransten , " sagte Anneken , als Mary mit den drei anderen fertig war , und reichte dem jungen Mädchen ihre Habseligkeiten zu .
Die Tasche des roten Samtkleides schlug klirrend gegen den Kofferdeckel ; mit dem Spürsinn eines Detektivs drehte Mary trotz Annekens Einsprache die Tasche um .
Da kam ein Porzellanbein und ein kurzes Ringelschwänzchen zum Vorschein ; die Kleine hatte die Scherben des Schweinchens in ihrem Kleide versteckt .
Mary hielt ihr eine donnernde Strafrede .
" You are eine bitterböse Mädchen !
Hättest du dein Unrecht eingestanden , ich hätte können Pardon you , aber lügen - pfui , schäme dir ! "
Mary brach mitten drin in ihrer Philippika ab ; sie wurde röter , als Anneken war .
Scheu sah sie zu ihrem eigenen Kleiderschrank hinüber .
Dort lag unter den Blusen zu einem Knäuel zusammengewickelt der gute weiße Rock den sie zur Jagd angezogen hatte .
So oft sie an den Schrank ging , fiel er ihr schwer aufs Gewissen .
Sie hatte Tante Lisabeth neulich , als sie ihn zu Mietings Geburtstag anziehen sollte , gesagt , das Wetter sei ihr zu schlecht ; sie wolle lieber einen dunklen anziehen .
Da hatte Tante Lisabeth ihr die Wange geklopft und gemeint :
" Du bist eine verständige Dirn ! "
Um die Schummerstunde saß Mary drunten bei der Tante und beichtete stockend , daß sie schon wieder in ihren alten Fehler verfallen war .
Von nun an wollte sie aber auch ganz gewiß immer mir die Wahrheit sagen !
Früh am anderen Morgen fuhr der blaue Leiterwagen vor , Jürgens knallte mit der Peitsche .
Da standen sie nun , die jetzt rosigen Gören , und sahen mit betrübten Augen auf das alte Gutshaus und den in bunten Herbsttönen prangenden Garten zurück , der ihnen wie ein Märchenland erschienen war .
" Je , nun rohrt man nicht , " tröstete Dörthe und übergab jedem der kleinen Gäste ein geflochtenes Weidenkörbchen mit frischen Eiern und Obst , ein Abschiedsgruß für die Mutter daheim .
" Nächstes Jahr kommt ihr wieder , man nicht , ihr Lütten ? "
Die Gutsherrin streichelte die blonden und braunen Köpfe , die sich dankbar zu ihr emporhoben .
" Adscheh ooch - adscheh , Karlken - adscheh , Marie !
Nee sowas , ich habe meinen Bibi verkehrt auf !
Vielen , vielen Dank und besucht uns doch ooch Mal !
Nun is es aber de allerheechste Eisenbahn , daß wa verduften !
Da is ja det Ende von weg von dies viele Adschehsagen . "
Fritze Knautschke hatte nun genug .
Rot- und blaugeränderte Taschentücher wehten grüßend , Mützen flogen in die Luft .
" Aufs nächste Jahr , denn sind wa wieder so frei ! "
Der Leiterwagen ratterte mit den Gören davon .
Tante Lisabeth aber schlang den Arm um das der grauen Staubwolke wehmütig nachstarrende Backfischlein .
" Komme , Kind , ich meine , die vierzehn Tage sind auch für uns recht heilsam gewesen ; du hast durch die Lütten doch manches gelernt , was , Dirn ? "
Ja , Mary hatte viel gelernt ; das gab sie selbst gerne zu .
Gut Freund .
Lenis Krankendienst war zu Ende .
Das servant-maid tummelte sich wieder wacker im Hause , Margaret entschädigte den Onkel und Leni durch die saftigsten Roastbeefs , und die Miß nahm ihre Pflichten wieder auf .
Heute wurde auch Lizzie aus der Klinik zurückerwartet .
Leni war mit Kitty im Covent Garden zum Blumenmarkt gewesen und hatte die ganze Cottage mit Blüten und Zweigen geschmückt .
Rote japanische Bälle wiegten sich in schlanken Vasen ; Leni hatte sie geschmackvoll in der hall verteilt .
Das Kinderzimmer glich einem weißen Chrysanthemengarten , und um den Namen " Lizzie " über der Haustür hatte das Backfischchen eine Blättergirlande gewunden .
Jetzt schritt sie prüfend von Zimmer zu Zimmer ; ihr Herz klopfte in frohem Stolz .
Das ganze Haus trug ein festliches Gepräge .
Sie hatte ihre Sache fein gemacht !
Kamen sie denn noch immer nicht ?
Leni stand am Fenster und wartete ; die Zeit verging unerträglich langsam .
Ob Lizzie nun wirklich die Treppen emporspringen würde ?
Leni glaubte es nicht recht .
Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Tage , da sie Lizzie das erstemal in der Kinderklinik besucht hatte .
Ein trüber Schatten huschte über das junge Mädchengesicht .
Von klein auf hatte Mutig sie zu Armen und Siechen im Dorf mitgenommen ; doch das waren meist alte Leute gewesen .
Aber als sie hier in dem großen Saal die armen Würmer mit ihren Gebrechen erblickte , da waren ihr die Tränen aus den Augen gestürzt .
Babys , die noch nicht laufen und sprechen konnten , kleiner noch als ihr lütt Schwesting daheim , lagen in Verbänden , in Maschinen und Streckbetten .
" Pain - pain , " schrie ein kleiner Junge ; tagelang verfolgte Leni diese klagende Kinderstimme .
Sie hatte sich zu dem Kleinen voll innigen Mitleids niedergebeugt .
" Wo hast du denn Wehweh , armer kleiner boy ? "
Kamen sie denn noch immer nicht ?
Das Kind wies auf sein Bein und sah Leni in hilflosem Jammer an .
Und sie hatte nichts , gar nichts bei sich , um dem Kleinen eine Freude zu machen !
Aber das nächstemal kam sie mit Spielzeug beladen in die Kinderklinik .
Bis auf den letzten Penny hatte sie ihr Taschengeld für die poor little ones ausgegeben .
Nur das Spargeld war nicht angerissen worden , beileibe nicht !
Das war schon für Weihnachtsgeschenke in die Heimat bestimmt .
Dann wurde sie zu Lizzie geführt .
Ein seltsam beklemmendes Gefühl beschlich sie , als der Onkel die Tür zu dem Privatzimmer öffnete , das Tante Jane mit ihrem Töchterchen bewohnte .
In einem verstellbaren Stuhl am Fenster , das in den Garten hinausging , saß Lizzie .
Ihre gesunde Seefarbe war schon wieder etwas abgeblaßt , aber die Augen schimmerten in innerer Glückseligkeit .
Beide Hände streckte sie Leni entgegen .
" Leni , meine liebe alte Leni , mir war ja so bange nach dir ! "
Da verschwand jedes Gefühl des Fremdseins in Lenis Brust ; immer wieder neigte sie sich zu der Cousine hinab und streichelte sie .
Auch Tante Jane hatte Leni warm und herzlich begrüßt , sie " junge Stellvertreterin " und " braves Mädchen " genannt , weil sie es mit allen Schwierigkeiten im Hause so mutig aufgenommen hatte .
" Ja , Jane , du kannst ruhig noch ein paar Wochen fortbleiben , " neckte Onkel Richard , " Lenchen ersetzt mir die Hausfrau vollkommen .
Aber Pflaumensuppe mit Grießklößen mußt du der Tante auch Mal kochen , Kind ; die muß doch solch Mecklenburger Spezialgericht ebenfalls kennen lernen . "
Das Backfischlein wurde rot .
" Nee , Onkel , man lieber nicht !
Das war ja 'n grogliches Essen , " sagte Leni dann mit der ihr eigenen Ehrlichkeit , nicht die Spur empfindlich .
Im übrigen war Leni enttäuscht .
Die Operation sollte gelungen sein ; freudestrahlend hatte es Onkel Richard ihr mitgeteilt , und auch Lizzie ihr gleich anfangs zugeflüstert :
" Leni , was sagst du denn ?
Ich kann wieder laufen ! "
Aber sie merkte nichts davon , und als Lizzie dann mit freudestrahlendem Gesicht ihre Gehversuche zeigte , da war Leni noch viel enttäuschter .
Na ja , Lizzie bedurfte jetzt nicht mehr des Stocks ; auch das Hinken und Nachziehen des Fußes hatte sich verloren .
Aber das linke Bein erschien noch immer steif .
" Lizzie geht wie ein alter Kriegsinvalide ! " scherzte der Onkel .
Vorwurfsvoll sah Leni ihn an .
Wie konnte der Onkel nur über das , was ihr selbst in innerster Seele weh tat , einen Spaß machen !
Ihr sprechendes Gesicht verriet ihre Gedanken ; Lizzie , die ihre ältere Freundin so gut wie sich selbst kannte , las sie ihr von der Stirn .
" You are sorry wegen der Steifheit , Leni ?
Die gibt sich noch , sagt Mama und der Arzt . "
Mama spielte jetzt bei ihr in jeder Hinsicht die erste Rolle .
" Ich werde täglich massiert und muß orthopädische Übungen machen ; etwas besser ist es ganz bestimmt schon geworden ! "
So versuchte sie selbst , Leni zu trösten .
Ach , wie sehr hoffte Leni , daß die Cousine recht behalte !
Ihr Herz klopfte zum Zerspringen vor Aufregung .
Wie würde Lizzie heimkehren ?
Sie spähte vom Fenster aus auf die Straße .
Nur wenige Leute gingen heute am Sonntag vorbei .
Es beschlich Leni ein seltsam einsames Gefühl .
Sie war allein ; die Miß weilte noch in der Kirche , der Onkel holte seine Frau und sein Kind .
War die Herbststimmung draußen im Garten am Ende schuld , daß sie so nachdenklich wurde ?
Das blutfarbene Blättergeriesel der Buchen , der Silberregen der Pappeln und all die purpurnen , grauvioletten und grünlich-goldenen Laubtöne , das farbenprächtige Ersterben der Natur hatte sie daheim niemals mit Wehmut erfüllt .
Wenn der Sommer vorbei war , kam eben der Winter , und der war ja auch schön !
" Ja , solch Kiekindiewelt merkt nichts von Welken und Vergehen , " hatte Mutig oft lächelnd gesagt , wenn Leni begeistert aus dem herbstlichen Walde heimkehrte .
" Werde nur erst älter , Dirn , dann wird dir der Herbst auch noch was anderes predigen . "
Freilich , älter war sie inzwischen geworden !
Das Gartentor kreischte .
Leni fuhr empor .
Ach je , nur Bobby !
Der fehlte ihr jetzt gerade noch !
Ob sie vom Fenster fortging ?
Nee , ja nicht !
Auszurücken brauchte sie nicht vor ihm .
Wo hatte der sich übrigens den Morgen über 'rumgetrieben ?
Sein sonst tadelloser Anzug sah nachlässig und bestaubt aus .
Das helle , strähnige Haar fiel ihm wirr in das sommersprossige Gesicht ; zwei rote Fleck zeichneten sich auf seinen sonst stets blassen Wangen ab .
Der Junge würde wohl ebensowenig Sehnsucht nach ihr haben , wie sie nach ihm ; sie verstanden es geradezu großartig , einander als Luft zu betrachten .
Schritte kamen näher .
Also doch !
Die Tür wurde hinter ihr ins Schloß geschmettert .
Leni wandte sich nicht ; sie hatte eine kampfbereite Stellung eingenommen .
Aber es blieb alles still hinter ihr .
Verstohlen schielte sie ein wenig zur Seite , ob " der lange Lulatsch " sich auch nicht etwa wieder auf den Polstern " herumfleetzte " .
Nein , Bobby hatte das Gesicht in den Händen vergraben ; hin und wieder fuhr er sich durch das wirre Haar .
Was sollte denn das bedeuten ?
Hatte es da nicht laut und vernehmlich hinter ihr geseufzt ?
Bobby seufzte ?
Bobby hatte einen Kummer , er , der stets so tat , als ob an seine geheiligte Person sich überhaupt nichts heranwagen könne ?
Es war wirklich zum Lachen !
Leni lachte aber nicht ; sie hatte ein viel besseres Herz , als sie selbst es wußte .
Mit erschreckten Augen sah sie zu dem heute so sonderbaren Vetter hinüber .
Jetzt kam es wie ein verzweifeltes Stöhnen unter den sich fest gegen den Mund pressenden Händen hervor .
Da schwankte Leni nicht länger .
Mit schnellen Schritten trat sie vor den großen Jungen .
Vergessen hatte sie allen früheren Streit , warmes Mitgefühl klang aus ihren Worten .
" Bobby , by heaven , was ist dir - was ist geschehen ? "
Er antwortete nicht , aber es schien , als ob ein trockenes , mit Gewalt zurückgedämmtes Schluchzen seinen langen Körper schüttle .
Noch einen Augenblick zauderte das junge Mädchen , dann legte es ihm weich die Hand auf das Haupt und streichelte beruhigend sein Haar .
Hier litt jemand tiefe Seelenpein ; das sah Leni .
Da war es gleich , ob Freund , ob Feind !
" Bobby - boy - will you Not Tell me - vielleicht kann ich dir helfen ? "
Er ließ die Hände sinken und sah sie mit trostlosen Augen an .
" There is no help - I am lost - verloren - aus ! " wiederholte er noch einmal mit Grabesstimme .
In Leni erwachte Muttings Energie .
Bobby saß in irgend einer Patsche ; sie mußte ihm heraushelfen .
Mit raschem Griff zog sie sich einen Stuhl heran .
" So , jetzt erzähle ! " sagte sie mit fester Stimme , trotzdem ihr das Herz fast hörbar schlug ; ihre rasche Entschlossenheit übte eine starke Wirkung auf den willenlosen Jungen aus .
" I have Not Gott my remove into the lower first , " brachte er tonlos heraus , ohne sie anzusehen .
" Nicht nach Unterprima versetzt worden - sitzen geblieben ?
O weh ! "
Leni sah erschrocken drein .
" Ja , das kommt davon , wenn man zu gut zu seinen Kindern ist und ihnen allen Willen läßt , " dachte sie altklug .
" Papa hat gedroht , wenn ich nicht versetzt werde , nimmt er mich aus dem Kollege und läßt mich ein Handwerk lernen ; aber ehe ich das ertrage - - - "
Bobby ballte die Fäuste .
" Ich fürchte mich auch , es ihm zu sagen , " setzte er nach einem Weilchen kleinlaut hinzu .
Leni fühlte etwas wie Verachtung in sich aufsteigen .
Wie erbärmlich klein saß Bobby , der sonst stets ein großes Mundwerk führte , heute vor ihr !
Am liebsten hätte sie ihm " feige Memme " ins Gesicht geschleudert .
Ob ihr Karling sich wohl auch so benehmen würde ?
Das Mitleid mit Bobby gewann wieder die Oberhand ; gerade weil er sonst ein richtiger " Großmogul " war , ging ihr seine heutige Niederlage zu Herzen .
" Well , ich werde mit Onkel reden , " sagte sie mit beruhigender Stimme .
" Ich werde ihn bitten , es noch einmal mit dir zu versuchen ; aber du mußt versprechen , künftig nicht mehr so faul zu sein ! "
Leni wußte gar nicht , woher sie den Mut nahm , so mit dem langen Vetter zu sprechen .
" Certainly Not !
I shall Not bei idle and lazy , nevermore ! "
Aber er stöhnte noch immer .
" Bobby , Jung , beruhige dich doch !
Sie werden gleich kommen ! "
Leni versuchte ihn aufzurichten .
" Ich verdiene es eigentlich gar nicht , daß du so - so gut zu mir bist - - - "
" Nee , wahrhaftig nicht ! "
Leni bis sich auf die Lippen ; es schien ihr unedel , die Schwäche eines Feindes auszunützen .
Bobby sah indessen mit angstvollen Augen zur Tür .
" Sie werden gleich kommen und - und - "
Das Schluchzen schüttelte ihn wieder .
" Aber boy , den Kopf kann dir der Onkel doch nicht abreißen ! "
Leni versuchte zu scherzen .
" Ach , das ist es ja gar nicht !
Das ist - tat is Not all , " stieß er plötzlich mit dem Mut der Verzweiflung heraus .
Leni erbleichte .
" Was denn noch ? "
" I have gambled - gespielt - verspielt - gestern mit Charles Edward - all my money und das Schulgeld auch - Papa has given me yesterday . "
Bobbys Blick wurde stier .
Auch Leni saß wie erstarrt ; das Blut in ihren Adern schien stillzustehen .
Gespielt ?
Fremdes Geld verspielt ?
Dann war Bobby ja ein Betrüger !
O pfui , pfui !
Man würde ihn in den finsteren Tower einsperren - die Schande für Onkel und Tante !
Nein , das durfte sie nicht geschehen lassen !
" Warte ! " sagte sie mit einer ihr selbst fremd klingenden Stimme .
" Ohne moment - warte ! "
Die Füße versagten ihr fast den Dienst , aber sie hastete trotzdem die Treppe zu ihrem Zimmer empor .
Jeden Augenblick konnten die Eltern ja hier sein !
Das blumengeschmückte Kinderzimmer erschien ihrem wehen Herzen wie ein Faustschlag ins Gesicht ; hier lichte Freude und dort unten - - !
Rasch , rasch !
Sie griff zu ihrer Sparbüchse , einem braunen Mohrenkopf aus Porzellan , - wie hatte sie sich immer über ihn gefreut !
Noch ein kurzes Zögern , dann klirrte der Mohr in tausend Scherben ; blanke Kupfer- , Nickel- und Silberstücke , ihr ganzer Weihnachtsschatz , rollte über den Tisch .
Mit fliegender Hast beseitigte Leni die Spuren und raffte ihre Barschaft zusammen .
Das würde wohl ausreichen .
Atemlos kam sie wieder bei Bobby an .
Der saß noch gerade so zusammengesunken da wie vorhin .
" Da , nimm ! "
Leni drückte ihm ihre Sparpfennige in die Hand .
" Reicht es ? "
Brennende Schamröte überflog Bobbys fahles Gesicht , aber er begann doch zu zählen .
Dann lachte er verzweiflungsvoll auf .
" Nicht die Hälfte !
Du meinst es gut , Ellen , sehr gut , aber es reicht noch lange nicht . "
Er versank wieder in dumpfes Brüten , und auch Leni zermarterte vergebens ihr Hirn .
Diese Riesensumme !
Sie fand keinen Ausweg mehr .
" Halt - - ! "
Leni war so jäh emporgesprungen , daß Bobbys glasige Augen ihr erschreckt folgten ; die Tür flog krachend hinter ihr ins Schloß .
" Da - hier - " wie der Wind war Leni wieder zurück - " da ! "
Bobby fühlte ein unscheinbares Papier in seiner Hand ; es war eine Banknote .
" Ellen , for goodness sake , wie kommst du zu dem Gelde ? "
" Mutig , mein liebes Mutig hat es mir mit der letzten Obstsendung geschickt .
Wir vier Freundinnen wollten uns zur Tanzstunde alle gleiche Mullkleider machen lassen , weiße Mullkleider mit rosa Schärpen . "
Es zitterte trotz Lenis Willenskraft doch durch ihre Worte etwas von dem Schmerz , auf den langgehegten Wunsch verzichten zu müssen .
" Aber mein altes weißes Kleid ist auch noch ganz schön , " tröstete sie zugleich sich und Bobby , denn sie sah , daß er zögerte , das Geld zu nehmen .
" Ich kann nicht - mein Himmel , ich kann nicht !
Du beschämst mich aufs tiefste ! "
Er schlug die Hände vor das Gesicht .
" Du nimmst das Geld , boy ! "
Lenis Stimme klang fast gebieterisch .
" Ich - ich gebe es ja gar nicht für dich , nur um deinen Eltern den Gram zu ersparen , " setzte sie schnell hinzu ; nun würde er es doch wohl nehmen .
Die Wirkung ihrer Worte war anders , als sie gedacht hatte .
Bobby haschte nach ihrer Hand und zog sie , ehe sie es verhindern konnte , inbrünstig an die Lippen .
" Oh , Ellen , I thank you with all my heart !
Das vergesse ich dir nicht , never !
Ich will deine Güte verdienen , so wahr ich hier stehe . "
" Versprich mir nur , das Spielen und Wetten zu lassen , boy , ja ?
Gelobst du mir_es ? "
Sie hielt ihm ihre Hand hin .
" Upon my honour ! "
Bobby schlug ein .
Sie hatten beide in ihrer Erregung das Rollen des Wagens überhört , auch die auf dem Kies knirschenden Schritte ; erst als Onkel Richards Stimme von draußen hereinschallte :
" Nanu , schläft denn das ganze Haus hier ? " eilte Leni hinaus , ihn zu begrüßen .
Da kam Lizzie ihr entgegen .
Sie ging nicht , nein - sie lief und warf sich Leni an den Hals .
" Leni , da bin ich wieder !
Bist du jetzt mit mir zufrieden ? "
Das Backfischchen nickte ; es vermochte nicht zu sprechen .
Die starke Gemütsbewegung , die Bobbys Geständnis in ihr heraufbeschworen hatte , löste sich in wohltuende Tränen .
" Aber Leni , darling , so hast du dich um mich gesorgt ?
Sieh nur , das Bein ist kein bißchen mehr steif ; ich kann jetzt wie ein Wiesel springen !
Und vom fünfzehnten an gehe ich mit dir in die Schule ; freust du dich , Leni ? "
Das stille Kind war wie ausgetauscht .
Die Schule !
Dieses Wort gab Leni einen Stich durchs Herz ; sie mußte ja mit Onkel Richard sprechen !
Selbst Tante Janes Lob über den duftigen Blumenschmuck und Lizzies Freude an Lenis liebevollem Ausputze des Hauses vermochten sie nicht ganz froh zu stimmen .
Wie ein unsichtbarer Schatten glitt Bobbys lange Gestalt stets neben ihr und mahnte sie , ihr Versprechen zu erfüllen .
Kaum hatte sich Onkel Richard mit seinen " Times " in den smoking-room zurückgezogen , als es leise und schüchtern an die Tür klopfte .
" Come in ! "
Der Onkel war nicht wenig erstaunt , als sich Leni durch die Türspalte schob .
" Ei , so feierlich , Lüttes ?
What is the matter ? "
" Onkel Richard ich muß dir etwas gestehen ! "
Sie begann ihre Daumen umeinander zu drehen .
" Nur Mut !
Forward , go ohne ! "
Onkel Richard betrachtete lächelnd Lenis Verlegenheit .
" Was entzweigeschlagen , ja ?
Da soll ich die Tante wohl schonend darauf vorbereiten ?
Na schön , in order ! "
" Nee , Onkel Richard , ich will dich schonend vorbereiten , " platzte Leni los .
" Du mich ?
Na , Lenchen , ich verzeihe dir im voraus .
Ich weiß , daß du mich nicht kränken willst , also los !
Mädchen , du bist doch sonst nicht so ängstlich ! "
Leni gab sich einen Ruck .
" Bobby - Onkel - Bobby - "
" Was , nicht du ?
Bobby ? "
Onkel Richard setzte eine strenge Miene auf .
" Ach , Onkelchen , sieh doch nicht gleich so bös aus ! "
Leni versuchte ihm die Falten von der Stirn zu streichen .
" Es tut ihm ja so leid - er ist so unglücklich , und es wird auch ganz gewiß nicht wieder vorkommen ! "
" Blesse me , so sage endlich was los ist ! "
Noch nie hatte der Onkel sie so angefahren .
" Er ist nicht versetzt , " kam es tonlos von Lenis Lippen ; es war ihr schrecklicher , als wenn sie eine eigene Schuld hätte beichten müssen .
" Das ist recht erfreulich !
Das ist ja recht nett !
Und dieser Schwächling kommt nicht selbst zu mir , verkriecht sich hinter Weiberröcken ? " donnerte Onkel Richard .
Wie er heute Vating glich !
Und ganz , als ob es Vating wäre , sprang die große Leni plötzlich dem aufgebrachten Onkel aufs Knie und versuchte alle Besänftigungsmittel , die ihr von Vating her geläufig waren .
Sie bürstete mit ihren weichen Fingern seine buschigen Augenbrauen glatt , versuchte seinen englischen Backenbart zu einem Vollbart zu vereinigen und gab ihm schließlich , als die Zornader auf der Stirn noch immer nicht abschwellen wollte , einen versöhnenden Kuß mitten auf die Nase .
" Onkelchen , mein leiwes Onkelchen , er hat doch solche Bange , daß du ihn aus der Schule nimmst , und er wird sich doch ganz gewiß ändern !
Nicht wahr , du tust ihm nichts ? " bettelte sie .
"' ne tüchtige Advokatin hat sich der Junge ausgesucht , " brummte Onkel Richard schon ein klein wenig sanfter .
" Well , schick ihn mir Mal her , den Taugenichts !
Der boy ist good for nothing , indeed ! "
" Onkelchen - - - " Leni zögerte noch und sah bittend zu ihm auf .
" Es geht ihm nicht an den Kragen , dem sauberen , jungen Herrn ! Habe übrigens gar nicht gewußt , daß ihr solche friendship miteinander habt ; kamt mir immer wie Katze und Hund vor .
Na , marsch ! "
Leni war bis heute auch noch nichts von der Freundschaft bewußt gewesen , aber jetzt hatte sie ein Gefühl für Bobby , ungefähr so , wie wenn sie in Nedderdorf ein junges Küchlein vor dem Schlachtmesser errettet hatte ; halb Mitleid , halb Verantwortlichkeit .
Sie schob den angstvoll draußen Harrenden mit einem aufmunternden Puff durch die Tür .
" Es hat schon ziemlich abgebraust ! " flüsterte sie ihm zu .
Von diesem Tage an wußte Bobby nicht , was er Leni alles an den Augen absehen sollte .
Er war von rührender Aufmerksamkeit und übertrug seine Dankbarkeit sogar auf Lizzie .
In den Ferien ging er mit den beiden Mädchen in das British Museum .
Niemals hätte Leni gedacht , daß Bobby , der nur für Sport zu leben schien , so viel Kunstverständnis besitze .
Er erklärte ihnen die " Elgin marbles " , die Ausgrabungen der Akropolis in Athen , so eingehend , daß Leni ihn förmlich anstaunte .
Freilich , wenn sie gewußt hätte , daß er erst kurz zuvor einen Aufsatz über dieses Thema hatte machen müssen , würde ihre Bewunderung wohl etwas herabgestimmt worden sein .
Als er seine drei Ladies - auch Miß Brown war mit - in die Erfrischungshalle des Museums führte , sorgte er durchaus gentlemanlike auch für ihr leibliches Wohl .
Nur schade , daß Miß Brown die Sache zahlen mußte ; Bobby sparte jetzt jeden Penny , um seine Schulden an Ellen abzutragen .
Auch die National Gallery zeigte er den jungen Mädchen , aber Leni , das Naturkind , hatte noch kein volles Verständnis für solche Sachen .
Sie fand es tausendmal schöner im Regent Park , und nirgends in London gefiel es ihr so gut wie im Zoologischen Garten .
Vom Affenhaus war sie nicht fortzubekommen .
Sie freute sich so lebhaft über die possierlichen Äffchen , daß Bobby sich zuerst fast schämte .
Aber als er merkte , daß die Umstehenden selbst ihre Freude an der urwüchsigen Begeisterung des Backfischchens hatten , war er stolz darauf , ihr dieses Vergnügen bereitet zu haben .
Ihr Liebling war der größte Affe , den sie " Tom " nannten ; der nahm ihr Nüsse aus der Hand , knackte sie geschickt auf und warf ihr dann die Schalen an den Kopf .
Daß sie all das Neue und Schöne gemeinsam mit Lizzie genießen konnte , vergrößerte eine jede Freude ; der Cousine liebenswürdiges Naturell kam erst jetzt , da sie sich nicht mehr zurückgesetzt und ausgestoßen fühlte , richtig zum Vorschein .
Selbst Bobby bemerkte :
" Well , Lizzy , now I like you more than Mary . "
Auch die National Gallery besuchte Bobby mit den jungen Mädchen .
So wären es ideale Ferien gewesen , wenn nicht die Sportwettprüfung in der Schule als dräuende Wolke an dem sonnenhellen Horizont gestanden hätte .
Diese Wolke wuchs und wuchs ; immer näher rückte der Tag heran , auf den sich all die Mitschülerinnen freuten , und als Leni sich eines Abends ins Bett legte , da verkündete sie mit düsterer Stimme :
" Ich plumpse mit tödlicher Gewißheit morgen rein ! "
Ein wolkenloser Oktobertag zog herauf .
" Ihr gebt mir das letzte Geleite , " scherzte sie mit Galgenhumor , als sie im vorgeschriebenen weißen Matrosenkleid , von Tante Jane , der Miß , Lizzie und Bobby begleitet , sich auf den Weg machte .
Die Angehörigen der school-girls waren zu der Prüfung geladen .
Onkel Richard konnte sich nicht freimachen .
Auf dem halb mit Asphalt , halb mit Rasen gedeckten Schulhof standen Stühle für die Zuschauer .
Also die würden alle Zeuge ihrer Blamage werden !
Nur Mut , die Sache würde schon schief gehen !
Leni verabschiedete sich , um sich zu ihrer Klasse zu begeben .
" Good Luk ! "
Lizzies und Bobbys Wünsche begleiteten sie .
Mai , Eveline und Gerty nahmen sie in ihre Mitte ; das muntere Geplauder der jungen Mädchen , ihr aufgeregtes Vermuten und Wetten steckte selbst Leni an .
Ihr trübseliges Gesicht klärte sich auf .
Mit großen Augen betrachtete sie die seltsamen Vorbereitungen , die Miß White und Miß Sorry betrieben .
Nanu , jetzt schütteten sie ja sogar einen Berg Kartoffeln auf die Erde !
Sollten hier etwa Teuften gebuddelt werden ?
Leni fand ihren Humor wieder .
Da sah sie , wie Mrs. Smith , die Schulvorsteherin , durch die Reihen des Publikums schritt , um die ihr bekannten Mütter ihrer Zöglinge zu begrüßen .
Herrje , nun würde wahrscheinlich auch die dumme Geschichte mit Monsieur ausgegraben werden !
Wenn Mrs. Smith damit anfing ?!
Es war wieder um Lenis fröhliche Unbefangenheit geschehen .
Das schrille , durchdringende Läuten der Schulglocke machte ihrer Besorgnis und dem leisen Gesumme der durcheinander flüsternden Stimmen ein Ende .
Aller Augen richteten sich aus den Rasenplatz .
Die Wettprüfung begann .
Zuerst die Kleinen .
Du mein , die ganz Lütten aus dem Kindergarten waren ja auch dabei !
Leni mußte ordentlich den Hals recken , um die winzigen Dingerchen überhaupt zu sehen .
Eine Lehrerin aus der infant-school leitete die Prüfung .
Nun erfuhr Leni auch , wozu die Kartoffeln dienten , und der deutsche Backfisch mußte über diese Übung laut lachen ; sie war aber auch zu " rappelköppsch " .
Man band das rechte Bein eines kleinen Mädchens und das linke eines anderen zusammen , immer zwei Kinder miteinander , daß sie sich nur gleichmäßig fortbewegen konnten .
Dann ertönte laut das Kommandowort : " Are you ready ?
Go ! "
Nun mußten die armen gefesselten Gören möglichst flink zu einem Tisch laufen , dort ein löffelartiges Gerät herunternehmen , zu dem Kartoffelberg eilen , drei Kartoffeln aufschaufeln und diese eine Strecke weit bis zum Ziele tragen .
Wehe , wenn eine Kartoffel bei dem eiligen Laufen hinpurzelte oder die kleine Trägerin gar selber durch das an die Genossin gebundene Bein fiel !
Endloses Lachen erwartete sie , wenn sie sich aus dem weichen Gras erhob .
Lautes Ausrufen der Namen verkündete die beiden Siegerinnen , die zuerst das Ziel erreicht hatten ; das Publikum klatschte und schrie " Hurra ! "
Die beiden stolzlächelnden Kleinen aber wurden zu einem Tisch mit Preisen geführt und nahmen mit einem seligen Knicks je ein Bilderbuch entgegen .
Monsieur verteilte die Preise .
Leni verzog die Lippe ; er würde nicht in die Verlegenheit kommen , ihr einen reichen zu müssen .
" Go ohne ! "
Die zweite Abteilung , die Unterstufe der Schulklassen , war jetzt an der Reihe .
Auch bei dieser Übung kam es lediglich auf Schnelligkeit und Geschicklichkeit an .
Aus einem Grashaufen mußten Knöpfe herausgegraben werden ; war dieses Kunststück vollbracht , so liefen die kleinen Girls ein Endchen weiter .
Dort mußten sie eine Nadel von einem aus die Erde gebreiteten Tuch aufraffen ; wieder ein Stück davon gab es den Faden , und am Endziel lagen bunte Flicken .
Der Knopf war nun in aller Geschwindigkeit auf den Flicken zu nähen .
Lautes Hurrageschrei lohnte wieder dem gewandtesten kleinen Mädchen .
So ging es weiter , von Klasse zu Klasse .
Lenis Wangen hatten sich gleich denen ihrer Freundinnen tiefer gefärbt ; die Aufregung war groß .
Die erste Klasse kam jetzt an die Reihe .
Gerty oder Anny , wer würde im Tennis siegen ?
Pfundweise hatte man um Bonbons und Schokolade gewettet .
Ein bitterer Kampf entbrannte zwischen den beiden Backfischen , das Tennisturnier gestaltete sich unglaublich erregend .
Im Publikum trampelte man und rief : " Gerty will geht it - Oh no , Anny , I sei ! "
Dann wieder eine Pause atemlosen Schweigens , bis schließlich laut der Name " Gerty Newton " erscholl .
Glückwünschend drängten sich die Freundinnen um die hellblonde Irländerin .
Leni war so bei der Sache , daß sie vollständig vergessen hatte , daß sie ja nun aufs Schafott , das heißt auf den tennis-lawn , mußte .
Sie machte es ihrer Gegnerin Mai nicht allzu schwer ; die Bälle hatten die boshafte Eigenschaft , meist dahin zu fliegen , wo Leni gerade nicht war .
Mai gewann ihre sechs Gams glatt hintereinander .
Diese Niederlage nahm sich Leni aber gar nicht sehr zu Herzen .
Sie war mit allen ihren Gedanken schon bei der nächsten Übung .
Die Angst überkam sie , wenn sie nur daran dachte .
Sie sah sich bereits vom Rade heruntersegeln und hörte schon das spöttische Gelächter des Publikums .
Sie hatte das Radfahren erst hier in London erlernt und es zu keiner hervorragenden Meisterschaft darin gebracht .
Aber was half_es ?
Sie mußte hinauf auf das Stahlroß .
Wenn es nur nicht tückisch wurde und sie abwarf !
" Are you ready ?
Go ! "
Auf dem Asphalt wurden Achten gefahren , immer um eine Tafel herum .
Eins , zwei , drei , vier , fünf - noch saß sie oben - sechs , sieben , acht - wenn das Nickel nur nicht so enfamtig kippeln wollte ! neun , zehn , elf - jemine , das Publikum fing schon an , sich vor ihren Augen zu drehen - zwölf - lag sie denn noch nicht unten ? - - - Da - lautes Siegesgeschrei !
" Mai Gamble , " ertönte es von Miß Whites Lippen , welche die Siegerinnen aufschrieb .
Mai hatte bereits ihre zwanzig vorgeschriebenen Achten geradelt , und vom Rad aus an die Tafel die Zahlen von eins bis zwanzig angeschrieben .
Ob das Rad auch noch so sehr wippte , sie saß fest darauf , wie mit ihm verwachsen .
Leni küßte sie innig ; Mai hatte ihr durch ihren schnellen Sieg den größten Freundschaftsdienst geleistet .
Bei dreizehn , der Unglückszahl , wäre sie bestimmt zur Erde gerasselt .
Die letzte Übung hatte keine Schrecken mehr .
Es war Distanzrennen mit Hindernissen .
Leni fühlte sich so selig , sich nicht blamiert zu haben , daß sie förmlich über die Erde flog .
Es war ihr , als wenn sie daheim mit Karl Heinz und Cäsar den Windmühlenberg hinuntersauste ; sie wußte gar nicht mehr , daß ihre Füße den Boden berührten .
" Ellen Sürsen ! "
Laut und durchdringend traf die Stimme der Oberlehrerin ihr Ohr .
" Hurra - Hurra ! "
Klatschen und Trampeln ; Bobby gebärdete sich wie toll .
Leni hielt noch immer den Stab umklammert , der erreicht werden mußte .
Sie war ganz betäubt .
Erst als die weit im Felde gelassenen Mitschülerinnen ihr voll neidloser Bewunderung die Hand schüttelten und sie im Triumph zum Prämientisch führten , wurde sich Leni des großen Augenblickes bewußt .
Tante Jane und die Miß winkten ihr zu ; Lizzie warf Kußhände , und Bobby klatschte noch immer .
Was war das alles aber gegen das triumphierende Gefühl , daß Monsieur ihr jetzt doch noch einen Preis reichen mußte !
Nichts in der ganzen Welt hätte Leni gegen diesen einen Augenblick eintauschen mögen .
Die Prüfung war zu Ende .
In der Vorhalle der Schule reichte man Törtchen und Limonade .
Lizzie , Tante Jane und Miß Brown umgaben stolz ihre Ellen und bewunderten den Siegespreis , das in Prachteinband gebundene Buch " Midsummernights Dream " .
Bobby aber war verschwunden .
Doch als die junge Siegerin nun glückstrahlend nach Hause kam , da prangte in ihrem Zimmer ein herrlicher Rosenstrauß .
Man riet und vermutete .
Leni aber ahnte sogleich den heimlichen Geber .
Ja , sie und Bobby waren jetzt miteinander gut Freund !
Tanzstunde .
Auf - - - ! "
Leni keuchte förmlich vor Anstrengung .
Wieder begann sie in dem dickleibigen English Dictionary zu blättern .
Ach , da standen eine Menge schöner Wörter drin , aber das , was Leni suchte , Gedanken , die fand sie auch dort nicht !
Tiefsinnig begann sie an ihrem Federhalter zu kauen .
Dieser verflixte Aufsatz !
Wieviel Kopfzerbrechen , ja sogar Tränen , hatte er Leni schon gekostet !
Und gut sollte er werden !
Mrs. Smith hatte eine vorteilhafte Meinung von Lenis Leistungen ; die durfte sie nicht zuschanden machen .
Sie hatte es ja noch viel schwerer als die anderen alle , denn wenn sie auch die englische Umgangssprache beherrschte , in der Schriftsprache haperte es doch noch oft , und vor allem die Orthographie war ihre persönliche Feindin .
Als ob alles darauf angelegt sei , ein armes deutsches Backfischchen irre zu führen !
Selten schrieb man ein Wort so , wie man es sprach .
Leni beugte sich ergebungsvoll wieder zu ihrem Schmerzenskind hinab .
" Albert Memorial " prangte als Überschrift auf dem großen weißen Bogen .
Auch einen ganzen Satz hatte Leni schon über dies ergiebige Thema sich abgerungen ; aber nach einer halbstündigen Überlegung war er mittels eines dicken Tintestriches von ihrer Gedankenprüfungskommission abgelehnt worden , und nun war sie gerade so klug wie zuvor !
Wenn sie nur wenigstens erst den Anfang hätte !
Der Schlußsatz stand bereits fix und fertig in ihrem heute recht wüssten Kopf ; na und die Mitte - ei , die mußte sich doch dann ganz leicht dazwischenfügen lassen !
Dreimal war sie mit ihren Freundinnen im Hydepark gewesen , um Studien zu machen .
Aber sie hatten ihre Aufmerksamkeit mehr den vornehmen Ladies zugewandt , die auf der Rotton Row ritten , als den vier steinernen Ladies , die den Sockel des Albertdenkmals schmückten und den eigentlichen Gegenstand des Aufsatzes bildeten ; und die Vögel im Hydepark , die so zahm und zutraulich waren , daß sie den jungen Mädchen das Futter aus der Hand pickten , waren ihnen tausendmal more interästig als die symbolischen Ziergestalten , welche den die Erdteile darstellenden Frauenfiguren beigegeben waren .
Ärgerlich warf Leni ihren Federhalter auf den Tisch ; er spritzte einen düsteren Tintenregen auf das unschuldig weiße Papier .
Was gingen sie denn überhaupt diese fremden Frauenzimmer mit ihren Steintieren an !
Sie verschränkte die Arme auf das Pult , legte ihren gemarterten Kopf darauf und weinte bitterlich .
Kein Mensch , der ihr half !
Tante Jane hatte tea at Bondstreet , und Lizzie war mit der Miß spazieren .
Sie schrak wieder empor .
Du meine Güte , sie durfte ja nicht weinen !
Heute abend war ja die erste Tanzstunde !
Wenn sie da nur nicht verheult aussah !
Eilig lief sie zum Spiegel .
Richtig , rote Ränder hatte sie schon von den Tränen bekommen !
Sie begann eifrig die Augen zu kühlen .
Die Tanzstunde war doch wohl ein bißchen wichtiger als dieses Rackertüg von Aufsatz !
Merkwürdig !
Jetzt , da sie gar nicht an den Anfang denken wollte , wußte sie ihn plötzlich - oder wirkten die kalten Umschläge wohltuend auf ihren erhitzten Kopf ?
Ja , ja , so ging_es !
Man tau !
Mit fliegender Hand ließ Leni die Feder über den Bogen rascheln .
Satz reihte sich an Satz .
Uje , der letzte , über die vier Tiere , der war aber Mal schön !
Ohne Pause schrieb Leni , ohne Punkt und Komma .
Ihre Wangen glühten , die Augen blitzten , und das Papier knisterte .
Jetzt war sie in den weiten öden Sandwüsten der Sahara ; hops , ein Federsprung , da setzte sie über die chinesische Mauer .
Flink in ein japanisches Haus hineingelugt , und nun von dem firnschimmernden Himalajagebirge mit einem einzigen Schritt nach Norden in die sibirischen Steppen .
Die große Weltreise begann Leni ordentlich Spaß zu machen .
Auch Amerika wurde durchstreift .
Bloß Europa , Europa !
Daß einem das Nächstliegende doch oft die größten Schwierigkeiten macht !
" Der schönste Teil in Europa ist Mecklenburg . "
Das prangte als unumstößliche Wahrheit bereits auf dem geduldigen Papier .
Aber nun weiter !
" Europa ist der zivilisierteste der Erdteile . "
Na , das war doch eigentlich was Selbstverständliches ; das wußte Mrs .
Smith so gut wie sie .
Nee , nee , das brauchte sie ihr nicht erst zu erzählen .
Europas Zivilisation wurde mit einem Strich vernichtet .
Es half nichts , sie saß fest , mitten in Europa !
Der heimatliche Erdteil war " steinpöttig " ; der ließ sich nicht so gefügig nach dem Willen eines Backfisches kneten wie die anderen .
Na , denn eben nicht !
Dann kam er zur Strafe jetzt überhaupt nicht mehr daran .
Für heute hatte sie sich doch wirklich genug angestrengt .
Sie blätterte die fünf dicht beschriebenen Seiten zurück und erquickte sich noch einmal an ihren Geisteskindern .
Der Rest mochte bleiben ; morgen kam auch noch ein Tag .
Zudem war es ja allerhöchste Zeit , sich für die Tanzstunde anzukleiden !
Da kam auch die Miß mit Lizzie zurück ; die konnten ihr Kammerjungferdienste leisten .
Sie begann ihre Sachen auszulegen .
Die neuen Lackschuhe - süß waren die !
Wenn sie man bloß nicht drückten !
Die durchbrochenen Strümpfe und schließlich das Kleid .
Ein häßliches Gefühl wollte sich Lenis bemächtigen .
Das " olle weiße Kleid " , nicht Mal reinigen hatte es die Tante lassen ; nicht Mal das hatte sie daran gewendet !
Der dumme Bobby ; ohne den könnte sie jetzt gerade so ein feines Mullkleid anziehen wie ihre Freundinnen !
Hätte sie ihm das Geld doch bloß nicht - - - !
" Pfui , Dirn , nein , was bist du schlecht ! " sagte Leni plötzlich laut zu sich selber und errötete heiß über den abscheulichen Gedanken , auf dem sie sich ertappte .
Sie war ja auf dem besten Wege dazu , ein Zieraffe zu werden !
" Nee , Vating , nee ! "
Wie beteuernd strich sie über das alte weiße Kleid .
" Ellen , come to Diner , wir essen heute früher , " rief die Miß von unten herauf .
" O , Miß Brown , ich bin gar nicht hungrig !
Ich gehe doch zur Tanzstunde ; da brauche ich wirklich nichts zu essen . "
" Aber Ellen , vom Tanzen wird man nicht satt , du silly girl !
Komme , Kind , at once ! "
Miß Brown schlug kraftvoll das Gong .
Früher , in Nedderdorf , da hätte der Himmel auf die Erde stürzen können , Leni hätte ihr Mittagbrot trotzdem mit Gemütsruhe vertilgt , und hier ?
Einer " lumpigen " Tanzstunde wegen würgte sie an jedem Bissen !
Sie schalt sich selbst .
Daran waren bloß ihre Freundinnen schuld !
Die lebten und webten ja jetzt nur noch in den zukünftigen Freuden der dancing-lesson .
Diese fand in der boarding-school von Mrs. Smith statt .
Die Schulvorsteherin veranstaltete sie jeden Winter für ihre Pensionärinnen ; die Schülerinnen der ersten Klasse durften ebenfalls daran teilnehmen , und auch deren Brüder und Vettern .
Ja , das war der Haken bei der Sache !
Leni hätte es viel gemütlicher gefunden , wenn die ollen Jungs nicht dabei gewesen wären .
Na , wenigstens hatte Onkel Richard noch erlaubt , daß Bobby sich beteiligen durfte ; der würde schon mit ihr tanzen , wenn sie sitzen blieb .
Denn daß sie Mauerblümchen spielen würde , stand bombenfest bei Leni - mit dem " ollen weißen Kleid " !
Es ging heute gar nicht so feierlich bei Tische zu wie sonst .
Ja , als die Tante nach Hause kam , die erst später speiste , ließ sie sich sogar die Miß herausrufen ; und als Miß Brown zurückkehrte , blinzelte Bobby , der am Sonnabend stets beim Dinner zugegen war , ihr verstohlen zu .
Was hatte der Junge denn zu blinken ?
Auch Lizzie " grieflachte " verlegen , als Leni sie darauf aufmerksam machte .
" Na , meinetwegen , " dachte Leni , " ich bin kein bißchen neugierig : nur wissen möchte ich , was sie eigentlich haben ! "
" Ellen , there is no time to bei lost ; du mußt dich jetzt anziehen , " drängte die Miß , als Leni mit tiefsinnigem Gesicht sich noch immer überlegte , was wohl das " Blinken " bedeuten könne .
Leni machte Toilette ; sie flatterte vor Geschäftigkeit förmlich im Zimmer umher .
Der Tausend , da riß noch das Unterrockband !
Fix zusammengeknotet , ehe die Miß es sah .
Mamsell Liederjan hatte den kleinen Schaden schnell ausgebessert .
Die Miß frisierte sie ; mattrosa Seidenbänder wand sie in Lenis dunkles Haar .
" O Leni , ich muß dir einen Kuß geben ; du wirst sicher die Schönste sein , " jubelte Lizzie .
Leni schien nicht recht davon überzeugt .
" Well , nun drehe dich um , Ellen , daß ich dir das Kleid überwerfen kann . "
Leni machte Gehorsam kehrt .
" Leiwer Himmel , was ist denn das ? "
Leni fühlte an sich hinunter ; sie kniff sich in den Arm , ob es vielleicht nur ein Traum sei .
Nein , sie wachte !
Das duftigste , zarteste , weiße Mullkleid mit Spitzeneinsätzen , das sie sich jemals ersehnt hatte , umfloß sie ; eine breite rosa Schärpe schlang Miß Brown ihr um die Taille .
" Ach ! "
Mit einem hellen Jubellaut fiel sie der Miß um den Hals .
O Leni , du wirst sicher die Schönste sein !
Die aber schob sie zur Tante , die mit Lizzie an der Tür stand , und sich an der gelungenen Überraschung weidete .
" Es ist genau nach dem Kleid deiner Freundin Mai gearbeitet , Ellen ; nun zeige Mal , ob die Schneiderin es getroffen hat , " sagte Tante Jane lächelnd .
Leni aber war noch nicht in der Verfassung , sich betrachten zu lassen .
Erst mußte sie die Tante in glückseliger Dankbarkeit einige dutzendmal umarmen .
Dann kam Lizzie an die Reihe , und schließlich kriegte sie die Miß vor lauter Freude rundum zu fassen und drehte sich mit ihr die Stube auf und ab .
" Ellen , du drückst dein Kleid ! Ellen - stop - ich kann nicht mehr ! " ächzte die arme Miß ; da ließ Leni sie endlich frei .
Nun ging das Bewundern los .
" Dear me ; indeed , you look sweet , Leni ! "
Lizzie drehte sie mit strahlendem Gesicht wie eine Puppe herum .
Auch Leni fand sich " Sweet " .
Woher mochte die Tante bloß Wind von ihrem Wunsch bekommen haben ?
Tante Jane lächelte geheimnisvoll auf alle Fragen Lenis , aber als ihr jetzt unten in der Hall Bobby entgegen kam , und über das ganze sommersprossige Gesicht " griente " , da " markte Leni Mus " , wie man daheim an der Waterkant sagte .
Ja , Bobby hatte sich seiner Mutter anvertraut und seine Schuld gebeichtet , damit Ellen durch ihn nicht um das neue Tanzstundenkleid kommen sollte !
Stumm reichte ihm Leni die Hand .
Ordentlich " Schmuck " sah der Jung heute aus , in dem kurzen schwarzen boy-jacket !
Nein , und wie nüdlich er sich die weiße Krawatte geknüpft hatte !
Donnerkiel , jetzt preßte er ja sogar seine großen Tatzen in hellgelbe Glaces !
" Oh , my gloves ! " rief Leni plötzlich , als sie eben in den Wagen steigen wollte ; die Handschuhe hatte sie natürlich vergessen .
Dann saß man endlich zusammengepfercht in dem handsome-cab , obwohl die Miß sehr wenig Platz einnahm und Leni sich ihres neuen Kleides wegen überhaupt nicht hinzusetzen wagte .
Aber sie war in fröhlichster Stimmung .
Alle Mauerblümchenbedenken waren mit dem Mullkleide gewichen .
Wenn sie nur noch blonde Haare gehabt hätte !
Sie fand braune schrecklich unfein ; das war ihr einziger Kummer .
Aber als sie nun den hellerleuchteten Schulsaal betrat , und auf der einen Seite all die weißgekleideten jungen Mädchen und auf der anderen die sich an der Wand herumdrückenden boys gewahrte , da wurde ihr doch recht feierlich zumute .
Auf dem blankgewachsten Fußboden ging sich es wie auf Eiern .
Du mein , wenn sie bloß nicht vor allen Leuten hier eine Rutschpartie machte !
Denn auch verschiedene Mütter hatten sich eingefunden und blickten angelegentlich herüber , ob ihr Töchterchen auch gerade so fashionable aussah wie die anderen Girls .
Erst eine Verbeugung vor Mrs. Smith .
Leni klammerte sich aus Angst , dabei auszurutschen , so fest an die Hand , welche die Vorsteherin ihr huldvoll reichte , daß Mrs. Smith die gequetschten Finger erst wieder in Ordnung streichen mußte .
Dann wurde sie einem kleinen beweglichen Herrn vorgestellt ; das war der Dancing-Master .
Noch eine Verbeugung vor Miß Sorry , dann konnte Leni endlich zwischen ihren Freundinnen Platz nehmen .
Sorgsam , wie sie es von den Landschönen beim Erntefest her kannte , schlug sie den feinen weißen Mullrock hoch , um ihn beim Sitzen nicht zu " verdrücken " .
Die anderen Backfischchen kicherten und steckten die Köpfe zusammen .
Mai und Gerty aber sprangen entsetzt auf und stellten sich als eine undurchsichtige Mauer vor die mit ihrer weißen Mullwolke zwei Stühle einnehmende Leni , die harmlos und vergnügt zu ihnen aufblickte .
" Habt ihr euren Aufsatz schon ? " fragte sie nichtsahnend .
" Good gracious , Ellen , tu das Kleid herunter !
Man lacht dich aus , " flüsterte Mai ihr erregt zu .
" Ach nee ! "
Leni sah sich verwundert um , aber sie tat doch , wie Mai befahl .
Wie gut , daß die Miß von einer bekannten Dame in ein Gespräch verwickelt worden war !
Das hätte erst bloß noch einen " Transch " gegeben .
" Ladies and gentlemen , come along ! " ertönte jetzt die Stimme des Dancing-Master .
Die Girls stellten sich in eine Reihe , ihnen gegenüber die boys .
Zu dämlich !
Charles Edward Gamble , den Leni seit der Geschichte mit Bobby nicht mehr ausstehen mochte , stand ihr gegenüber .
So nett seine Schwester Mai war , so greulich fand sie den Jungen !
" Attention , ladies ! "
Leni lachte laut auf ; der Tanzmeister hatte die langen " Slippen " seines Fracks ergriffen und machte den Backfischchen eine zierliche Verbeugung .
Er warf einen etwas erstaunten Blick auf die sich das Taschentuch gegen den Mund pressende Leni ; dann begann er zu zählen .
Bei " three " versanken die jungen Mädchen .
Die Verbeugung gelang glänzend ; damit hatte Miß Sorry sie ja in der Graziestunde genügsam gezwiebelt .
Nun kamen die " Herren " heran .
Die stellten sich bedeutend ungeschickter an als die Mädchen , besonders ein Knirps mit einem Babygesicht konnte bei der Verbeugung durchaus nicht das Gleichgewicht behaupten .
Die boshaften Girls stießen sich heimlich an , Leni aber sah mitleidig zu dem armen verlegenen Kerlchen hinüber .
Sie konnte ihm das gut nachfühlen .
" Ladies and Gentlemen , Verbeugung ! " befahl der Dancing-Master .
Charles Edward ließ den Kneifer von der Nase fallen , schlug die Hacken zusammen und machte Leni seine Verbeugung .
Leni blieb aufrecht stehen und nickte hoheitsvoll .
Das sollte ihr fehlen , vor dem Jung da einen Knicks zu machen !
" Miß - Miß - wie heißt denn die junge Miß dort ? "
Der Dancing-Master tänzelte zu ihr herüber .
" Sie haben die Verbeugung vergessen .
Once more ! "
Die Sache begann von neuem .
Wieder blieb Leni stocksteif stehen .
" Aber ich muß doch sehr bitten " der kleine Herr geriet in Aufregung - " warum machen Sie keine Verbeugung ? "
" No - I tont like it - vor Charles Edward Gamble mache ich keinen Knicks ! "
Leni trat sogar ein klein wenig mit dem neuen Lackschuh aus .
Der Tanzmeister ließ das Warum unerörtert .
Charles Edward , der wütend an dem Vierteldutzend Härchen auf seiner Oberlippe zupfte , bekam eine andere Partnerin , und der Tanzmeister selbst stellte sich Leni gegenüber , die Verbeugungen klappten jetzt tadellos !
Man ging zum Polka- und Walzerschritt über .
Leni begann zu gähnen .
Die Geschichte war ja schauderhaft langweilig ; sie hatte etwas ganz anderes erwartet .
Polka und Walzer , das brauchte sie doch nicht erst zu lernen ; den hatte sie als lüttes Gör schon mit der Mamsell , mit Dörthe , Gusting , Kerlin und Mining daheim in der großen Küche getanzt , und bei der Aust sogar mit Jürgens !
Nee , das war gut für die , welche noch nichts konnten ; sie wollte sich die Sache auf eigene Faust man ein " bisschen pläsierlicher " gestalten .
Eins - zwei - drei - hatte sie die neben ihr stehende Gerty um die Taille gefaßt und wirbelte mit ihr zur Erheiterung der Zuschauer allein in dem Schulsaal herum .
Miß Sorry bekam sie beim Vorbeitanzen zu fassen .
" Ellen , dear me , hier wird nicht außerhalb der Reihe getanzt !
Mädchen , mußt du denn immer etwas Besonderes haben ? "
Die Deserteurin wurde wieder eingeliefert und mußte nun gleich den anderen den Walzerschritt scharren .
" Wie unsere Hennen im Geflügelhof , " flüsterte Leni aufgebracht ihrer Freundin zu .
Tanzpause .
Die Mädchen hatten sich wieder in eine Ecke zurückgezogen , und die Jungen standen in der entgegengesetzten .
Sie wagten sich noch nicht recht näher .
Zu spaßig !
Da hatten doch die Mecklenburger Jungs viel mehr Courage !
Ziemlich einsilbig machten sie ihrer Torte den Garaus , bis auf Charles Edward ; der hatte , trotzdem er zu Hause von jedem Kuchen und jeder Torte naschte , es für unmännlich gehalten , Süßigkeiten wie die anzunehmen .
Mit unnachahmlicher Grandezza steckte er sich eine Zigarette zwischen die Lippen und begann keck darauf loszupaffen .
Die anderen sahen ihm scheu bewundernd zu .
Aber diesem Genuß , der eigentlich gar keiner für ihn war , wurde ein jähes Ende bereitet .
Mrs. Smith trat zu ihm heran und ersuchte ihn , die Zigarette fortzulegen .
Galant leistete er Folge .
" Da you mind my Smoking ? " fragte er wie ein erwachsener Herr .
" Oh Yes , indeed ! "
Mrs .
Smiths Stimme klang laut durch den Saal .
" Ich glaube , Sie sind noch zu jung zum Rauchen . "
Charles Edward bis sich auf die Lippe .
Diese Blamage , und wie die little girls dort drüben lachten !
Ja , die hatten viel zu lachen , zu flüstern und zu kichern .
Aber auch ernste Dinge von höchster Wichtigkeit beriet man in der Tanzpause .
Mai , Gerty , Eveline und Leni , die vier Besitzerinnen der weißen Mullkleider mit rosa Schärpen , gründeten einen circle .
Alle Woche sollte er abwechselnd bei den einzelnen Tagen .
Über den Zweck des Kränzchens wollte man im ersten circle beratschlagen .
Ob man lesen , plaudern , Sport oder Handarbeiten treiben würde , darüber konnte man sich vorläufig noch nicht einigen ; so viel Köpfe , so viel verschiedene Meinungen .
Leni taufte das Kränzchen auf den Namen " Schärpenbund " .
Jedes Mitglied dieses Bundes hatte als stetes Abzeichen ein rosa Schleifchen an sich zu tragen .
Aber auch ein geheimes Erkennungszeichen war unbedingt notwendig ; ohne dieses konnte der Schärpenbund nicht bestehen .
Die Backfischchen schlichen sich in die Garderobe und begannen dort eifrig zu flüstern .
Schließlich einigte man sich .
Wollte man dem anderen ein Zeichen geben , so hatte man mit der rechten Hand sein eigenes linkes Ohrläppchen zu ziehen , und wenn ernstliche Gefahr im Anzuge war , sollte ein Vorschlag der etwas überspannten Eveline in Kraft treten : die Hände über die Brust gekreuzt wie ein Muselmann , und dann den Oberkörper dreimal tief nach vorn geneigt !
Das war ein in jeder Hinsicht vorzügliches Zeichen .
Es sollte natürlich sogleich probiert werden , aber aus dem Nebensaal ertönte die Stimme des Tanzmeisters : " Ladies and Gentlemen , come along ! "
Sie mußten wieder hinein .
Schnell noch jeder drei Küsse , um die strengste Geheimhaltung zu geloben .
Dann nahmen auch die Schärpenbündlerinnen unter Polkaklängen ihren Platz in der Schlachtordnung des Dancing-Master ein .
Wieder zuerst die langweiligen Schrittproben ; dann endlich ging man zum ersten Polkatanz über .
Herzklopfend saßen die Girls auf ihren Stühlen .
Sitzen bleiben ?!
Jedes Backfischherz empört sich gegen diesen Gedanken ; selbst Leni war ein wenig beklommen zumute .
Charles Edward hatte in seinem Ärger über Leni die Parole ausgegeben , Ellen Surfen nicht aufzufordern , aber die Jungen kehrten sich nicht daran .
Ellen Surfen , the pretty girl ?
Oh no !
Bobby kam als erster , sie zum Tanz zu bitten .
Er tanzte gut ; nur war er schrecklich lang .
Leni mußte sich den Arm ausrecken , um an seine Schulter hinanzureichen ; er verlor sie fortwährend beim Tanz .
Als er schließlich ihren Arm durch den seinigen zog , um sie zum Platz zurückzugeleiten , riß sie sich hastig von ihm los .
Nee , das war denn doch zu albern !
Sie konnten doch jedes für sich gehen !
Auch mit seiner Unterhaltungsgabe fand Bobby bei Leni nur geringen Anklang .
" Findest du nicht , Ellen , eine Tanzstunde ist das schönste Ding auf der Welt ? "
" Nee , " antwortete Leni lakonisch .
" Charles Edward hat sich doch vorhin mit dem Rauchen like a Gentleman benommen , tont you Thing so ? "
" Wie ein Gernegroß ! " erklärte Leni .
Bobby schwieg verstimmt .
Dann versuchte er es noch einmal .
" Leni , du bist heute abend die hübscheste von allen ! "
Er sah durch den Zwicker auf sie hinab .
" Quatsch ! "
Leni legte den Kopf schief , zog die Stirn kraus und ahmte Bobbys blinzelnden Blick unwiderstehlich komisch nach .
Aber Bobby erfaßte nicht den Humor der Sache ; mit einer kurzen , etwas grimmigen Verbeugung ließ er sie stehen .
Leni lachte hinter ihm her ; er würde schon wieder gut werden , Kaum saß sie , da wurde sie bereits wieder aufgefordert .
Diesmal war es ein Gegenstück zu dem langen Bobby ; der " Knirps " stand vor ihr , verbeugte sich linkisch und bat stotternd um den Tanz .
Schüchtern legte er den Arm um ihre Taille ; er reichte ihr gerade bis zur Schulter .
Dann begann er , unbekümmert um die Musik , wilde Sprünge zu vollführen ; mit jedem Schritt stießen sie ein anderes Paar an .
Das ging so nicht .
Leni tat das arme Wurm , das sich zum Vergnügen so quälen mußte , herzlich leid .
" Wart , mein Jung , " sagte sie .
Ehe sich der Kleine versah , hatte seine Tänzerin ihn um die schmächtige Figur gefaßt und tanzte als Herr .
Das hatte sie beim Erntefest oftmals getan ; es ging famos !
Der Knirps paßte sich ihrer Führung an und nahm von seinen tollen Sprüngen Abstand , Leni hopste weltvergessen mit ihrem little boy noch im Saal herum , als die Musik längst verklungen war , und die Paare sich getrennt hatten .
Endlich ließ sie das schnaufende Jungchen in einen Stuhl sinken und machte ihm einen tiefen Diener , höchst gentlemanlike !
So gut hatte sie sich den ganzen Abend noch nicht unterhalten !
Der Dancing-Master machte jetzt seine verbindliche Abschiedsverbeugung in die Runde , der Klavierspieler ging auch , und die Tanzstunde war füglich aus .
Aber die Girls bestürmten Ms .
Smith , sie doch noch ein bißchen nachtanzen zu lassen - only half an hour - bis sie lächelnd einwilligte .
Einer der boys setzte sich ans Klavier ; ein lustiger Walzer erklang .
Jetzt wurde es eigentlich erst hübsch .
Selbst Leni war ausgesöhnt .
Ihr Partner war der beste Tänzer ; die anderen boys hopsten greulich bei jedem Walzerschritt .
Leni schwebte graziös dahin .
Sie merkte nicht , daß sich ein angeknotetes Rockband meuchlings löste und weiße Stickereizacken neugierig unter dem Mullkleide vorlugten .
Sie sah nicht , wie Mai sich mit der rechten Hand fast das linke Ohrläppchen abriß , wie Eveline und Gerty ihre Tänzer plötzlich stehen ließen , und sich zu deren Erstaunen mit über die Brust gekreuzten Armen orientalisch vor der vorübertanzenden Leni verbeugten .
Das Warnungszeichen blieb unbeachtet .
Erst als Leni einen Widerstand an ihren Füßen fühlte und die Lackschuhe sich in einem unbekannten Etwas verhedderten , schielte sie nach unten .
O Schrecken !
Da lag der schöne weiße Stickereirock - mit einem Seitensprung war Leni aus der seltsamen Fußfalle heraus .
Verwirrt und verlegen nahm sie den Ausreißer auf , während die übrigen Backfische eifrig tuschelten , und die boys angelegentlich die Saaldecke betrachteten .
Glühend , mit niedergeschlagenen Augen , den Rock unter dem Arm zu einem Klumpen geballt , lief sie an den vielen sich auf sie richtenden Lorgnetten vorbei , dem Ausgange zu , ohne Lebewohl ; nicht einmal Mrs .
Smith bekam eine Abschiedsverbeugung .
Die Miß , die in ihrer unbeschreiblichen Entrüstung gleich Bobby bereits die Tür gewonnen hatte und aufgeregt ihre Arme bewegte , um Leni hinauszuwinken , erwartete das enfant terrible .
Stumm nahm sie ihren Pflegling in Empfang , Auch Bobby sprach keinen Ton .
Das gab eine schwüle Rückfahrt .
Endlich brach Leni das Schweigen , Scham und Trotz rangen in ihren Worten .
" Ich kann doch nicht dafür , wenn der dumme Unterrock rutscht , " sagte sie weinerlich .
Die Miß würdigte sie keiner Antwort ; die Blamage würgte ihr die Kehle zusammen .
Sie sparte sich ihre Strafpredigt für den nächsten Tag auf .
Bobby aber , mit dem sie einst Mitleid gehabt hatte , vergalt Gleiches mit Gleichem .
Er ergriff Lenis Partei .
" Wirklich , Leni kann nichts dafür !
Es war nicht ihre Schuld ! " begütigte er .
Leni jedoch wußte sehr wohl , daß es ihre Schuld war , und von diesem denkwürdigen Tage an nähte daher Mamsell Liederjan jedes lose Band , jeden lockeren Knopf sogleich fest .
Sie dachte immer an ihre erste Tanzstunde .
Landregen .
Es goß in Strömen , von morgens bis abends , und von abends bis morgens - unaufhörlich .
Mit geradezu verblüffender Ausdauer rauschte das schmutziggraue Naß hernieder , bald hart und prasselnd , vom Winde gepeitscht , als ob man Säcke von Erbsen gegen das Fensterglas schütte , bald gleichmäßig , sanft und friedlich , voll tödlicher Eintönigkeit .
Dickgeschwollene , düstere Wolkensäcke hingen bewegungslos über der vernebelten Landschaft .
Grau der Himmel , grau das Dorf und die Äcker , schmutziggrau Hof und Scheune , und grau die Sonne .
" Hu - ah - ha - uh - " Mary gähnte vernehmlich - " ich langweilige mir ! "
Keiner der im Zimmer Anwesenden nahm Kenntnis von ihrem trostlosen Ausruf ; sie hatten ihn , seitdem der Landregen einsetzte , jeden Tag wohl ein dutzendmal mit anhören müssen .
Er machte keinen Eindruck mehr .
Fräulein hielt die zerlöcherten Kinderstrümpfe prüfend gegen das fahlgelbe Tageslicht , Karl Heinz saß bei seiner Schnitzarbeit , die Zwillinge brachten Regenwürmer in einer alten Zigarrenkiste unter , und klein Suschen tappelte von einem zum anderen .
Einträchtig schauten sie beide durch die bespritzte Scheibe in den vereinsamten Hof hinaus .
Jetzt kam sie zu Mary , und zupfte sie an dem Rock .
" Mische - mehmen - Arm - " befahl sie .
Das junge Mädchen beugte sich mit einem tiefen Seufzer hinab und stellte das kleine Ding auf das Fensterbrett .
Einträchtig schauten sie beide durch die bespritzte Scheibe in den vereinsamten Hof hinaus .
Einem großen trüben See glich der sonst so belebte Gutshof ; kein Mensch , soweit das Auge reichte .
Das dumpfe Brummen der Kühe drang nicht durch die geschlossenen Stalltüren ; das Federvieh hockte , den Kopf unter einem Flügel , eng zusammengeschart auf der Hühnerstiege .
Nicht einmal Cäsar war zu bewegen , seine Hütte zu verlassen ; dies Hundewetter war selbst für einen Hund zu schlecht !
" Hottehü ! " sagte Suschen und wies nach außen .
Mary folgte ihrem Finger .
Das Scheunentor hatte sich geöffnet ; alle zehn Sekunden erschien in dem halbdunklen Torweg ein Pferdekopf .
Ringsherum , immer im Kreise , bewegten sich die vier Ackergäule ; sie trieben die Dreschmaschine , Einförmig und gleichmäßig trotteten sie in der Runde einher , tauchten auf und verschwanden wieder , eintönig , einschläfernd , grau und schemenhaft gleich dem Regen draußen .
Und wie mit der grauen Landschaft verwachsen , erschien jetzt in der Scheunentür Jürgens grauer Flausrock .
Das kurzstummeliche Pfeifchen im Mundwinkel , spähte der alte Knecht in die sich kaum verschiebenden Wolken .
" Was 'n echter , rechter Landregen is , de dort sine acht Dag , " hatte Jürgens in tröstlichem Tone zu Mary gesagt , als sie ihn nach den ersten vierundzwanzig Stunden eifrig befragte , ob es denn noch nicht bald aufhöre .
Jürgens und der Hahn galten als Wetterpropheten auf Nedderdorf : beide waren gleich zuverlässig .
" Das wurde wohl noch 'n lütten Stremel so bi bliwen , " hieß es seitdem jeden Tag .
Heute aber , als Mary ihn wieder bestürmte , hatte Jürgens sich bedenklich den Kopf gekratzt und mit einem Achselzucken tiefsinnig bemerkt : " Et kann sin , tat better wurde , kann sin ok nicht ! "
Nun stand Mary hier am Fenster und wartete darauf , daß es besser werde .
Suschen hatte längst schon wieder herumzulaufen verlangt , Mary aber starrte immer noch regenmüde durch das nasse Fensterglas .
Der Lindenbaum , der mit seinen Zweigen vom Garten in den Hof herüberlangte , war fast kahl .
Hu , wie der Wind ihn zauste !
Die letzten braunen Blätter riß er dem alten Gesellen von dem ächzenden Geäst .
Doch , was war denn das ?
Wollte jemand bei diesem Wetter fortfahren ?
Jürgens watete in seinen hohen Schaftstiefeln über den Hof und spannte Peter und Hans vor den Karrenwagen .
Auch Karl Heinz und die Zwillinge waren ans Fenster geeilt : die kleinste Veränderung wurde in diesen Regentagen zum Ereignis .
Karl Heinz öffnete das Fenster .
" Jürgens , " schrie er hinaus , " du bleust ja stecken ! "
" Je , de Pird kommen all durch , "
Jürgens zog den Riemen fester und sah zum Fenster auf .
" Ich möt de Wintersaat afhollen un ok wohl de Brief ; oll Grat grawwelt sich bi das Wieder nicht heraus - je , du vertrackter Racker , da soll einer nicht falsch bi wurden ! "
Damit war die Dachrinne gemeint , die mit ihren lustigen Gießbächlein ihm inzwischen gründlich den Kopf gewaschen hatte .
Das rotbedruckte Schnupftuch erschien auf der Bildfläche ; dann zog Jürgens einen alten Sack über den Kopf .
" Hü - et - ho - hü ! "
Hoch aufspritzte das Wasser ; schwerfällig setzten sich die Braunen in Bewegung .
Die Räder des Wagens versanken tief in dem zähen schlammigen Erdreich ; langsam verschmolz der Karren mit den grauen Wasserschleiern , und alles war wieder eintönig wie zuvor .
Mary kannte den Londoner Fock , wenn die Riesenstadt die Nebelkappe über die Ohren zog , oft wochenlang , aber niemals waren ihr jene Tage so lähmend , so endlos grau in grau erschienen wie hier auf dem Lande .
Sie hatte meist gar nicht acht darauf gehabt .
Die Schule , die Freundinnen , das gesellige Leben im Hause , und das bewegte , abwechslungsreiche Treiben in den Straßen ließen keine Langeweile aufkommen .
Sie verstand es nicht , sich selbst zu beschäftigen .
" Mary , willst du mir Strümpfe stopfen helfen ? " fragte Fräulein freundlich , als Mary untätig bald Karl Heinz bei seiner Weihnachtsarbeit , bald Hänschen und Fränzchen bei ihren zoologischen Untersuchungen zuschaute .
" Oh no ! " Mary schüttelte sich förmlich .
Strümpfe stopfen ?
Das taten nur die Deutschen .
Eine englische Lady stopfte Strümpfe nicht selbst ; dafür gab es ja Maschinen !
" Wie wäre es , wenn du etwas Klavier spielen würdest , " schlug Fräulein wieder vor .
Mary verneinte gähnend .
" Ich habe schon Gespielen zwei Stundens to-day , I tont like more . "
" Vielleicht hilfst du der Tante drunten in der Küche , Mary ; jetzt beim Schlachten kann man fleißige Hände gebrauchen . "
Fräulein mochte das Rekeln und Gähnen des langen Mädels nicht mehr mit ansehen .
" O yes , indeed ! "
Mary band sogleich voll Eifer Fräuleins Schürze um ; das war doch immerhin eine kleine Abwechslung .
Ja , unten in der Küche , da gab es doch wenigstens Leben .
In der Federkammer kauerten die Hofdirnen , sangen und zupften die genudelten Martinsgänse .
Hier wurden große Schinken in die Räucherkammer befördert , dort Leber- und Blutwürste gestopft , Gänsebrüste zu Spickgänsen gerollt , und Riesenkübel mit Sülze und Weißsauer eingekocht .
Das Winterschlachten war im vollen Gange .
" Das ist recht , mein Dirn , daß du helfen kommst ! "
So empfing Tante Lisabeth , die mit einer großen weißen Ärmelschürze angetan , hundert Augen und Hände zu gleicher Zeit zu haben schien , das junge Mädchen .
" Gehe zu Dörthe , die kann dir Arbeit anweisen . "
Dörthe war heute der Mittelpunkt des Ganzen ; sie kannte noch alle die alten Wurstrezepte von der Mutter des jetzigen Gutsherrn her .
" Je , lüttes Fräulein Miß , denn helpen Sei man hier 'n beten mang de Gäus ! "
Dörthe schob ihr einen großen Napf mit Gänseflügeln , Magen , Füßen und Köpfen hin .
Mary sah schaudernd in die Schüssel .
Wie die gebrochenen Gänseaugen sie anstierten !
Ob das am Ende die Gans war mit dem geknickten Flügel , die immer so langsam einhergewatschelt war und so melancholisch geschnattert hatte ?
" No , ich kann nicht !
Sie sehen mir so traurig an ; ich kann keinen bekannten Gans kochen . "
Mary ließ erschreckt das Messer fallen .
Dörthe guckte sie verdutzt von der Seite an .
" Je , denn nehmen Sei man de Pfoten , wenn Sei de Kopp tau gruslig Sünde , lüttes Fräulein .
De Undirt dauhn Sei nix nicht mehr .
Kieken Sei wohl , so trecken Sei Ehre de Hautschen ut ! "
Dörthe ergriff eine Gänsepfote und zog ihr mit geschicktem Griff die Haut wie einen gelben Lederhandschuh ab .
Die Sache gefiel Mary .
Vorsichtig langte sie ebenfalls nach einem Gänsepfötchen , aber entsetzt ließ sie ihn sogleich wieder los .
Es war doch gerade , als ob ihr die Gans noch einmal die Hand zum Lebewohl reichen wollte .
" Ich u-ill nicht machen das - Oh no - ich habe ein zu weicher Herz . "
Das Backfischchen faßte die schinkenbeladene Dörthe am blauen Schürzenzipfel .
" Was ' ne olle lütte Stadtmamsell ! " dachte die alte Dörthe kopfschüttelnd ; aber als Mary ihr nun bittend mit den zarten Fingern über die runzlige Wange fuhr - denn wenn es etwas zu erbetteln gab , vergaß selbst das Prinzeßchen den Standesunterschied - wies sie dem zimpferlichen Ding doch gutherzig eine andere Arbeit an .
" Na , denn stoppen Sei man de Lewerwust hier ; das Stück is pläsierlicher .
So , un das Tüg , das wickeln Sei Ehre denn an 'n Enn herümmer , Fräulein Miß ; damit maken Sei Ehre tau . "
Dörthe stellte das fertige Wurstgemengsel , den sauber zubereiteten Darm , Wurstspiele , und was sonst noch dazu gehörte , vor das Backfischchen .
Langsam machte sich Mary an die Arbeit .
Das " Stopfen " schien heute nun Mal ihr Verhängnis zu sein ; erst Strümpfe und nun Wurst !
Sie begann die Enden des Darms geschickt zu umwinden und das Holzstäbchen dagegen zu binden .
Ein Seufzer der Befriedigung hob ihre Brust - allright .
Dear me , wie bekam sie denn nun aber die Füllung hinein ?
Mit langem Gesicht betrachtete sie den kunstvoll an beiden Enden zugewickelten Darm .
" Dörthe , Dörthe , das Pelle ist fertig , aber der Wurst hat keine Eingang more , " rief sie bedenklich .
Dörthe kam eilig herbeigelaufen .
Sie stützte die Hände in die Seiten und lachte , daß ihr die dicken Tränen über das alte Gesicht rollten .
Die Hofdirnen in der Federkammer reckten neugierig die Hälse und den mit einem weißen Tuch verbundenen Kopf ; Mamsell , Mining , Gusting und Kerlin schielten herüber , und Tante Lisabeth ließ ihre Sülze im Stich und eilte herzu , um zu sehen , was es denn da gebe .
" Madamming " - Dörthe wischte sich mit der schwieligen Hand die Tränen von der Wange und wies auf das betroffene Backfischchen , das hilflos mit der mißglückten Wurst in der Hand dastand - " Madamming , kieken Sei blot das olle Worm von Wust ; die Sack is wirklich doll . "
Dörthe lachte noch immer .
Als aber Tante Lisabeth nun ebenfalls in das Gelächter mit einstimmte , da warf das empfindliche Prinzeßchen die merkwürdige Wurst fort und lief weinend aus der Küche .
" Lütt Fräulein - Ewer Fräulein Miß - argen Sei sich man nicht ; das braucht Sei gor nicht schauirlich tau sin !
Sei möten jo irrst lernen , " rief die gute Dörthe hinter ihr her ; aber Mary wollte nicht mehr hören .
Sie stand wieder am Fenster und weinte mit dem Himmel um die Wette .
Nebenan im Kinderzimmer war man " im Schummern " zusammengerückt .
Fräulein hatte Suschen auf den Schoß genommen ; Fränzchen und Hänschen hatten sich so lange um die Fußbank gestoßen , bis keiner von ihnen auch nur einen Zentimeter mehr als die Hälfte " besaß " , und kauerten nun zu Fräuleins Füßen .
Selbst Karl Heinz hatte den Briefmarkenkasten für Vating bei der einbrechenden Dunkelheit sinken lassen und den Kopf in beide Hände gestützt .
Sie lauschten alle dem Märchen vom Regenmännlein , das Fräulein erzählte .
Unwillkürlich mußte auch Mary hinhören ; das war ja eine lustige Geschichte !
Sie vergaß allmählich ihren Kummer .
Da , der große Tropfen , der eben auf das Fensterblech sprang , war das nicht das spannenlange Regenmännlein mit seinem winzigen Schirm , das dem bösen Buben , der so arg auf das Wetter schimpfte , ins Fenster hineinsah ?
Marys Auge versuchte die dichten Dämmerschatten zu durchdringen .
Hatte sie nicht auch über den Landregen gestöhnt und geseufzt ?
Horch , wie es gegen das Glas trommelte !
Jetzt klopfte das Männlein dreimal Einlaß begehrend .
Die große Mary hielt es doch für geratener , den etwas unsicheren Platz am Fenster aufzugeben und sich in Fräuleins geschütztere Nähe zurückzuziehen .
Nun hockten sie alle wie die Küchlein dicht zusammen .
Langsam breitete die Dunkelheit draußen ihren schwarzen Mantel über den Gutshof ; der Wind pfiff heulend um den Wetterhahn , der Regen pladderte gegen die Scheiben , und Fräulein erzählte .
Da ging die Tür .
" Das Regenmännlein ! " schrien die Kleinen erschreckt ; auch Mary faßte Fräuleins Arm .
Aber es war nur Mutig , die mit der brennenden Lampe ins Zimmer trat .
" Na , Kinnings , vertellt ihr euch was ?
Das ist schön !
Aber nun ist das Schummerstündchen aus ; jetzt bringe ich Arbeit . "
Frau Lisabeth stellte einen umfangreichen Kasten auf den Tisch .
Die Kinder , die geblendet die Hand über die Augen gedeckt hatten , drängten sich neugierig hinzu .
" Auch , Puppen ! " rief Karl Heinz enttäuscht , als ein flachsköpfiges Püppchen nach dem anderen aus dem Pappkasten spazierte .
Auch die Zwillinge taten so verächtlich , als ob sie niemals die Puppen ihres lütt Schwesting heimlich zu ihren Spielen benutzt hätten .
Nur klein Suschen griff jubelnd nach dem Spielzeug .
Mary sah fragend die Tante an .
" Ja , meine Dirn , die sollt ihr anziehen , Fräulein und du ; Jürgens hat sie eben von der Bahn geholt .
Die bringt der » Ruklas « den Tagelöhnergören als Julklapp zum Weihnachtsfest , " erklärte die Tante dem Londoner Backfischchen , das weder etwas von " Ruklas " noch von " Julklapp " wußte .
Aber daß sie die niedlichen Püppchen alle ankleiden sollte , das hatte sie begriffen ; sie strahlte über das ganze Gesicht .
Eine hübschere Arbeit hätte sich das putzsüchtige Backfischchen gar nicht wünschen können .
" Oh , I have so viele Bänder und Lappens , aller Farben ; ich bringe ihnen gleich . "
Sie lief aus dem Kinderzimmer und kam mit Schachteln und Schächtelchen bepackt wieder zurück .
" Rot , gelb , blue and green , hier ein scottish band ; daß muß werden ein scottish Bäuerin .
Well , der Puppe kriegt einen fashionable Spitzenkleid ; tat is eine vornehme lady .
O , ich habe eine old Strohhut ; eine Hut muß es kriegen auf ! "
Sie war schon wieder aus der Tür .
" Na , das ist was für das Putzlieschen . "
Tante Lisabeth sah ihrem Nichtchen lächelnd nach .
" Denn man tau , Kinnings ; hilfst du auch , lütt Susing ? "
Sie strich dem Klingen , das eine Puppe in den Armen " Baba wiegte " , über das weiche Haar und begab sich wieder in die Wirtschaftsregionen .
Mary aber beugte mit heißen Wangen den blonden Kopf über die Schneiderarbeit ; ihre noch vor kurzem trüben Augen leuchteten .
Auf Regen war Sonnenschein gefolgt .
Fräulein mußte alle Hemdchen , Höschen und Röckchen nähen , denn das ging Mary viel zu langsam ; aber die Kleidchen machte sie allein .
Sie entwickelte dabei den vornehmen Geschmack , den sie von ihrer Mama geerbt zu haben schien .
Da sie mit Lust und Eifer an die Sache ging , blieb auch die Geschicklichkeit nicht aus .
Das Backfischchen , das sonst über jeden Riß stöhnte und jammerte , ließ jetzt lustig die Nadel durch das Spitzen- und Seidenzeug fliegen .
Lange Stiche , wenn es nur hübsch aussah ; das gefiel ihr so .
Die Dorfkinder würden Augen machen !
Die hatten bisher nur Gänse , Schweine und Ochsen zu sehen bekommen , aber noch keine Schottin , keine English lady und elegante babies .
Little boys in Matrosenanzügen , in Tenniskleidern , ja sogar eine Balldame mit langer Schleppe erstand unter Marys schlanken Fingern , allerdings alles nur halb .
Sie machte nichts fertig ; immer fiel ihr noch etwas Schöneres ein .
Auch Hütchen nähte und formte sie eigenhändig , blaue Matrosenmützen , Pelzbarette und Muffe , denn der Winter an der Waterkant war kalt .
Karl Heinz hatte sich mit seiner Holzarbeit neben sie gesetzt und gab bei allem seinen Senf dazu , aber heute lachte ihn Mary des öfteren aus .
" Oh boy , du hast keine Geschmack , Not at all !
Grünes Rock und rotes Bluse ?
Tat is Not fashionable !
Look !
Jung , blaues Rock muß sein ; now ist der Puppe tip-top . "
Der lange Winterabend flog dahin .
" O , schon super ? " fragte Mary sehr erstaunt , als Dörthe heraufrief , die frische Wurst mit Pelldüften stehe " all up 'n Tisch " .
Auch beim Abendbrot erzählte das Backfischlein von nichts anderem als von den Puppenkleidern ; sie war in so gehobener Stimmung , daß sie sich sogar herbeiließ , Karl Heinz eine Kartoffel zu schälen .
" Kiek , Prinzeßchen , das mache ich viel fixer ! "
Im Nun hatte er drei Kartoffeln für Mary geschält .
" O , du nimmst ja die Fingers als Messer ! " rief Mary entsetzt und schob naserümpfend die ihr gespendeten Erdäpfel zurück .
" Na , denn nicht , mein Dirn ! "
Karl Heinz hatte ein dickes Fell ; ohne jede Empfindlichkeit nahm er die Freundschaftsgaben wieder an sich .
" Kinnings , paßt auf , der Regen geht zu Ende !
Der Wind hat sich gedreht ; morgen wird das Wetter besser , " prophezeite Vating mit hochgezogenen Augenbrauen .
" Wird all Zeit für die Wintersaat ; auch den Rüben könnte ein rechtschaffener Frost nichts schaden . "
" Ich wünsche , es regnet to-morrow das ganze Tag , " seufzte Mary aus tiefstem Herzen .
" Nanu , Miezeken ?
Du hast doch genug über die Regentage geklöhnt , Dirn ; auch wetterwendisch , he ? "
" Oh no , but man kann machen bei das Regen so schöne Puppenkleiders ; tat is very interästig . "
" Miezeken , höre auf ! "
Der Onkel hielt sich halb scherzhaft , halb im Ernst die Ohren zu .
" Das Kleidergedrähn ist ja nicht mehr mit anzuhören ; nee , was geben die ollen lütten Dirn mit ihrer Kledasche ' an !
Wenn mir die Leni auch etwa so wird - je , täuw du man , mein Döchting ! "
Er schüttelte drohend die Faust gegen die Ferne , aber in seine blauen Augen trat eine weiche , sehnsüchtige Zärtlichkeit .
Mutig strich ihm leise über den Arm ; sie wußte wohl , wie bange Vating nach seiner Ältesten war , auch wenn er es nicht zugestand .
Mary und Karl Heinz kabbelten sich inzwischen zur Abwechslung Mal wieder ein bißchen .
Karl Heinz mußte doch auch seine Meinung über die Eitelkeit der Mädel abgeben , und daß Mary es sich nicht gefallen lassen wollte , mit dem Truthahn auf dem Hofe verglichen zu werden , konnte ihr ja auch niemand verdenken .
" Sixte , jetzt wirst du puterrot ; nun kriegst du gleich 'n Koller , ganz wie der Truthahn , " hänselte sie der Vetter immer von neuem .
Marys Finger krümmten sich .
Am liebsten hätte sie gekratzt ; das war die heldenhafte Art , wie sie sich früher stets gegen Bobby verteidigt hatte .
Da trat Tante Lisabeth zum Glück trennend dazwischen .
" Jung , willst du wohl Frieden halten ?
Muß man denn immer achter euch her sein ?
Sieh lieber eins nach , wo die Lütten stecken , daß die nicht wieder Unfug treiben ; es ist mir zu still da oben . "
Mutig lauschte zu dem über dem Eßzimmer gelegenen Kinderzimmer empor .
" Tante ist doch nie zufrieden , " dachte Mary heimlich .
" Wenn die boys Lärm machen , schilt sie , und wenn sie still sind , ist es auch nicht recht ! "
Aber Mutig kannte ihre kleinen Rangen .
Wirklich , Karl Heinz suchte sie vergeblich in allen Winkeln .
Die Gören würden doch nicht etwa bei Nacht und Regen hinausgelaufen sein ?
Spähend trat Karl Heinz in die Haustür .
Das dreeschte ja noch recht nüdlich vom Himmel herab !
Drüben in der Scheune legten die Drescher noch die letzten Kornschwaden in die Dreschmaschine .
Herrje , der winzige Schatten dort am Fenster - " is das Lüttzeug doch wirklich wieder ausgekniffen ! "
" Hänschen - Fränzchen ! "
Karl Heinz legte die Hände an den Mund und schrie in den Hof hinein , aber der Wind brüllte lauter als er ; hohnlachend nahm er ihm die Worte von den Lippen .
Es half nichts ; er mußte durch den Regensee waten , und die Kleinen zurückholen .
Bis an die Büchsen schwippst ihm das Wasser .
" Jung ! "
Karl Heinz packte das erschreckte Fränzchen , das sich gerade von einem der Drescher auf einen Gaul heben lassen wollte , beim Kragen und beförderte es trotz heulenden Protestes und lebhafter Gegenwehr der Arme und Beine durch den Hofteich zum Wohnhaus zurück .
" Jung , wo ist Hänschen ? "
Karl Heinz schüttelte den kleinen schreienden Gesellen erzieherisch .
" An der Pump , " wurde es endlich aus dem Schluchzen verständlich .
" I der Tausend ! "
Karl Heinz überließ Fränzchen Mutig und seinem Schicksal , und lief aufs neue in den Regen hinaus .
Den Tod konnte sich das Wurm ja holen !
" Hänschen ! "
Da stand die Wasserpumpe , aber kein Hänschen dabei .
" Was 'ne Düsternis , " brummte Karl Heinz und strich sich die nassen , klebenden Haare von der Stirn .
" Hänschen - ! "
" Hier , " rief eine klägliche Stimme dicht neben ihm .
Karl Heinz tappte darauf zu - patsch , da war er mit der Hand in die große Regentonne geraten , die bis zum Rande gefüllt war .
" Dunnerlittchen ! "
Karl Heinz schüttelte sich wie ein Pudel ; da kam es ja noch obendrein wie eine Dusche von der Dachrinne herab !
Wenn er nur erst das Hänschen hätte !
" Jung , komme her , " schrie er aufs neue .
" Ich häng ja hier an der Tonne , " winselte es wieder aus nächster Nähe .
Karl Heinz griff zu ; richtig , er hielt den nassen Kopf des kleinen Bruders gepackt .
" Jung , bist du denn ganz verdreht ?
Was tust denn hier ?
Laß los ! "
Vorsichtig löste er die Hände des Kleinen , die sich gar nicht von der Regentonne trennen wollten , von dem Holzrand und stellte den Zappelnden auf seine Füße .
Aber er behielt ihn fest am Schlafittchen ; vielleicht hatte er noch einmal Lust zum Auskratzen .
Ach nein , die war dem armen Hänschen gründlich vergangen !
" Das Regenmännlein -
ich habe doch man das Regenmännlein suchen wollen , " heulte der bibbernde Kleine auf Karl Heinz' Vorwürfe .
" An der Pump war er nicht ; da wollt ' ich sehen , ob er nicht in der Regentonne wohnt .
Und denn - denn konnte ich nicht wieder runter , jawoll - und - und " - er schluckte krampfhaft - " und denn war ich so bange , ob das olle Dings auch nicht kippt , und ihr mich nie mehr findet - "
Die letzten Worte gingen in einem erneuten Geheul unter , denn in dem Hausflur , in dem sich sofort eine dunkle Lache um Karl Heinz und Hänschen bildete , standen mit " verheißungsvollen " Mienen Vating und Mutig .
Aber vorläufig entging der kleine Schlingel , der sich im Vorgeschmack des elterlichen Strafgerichts schon recht ängstlich gebärdete , ihm noch ; niemand traute sich an das triefende Bürschchen heran .
Dann aber siegte die Mutterliebe .
Frau Lisabeth ergriff den Kleinen , der sich wie eine naßkalte " Pog " anfühlte , und trug ihn nach oben ; eine düstere Schlammspur zog sich hinter ihnen her .
Schade , Mamsell backt heute gerade Martinismännchen :
sie soll aber gleich Haferschleim für dich aufsetzen .
" Freue ' du dich man auf morgen , mein Söhning ; morgen sprechen wir zwei uns ! " klang es von Vatings Lippen Hänschen noch tröstlich ans Ohr .
Am anderen Morgen war Hänschen nicht zum Aufstehen zu bewegen .
" Du , der Herr Kantor wird lauern , " stellte ihm sein Zwillingsbruder vor , der es für unmöglich erachtete , allein ohne Hänschen in die Schule zu gehen .
Auch Fräulein versuchte es im guten und im bösen - vergebens .
" Ich bin krank , doll krank , " stöhnte der Kleine , sah aber dabei ganz munter und ausgeschlafen aus .
Mutig wurde geholt .
Sie fühlte Kopf und Puls , denn eine Mutter ist ja ein halber Doktor .
" Na , denn bleibe liegen , mein Jung , wenn du krank bist .
Schade , Mamsell backt heute gerade Martinismännchen ; sie soll aber gleich Haferschleim für dich aufsetzen . "
Hänschen überlegte eifrig ; ganz rot wurde er vor Anstrengung .
Was war vorzuziehen , die versprochene Tracht Prügel von Vating und Martinismännchen , die es mir alle Jahr einmal gab , oder keine Prügel und Krankensuppe ?
Mit einem Satz war Hänschen aus dem Bett !
" Mir ist jetzt schon viel besser , " versicherte er , " aber für Haue bin ich doch wohl noch 'n bisschen zu schwach , " setzte er schnell diplomatisch hinzu .
Mutig , die gleich gewußt hatte , was die Glocke geschlagen , drohte dem kleinen Schauspieler ernst :
" Für Martinismännchen am Ende auch , mein Jung ! "
Ob Vating nun ebenfalls fand , daß Hänschen für die in Ansicht gestellten Hiebe noch zu leidend sei , oder ob sein väterlicher Zorn über Nacht verraucht war , der Kleine kam mit einem gelinden Rüffel davon .
Vatings Wetterprognose erfüllte sich .
Das tagelange Trommeln und Prasseln hatte am anderen Morgen aufgehört ; nur der Wind schnaubte noch über Hof und Acker und leckte gierig die Regenlachen und Pfützen auf .
Wolkenfetzen flatterten um die Dorfhütten und Waldungen ; der Sturm trieb sie lustig vor sich her .
Jetzt hob sogar die Sonne behutsam einen Wolkenzipfel auf und blinzelte , immer noch müde und verschlafen , auf die schmutzige Erde herab , ob denn das große Scheuerfest noch nicht bald beendigt sei . O weh , da auf der Landstraße , da sah es ja noch lustig aus !
Geschwind langte sie nach ihrem goldenen Strahlenbesen und fegte und kehrte , bis alle Wege , Felder und Höfe wieder blitzsauber waren .
Mary aber lief freudestrahlend zum Onkel , " Onkel U-aldemar , das Sonne scheint ; u-ir können morgen nach Staveneck ! "
Dann ging es wieder spornstreichs an die Arbeit ; dear me , was hatte sie noch alles bis morgen zu tun !
Das dunkelblaue Kostüm hatte Kerzenflecke und einen dreieckigen Riß , zum Glück in der Falte .
An der weißen Matrosenbluse fehlten zwei Knöpfe ; der neue rote Winterhut , den Mama aus London geschickt hatte , und der ihr " bezaubernd " stand , war noch ohne Gummiband , und die Morgenschuhe mußten auflackiert werden .
Sie sollte ja acht Tage bei Mietteig bleiben !
Da stand es ; Mary zog trotz der vielen Arbeit zum soundsovielten Male den Brief der Freundin wieder aus der Tasche .
Mietteig schrieb unter ewigen Freundschaftsbeteuerungen , Betrachtungen über den Regen , zwischen Sehnsuchtsergüssen und dem diesjährigen Schweineschlachten , wie sehr ihr Mietteig sich freuen würde , Mary für acht Tage als Gast auf Staveneck zu haben .
" Bitte nur dein Tantig recht sehr ; das soll ein Lewen wurden ! " schrieb sie noch als elfte Nachschrift unter den fertigen Brief .
Mary hatte ihr Tantig gar nicht sehr zu bitten brauchen ; die gute Frau Lisabeth gönnte ihr gern die Freude , und ein Zusammensein mit der verständigen Mietteig und der praktischen Frau Dürenfurt , die als die tüchtigste Wirtin an der Waterkant galt , konnte dem Prinzeßchen nur von Nutzen sein .
Es traf sich gut , Onkel Waldemar mußte sowieso zu seinem Gutsnachbar hinüber ; da wollte er bei besserem Wetter das Miezeken selbst abliefern .
" Kind , Mary , willst du etwa all den Kram hier mitschleppen ?
Frau Dürenfurt soll dir wohl das ganze Gehöft anweisen ? " fragte die eintretende Tante lachend und begann eine Auswahl unter Marys ausgebreitetem Staat .
" Das Mullkleid bleibt hier , auch die Goldkäferschuhe ; dünne Blusen brauchst du im November nicht mehr , und drei Hüte - nee , meine Dirn !
Die Mütze wird aufgesetzt und allenfalls der rote Hut mitgenommen .
Was sollen denn die Dürenfurts denken , wenn du wie ein Möbelwagen einrückst ?
Die glauben ja wohl , du willst dich gleich in Permanenz erklären .
Oder hast du etwa die Absicht , uns hier piplings zu verlassen und auszurücken , Dirn ? " setzte sie scherzend hinzu .
" Aber Tante Lisabeth ! "
Mary machte erschreckte Augen .
" O , Tante Lisabeth , no , I shall return , wenn du mir haben willst ! "
In einer plötzlichen zärtlichen Aufwallung schmiegte sie sich an die Tante .
" Bist doch meine olle lütte Dirn ! "
Frau Lisabeth streichelte ihr den Blondkopf .
" Tantig , " Mary benutzte die liebkosende Stimmung der Tante , " laß mir doch das rote Hut aufsetzen , ja ? "
" Nee , " sagte Tante Lisabeth , das große Mädchen aus den Armen lassend , " bist schon gerade eitel genug , Dirn .
Du fährst mit der Mütze oder gar nicht ! "
Die Tante packte die Sachen des Backfischchens zusammen , das unzufrieden die Unterlippe vorschob .
" Was , Dirn , das soll ein gestopfter Riß sein ?
Ich muß mich ja vor Frau Dürenfurt schämen , wenn ich dich so Einherlaufen lasse !
Schicke mir rasch Fräulein nach oben ; sie ist mit Suschen ein bißchen auf den Hof gegangen .
Das lütte Wurm ist schon ganz blaß von dem Stubenhocken .
Kannst noch ein Viertelstündchen mit ihr unten bleiben ; aber paß auf , daß sie nicht ins Nasse läuft .
Wir wollen dir dein Sache hier schon richten . "
Mary trollte sich auf den Hof .
Ihre Gedanken aber blieben oben bei dem schönen roten Hut .
Sie hatte sich so darauf gefreut , Mietteig damit entgegenzukommen !
Lütt Suschen machte auf dem etwas erhöhten , bereits ganz trockenen Teil des Hofes , ihren Spaziergang und verzehrte dabei ein knusperiges Martinismännchen .
Fräulein hielt sie an der Kapuze ihres kleinen blauen Mantels .
Mary löste Fräulein ab .
Stumm schritt sie hinter Baby her .
" Mische , bösche ? "
Die Kleine drehte sich zu ihr um und richtete die Blauaugen erstaunt auf sie .
Schnell beugte sich Mary hinab und küßte sie .
"' Lein laufen ! "
Mary willfahrte ; ihre Gedanken wanderten nach Staveneck .
Ob sie sich unterwegs heimlich den roten Hut aus der Schachtel nahm ?
Aber Onkel U-aldemar . . . !
Sie sah nicht , daß Suschen , des einförmigen Weges müde , quer über den Hof mitten durch eine stehengebliebene Pfütze dem Geflügelhof zustrebte , auch nicht , daß ein noch ungeschlachteter , großer Gänserich seinen Abendspaziergang bis auf den verbotenen Raum hinter der offen gebliebenen Gittertür ausdehnte .
Erst als sie Suschen bitterlich weinen hörte , kehrte sie von Mietteig zurück .
Aber der Anblick , der sich ihr bot , war so komisch , daß sie hell zu lachen begann , ohne dem kleinen Ding zu Hilfe zu kommen .
Der Gänserich hatte Appetit auf Suschens gelbbraunes Martinismännchen bekommen und es ihr fortgeschnappt .
Nun stand Klingen weinend vor dem Räuber , schlug die Hände zusammen , knickste höflich und wiederholte immer wieder :
" Bitte schön - danke schön - bitte schön ! "
Wenn sie so artig bat , mußte er es ihr doch wieder geben !
Doch da der Gänserich kein Einsehen hatte , lief sie entschlossen auf das Tier zu und versuchte , ihm das Martinismännchen wieder aus dem Schnabel zu reißen .
Der Gänserich fauchte , schnappte und wurde tückisch ; Suschen schrie wie am Spieß .
Jetzt erst setzte sich die immer noch lachende Mary in Bewegung .
Aber auch Tante Lisabeth und Fräulein eilten herbei , um das Kind zu schützen , und Mary wurde wieder Mal gründlich ausgezankt .
Die große Dirn , zu nichts war sie Nutz !
Marys Stimmung am letzten Abend vor ihrer großen Reise war recht trübselig geworden .
" Wenn ich bloß erst fort wäre ! " dachte sie störrisch .
Aber als sie dann am anderen Tage neben dem Onkel warm verpackt im Affenkasten saß - es war tüchtig kalt geworden - drehte sie immer wieder den Kopf zu Tante Lisabeth , Karl Heinz , den Gören und dem Gutshof zurück , als ob es nach Amerika gehe .
Wenn sie auch die Mütze hatte aufsetzen müssen , und wenn Tantig auch manchmal schalt , sie hatte sie ja doch lieb !
Über die grauschwarzen Äcker und durch die kahlen Wälder war in der Nacht der Winter geschritten .
Ein funkelndes Reifkleid hatte er über Au und Flur gestreift , die Freundschaftswiese mit Milliarden von glimmernden Silbersternchen bestickt , und die Dohlen und Krähen aus ihren Schlupfwinkeln aufgescheucht , daß sie krächzend landeinwärts flogen .
Er selbst aber hatte sich zu Jürgens auf den Kutscherbock geschwungen und blies Vating und dem Backfischchen seinen eisigen Atem ins Gesicht ; er färbte Vatings blonden Bart schneeweiß und Marys Näschen rosenrot .
So hielten sie ihren Einzug auf Staveneck , wo man schon auf sie wartete .
Julklapp .
Es wurde auf Staveneck eine gute Schule für das Prinzeßchen .
Mietteig Dürenfurt war eine tüchtige Dirn ; sie hatte weniger Schulweisheit in dem hübschen Kopf als praktischen Verstand und einen immer frohen Sinn .
Auf dem großen Gutshof gab es gar viel zu schaffen .
Frau Dürenfurt überließ ihrer Mietteig jetzt schon die Aufsicht über die Milchkammern , den Geflügelhof und das Jungvieh ; da hieß es für das Backfischchen zeitig morgens aus den Federn , und Mary mußte natürlich mit .
Ja , das Prinzeßchen bekam keinen schlechten Schreck , als Mietteig es am ersten Morgen lachend am Arm schüttelte und rief : " Was ' ne alte Traumsuse !
Mary , Dirn , es ist Tide , nun wach man up ! "
Mit geschlossenen Lidern versuchte Mary ihren Arm freizumachen .
In diesem Augenblick fühlte sie nichts von den heiligen Freundschaftsgefühlen , die sie einander am Abend zuvor , bei dem dazu notwendigen Mondschein , fürs ganze Leben gelobt hatten .
" Dear me , es ist mitten in die Nacht , ganz dunkel noch , indeed ! "
Marys Augenlider , die sich ängstlich blinzelnd gehoben hatten , klappten beruhigt wieder zu .
" Das soll wohl so sin , " antwortete Mietteig lachend .
" Klock Sechsen ist es im Winter immer stockduster .
Nun man Fixing !
Oder geruht das Prinzeßchen erst um zehn Uhr aufzustehen ? "
Das half .
Spott konnte Mary nicht vertragen , am allerwenigsten von ihrer Mietteig .
Brummelnd , knurrend und gähnend begann sie Toilette zu machen .
Auch an eine regelmäßige Beschäftigung und Zeiteinteilung gewöhnte sich die junge Engländerin .
Mit einem lustigen " Ran an die Arbeit - zum Vergnügen bist du nicht auf Staveneck ! " schlang Mietteig nach dem Frühstück ihren Arm um die Freundin und zog sie mit sich in die graue Frühdämmerung hinaus .
" Huh , so kalt !
Ich werde mir bekälten ! "
Das Prinzeßchen hätte sich am liebsten hinter den großen grünen Kachelofen verkrochen , aber es blitzte schon wieder verdächtig in Mietings spöttischen braunen Augen .
So trabte sie hinter dem fleißigen Backfischchen her und sah mit heimlicher Bewunderung und ein ganz klein wenig innerlicher Beschämung , wie wacker die nicht viel ältere Freundin ihren Platz in dem großen Hauswesen ausfüllte .
" Zugucken kostet Eintrittsgeld - da , fülle die Kommen mit frischem Trinkwasser fürs Geflügel ! "
Mietteig sprach ihr Mecklenburger Deutsch stark mit dem Hamburger Heimatsdialekt ihrer Mutter durchsetzt .
Mary sah sie mit großen Augen an .
" Kummer ? " wiederholte sie verständnislos .
" Have you any grief ? "
" Nee , nee , die Kommen - die Wasserschüsseln da !
Dirn , nee , was bist du dämlich ! "
Der herzliche Kuß , den Mietteig ihr bei dieser Schmeichelei versetzte , ließ keine Empfindlichkeit in Mary aufkommen .
Sie lernte in der Kälberkinderstube die lütten unbeholfenen Vierfüßler päppeln , lernte Rahm , Fett- und Magermilch in den großen " Balgen " aus blitzendem Zinn sondern , mit der " Handule " die Möbel " abeulen " , und sogar mit dem " Leuwagen " den Fußboden " faulen " , Mietteig mußte ihr nettes Zimmer täglich allein aufräumen und nahm jetzt die Hilfe der Freundin ganz selbstverständlich in Anspruch .
Aber was Mary auf Nedderdorf mit Entrüstung von sich gewiesen hätte , machte ihr hier in Gemeinschaft mit Mietteig den größten Spaß ; das Prinzeßchen in ihr wagte sich nicht hervor .
Es wurden herrliche Tage auf Staveneck .
Nach der Arbeit kam das Vergnügen ; dann ging es warm vermummt in die beschneiten Felder und Wälder hinaus .
Die eisglitzernden Fichten in dem stillen Waldgrund brummten unzufrieden in den Bart , wenn helles Mädchenlachen sie aus ihrem Winterschlaf weckte , und die funkelnden Tannenzapfen sprangen erschreckt vom Baum , wenn die langen Backfische ausgelassen wie Tagelöhnergören über den gefrorenen Weiher " schlidderten " .
Mary vergaß vollständig ihr vornehmes Standesbewußtsein ; sie , die in London naserümpfend an jedem ärmlichen Kind vorbeigegangen war , flog hier jauchzend mit Mining , Wising und Jöching um die Wette über das blanke Eis .
Wenn man zur Schummerstunde mit glühenden Wangen und halberstarrten Fingern heimkehrte , dann dampfte die bauchige Kaffeekanne unter der grüngestrickten Pudelmütze , und die Lampe warf ihren traulichen Zitterschein über die beiden alten Ölgemälde an der Wand , den Herrn und die Frau Senator mit den steifen , breiten Halskrausen , Mietings Urgroßeltern .
Frau Dürenfurt aber saß hinter einem Berg von warmen Kleidungsstücken vergraben , die sie für die Dorfgören zurechtschneiderte ; nur ihre Stimme klang scherzhaft hinter roten Röckchen und grauen Höschen hervor : " Na , offengestanden , mein Mietteig , du hättest gern bälder heimkommen können ; was 'n Üz ! "
Dann rückte man eng um den großen runden Tisch zusammen ; die beiden Backfischchen regten emsig die Finger , um all die frierenden lütten Beine der Dorfkinder zu kleiden .
Mietteig stimmte ein gutgemeintes , aber nicht sehr rein klingendes Weihnachtslied an , Mary sang mit ihrer schönen Stimme die Melodie mit , und Frau Dürenfurt ließ die Nadel sinken und lauschte auf die klare junge Stimme , die wie Glockenklang das Weihnachtsfest verkündete .
Am schönsten aber war es , wenn man sich heimlich in Mietings Zimmer schlich .
Zweimal wurde der Schlüssel umgedreht , und zum Überfluß auch noch der Riegel vorgeschoben , damit Mietings Mutig , die natürlich von alledem nichts merkte und dabei doch sonderbarerweise das Zimmer ihres Töchterchens um diese Zeit gewissenhaft mied , nur ja nichts von dem großen " Hümpel " von Weihnachtsarbeiten entdeckte , die Mietteig aufspeicherte .
" Was gibst du dein Tantig zum Julklapp ? " erkundigte sich Mietteig , an Vatings Schlüsseltasche - er hatte bereits ein halbes Dutzend von diesen nützlichen Dingern , die er niemals trug - eifrig herumstichelnd .
" Ich ?
Oh ! "
Mary machte ein sehr verdutztes Gesicht .
" I have nothing to give ; in London wir tun nicht kennen Geschenken zu Christmass . "
" Du bist doch aber jetzt hier in Mecklenburg , und da mußt du für dein Tantig , die wie eine Mutter zu dir ist , was arbeiten ; ein Brillenfutteral vielleicht oder eine Vogeldecke , irgend was recht Brauchbares , " ereiferte sich Mietteig .
" Tantig hat gute Augens , sie trägt kein Brille at all ; und ein Vogeldeckchen , Oh , our little Piepmatz ist gestrebt vor drei Tagen , " antwortete Mary traurig .
" Ganz gleich , freuen tut sie sich doch , " entschied Mietteig .
" Morgen bitte ich Vating , daß wir aufsitzen dürfen , wenn Hafer in die Stadt geliefert wird ; da wollen wir alles Nötige schon besorgen . "
" O Yes , dann kann ich anziehen endlich das neuer roter Hut , " stimmte Mary begeistert ein .
" Putzbock ! " schalt Mietteig lachend .
" Also et bleut dorbi , wie gehen shopping . "
So geschah_es auch .
Als Mary drei Tage später tränenden Auges von Staveneck und Mietteig Abschied nahm - die Trennung sollte bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag währen - da fuhren neben ihr wohlverpackt auf dem Schlittensitz allerlei Herrlichkeiten zum Julklapp mit heim nach Nedderdorf .
Zuweilen fühlte das Backfischchen , ob auch noch alles da sei , die Schlüsseltasche für Onkel U-aldemar , nach Mietings Dafürhalten das Praktischste für einen Herrn , die Vogeldecke für Tantig - sicherlich würde doch Mal ein neuer Piepmatz seinen Einzug in das Messingbauer halten - die Schnurrbartbinde für Karl Heinz , die er sich ja gut für später aufheben konnte , und dann noch die Spielsachen für die Kleinen .
Ein glückseliges Gefühl durchströmte das Herz der jungen Engländerin ; zum ersten Male lernte sie den Reiz des Heimlichbesorgens und des für andere Denkens kennen .
Sie hatte Gaben , die nicht Mama oder die Miß eingekauft hatten .
Das war ein rühriges Leben jetzt auf Nedderdorf .
Von dem starren Winterschlafe , der draußen Baum und Scholle umfangen hielt , merkte man in dem alten grauen Gutshaus nichts ; allenthalben gab es da schaffende Hände und frohe Augen .
Drunten in dem großen Parterrezimmer hatte Mutig ihre Schneiderwerkstatt aufgeschlagen .
Da saßen Gusting und Kerlin an den rasselnden Nähmaschinen ; das Linnen knisterte , die Spule surrte , und Muttings Schere vervollständigte mit eintönigem Quietschen das Terzett , Manchmal griffen auch Hänschen und Fränzchen in das melodische Konzert ein , wenn Muttings Hand sie jetzt noch eiliger als sonst mit festem Griff vor die Tür setzte .
Ihr Forschungstrieb brachte sie in allzu gefährliche Nähe mit dem Rädermechanismus .
Die armen Zwillinge waren jetzt jedermann im Wege .
Karl Heinz , der hinter der verschlossenen Tür bei seiner Schnitzarbeit hockte , streckte auf ihr wiederholtes Anklopfen nur eine verheißungsvolle Faust durch die Türspalte .
Fräulein ertappte sie dabei , wie sie in ihren Weihnachtsgedichten jedes l und b mit roter Tinte anstrichen .
Mary , die gerade im Schweiße ihres Angesichts " Piep " auf die Vogeldecke stickte , hatte auf die Aufforderung der beiden Kerlchen , mit ihnen einen Schneemann zu bauen , nur ein wenig liebenswürdiges :
" Dumme boys , laßt mir in Ruhe ; ich habe aller Händen voll zu tun . "
Selbst bei Jürgens , der letzten Zuflucht , fand ihr freundschaftlicher Vorschlag , ihm bei dem Lackieren des Schlittens " 'n bisschen tau helpen " , nur geringen Anklang .
Aus der Küchenregion waren sie schon zweimal fortgejagt worden .
Das waren die sogenannten Vorfreuden zum Weihnachtsfest !
Aber zehn Tage vor Weihnachten , wenn des Abends in der Dämmerung schon der Ruklas von Tür zu Tür geht und nach braven und bösen Gören herumhorcht , bemühten sich selbst die kleinen Nedderdorfer Vagabunden , ihr möglichstes in Artigkeit zu leisten .
Daß es ihnen meistens vorbeigelang , war nicht immer ihre Schuld .
Diesmal konnte nur Mary was dafür , die lange Cousine ; warum mußte die ihre Sachen auch heute im Kinderzimmer herumliegen lassen !
War es Hänschen und Fränzchen zu verdenken , daß sie , nachdem der Schneemann nun endlich nach vieler Mühe zustande gekommen war , ihn auch so schön als möglich ausstaffieren wollten ?
Marys neuer roter Winterhut , den das eitle Ding aus Mangel an passender Gelegenheit zu jeder Dorfbestellung aufsetzte , lag auch gar zu verlockend da , " Ach nein , was läßt der ihm schön ! "
Die beiden kleinen Burschen faßten sich bei den rotgefrorenen Händen und vollführten einen unzivilisierten Hottentottetanz um ihr merkwürdiges Geschöpf .
Mit schwarzen Kohlenaugen schielte der Schneemann betrübt an der dicken Rübennase hinunter ; sein unternehmungslustiger roter Hut stand in seltsamem Gegensatz zu der griesgrämigen Miene .
" Die Botenfrau ! " erklang es plötzlich in zweistimmigem Jubel .
Mit geheimnisvollen Päckchen und Paketen beladen , kam ein vermummtes Etwas die Landstraße durch den tiefen Schnee dahergestampft .
Die Botenfrau war jetzt im Winter ein beliebter Gast auf den Gütern , und ganz besonders vor Weihnachten .
Hänschen und Fränzchen bohrten denn auch bereits wißbegierig ihre kleinen Zeigefinger in die verschiedenen Papierhüllen .
Der Schneemann war vergessen ; Marys roter Hut thronte vereinsamt auf dem dicken weißen Kloß .
Die Wintersonne kam mit fahlem Schein über den Hof spaziert und beguckte sich den schmucken Schneemann von allen Seiten .
Jetzt begann sie ihn übermütig mit blaßgelben Strahlen zu bewerfen , bis dem armen wehrlosen Wicht kalte Schweißtropfen auf der Stirn perlten ; Marys schöner roter Hut zeigte feuchtschwarze Fleck .
Nun verkroch sich die Sonne , denn übers Feld schnaubte plötzlich ihr Feind , der Wind , daher ; auch der machte bei dem putzigen Schneemann halte .
Er fuhr ihm mit seiner eisigen Hand ins Gesicht , zupfte ihn an der langen Rübennase , und schließlich entriß er ihm , den wütenden Kohlenaugen zum Trotz , hohnlachend die feine Kopfbedeckung .
Mitten in eine grauschwarze Schneelache trieb er den eleganten Londoner Hut .
Da lag er nun , Marys ganzer Stolz , bis Peter , der frierend herumstreichende Kater , ihn als warme Schlafstätte mit in den Stall zerrte .
Am anderen Morgen beförderte ein Knecht das formlose Ding mit der Forke in die Meßkute .
Das war das Ende von " das neuer roter Hut " .
Das Ende aber von Fränzchens und Hänschens Heldentat war die Einweihung der bunten Weihnachtsrute .
Aus der Kinderstube erschallte Jammern und Wehklagen , und im Nebenzimmer tropften heiße Tränen aus blauen Mädchenaugen auf das in rotem Kreuzstich prangende " Piep " .
Der Schneemann , den Hänschen und Fränzchen erbaut hatten .
Zehn Tage sind für sehnende Kinderherzen eine lange Zeit .
Vor Weihnachten zählen sie doppelt , aber trotzdem - einmal gehen auch sie hin .
Heiligabend war herangekommen .
Wo zwei zusammenstanden , sah man sie tuscheln und flüstern .
Man traf überall auf zugesperrte Türen ; jedes Gesicht war ein großes Geheimnis .
Ein wunderbares Geruchgemisch von Scheuerseife , harzigen Tannenzweigen , Pfefferkuchen und Marzipan durchströmte das große Gutshaus .
Dörthe wachte mit Argusaugen , daß jeder Eintretende sich auch ordentlich " de Fäut abpeddte " ; ihre gescheuerten Fliesen blitzten .
" Madaming , Pepperkauken , Peernot und Christstolle Sünde nun all brat , " schrie sie durch das Haus ; aber Frau Lisabeth hörte nicht .
Die war heute überall und nirgends .
Jetzt deckte sie die Riesentafeln im Speisesaal mit leuchtendem Damast ; dann schleppte sie Körbe mit rotbäckigen Weihnachtsäpfeln und Säcke mit Nüssen herbei , alles Nedderdorfer Erzeugnisse .
Hier riß sie Mamsell , die mit glühendem Gesicht , wie die Hexe aus Hänsel und Gretel , vor dem Ofenloch hockte , das zu stark gebräunte Marzipan aus der Hand , und " Nee , Kinnings , die Lichter hoppen ja wie die Krähen up und dal ; die laßt man Vating anmachen ! " rief sie im Vorbeijagen Karl Heinz und Mary zu , die den Ausputze des Tannenbaumes übernommen hatten .
Mary war in einer Märchenwelt .
Niemals hatte sie einen Weihnachtsbaum gesehen ; nur der Vater in London hatte von seiner fröhlichen Kinderzeit und der lichtfunkelnden Tanne am Christmass erzählt .
Sie hatte der Geschichte gelauscht , wie jedem anderen Märchen .
Aber daß dieses " Es war einmal " lebendige Gegenwart und sie selbst mitten in dieses Winterwunder hineinverzaubert werden konnte , das hatte sie nie gedacht .
Nun durfte sie den Märchenbaum sogar schmücken !
Lichtfunkelnde Sterne , silbern blinkende Kugeln und glitzernde Flimmerfäden schlang sie in das feine Geäst , flaumige Watteflocken puderte sie darüber ; Silber und Weiß , nichts Buntes , denn die edle Schönheit der Tanne durfte nicht gestört werden .
Karl Heinz hatte den technischen Teil der Arbeit übernommen ; er befestigte geschickt nach Marys künstlerischer Anweisung die Gegenstände in den Zweigen , versilberte die schlanken Tannenzapfen und versuchte dazwischen alle Augenblicke Mal , ihr mit seinen klebrigen Händen heimtückisch in das Gesicht zu fahren .
Das gab dann immer ein lautes Juchhei , so daß der Weihnachtsbaum bedenklich sein grünes Haupt über die großen Kinder schüttelte .
" Gören , wollt ihr wohl Frieden halten , am Heiligabend obenein ! "
Vating , der das Scharmützel beobachtet hatte , faßte Mary links und Karl Heinz rechts beim Schlafittchen .
" Der Ruklas wird bald kommen , und ihr seid mit dem Baum noch nicht Mal tau Paß .
Man lößing , 'n bisschen Galopp !
Ich muß die lütten Fohlen hier doch wirklich erst noch auf 'n Trab bringen . "
Mary sah erschreckt auf die große Familienstanduhr .
Dear me , gleich drei , und was hatte sie noch alles bis zur Bescherung zu tun !
Ihre Arbeiten waren ja glücklich fertig geworden ; allerdings hatte sie gestern bis in die Nacht hinein gestickt , so daß Onkel U-aldemar , der den hellen Lampenschein sah , selbst nach oben kam , um dem " Unfug " zu steuern .
Aber es war noch nichts verpackt , und Karl Heinz hatte gesagt , Geschenke hinlegen , das sei " dummes Tüg " , und nur für die Gören und die Hoflüd .
" Ein echter , rechter Julklapp möt das sin , sonst leiwer gor nicht ! "
Draußen kam leis und still die Dämmerung über die festlich weiß gedeckten Äcker und Wiesen geschritten und lugte durch die Eisblumen hindurch in die Fenster des Nedderdorfer Herrenhauses .
Waren die denn noch nicht " prat " ?
Mutig ging mit fröhlichen Augen an der bunten Weihnachtstafel entlang , rückte hier an Minings Schürze , zupfte dort Gustings Sonntagskleid in noch schönere Falten , belegte die schwarze Ohrenklappenmütze für Jürgens mit funkelnden Talern und stand jetzt , still vor sich hin lächelnd , vor lütt Susings Spielsachen .
Vating thronte oben auf dem Trittstuhl und ärgerte sich mit den Weihnachtskerzen herum , denn die " Nickels " wollen immer nicht brennen , wenn sie sollen .
Er war so in dieses wichtige Geschäft vertieft , daß er gar nicht merkte , wie sich draußen die Dämmerung davonschlich , und lautlos die heilige Nacht vom Himmel herniedersank .
Er sah nicht , daß der liebe Gott die funkelnden Sternenlichter an dem großen Weltenweihnachtsbaum droben bereits entzündet hatte ; nur in der Kinderstube hatte man dessen acht .
Da drückten die Lütten , die vor Erwartung und Vorfreude schon recht schläfrig waren , die Näschen gegen die eisigen Scheiben , hauchten Gucklöcher in den blinkenden Kristallvorhang und äugten , ob denn der große Wolkenschlitten des Ruklas noch immer nicht dahergebraust komme .
Horch , Glockengeläut !
" Jetzt kommt er ! " riefen sie erlöst .
Ja , jetzt kam er , und wenn es auch nur Vatings Klingel war , die Pforten zur Kinderseligkeit taten sich doch endlich auf .
Scheu und von der plötzlichen Lichtfülle geblendet , drückten sich die Kleinen an die Wand , bis Fränzchens seliger Ausruf " Kiek eins , ein Schaukelpferd ! " und Suschens helles Gejauchze das Freudensignal gab .
" Mutig natürlich mang ihrem Kroppzeug , wie die Glucke unter den Kücheln , " rief Vating lachend , als Frau Lisabeth , selber ein glückseliges Kind , ihre Sprößlinge auf den neuen Holzgaul hob , den Vorhang zum Puppentheater auf und nieder rollen und lütt Susing nach den blinkenden Kugeln greifen ließ .
" Na , denn man tau , ihr anderen all ; denn muß ich wohl Bärenführer sein !
Also Mamselling hier an der Eck , dann Dörthe - so Mining , Gusting , ihr Mätens , das möt ihr wohl denn sin , nun die Hofdirns all , und drüben die Knecht - Jürgens dort haben am anderen Tischend ! "
Lachend trocknete sich Vating von der Anstrengung die Stirn .
Aber Mutig war nun auch so weit , daß sie Dörthe in das warme Umschlagetuch wickeln , Jürgens , dessen Gesicht von der Scheuerseife wie feurige Kohle erglühte , die Pelzmütze auf das graue Haar stülpen und den Hofdirns ihren " Heilchrist " einsacken helfen konnte .
Das war ein Freuen , Einanderzeigen und Siechbedanken ohne Ende , Karl Heinz , immer mittenmang , lief von einem zum anderen , und dazwischen wieder einmal hinaus , ob auch sein Julklapp noch wohlverwahrt im Besenschrank liege .
Und Mary ?
Die war still und bedrückt am Türpfosten stehen geblieben , und da stand sie noch .
Mit weitgeöffneten Augen schaute sie in den strahlenden Lichterbaum , auf die jubelnden Kleinen und die frohen dankbaren Gesichter der Leute .
Wie Tantig und Onkel für jeden ein freundliches , aufmunterndes Wort hatten , wie Karl Heinz sich mit allen freute , ja , das war doch hier ganz anders als daheim in London !
Als dann Taute Lisabeth sie in die Stube hineinzog und ihr lächelnd ins Ohr flüsterte : " Brauchst nicht bange zu sein , mein Dirn ; der Ruklas hat dich nicht vergessen !
Unser Julklapp kommt später ; erst Mal die Bescherung für die Lütten und die Leute ! " da warf sich Mary plötzlich , trotz der vielen fremden Augen ringsum , an Tantings Brust , " O Tante Lisabeth , what a beautiful Christmas ! "
Frau Lisabeth drückte Marys Kopf liebevoll an sich , und in Gedanken verwandelten sich die lichten Blondhaare unter ihrer Hand in glänzende dunkelbraune Flechten ; feuchtschimmernde Mutteraugen suchten die Ferne , und als Frau Lisabeth jetzt zu ihrem Manne hinübersah , da stand er mit weichem Blick vor dem kleinen Kinderbildnis , das die Leni als lüttes Wurm darstellte .
" Je , Mutig , nun hilft das nicht mehr , " er zwinkerte ein wenig verlegen mit den Augen , " aber fehlen tut einem der Schlingel heute , was , Alte ? "
Jetzt war keine Zeit für wehmütige Gedanken .
Dörthe humpelte bereits auf Frau Lisabeth zu und meldete :
" Sei Sünde nun all buten , Madamming . "
" Na , denn laßt sie man in kommen ! "
Über das noch eben ernste Gesicht der Gutsherrin huschten schon wieder die ersten Sonnenstrahlen .
Ein Schurren , Schlürfen , Stolpern und Trampeln .
Wieder öffnete sich die breite Tür , und da schoben sie sich , den Zeigefinger im Mund , in die Weihnachtsstube hinein : die Tagelöhnergören all , die ganze lütte Gesellschaft .
Einige wohlgemeinte Aufmunterungspuffe von Karl Heinz , dann hoben sich die sauber gewaschenen Gesichter zu der Gutsherrschaft empor .
Die lütten Dirn zupften noch immer schüchtern an ihren Schürzen herum , aber die Jungs äugten bereits sehnsüchtig zu den großen kippen mit rotbäckigen Äpfeln und Peernot hinüber .
Ein winziges dreistes Bürschlein stellte sich , die Hände in den Taschen der von Hänschen ererbten Hosen , breitspurig vor Frau Lisabeth und begann mit schmetternder Stimme :
" Stille Nacht , heilige Nacht ! "
Er wußte es noch vom vorigen Jahr : eher gab es keinen Heilchrist .
Nun fielen sie alle ein , die Flachsköpfe ; auch die Nedderdorfer Kleinen sangen mit .
Aus unschuldigem Munde zogen die Klänge des Weihnachtsliedes himmelan , und der Lichterbaum spiegelte seine Kerzen in reinen Kinderaugen .
Aber kaum war der letzte Ton verhallt , begann das Stoßen , Schubbesen und Vorwärtsdrängen , denn ein jedes wußte :
" Nun möt das wohl kommen ! "
Keines wollte zurückbleiben .
Lächelnd griff Frau Lisabeth nach den Körben .
" Halt up , Dirn ! "
Karl Heinz ließ die roten Weihnachtshähnchen in die geflickten Schürzen und begehrlich hingestreckten Mützen rollen .
" Flitzing , wirst wohl nicht so drängeln !
Eher ich nicht komme , geht das doch nicht los , " und " je , täuw du man , hier wird nicht geflunkert !
Du hast dein Sache all ! "
Er schob den dreist seine Mütze das zweite Mal hinhaltenden Hanne kräftig zurück .
Mary , der die Verteilung der Peernot zufiel , kam dem Amt mit pedantischer Langsamkeit nach .
Ob die Gören auch noch so sehr nach dem süßen Weihnachtsgebäck angelten , es half ihnen nichts .
" Eins , zwei , drei , vier , fünf - Oh , ich habe mir verirrt ! "
Sie begann wieder von vorn die Pfeffernüsse abzuzählen , zwanzig Stück für jeden , beileibe keine mehr !
" Prinzeßchen , du stehst ja wohl bis Neujahr hier und kommst doch mit dem Geschäft nicht tau Rand ; kiek man , wie die Gören lauern !
Da , Jung , und da ! "
Karl Heinz griff mit beiden Händen in den Sack und ließ einen lustigen Pfeffernötregen auf die zappelnden Gören herniederprasseln .
" süßt , Prinzeßchen , das schafft better ! "
Nun kamen die von Mary angekleideten Puppen an die Reihe ; jede kleine Dirn erhielt eine " Popp " und die lütten Schlingel warme Winterhanschen .
Frau Lisabeth verabfolgte die Christstollen , Dörthe den Pottkauken , und Vating , der doch auch sein Teil dabei tun wollte , ab und zu eine lütte Vermahnung .
" Paß auf , Krischan , wenn ich dich wieder achter der Stickelbeerheck erwisch !
Und wen habe ich denn neulich im Dusteren bei den Kartoffelmieten ertappt , he ?
Na , du Klaas , brauchst nicht gleich zu rohren !
Und täuw du man , Mariken , daß du mir nicht wieder die lütten Gössels herumerjagst , sonst bringt der Ruklas nächst Jahr nur ' ne Rut zum Heilchrist , verstanden ! "
" Ich bedank mi - ich bedank mi ok velmals - Fehlen Dank ok ! "
Beladen mit Bus und Hanschen , Äpfeln , Weihnachtskuchen und Ermahnungen drängte die Görengesellschaft zur Tür hinaus .
Nun war es wieder ruhig in der Weihnachtsstube , aber nur für kurze Zeit .
" Julklapp ! " erklang es mit schauriger Stimme .
Da öffnete sich die Tür und eine verkleidete Gestalt mit grauen Haaren wurde sichtbar .
" Julklapp ! "
Da warf eine runzlige Hand große und kleine Päckchen durch die Türspalte .
" Julklapp , Julklapp ! "
Hei , wie die Kisten , Schachteln und Pakete flogen !
" Au , mein Bein ! "
- " Holla , nicht in den Spiegel ! "
Der Ruklas draußen kehrte sich nicht an die lachenden und zankenden Ausrufe .
" Julklapp - Julklapp - un so , das is nun all ! " tönte plötzlich die Stimme von oll Jürgens deutlich aus der Ruklasvermummung heraus .
Die Tür schloß sich .
Drinnen aber gab es jetzt ein allgemeines Lachen , Necken , Zerren , Suchen , Finden und Raten .
Der Bindfaden flog , das Papier knisterte , die Holzwatte raschelte .
" Fräulein Mary Sürsen , hier - da - noch eins ! "
" Oh , so vieler Bogens !
Jetzt it will come - no - immer nicht , but now , Oh , das schöne neue Hut , Tantig , Oh , many Tanks ! "
Aber Tante Lisabeth machte ein sehr erstauntes Gesicht .
" Einen neuen roten Hut und von mir ?
Je , Kind , das sollt mir wohl einfallen !
Bist mir schon eitel genug ! "
" Oh , Onkel U-aldemar ! "
Mary hing sich an den Onkel .
" Du hast es mich geschenkt - "
" Nee , Dirn ! "
Der Onkel lachte dröhnend .
" Da kommst gerade an den Richtigen !
So 'n Firlefanz und von mir ?
Nee , da mußt ein Haus weitergehen ! "
Aber auch Karl Heinz wußte nichts davon ; niemand wollte es gewesen sein .
Da - der allerliebste Nähkasten !
Dear me , große Wirtschaftschürzen , brrr !
Mary schüttelte sich .
Aber hier das feine Halskettchen , Oh , wie Sweet !
Immer neue Kisten und Pakete .
" Prinzeßchen , hast ja noch eins vergessen ! "
Karl Heinz , der , umgeben von Büchern , seltenen Marken , Laubfröschen und Sportschlittschuhen , zwischen den Papieren herumstöberte , zog noch ein Päckchen hervor .
" An das lütte Fräulein Miß , " stand in ungelenken Buchstaben darauf .
Mary öffnete begierig .
" Pfui , gräßlicher Pulswärmers !
No , never ich ziehe ihnen an !
Und ein Affen von Holz ?
Jung , boy , Oh , das ist schlecht !
Du willst mir verärgern , Oh ! " Tränen der Empörung traten dem Backfischchen in die Augen .
Karl Heinz lachte hellauf .
" Nee , Dirn , ich weiß nix nicht davon , aber denken kann ich mir_es .
Jürgens , uns' oll Jürgens schnitzt uns Gören , ob groß ob klein , jede Weihnachten Holztierchen ; wir haben ja nun all den ganzen zoologischen Garten beisammen .
Nee , der wollte dir man 'ne Freude damit machen , Prinzeßchen ; kiek , ich habe 'nen Esel gekriegt . "
Mary traute dem Neckbold noch nicht recht .
Als sich jedoch Jürgens bald darauf zur Tür hereinschob und recht treuherzig sagte : " Na , Fräulein Miß , Sei hirn doch nun mang das lütte Pack ; da möt ich Sei doch ok so 'n Biest maken , " und Dörthes graues Haarzöpfchen hinter seiner Schulter auftauchte : " Un de Pulswärmer , lütt Fräulein , de sullen Sei noch warm hollen , wenn oll Dörthe lang nicht mehr is , " da traten Mary wieder die Tränen in die Augen , aber diesmal vor Beschämung .
Sie reichte in einer herzlichen Aufwallung den beiden treuen Leuten die Hand zum Dank .
" Und weißt wohl noch , Jürgens , wie verbohrt das was , as das tau uns kam ?
Äwerst et was man de pure Dämlichkeit von Ehre ; nun hat sich das doch noch ganz verstännig herutgemunstert . "
Mit " das " war Mary schmeichelhaft gemeint .
" Je , so wie uns' Lehnig wurde das doch nie nicht . "
Jürgens betrachtete wehmütig die neue " Tobakpiep " und Dörthe die schönen " gräunen Tüffel " , die Lehnig für die alten Freunde in der großen Weihnachtskiste heimgesandt hatte .
Ja , Leni hatte niemand vergessen .
Selbst an Mary und Cäsar hatte sie gedacht .
" Julklapp ! "
Ging denn das schon wieder los ?
Der Ruklas schien diesmal Stimmwechsel zu haben , und Muttings verkehrter Pelzmantel deckte seine langen , dünnen Beine nur unvollkommen .
" Miß Miezeken Sürsen . "
Dear me , das große Paket , da war gewiß der kleine Schreibtisch drin , den sie sich sehnlich wünschte !
Namen denn die Packbogen immer noch kein Ende ?
Der ersehnte Schreibtisch konnte es jetzt schon nicht mehr sein ; vielleicht eine neue Bluse ?
Da , ein Karton - bless me - wieder nur Papiere , und Karl Heinz , der silly boy stand verschmitzt lächelnd daneben .
Auch Onkel und Tante , welche die Schnitzarbeiten gebührend bewunderten , die der Ruklas ihnen soeben verehrt hatte , sahen neugierig zu .
Hänschen und Fränzchen vergnügten sich mit ihrem Schaukelpferd in der Holzwolle auf dem Boden ; selbst lütt Suschen wühlte in dem Papierberg .
" Now es kommt out , " verkündete Mary triumphierend , " Log here the box . "
Sie öffnete erwartungsvoll die Schachtel ; ein großer Feldstein lag darin .
" Oh , tat is bostrachtig , tat is nieder - - "
Sie kam nicht weiter , denn Karl Heinz hatte sie schon beim Wickel und wirbelte sie unter dem Gejohle der Lütten einigemal um den Weihnachtsbaum herum .
" Prinzeßchen , Dirn , wer mag man so bösträchtig und Niederhaft gewesen sein ?
Na , lat sin , der Schlingel kriegt mit mir zu tun ! "
Mary hörte nicht ; sie hatte dem ungalanten Vetter schon längst den Rücken gekehrt .
" Kiek doch erst eins nach , ob wirklich nichts weiter in is , du Knurrgör . "
Damit versuchte Karl Heinz wieder die Freundschaft zu leimen .
" Ein Zettel , ein Zettel ! " trompeteten Hänschen und Fränzchen gleichzeitig ; mühsam begannen sie zu buchstabieren :
" Julklappsuchen mußt !
Sei schlau !
sü man bei der Standuhr tau . "
Mary rührte sich nicht .
" Dirn , Trotzen beim Julklappen is nicht !
Necken und piesacken , das möt nun Mal sin ; man los ! " drängte Karl Heinz .
Stolz und Neugier kämpften einen heftigen Streit in dem Herzen des Backfischchens , aber die Neugier blieb Siegerin .
Langsam bequemte sich Mary dazu , der alten Familienstanduhr einen Besuch abzustatten .
Keine Spur von einem Geschenk , nicht im Gehäuse , nicht oben hinter den altmodischen Holzpuppen - das große Mädel warf sich lang auf die Erde - auch nicht unter der Uhr .
Aber da halte , am Gewicht das Weiße , ein beschriebener Zettel war es : " Uhr , die spricht : Ticktack , Ticktack , Auf dem Ofen liegt_es , kein Snak ! "
" Mining , einer Leiter , einer hoher Leiter ! "
Die junge Engländerin hatte endlich den fröhlichen Humor des Julklappsuchens erfaßt .
Mit heißen Wangen begab sie sich auf ihre Hochtour .
" Nothing at all ! " Speisezimmer , Wohnzimmer , Vatings Zimmer , Kinderstube und Ankleideraum , Mary machte eine Rundreise von einem Ofen zum anderen ; da endlich , auf Mamsells Ofen , aber wieder nur ein Zettel :
" Miezeken , du lüttes Gänschen , Ob es im Stiefel steckt von Hänschen ? "
Es blieb Mary keine Zeit , Karl Heinz für sein " Gänschen " zu bestrafen .
Sie hatte bereits das sich sträubende Hänschen in eine Ecke geklemmt und untersuchte beide Stiefel des mit Händen und Füßen sich verteidigenden Wildfangs .
Nichts !
Aber da unter der Sohle klebte ja ein Zettel !
Mary hob Hänschens strampelndes Bein zum Licht empor und entzifferte : " Arme Dirn , es ist bannig swer , Mang den Kohlen findest du es eher . "
Es half alles nichts , Mary mußte mit ihren feinen weißen Fingern die Kohlenkiste durchstöbern .
Solch eine Schlechtigkeit von dem Junge !
Aber wenn sie das Geschenk haben wollte - - - " Oh , wieder nur einer Zettel ; boy , du uzt mir only .
No , ich u-ill ihm nicht lesen ! "
Aber sie schielte doch auf das Blatt .
" Je , das hilft nicht , fix zur Tenne !
Frag man dort die weiße Henne . "
" Dear me , in das Tenne , now in das Nacht ?
Oh no , du kannst deiner Geschenk behalten ! "
Mary hatte genug vom Suchen .
Aber Karl Heinz ließ nicht locker .
Er ruhte nicht , bis Mary Muttings großes Tuch umnahm , Jürgens die Stalllaterne entzündete , und nun ging es unter tumultartigem Freudengeheul der Lütten über den schneeschimmernden Hof zur Scheune .
Dort in der Ecke hatte die weiße Henne ihr Nest .
Mit unbehaglichen Blicken schaute das Backfischchen in das undurchdringliche Dunkel ; nur der trübe Schein von Jürgens Laterne hüpfte unstet an dem dunklen Holz auf und nieder .
" Immer neger , " ermutigte Karl Heinz , aber Mary war nicht dazu zu bewegen .
" So 'n Frauenzimmer is doch hellschen feige ! "
Jürgens und Karl Heinz waren einer Meinung .
Mary stand bocksteif ; keinen Schritt ging sie weiter .
" Je , denn möt ich das olle Worm wohl 'n beten helpen . " sagte der gutmütige Jürgens und zog Mary ein paar Schritt nach sich .
" De Düsternis Daud Sei nix nicht , lütt Fräulein ; kieken Sei man 'n beten tau Hechten ! "
Er beleuchtete das Gebälk .
" Oh , what a großer box ! "
Marys Mut hob sich beim Anblick des Geschenkes ; sie griff danach .
Die weiße Henne unten im Nest verhielt sich menschenfreundlich ; ungefährdet konnte Mary ihren mühsam errungenen Julklapp ins Haus befördern .
Es lohnte sich .
Ein allerliebster , mit weißem Mull bespannter Ständer , eine Schublade für Bänder , die zweite für Handschuhe und die dritte für Gürtel , kam aus der Kiste zum Vorschein .
" Karl Heinz , boy , du bist doch ein gutes Jung ! "
Der Friede war wiederhergestellt .
Noch einmal sprach der Ruklas heute abend im Nedderdorfer Gutshaus vor .
Einen lichten Blondkopf steckte er zur Tür hinein , und mit heller Mädchenstimme rief er :
" Julklapps - Julklapps ! "
Und dann verleibte Onkel U-aldemar die Schlüsseltasche feierlich seiner Raritätensammlung ein , Tante Lisabeth lachte Tränen über Marys pietätvolles " Schlafe wohl , Piepmatz " , und Karl Heinz stolzierte im Vorgefühl künftiger Größe mit der Schnurrbartbinde über den frischen Jungenlippen probeweise umher .
Als die Lichter am Nedderdorfer Weihnachtsbaum längst niedergebrannt waren , funkelten und blitzten droben die Himmelslichter noch immer .
Sie flimmerten in die Tagelöhnerhütten und in das Herrenhaus .
Friedlich schlummernde Kinder allerorten , ein glückseliges Lächeln auf den reinen Zügen .
Und dort in dem traulichen Wohnzimmer des alten grauen Gutshauses Vating und Mutig vor der aus London gekommenen Weihnachtskiste .
Leis und zart strich eine Frauenhand über die Gaben des fernen Lieblings .
" Mein oll Leif Dirn , nein , was mag sie sich heute heimgebangt haben ! "
Der fünfzehnte Geburtstag .
Das Mutterherz hatte richtig gefühlt , über Land und Meer hinweg .
Nie hatte Leni sich so nach ihrer lieben Waterkant heimgesehnt wie am Christmas-eve .
Verlassen und ausgestoßen kam sie sich mitten unter den Verwandten vor .
Kein Weihnachtsbaum , keine Bescherung , kein Julklapp , nicht einmal ein bunter Teller !
Bis zum Diner hatte sie gleich den anderen Stöße von Karten mit " A merry Christmass and a happy neu Year " an ihre Lehrer , Freundinnen und Bekannten geschrieben .
Nun saß sie still und in sich gekehrt vor dem knusprigen Turkey , dem süßen Noel Plumpudding und Minke Pie , den hergebrachten englischen Weihnachtsgerichten .
Ach , die Weihnachtskarpfen daheim und Mamsellings Mohntorte mundeten anders !
Ein Nedderdorfer Weihnachtsabend , von dem Zauber der Erinnerung umsponnen , tauchte vor dem deutschen Backfischchen auf in seiner ganzen breiten , tannendurchdufteten Gemütlichkeit , bis verstohlene Tränen auf den Teller tropften .
Niemand sah sie ; nur Lizzie mit ihrem feinfühlenden Herzen drückte Leni zärtlich die Hand unter dem Tische .
Und doch hatte auch der englische Christmass seinen Reiz !
Die Roms waren phantastisch mit roten Brombeerzweigen geschmückt , der mistletoe hing harmlos vom Kronleuchter herab .
" Wie ein struppiger Besen , " dachte Leni verächtlich im Vergleich zu ihrer deutschen Tanne und trat , nichts Böses ahnend , unter seine weißbeerigen Zweige .
Bobbys lange Beine setzten sich sogleich in Bewegung , und " Leni , make haste , come here , " rief die getreue Lizzie .
Zu spät !
Bobby hatte sich bereits heruntergeneigt , um sich den ihm nach englischer Sitte zukommenden Mistelzweigkuß zu holen .
Aber er bekam nur einen derben Stoß vor die Brust .
" Jung , du bist wohl ganz und gar übergeschnappt ? "
Wenn Leni erregt war , fand sie stets die deutschen Mutterlaute .
Onkel und Tante aber standen dabei und lachten über den mißglückten Raub .
Leni schrieb Weihnachts- und Neujahrskarten .
" Ellen , you are a silly girl ; ich hätte dir sechs Paar Handschuhe schenken müssen , " prahlte Bobby .
" Well , so bekommt sie die Handschuhe von mir . "
Onkel Richard hatte die noch immer unter dem mistletoe stehende Leni ganz wie Vating beim Schopf gepackt , und wie ihr Leif Vating drückte er ihr einen herzhaften Kuß auf die junge Stirn .
Da kam sich Leni nicht mehr ganz verlassen am Weihnachtsabend in der Fremde vor .
" Aber unter so 'n ollen Mistelzweig gehe ich all mein Lebtag nicht wieder , " gelobte sie sich .
Als sie in das Kinderzimmer hinaufkam , stand mitten auf dem Tisch die Nedderdorfer Kiste ; sie mutete die junge Deutsche wie ein guter alter Freund aus der Heimat an .
Mit der jubelnden Lizzie , die sich über jedes Stück , das ihre Leni bekam , noch mehr freute als diese selbst , ging es nun ans Auspacken .
Nichts hatte Mutig vergessen , aber auch rein gar nichts !
Von allem , was es daheim am Christfest Gutes gab , mußte die Dirn ihr Teil haben .
Auch an Lizzie hatte Mutig gedacht : ein Extrapaket lag für das junge Mädchen bei .
Als das Backfischchen sich auf Miß Browns wiederholte Mahnung nun endlich von den Gaben der fernen Lieben trennte , um sein Lager aufzusuchen , da machte die große Ellen in London es so , wie das lütte Lehnig es daheim als Gör getan hatte : ihre liebsten Geschenke nahm sie mit sich ins Bett !
Auf der einen Seite Jürgens' in Holz geschnitzten Cäsar , auf der anderen Dörthes in Silberpapier prangende Blutwurst , so schlief Leni sanft ein .
Die Weihnachtsglocken verhallten .
Im lichten Flockenmantel kam das neue Jahr über die Erde und jagte mit seinem Eishauch den grauen Londoner Nebel aus Tor und Gassen .
Ohne Pfannkuchen und Punsch , ohne Bleigießen und " Düffelwerfen " ging der Silvesterabend , an dem Leni und Karl Heinz schon seit zwei Jahren " aufbleiben " durften , hier in England dahin .
The children - Leni hatte sich allmählich darein ergeben , mit Lizzie auf eine Stufe gestellt zu werden - wurden am new-year's eve wie allabendlich um neun Uhr ins Bett geschickt .
Um Mitternacht fuhr Leni plötzlich in die Höhe .
Der hallende Glockenton , das Brausen und Dröhnen in den Lüften draußen - " Feuer ! " schrie sie entsetzt , " Feuer ! " - - - war das nicht das Tuten des Nachtwächters auf Nedderdorf ?
Sie rieb sich die verschlafenen Augen .
Ach nein , das war ja bloß ein vorüberratterndes auto auf der Straße , und " A happy neu year ! " rief eine müde Stimme aus Lizzies Bett ; auch diese war aufgewacht .
" Prosit Neujahr ! "
gab Leni kräftig zurück .
" Prost Neujahr ! " schrie sie noch einmal mit so verstärkter Stimme , daß selbst der tiefe Schlummer der Miß eine kurze Unterbrechung erlitt .
An Einschlafen war vorläufig nicht zu denken .
Von allen Türmen Londons begrüßten die Glocken mit ehernen Zungen das junge Jahr .
In der nachtstillen Cottage wurde es lebendig ; Onkel und Tante kamen aus der Kirche zurück .
" Nanu ? "
Leni setzte sich in die Höhe ; da rasselten ja die Wagen vor das Haus , gerade wie bei Tante Janes five-o' clock-tea !
" Nanu , Lizzie , Pferdegetrappel und Hundegebell ?
Was bedeutet denn das in aller Nacht ? "
" Unsere Bekannten machen jetzt ihre Besuche , to wish a happy neu year .
O , wenn nur Mister Fewson als erster in das Haus gegangen wäre !
Er hat schwarze Haare , und das bringt dem ganzen Hause Glück ! "
Leni lachte hellauf .
" Aber Lizzie , Lüttes , du bist ja gerade so abergläubisch wie die ollen Spinnfrauen bei uns auf dem Dorf !
Na , das müßte Vating hören - - - ! "
" Please , ask my Motter , " verteidigte sich die Kleine eifrig , " Mama erlaubt Papa nie , am new-year's eve to open die Haustür , weil er blonde Haare hat ; das muß immer jemand mit schwarzen Haaren tun . "
Leni sah Lizzie in dem ungewissen Mondlicht zweifelnd an ; die Dirn machte doch wirklich ein ganz ernsthaftes Gesicht !
" Ihr habt ja alle 'nen lütten - " den unparlamentarischen Nachsatz verschluckte Leni wohlweislich .
Mitten in der Nacht Besuche machen und schwarze Haare ?
" Du , Lizzie , dann muß ich euch doch unheimlich viel Glück bringen ? "
Leni ließ lachend ihr weiches dunkles Haar durch die Finger gleiten .
" Das hast du auch schon getan , Leichen , mir wenigstens ; o , so viel Glück ! "
Lizzies Stimme klang weich und zärtlich .
Leni hielt es nicht länger im Bett aus ; einen Kuß wenigstens mußte sie der Lütten geben .
" Schade , daß wir weder Punsch noch Pfannkuchen haben , sonst könnten wir beide hier im Dusteren regelrecht Silvester feiern ; aber weißt was , meine Dirn ?
Wir machen uns an Dörthes Blutwurst !
Damit können wir auch anstoßen . "
Die Schere der Miß mußte als Messer dienen ; mit hochgezogenen Beinen hockte Leni auf Lizzies Bett , und beide schmausten sich nach Herzenslust in die Wurst und in das neue Jahr hinein .
" Nun möten wie all das Jahr Blutwurst essen , würde oll Dörthe prophezeien , " sagte Leni sinnend .
" O Yes , aber in Nedderdorf ! "
Lizzies Wünsche flatterten noch immer zu dem deutschen Gut .
Eine Viertelstunde später träumten sie beide von der Waterkant - und Träume in der Neujahrsnacht gehen in Erfüllung , sagt oll Dörthe ! -
Die Tage kamen und gingen .
Schule , Kränzchen , Musik- und Tanzstunde wechselten ; nur durch das regelmäßige Erscheinen Bobbys am Sonnabend merkte Leni , daß schon wieder eine Woche vergangen war .
In der Schule hatte sich nicht viel verändert .
Leni ging jetzt nicht mehr allein mit der Miß hin und zurück , sondern Lizzie war die Dritte im Bunde .
Es gefiel Leni weit besser in der Schule , seitdem sie wenigstens in den Pausen Lizzies blonden Kopf und ihr liebes Gesicht unter all den fremden Kindern auftauchen sah .
Die Freundinnen waren weniger einverstanden damit .
Immer und immer schleppte Ellen the little ohne hinter sich her ; man war ja keinen Augenblick mehr unter sich !
Am liebsten würde Ellen es wohl auch gesehen haben , wenn man das kleine Ding in den Schärpenbund aufgenommen hätte ; da erhoben sie aber einstimmig Widerspruch .
Das sollte ihnen fehlen , such a little thing !
Eveline , die im nächsten September schon sechzehn Jahre alt wurde , erklärte ihren Austritt aus der Geheimverbindung .
Drei Viertelstunden lang saß man ärgerlich bei tea and cake , bis man unter heißen Tränen und noch heißeren Küssen eine Einigung erzielte .
So oft das Kränzchen bei Ellen stattfand , wurde Lizzie gnädigst zugelassen .
Das jüngere Mädchen paßte auch wirklich nicht recht in den Schärpenbund hinein - Leni mußte es sich selbst zugestehen - denn der circle hatte eine ungeahnte Entwicklung genommen .
Das Handarbeitskränzchen wurde schon nach der ersten Woche begraben ; Handarbeiten , das war doch zu " stupid " !
Man hatte sich an Shakespeare gewagt und mit verteilten Rollen mehrere Stücke gelesen .
Es war himmlisch .
Leider fand aber Mays Mutter die Mädchen noch reichlich jung für Shakespeare ; sie steuerte energisch der frühzeitigen Bildung .
Weil es also mit dem literarischen Kränzchen nichts war , kam man überein , Sport zu treiben .
Zweimal tummelten sich die jungen Mädchen mit heißen Wangen bei Tennis , Krocket , Golf , ja sogar Fußball auf dem schon bräunlichen Rasen ; da legte Petrus plötzlich sein Veto ein .
Er sandte den dicken Fock ; graue , schemenhafte Nebelkobolde ritten durch die Lüfte daher , wirbelten über den Tennisrasen und verscheuchten die blühende Mädchenschar .
Kleinlaut hockten sie nun wieder in der hall um den summenden Teekessel , die Füße gegen das knisternde Kaminfeuer gestemmt , schlürften ihren tea und sprachen über die Vergänglichkeit alles Irdischen .
Aber als die vierzehnjährige Weltweisheit bei dem Punkt angelangt war , daß nur die Freundschaft auf dieser Erde ewige Dauer habe , erkannte man plötzlich den wahren Zweck des circle : ein philosophisches Kränzchen mußte es werden !
So saßen die englischen Backfischchen denn an jedem Donnerstagnachmittag mit ernstgefurchten Gesichtern beisammen und besprachen bei eifriger Vertilgung der süßen Cream-Tort die tiefsten Weltenrätsel , die je hinter der Stirn eines Philosophen gethront haben .
Was Sokrates , Kant und Locke nicht ergründen konnten , das wurde von den Backfischen beim five-o' clock-tea in eifriger Debatte klargelegt .
Nur Leni gähnte hin und wieder und fand heimlich das " olle philosophische Tüg sei man bloß ein Gesnak " , aber sie wagte sich nicht recht mit ihrer ketzerischen Ansicht hervor .
Nach und nach bekamen die wesenlosen Gesprächstemmata wieder festere Formen ; besonders nach jeder Tanzstunde nahmen sie gern die Gestalt von hüpfenden , blau , rosa und weiß gekleideten Mägdlein und von galanten boys an .
Man philosophierte über Anny Green und Milly Scott , und vor allem mußten sich die jungen Herren eine gründliche Durchhechelei gefallen lassen .
Da wurde es erst eigentlich interessant .
Aber die boys revanchierten sich in der Tanzstunde .
Trotz des Gelöbnisses ewigen Schweigens der Schärpenbündlerinnen war etwas von dem Geheimbund durchgesickert ; man hatte Gerty in Verdacht , aus der Schule geplaudert zu haben .
Eines Tages erschien der größte Teil der Gentlemen , Bobby und Charles Edward an der Spitze , mit rosa Schleifchen im Knopfloch .
In der Tanzpause trafen sich die vier Freundinnen in höchster Erregung in der verschwiegenen Garderobe .
Kein Zweifel , eine Verschwörung war gegen sie geplant !
Bobby hatte Mai während des ganzen Walzers von der Unsterblichkeit der Maikäfer unterhalten , John Peters von Eveline Aufklärung über das allen unbekannte Wort " Nirwana " verlangt , und sogar der Knirps mit " bewußtem und unbewußtem Willen " die arme Gerty in die Enge getrieben .
Nur Leni ließ sich nicht so leicht verblüffen ; die teilte Charles Edward , als er ihr etwas vom Übermenschen vorfaseln wollte , ganz einfach mit , daß er selber übergeschnappt sei .
Noch ehe man zu einem Ergebnis gelangte , wie diesem Komplott der boys zu steuern sei , rief der Dancing-Master zum Menuett .
Die armen philosophischen Opfer mußten liebenswürdig lächeln und höflich knicksen , anstatt ihrem Partner tüchtig die Meinung zu sagen , wonach ihnen der Sinn doch tausendmal mehr stand .
Im Kränzchen und in der Tanzstunde ging es wie draußen im Leben .
Eins wurde von dem anderen , dem Größeren und Wichtigeren , verdrängt .
Lenis Mißgeschick bei ihrer ersten Tanzstunde , das sie nie zu verwinden geglaubt hatte , war längst der Vergessenheit anheimgefallen .
Auch die Philosophie wurde beiseite geschoben , und die Gedanken der jungen Welt gipfelten nur noch in dem geplanten Tanzstundenball .
In die Stunden bei Monsieur , während des Übersetzens , bei den schwedisch-gymnastischen Turnübungen , ja selbst in den Literaturunterricht der gestrengen Mrs. Smith , schlichen sich immer häufiger unzulässige Gäste ein .
Fröhliche , leichtgeschürzte Ballgedanken waren es , die recht wenig mit dem " befreiten Jerusalem " und den letzten Tagen Byrons zusammenstimmten .
Beim scating auf dem spiegelblanken Serpentine im Hydepark wurde von nichts anderem mehr gesprochen .
Leni , die eine vorzügliche Schlittschuhläuferin war , fand , daß die ollen Dirn über den dämlichen Ballschnak die Hauptsache , das Eislaufen , ganz vergaßen .
Überhaupt gefiel ihr das scating hier in London gar nicht .
Erstens waren die Tanzstundenboys immer da und forderten sie zum Laufen auf , während sie viel lieber mit ihren Freundinnen und Bobby allein gelaufen wäre .
Dann mußte sie sich stets in Gala werfen , denn am Ufer des Serpentine wogte eine elegante Menschenmenge , Tante Jane mitten darunter ; die wollte Staat mit ihrer Ellen machen , und wenn diese Mal wie die Dorfjungen daheim mit vornübergeneigtem Oberkörper und nach hinten gestreckten Armen in langen Stößen über das Eis sauste , dann hieß es gleich :
" Ellen , shocking ! "
Ach , da war es doch ein vergnüglicheres Stück , den Windmühlenberg hinunterzufahren , mit wehenden Kleidern , fliegender Mütze und gelösten Zöpfen !
Das glatte Eisgesicht des Serpentine zeigte Risse und Schmisse ; die trügerische Februarsonne hatte sich breitspurig am Himmel aufgepflanzt , und wie ein unnützer Junge warf sie große Löcher in den schönen blanken Kristallspiegel .
In dem kahlen Buschwerk ließen sich schon wieder vereinzelt gefiederte Sänger hören ; in Oxford- und Regent-Street boten die Flor-Girls duftige blaue Violetts und lichte weiße Snow-Drops , die holden Vorboten des Lenzes , feil .
Der Tausend , wollte es denn schon Frühjahr werden ?
War der graue Winter , der sich daheim in Nedderdorf oft bis nach Ostern hinter dem warmen Kachelofen rekelte , schon abgezogen ?
Das Landkind schritt prüfend durch den braunen , sonnenbeflimmerten Vorgarten .
Ob sich das daheim wohl gerade so anließ ?
Ach , dann sproßte ja bald Gras , und Wintersaat und der Klee war dann auch all " brat " - ja und denn , wie hatte Vating doch noch gesagt ?
" Wenn das Winterkorn aufgrünt , dann bist du auch wieder da , Dirn ! "
" Nee , von meinetwegen kann sich das Winterkorn ruhig noch 'n beten Tide nehmen , " dachte Leni .
" In zwei Wochen ist Mal erst der Tanzstundenball , ach - und dann bin ich ja schon fünfzehn !
Uje , was freue ich mich darauf ! "
Ob Lenis Jubel der " Fünfzehn " oder dem bevorstehenden Balle galt , darüber war sie sich nicht ganz klar ; jedenfalls sprang sie mit einem Freudensatz die Treppenstufen empor , daß die ihr entgegenkommende Miß bedenklich ins Wanken geriet .
" Ellen , Ellen , du wirst dein Lebtag nicht ladylike ! "
Leni war schon längst an ihr vorüber ; es war ihr heute viel zu hell und sonnig zumute .
Trällernd begab sie sich an die Arbeit .
" Ein Bauernball !
Famos !
Eigentlich doch riesig nett von Mrs. Smith , daß sie an ihrem Geburtstag so 'n Fest gibt ! - Komma - Bobby und ich als Norweger ?
Der lange Jung im Bauernrock ? - Herrje , hier muß ja der Konjunktiv stehen ! -
Und einen Blumenrechen nehme ich über die Schulter , oder nee , lieber 'ne Forke , und denn - Pottstausend , ich habe mich ja schon wieder verschrieben ! -
Was meinst , Lizzie , soll ich 'ne Mütze ' mit roten oder schwarten Schniepeln aufsetzen ? " vollendete Leni plötzlich laut .
Lizzie , die am anderen Fenster Schularbeiten machte , sah verdutzt empor .
" Jetzt hier beim exercise ? "
Sie verstand den geheimen Gedankengang der Freundin nicht .
" Dirn , du bist ja wohl unklauk , " antwortete Leni lachend die auch schon mit ihren Worten in der Bauerntracht steckte .
" Nee , zum Ball , weißt du !
Und mitspielen darf ich auch im Theaterstück , wenn auch nur als servant-maid - jemine , ein Klecks !
Na , Monsieur wird schön zanken ! "
Das Backfischchen steckte das Näschen wieder in das französische Exerzitium .
Leni sollte von Monsieurs Unwillen über die fehlerhafte Arbeit nichts mehr zu sehen bekommen , denn ihr Schicksal spann bereits seine Fäden über das Meer hinüber nach der Waterkant zu .
Drunten im Smoking Rom zwischen Onkel und Tante hockte es , unsichtbar , und spann und spann .
Als Onkel Richard seine Rede geendet hatte , da schlug es einen großen Knoten in Lenis Lebensfaden und band ihn wieder an den alten grauen Nedderdorfer Turm .
Tante Jane aber rief :
" Ellen , ohne moment , please , come here ! "
Unbehaglich sah Leni in die feierlichen Gesichter der Verwandten ; alle ihre jüngsten Streiche ließ sie innerhalb einer Sekunde vor ihrem Geiste vorüberziehen .
Was war denn los ?
" Lenchen , " begann der Onkel herzlich , " ich denke , du weißt es , wie gern wir dich hier gehabt haben . "
Er machte eine Kunstpause .
Na , der Anfang war ja recht vielversprechend !
Ob die Tante am Ende von ihrer letzten schlechten Lektion Wind bekommen hatte ?
" Well , Lenchen " - Onkel Richard sprach schnell und ein wenig erregt - " eben schreibt mein Hamburger Vertreter , daß meine dortige Anwesenheit eines wichtigen Abschlusses wegen dringend erwünscht sei . "
Wieder eine Pause .
" Ja , was in aller Welt geht denn das mich an ? " dachte Leni erstaunt .
" Montag über acht Tage bin ich bereits in Deutschland ; ich muß meine im April geplante Reise um ein paar Wochen früher antreten .
Mary wird natürlich mit mir Return to London und du , Lenchen , hm , what da you Thing about ? "
" Ich - ich - " stotterte Leni verlegen und nahm in Ermangelung des Zopfes eine Haarlocke in den Mund ; sie wußte nicht recht , was sie denken sollte .
" Ja , Kind , " begann der Onkel aufs neue , sie näher zu sich heranziehend , " es wird sich auch für dich nicht bald wieder eine passende Reisebegleitung finden , und da es sich doch nur um wenige Wochen handelt , sind Tante und ich der Meinung , daß ich dich gleich zu Hause abliefere - daß wir unsere beiden Backfischchen wieder austauschen . "
Um Lenis Lippen zuckte es .
" Ihr wollt mich los sein ! "
Als ob sie die Ungeheuerlichkeit dieses Gedankens nicht fassen könne , wiederholte sie ihn noch einmal halblaut .
" Aber Ellen , Kind , davon ist ja gar keine Rede ! "
Tante Jane hatte den Arm um Leni geschlungen .
" Not at all !
You are our darling - Oh no , I thought only you wäre longing to return home ! "
" Ja - aber - aber - ich muß doch zum Ball Theater spielen , " kam es plötzlich schluchzend von den Lippen des Backfischchens .
" O , dafür wird sich wohl noch Ersatz finden lassen , denke ich , " antwortete die Tante lächelnd .
" Also überlege dir_es , Kind ; dir selbst lassen wir die Entscheidung .
Willst du noch in London bleiben , so soll uns das recht freuen ; willst du aber mit nach Haus , dann heißt_es bald deine Siebensachen packen .
Kannst mir heute abend Bescheid sagen , Lüttes ; ich will dann deinem Vating schreiben . "
Vating - hatte der Onkel ein Zauberwort gesprochen ?
- Vating und Mutig , ihr Karling , das Lüttzeug , der alte Turm und der Windmühlenberg !
Da tauchten sie vor Leni auf , die trauten Gefährten ihrer Kindheit .
War es denn möglich , sie , die Leni Sürsen , Muttings olle Dirn , wollte nicht heim nach dem Nedderdorfer Gutshaus , sie , die sich doch am Weihnachtsabend halb krank nach der Heimat gesehnt hatte ?
Ein heftiger Kampf malte sich in Lenis sprechenden Zügen .
Der Ball - ach , wenn es nur nicht gerade ein Bauernball gewesen wäre !
Und dann der fünfzehnte Geburtstag !
Wie hatte sie sich darauf gefreut , jetzt um noch ein Jahr jünger zu sein als Bobby !
Und was würden Mai , Eveline und Gerty bloß dazu sagen ?
Und Lizzie ?
" Nee , meine Dirn , dich nehme ich mit , " sagte Leni plötzlich laut vor sich hin , und damit war der schwere Kampf entschieden .
Die Gedanken an norwegische Trachten , bunte Bänder und swarte Schniepel , an Theaterspiel und Menuett versanken ; ein heißes Gefühl quoll in dem Herzen des Backfischchens empor .
Wieder heim !
Dann aber kam eine leise Empfindung der Beschämung hinterher .
War sie nicht am Ende doch eine rechte Zierpuppe geworden ?
Nee , du mein , wie hatte sie denn bloß schwanken können !
Ob Vating wohl mit seinem Mädel noch zufrieden sein würde ?
Ohne daß sie es wußte , war Leni die Gartenpfade auf und niedergerannt , und plötzlich belebten sich die stillen Wege : hinter jedem Baum , aus jedem Gebüsch lugte ein liebes Gesicht der Heimat .
" Weißt wohl noch , Lehnig ? " so schienen sie zu fragen .
" Weißt wohl noch ? "
Ja , Leni wußte alles noch !
Wie sie zwischen Jürgens und Dörthe auf der Regentonne gehockt - wie das lütt Schwesting ihr entgegengestrampelt - Säutsnuts lustige Sprünge - die Dorfgören alle zum Kindergarten bei der Tante Kantor - und nun Mutig , ihr Leif Mutig , die ihrer Ältesten sanft " eins Ewer strakte ! "
Und " Nein , was wird mein Karling sich freuen ! " jubelte sie plötzlich laut auf .
Da war der Heimatspuk zerflattert .
Leni aber raste die Treppe empor , um Lizzie die aufregende Neuigkeit mitzuteilen .
Das Kinderzimmer schien leer .
Doch nein - dort in der dunklen Nische hinter dem Schrank schimmerte Lizzies blaues Matrosenkleid ; was hatte die Dirn denn da in der Düsternis herumzugraweln ?
Das jüngere Mädchen sah bei Lenis Nahen nicht auf ; steif und starr kauerte es auf dem Fußboden .
Große Tränen liefen über das immer noch zarte Gesicht .
" Lizzie , Lüttes , was hat es denn gesetzt ?
Hat die Miß dir 'nen Marsch geblasen ? "
Leni versuchte die Cousine zärtlich aufzurichten .
Keine Antwort , die Tränen rannen schneller , und jetzt schluchzte Lizzie laut auf .
Leni konnte niemand weinen sehen , und der Schmerz ihres Lieblings ging ihr ganz besonders nahe ; auch ihre Augen füllten sich langsam .
Eng umschlungen saßen sie beieinander und mischten ihre Tränen .
Nach einer Weile hob Leni den Kopf .
" Dirn , warum heulen wir denn bloß ? " fragte sie , die Augen kräftig mit dem Kleiderärmel bearbeitend .
Lizzie sah sie vorwurfsvoll an .
" O , du kannst noch fragen , Leni ?
Wenn es mir doch so weh ist in the heart - o , so weh ! "
Ein erneutes Schluchzen .
Leni streichelte ratlos den Blondkopf der Freundin .
" Do' nt go away , Leni , bleibe hier ! "
Lizzie umfing in ungewohnter Heftigkeit die große Cousine .
" Miss Brown told me , in fünf Tagen wärst du schon weit fort ; no , stay here - - - ! "
" Aber darling " -
Leni lachte befreit auf - " warum sagst denn das nicht gleich ?
Meinst wohl , ich gehe allein heim ?
Je , wo werde ich !
Du mußt mit , Lizziechen ; wart , gleich wollen wir die Tante bitten ! "
Sie zog die jüngere Freundin die Treppe hinab zum Drawingroom .
" Ja , und doll gesund ist das der Lizzie obendrein ; Milch kann sie trinken , so 'ne Potts voll , und Eier soll sie essen und Tauben , je , halbe Ochsen , und Seeluft , die haben wir ganz für umsonst an der Waterkant , " schloß Leni herzklopfend ihre Fürsprache .
Die Tante zog ihr Töchterchen auf den Schoß .
" Little ohne , indeed , da you like to go away ? "
" O , Mama , ich möchte so gern das deutsche Gut kennen lernen und den alten Turm und Jürgens , und Cäsar , nur über den Sommer , please ! "
" Und du kriegst ja dafür Mary wieder , " fügte Leni noch hinzu , da die Tante immer noch schwieg .
Tante Jane seufzte .
Das war der gesunde Egoismus der Jugend !
Ihr wurde es schwer , das Kind , das sie erst so spät an ihr Herz genommen hatte , von sich zu lassen ; aber gut tun würde es der Kleinen , indeed , und eine Mutter ist gewohnt , Opfer zu bringen .
" Ich werde heute abend den Onkel fragen , " sagte sie leise .
" Hurra ! "
- Die derbe Leni erstickte die zarte Tante fast mit ihrer Umarmung .
- " Wenn du es erst erlaubst , Tante , dann ist die Sache allright !
Onkel will ja doch nur , was du willst , ja - wenn_es Vating wäre - "
Der naseweise Backfisch kam diesmal ohne eine Rüge davon ; Tante Janes Gedanken waren bei der Trennung .
Aber recht behielt die Leni ; auch Onkel fand den Landaufenthalt zur Festigung von Lizzies Gesundheit für durchaus zweckmäßig .
So war_es beschlossene Sache : in fünf Tagen geht es heim !
Leni hatte gar nicht gewußt , daß sie so viel gute Freunde in London zurückließ .
" Weißt , Lizzie , ich komme mir vor , als ob ich schon tot bin .
Sonst hat alles immer auf mir herumgehackt , und jetzt sind sie riesig nett mit mir ; da wird einem ja ganz wehleidig . "
Leni gestand es sich nur heimlich zu ; der Abschied ging ihr doch sehr nahe , nicht nur von den Freundinnen , die gar nicht wußten , was sie ihrer Ellen noch alles an Liebe antun sollten , und die ihr im letzten circle einen goldenen Freundschaftsring zum ewigen Andenken an den Schärpenbund überreichten .
Auch von der Schule wurde es ihr schwer zu scheiden , Mrs. Smith sprach mütterlich zu ihr , und Miß Sorry sah wirklich ganz sorry aus ; selbst Monsieur machte einen kleinen Versuch , der jungen Deutschen ein freundliches Wort mit auf den Weg zu geben .
" Der freut sich nicht schlecht , daß er mich Schlingel los wird , " sagte Leni nachher zu Mai in edler Selbsterkenntnis .
In der letzten Tanzstunde bereiteten die Gentlemen Leni eine Überraschung .
Der Knirps , ihr eifrigster Tänzer , überreichte ihr im Namen der anderen einen Blumenstrauß , der fast so groß war , wie er selbst .
Leni freute sich aber kein bißchen darüber ; es war ihr schrecklich " schanilich " , so den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu bilden .
Bobby war wahrhaft betrübt .
" What a pity , Ellen , what a pity !
You are the best fellow , I know , " sagte er , ihr immer wieder die Hand schüttelnd .
Miß Brown küßte sie herzlich , und Leni fühlte , wie gut sie es meinte .
" Ellen , wenn du nicht ladylike genug geworden bist , es ist nicht meine Schuld ; ich habe mein möglichstes getan . "
" Ja , Sie haben mich redlich gezwiebelt , " gab Leni lachend zurück , " many , many Tanks for all ! " Immer wieder drehte sich der braune Mädchenkopf nach der Cottage ; manch ernste , aber auch viele frohe Stunden hatte sie dort verlebt .
Westminster , der düstere Tower , die breite Themse - Leni reckte den Hals aus dem handsome-cab , um all die ihr vertraut gewordenen Stätten noch einmal zu grüßen .
Fahre well !
Der große Familienkoffer mit Lenis Kattunkleidern und dem verbannten Regenmantel war verladen .
" Tante Jane , I Tank you with all my Heart ! "
Noch ein Händedruck .
" Lizzie , my darling , goodbye , goodbye !
Ellen , tont forget us ! "
Dann wurde die schlanke Frauengestalt auf der Viktoriastation kleiner und kleiner ; Leni rollte wieder dem Kontinent entgegen .
" So , " sagte sie mit einem nachdenklichen Seufzer und begann mechanisch ihr Haar in Zöpfe zu flechten , " jetzt wird ein Strich unter Ellen Surfen gemacht ; von heute an bin ich wieder die Leni Sürsen . "
Die Überfahrt , vor der Lizzie sich ziemlich gefürchtet hatte , verlief ohne jede Störung .
Das Meer war spiegelglatt ; warmer Sonnenschein folgte ihnen , und die Brise , die sie umfächelte , sog Leni durstig ein .
" Lizzie , Dirn , das ist schon deutscher Wind !
Der weht von Hamburg her , und gerade so fährt er die Waterkant entlang ! "
Lizzie konnte den Wind beim besten Willen nicht anders finden als in London .
Ja , dazu mußte man Deutsche sein !
" Der Leuchtturm - da - da ! "
Leni ließ Onkels Krimstecher nicht von den Augen ; die Passagiere standen ringsum und lächelten über die junge Mecklenburgerin , die so begeistert die Heimaterde grüßte .
" Kuxhaven - Lizzie , jetzt geht es elbaufwärts !
Da Brunshausen , nun kommt Blankenese ! -
Onkel , weißt wohl , bis hierher habe ich damals geheult !
Dort drüben das ist Vierland - das Kirschenland ! -
Ach , sieht man denn noch immer nicht den Hafen ?
Das dauert ja ewig ! -
Da endlich - die Kais - der Freihafen !
Dirn , nun paß Achtung , nun kommt es !
Hurra , Hamburg !
Siehst , Lizzie , das ist Hamburg , da St. Pauli und dort - kiek , Dirn , nee , tau Hechten - süßt , das ist unser Bismarck ! "
Ja , da stand er , der gewaltige steinerne Recke , ein treuer Wächter der deutschen Gauen ; ihm gilt der letzte feuchtverschleierte Blick des scheidenden und der jubelnde Willkommengruß des heimkehrenden Deutschen . - - - Der goldene Wetterhahn auf dem alten Gutshaus blinkte und funkelte ; blitzblank hatte die Februarsonne ihn geputzt .
Lustig knarrend drehte er sich im linden Winde und äugte scharf die helle Landstraße hinunter .
Dort die dichte Staubwolke beim Bahnhofsgebäude , war das nicht - - ?
Die graublauen Täubchen , die sich auf dem Dachfirst sonnten , wurden zu Rate gezogen ; sie drehten die Köpfe nach allen Seiten .
" Rucke-di-guck-rucke-di-guck , Wir wissen genug , " girrten sie und flatterten in den Geflügelhof hinab .
Bald wußte man es auch dort ; die Gänse und Enten schnatterten , die Hühner gluckten es , und der Hahn schrie es mit lautem Kikeriki vom Gartenzaun in die Welt hinein :
" Uns' Lehnig kummt heute wieder tau Hause - uns' olle Nedderdorfer Dirn ! "
Vor dem Küchenfenster spazierten Cäsar und Peter , der Hauskater , in ausnahmsweise Eintracht auf und nieder .
Cäsar schnupperte in die Luft - Mamsell hatte Waffeln gebacken - und jedesmal , wenn Dörthe zu der Gartenpurt humpelte , wo sie , die Augen mit der Hand beschattend , die Landstraße hinunterspähte , gab er ihr gravitätisch das Geleite .
" Je , du Truges Biest , du bist ok froh , was ?
Jo , hüte freut sich jedwerein , " sagte die Alte und streichelte schmunzelnd seine langen Ohren .
Plötzlich begann Cäsar laut und kurz zu blaffen ; nur er vernahm das ferne Räderrollen des Affenkastens .
Aufgeregt sprang er vom Haus zur Gartenpurt und von der Gartenpurt zum Haus .
Hörte denn niemand das Nahen Lenis ?
Wo steckte bloß Dörthe , der olle Frugensmensch , wo war Karl Heinz , der nölige Jung ?
Je , der stand doch wirklich noch oben auf der Leiter und nagelte im Schweiße seines Angesichts " Herzlich willkommen auf Nedderdorf " an die Ehrenpforte des tannengeschmückten Hauses .
Cäsar umsprang kläffend die Leiter , aber der Junge hatte nur ein " Kusche dich , Cäsar ! " für den klugen Hund .
Da rannte Cäsar auf eigene Faust , ein langgezogenes Freudengeheul ausstoßend , die Straße entlang , der Spielgefährtin seiner Kindheit entgegen .
Auch Peter , der Kater , war nicht müßig geblieben ; der war um das Haus gestrichen bis in den viereckigen grauen Turm .
Es knackte und knisterte heute in dem alten Gestein ; es surrte und summte in den dunklen Nischen und Winkeln .
Wußte der Turm , daß der Liebling des Hauses nicht mehr fern war ?
Droben im Turmstübchen aber rumorte Frau Lisabeth ; sie legte die letzte Hand an .
Was hatte denn Mutig in dem alten Turm zu schaffen , wenn ihre Älteste heimkehrte ?
Der Kater war durch die Türspalte hineingehuscht und zerrte an den Kleidern der Gutsherrin .
Frau Lisabeth wurde aufmerksam .
" Du meinst wohl , es ist nun all Tide , Peter ; na , denn komme man , " sagte sie glücklich lächelnd .
Horch , Rädergeroll !
Mutig und Peter jagten die Turmtreppen hinab und " Mutig - mein Mutig ! " jubelte es von dem Kutschbock des Affenkastens , wo Leni neben dem von einem Ohr zum anderen grienenden Jürgens thronte .
Warm und weich lag Leni an Muttings Brust ; sie hob den Kopf nicht .
Ja , Leni , jetzt weißt du es , solch einen guten Platz gibt es nicht da draußen in der Welt !
Aber die anderen wollten nun auch ihr Teil .
Karl Heinz stand mit dem Hammer in der Hand und mit den von dem eiligen Leiterabrutsch zerfetzten Hosen umarmungsbereit da .
Die Lütten zerrten an Lenis Zöpfen , denn " mit so 'ner Londoner Löwenmähne darf ich Mutig nicht vor die Augen kommen , " hatte Leni erklärt .
Schon dreimal wollte Dörthe ansetzen : " Je , Lehnig , " aber für Leni existierte nur Mutig .
Da faßte Vating , der inzwischen mit Onkel Richard , Mary und Lizzie dem Affenkasten entstiegen war , sein Mädel mit dem alten Griff .
" So , Alte , nun laß den Schlingel man heute noch wieder los ! es gibt hier noch andere Leute zu begrüßen !
Hätte sie knappemang erkannt , die Krabbe .
Das ist ja äußerlich fast 'ne Dame geworden , aber innerlich - na , ich denke , meine frische , brave Dirn ist mir ohne Stadtmucken wieder heimgekommen .
Wollt es ihr aber auch geraten haben ! "
Hinter Vatings rauh polterndem Ton verbarg sich die tiefe Bewegung und Freude , seine Leni wieder zu haben .
" Dirn , Leni , du bist ja jetzt man noch 'n halben Kopp lütter als ich , " war alles , was Karl Heinz zur Begrüßung herausbrachte .
Leni schüttelte ihrem Karling fast den Arm aus dem Gelenk .
" Mein ollen gauden Jung , du bist doch der beste ! " Vorn am Hals hing ihr Fränzchen , den Rücken lang Hänschen .
Nein , wie groß waren die Gören geworden !
Und lütt Susing , die erst ganz fremd und verschämt tat , und dann doch nach der großen Schwester langte !
Ach , wie hatte sie es nur so lange in der Fremde ausgehalten !
" Je , Lehnig " - oll Dörthe kam nun endlich an die Reihe
- " nun möt ich wohl Sei und Fräulein tau di sagen - nee , Dirn , nee , ich kreg das nicht fartig !
Du hast noch datsülwige Görengesicht un de leiwen Kinnerogen von duntaumalen , wenn du ok hüte föfteihn Jahr Old bist ! "
Fünfzehn Jahr ?
Richtig , der 25. Februar , das hatte man ja über dem Wiedersehen ganz vergessen !
Und nun ging es noch einmal los mit Umarmen und Gratulieren , und auch Mary , die ja an demselben Tage Geburtstag hatte , bekam ihr Teil .
Drinnen im Parterrezimmer standen zwei Geburtstagstische , in jeder Ecke einer , und auf jedem flammten fünfzehn Lichte um das große Lebenslicht .
Das war ein schönes Heimkommen .
Mamselling erschien mit einem Berg Waffeln zum Kaffee , wie Leni sie gern aß .
Lizzie saß zwischen den Lütten und war schon ein Herz und eine Seele mit allen .
Onkel Richard aber wollte gar nicht glauben , daß die blühende Dirn , die da hausmütterlich den Kaffee einschenkte , seine blasse Mary sei .
Dann ging es in den Turm : auch Mutig schloß sich an .
Ja , der war es wohl nicht zu verdenken , daß sie sich heute keinen Augenblick von ihrer " ollen Dirn " trennen mochte .
Oder hatte Mutig noch einen anderen Grund ?
Sie lächelte geheimnisvoll , und jetzt flüsterte sie gar mit Mary ; aber ehe Leni noch fragen konnte , stieß Karl Heinz schon die Tür zum Turmgemach auf .
Himmel - Leni traute sich nicht über die Schwelle - das entzückendste Mädchenstübchen , das Mutterliebe ersinnen konnte , tat sich vor ihr auf !
Die alten Turmwände waren mit lichten Rosenknospentapeten beklebt ; die hellen , zierlichen Möbel zeigten das gleiche Muster .
Da gab es ein kleines Sofa und mehrere Sessel ; ja sogar der Nähtisch war mit dem gleichen duftigen Stoff bespannt .
" Ist das schön an der Waterkant ! "
" Den hat Karl Heinz dir eigenhändig gezimmert , und Mary hat mir geholfen , alles so hübsch herzurichten , " sagte Mutig lächelnd und sich an Lenis Glückseligkeit weidend .
" Ja , und nun bist das Dornröschen hier in dem ollen Turm , " schrien die Lütten .
" Aber schlafen soll das Dornröschen nicht hier ; das ist mir zu weit weg , Kind !
Du schläfst mit Lizzie in deinem alten Zimmer ; am Tage magst du das Turmfräulein spielen , soviel du Lust hast , " vollendete Mutig .
Leni wußte gar nicht , wie sie für so viel Liebe danken sollte .
Ach , künftig mußte sie sehr brav sein , um sich das alles zu verdienen !
Bevor es dämmerte , wollte Leni noch einmal auf den Windmühlenberg ; eher war sie nicht ganz zu Haus .
Hand in Hand zog sie mit ihrem Karling den oft begangenen Weg empor .
In bräunlichem Violett reihte sich Acker an Acker , mit kahlen Armen umfingen die Buchen- und Eichenwälder die rotbemützten Dorfhäuslein , und die untergehende Wintersonne warf ihre kupfernen Strahlen über die starre , braune Ebene , bis an den mattglänzenden Meeresstreifen in der Ferne .
Leni aber kannte ihre väterliche Scholle .
Sie wußte , bald regte es sich in dem schlummernden Erdreich .
Dann blühte hier goldgelber Raps empor , dort rauschte Roggen- und Gerstensaat in endlosen Wogen , graugrüner Hafer nickte im Winde , blutroter Mohn und tiefblaue Kornblumen grüßten aus reifenden Weizenfeldern .
Leni ahnte den Frühling .
Weit dehnte sich ihre Brust , ihre Lippen tranken den herben Heimatduft .
" Ist das schön - ist das schön an der Waterkant ! "

License
CC-BY
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2025). Ury, Else. 'Vierzehn Jahr'' und sieben Wochen'. Bildungsromankorpus. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0ds.0