Erstes Kapitel Es gibt viele Menschen , welche schläfrig und übelgelaunt ins Leben hineinziehen .
Sie sind ihren Mitmenschen eine Last und erleben nichts .
Wer wollte solcher Leute Geschichte erzählen ?
Es gibt viele Menschen , denen von Kind an ein Verwundern in den Augen steht , welche während einer frischen Jugend das dunkle Empfinden haben , daß sie etwas Tüchtiges erleben und erwirken wollen , und welche dann auch mit hellem Mut ins Leben hineingehen .
Solcher Leute Geschichte zu erzählen , möchte der Mühe wert sein .
Nein , laß es !
Es kommt nicht viel dabei heraus .
Denn womit bringen diese Gesunden und Starken ihr Leben zu ?
Sie suchen und laufen nach Geld oder äußerer Ehre oder dergleichen Irrtümern ; sie laufen und stolpern , und finden es nicht , und stolpern ins Grab .
Ihre Geschichte zu schreiben , ist eine ärgerliche Sache ; der Erzähler bekommt graues Haar während seines Erzählens .
Wir verlangen wahrhaftig nichts Übermenschliches .
Wir verlangen nicht , daß die Menschen mit dem Plan hinausziehen , eine Königskrone zu suchen .
Aber wir verlangen , daß sie , während sie hinter ihren Irrtümern herlaufen , eine Hoffnung haben , sie könnten auf der nächsten Wiese statt einer Eselherde eine Versammlung von Engeln finden ; und daß sie eine Unruhe haben , es könnte an der nächsten Wegbiegung unterm Eichbaum das ewige Wesen stehen , das aller Welten tausend Rätsel ruhevoll in heiligen Händen hält , und könnte ihnen einiger Rätsel Lösung sagen .
Das verlangen wir .
Denn das gehört nach unserer Meinung zu einem ganzen Menschen .
Und nun , meine Seele , mühselige , mutige , erzähle von einem , der unruhvoll , hoffnungsvoll das Heilige suchte .
* Als die Dämmerung kam , warf sich der Sturm noch stärker auf das Meer ; mit seinen schweren , stumpfen Armen schlug er weit und breit das graue wüsste Gewässer .
Von Island bis an die Zacken von Schottland und von da bis nach Norwegen hin wälzten sich graue schäumende Wellen schwerfällig und brüllend mit endlosem Rauschen und Tosen , hundert Meilen breit auf die Küste von Holstein zu .
Da lag in dem grauenvollen Dunkel , am Eingang der Bucht , das dicke rote Feuerschiff .
Es lag an der Kette und schwankte schwer hin und her und schüttelte das blendende Licht .
Der Schein flog weit und unruhig über die schwarze wilde Tiefe .
Im Tauwerk zerrte und sauste der Wind .
Und Sturm und Wasser rauschten und wogten , und fuhren am Feuerschiff vorüber , und rauschten und fuhren in die weite graue Bucht , und drängten sich in den schmalen Hafenstrom auf die kleine Stadt zu , die Hilligenlei heißt .
Und , als wäre der Sturm froh , daß er das Meer , den schwerfälligen Gesellen , los war , der ihm von Island her an den Hacken klebte , sprang er mit einem wilden , tobenden Sprung gegen das erste Hindernis , ein langes , niedriges Strohdach , das oben auf dem Deich stand , gerade am Ende des Hafenstroms .
Er sprang aufs Dach und fuhr mit langem Arm in die fünf Schornstein ; er stürzte ums Haus und riß an den fünf Türen und an den Fenstern .
In der letzten Stube dieses Hauses saß die große dicke Rieke Thomsen , die Hebamme , in ihrem bequemen Lehnstuhl .
Sie hatte die Füße auf der Feuerkieke , die Hände auf dem stattlichen Leib , die Kaffeekanne vor sich auf dem Tisch und wartete ruhevoll .
Sie saß , und sah die Hafenstraße entlang und wandte zuweilen den großen Kopf zur Seite und sah durch ein kleines viereckiges Seitenfenster , das sie sich eigens hatte machen lassen , über die Bucht nach frästet hinüber , ob von dort ein Zeichen käme .
Der Lehrer von frästet , der oben auf dem Deiche wohnte , hatte die alte Verpflichtung , wenn ein Weib im Dorfe in Kindesnöten war , am Tage ein weißes Tuch aufs dunkle Strohdach zu legen und in der Nacht ein helles Licht ans Fenster der Schulstube zu stellen , das nach Hilligenlei hinüber sah .
Aber an diesem stürmischen Abend wandte sie nur aus alter Gewohnheit ihren schweren Kopf zur Seite .
Von frästet her konnte nach allen Nachrichten , die sie hatte , keine Botschaft herüber leuchten .
Sie sah vielmehr geradeaus nach dem Hause des Hafenmeisters Lau , dessen Frau nach ihrer Meinung noch in dieser Nacht niederkommen mußte .
Aber die Tür des Hafenmeisters blieb geschlossen .
Da fing sie an , sich bei sich selbst zu bemitleiden , daß sie eine so einsame und verlassene Frau wäre , obgleich im Laufe des Tages wenigstens sieben Weiber bei ihr gewesen waren , sechs alte , um mit ihr zu plaudern , und ein junges , um sich von ihr aus den Karten sagen zu lassen , wann sie wieder Mutter würde .
Des Alleinseins überdrüssig , bückte sie sich gemächlich , hob den Holzpantoffel , der neben der Feuerkieke lag , und warf ihn mit sachtem Schwung gegen die Tür .
Da kam der alte Hole Biederwand , der in der anderen Stube wohnte , der mit seinen siebzig Jahren noch so steil ging wie weiland in seiner Jugend , als er zwischen Gottorp und Kiel Ordonnanzreiter war .
Er hielt sich aber so gerade , nicht allein weil er einen so stolzgebauten Körper hatte , sondern mehr noch , weil ein inwendiges schönes Licht in ihm war .
Rund um die Bucht von Hilligenlei nämlich , am Fuß und im Schatten des gewaltig schweren Seedeichs , stehen viele kleine Häuser , in denen Wattarbeiter , Fischer und kleine Bauern wohnen .
Fern dem Kirchengebäude , in halbdunklen , niedrigen Stuben , in großer Einsamkeit hausend , brüteten sie schon von alten Zeiten her über einem besonderen Glauben .
Sie nannten sich die Hilligenleier und lebten der Hoffnung , daß die kleine Stadt Hilligenlei und die Landschaft an der Bucht einst wirklich " Hilligenlei " , das heißt " heilig Land " , werden würde .
Sie hofften auf ein Reich Gottes an dieser Bucht .
Und ihr stiller Häuptling , und zugleich ihr letzter -
denn es ging mit dem Glauben zu Ende - war Hole Biederwand .
Er hatte in seinem Leben viele , viele Nächte an Krankenbetten gewacht und hatte davon die Gewohnheit , am Fenster zu stehen und in die Nacht hinaus zu sehen .
Er ging mit seinem langsamen , steifen Gang nach dem kleinen Fenster , das über die Bucht schaute , sah so in Gedanken ins Dunkel hinaus und hörte nach dem Sang des Sturmes .
" Es ist ein Jammer , " sagte Rieke , " daß ich hier so sitzen muß .
So eine alte , einsame Frau .
Und kommt ' Mal ein Mensch , steht er wie ein Pfahl und sagt kein Wort . "
" Da ist ein Licht ! " sagte der Alte .
" Was ? " sagte sie und gab sich im Stuhl einen Schwung und sah hinaus .
Ganz ruhig und deutlich stand da in der Ferne der helle Lichtschein .
" In frästet !!
Weißt du was , Hole ? "
" Ich glaube , ich weiß was ! " sagte der Alte .
" Vor vierzehn Tagen war Liese Dusenschön hier ... so in der Dämmerung . "
Rieke Thomsen hatte beide Hände auf die Knie gelegt und sah mit ihren großen , runden Augen zu dem langen Hole Biederwand auf .
" Liese Dusenschön ?
Die Tochter von Stiena Dusenschön , die hier neben uns im langen Hause wohnt ?
Die bei Reimers in frästet dient ? "
" Wenn du sonst in ganz frästet keine Frau weißt , für die das Licht angesteckt ist :
dann ist es Liese Dusenschön .
Sie fragte nach ihrer Mutter ; die war nicht zu Hause .
Da fragte sie nach dir ; aber du warst auch nicht da .
Da ging sie wieder weg .
Nun ich das Licht sehe , glaube ich , sie hatte etwas Schweres zu sagen . "
" Na ! ... " sagte Rieke und stützte die Hände fest auf die Lehnen und wollte aufstehen , " dann muß ich in all dem Wetter nach frästet . "
Aber sie stand noch nicht , da riß der Sturm die Außentür auf und warf sie hart gegen die Wand .
Gleich darauf stand Liese Dusenschön mit ihrer kräftigen , breiten Gestalt auf der Schwelle .
Das rotblonde Haar hing ihr naß um die Ohren , Todesmattheit stand in ihrem weißen Gesicht und Entsetzen in ihren versunkenen Augen .
" Der Bauer hat mich weggejagt ... und meine Mutter ist nicht zu Hause . "
Rice Thomsen polterte aus dem Stuhl und faßte sie an , und führte sie drei Stufen hinauf in die Kammer und ließ sie aufs Bett nieder .
" Nein ... so was ! " sagte sie und richtete sich schwer auf .
" In meinem ganzen Leben habe ich niemals einen solchen Schreck bekommen . "
" Rice ... fünfzigmal habe ich im Schlamm gelegen ... ich habe mich gekrümmt wie 'n Wurm .
Ich wollte es greifen ... aber ich konnte es nicht bekommen . "
Sie atmete hoch auf .
" O , nun wird mir besser !
... Kommt meine Mutter noch nicht ? "
" Die kommt schon ... höre ... die Tür geht .
Sieh , da ist sie . "
Stiena Dusenschön kam in dem Aufzug , in dem sie immer war , wenn sie auf Nachbarschaft ging .
Sie hatte die verblichene schwarze Staatshaube auf dem Kopf und trug den altmodischen schwarzen Umhang mit den Perlenfransen , den die Pastorin ihr geschenkt hatte , um die mageren Schultern .
Und die langen Haubenbänder , die auf die Brust herabhingen , zitterten und die Perlenfransen tanzten aufgeregt ; ihre Hände fuhren entsetzt über dem Kopfe hin und her .
" O , mein Kind !
Mein Kind ! " sagte sie .
" Warum hast du mir das getan ! "
" Mensch ! " sagte Rice Thomsen .
" Stelle dich nicht an !
Um alles in der Welt , stelle dich nicht an !
Hast du es besser gemacht , als du jung warst ?
Warum sie es getan hat ?
Sie hat sich was vorreden lassen , oder ihre Natur hat es verlangt , eins von beiden . "
Stiena Dusenschön hatte sich auf den Bettrand gesetzt und rang nach Atem .
" Mein Kind , mein Kind !
... Wer ist der Vater ?
Sage doch deiner alten Mutter ... wer ist der Vater ? "
" Laß die Fragen , " sagte Rieke .
" Gehe hin und hole die kleine Tiene Rauh , daß sie uns zur Hand geht und eine gute Taffe Kaffee kocht .
Die halbe Nacht wird darüber hingehen . "
Sie tat ein wenig beleidigt , glitt aber doch von der Bettkante , lief hinaus und kam mit der kleinen Rauh wieder , einer von den Rauhen , die in der Hafenstraße wohnen , die alle so krauses gelbes Haar und einen so fahrigen Sinn haben .
Und lief gleich wieder ans Bett ihrer Tochter .
Die lag und sah mit zusammengezogenem Gesicht gegen die Decke und stöhnte schwer .
" O , Kind !
Ist es ein reicher Bauernsohn ?
... Ist es ein fremder Herr ?
O ... ist es ein Edelmann ? "
" Ein Edelmann !! " sagte Rieke und schüttelte den runden großen Kopf .
" Freue dich , wenn es ein ordentlicher Knecht ist , der Mutter und Kind anerkennt .
Komme , wir wollen in aller Gemütlichkeit eine Tasse Kaffee trinken ... das hast du dir nicht träumen lassen , was ?
... daß du heute Nacht noch Großmutter wirst ?
.. .
Nun setze dich ... "
Aber als Tiene Rauh gerade die Kanne hob , um einzuschenken , schrie Liese Dusenschön in der Kammer laut auf .
Die kleine Rauh stieß die Kanne hart auf den Tisch und wollte weglaufen .
" O Gott ! " sagte sie , " ich will zu meiner Mutter ! "
Aber Rieke griff ihr in den Nacken .
" Du bleibst hier am Tische sitzen , " sagte sie , " und rührst dich nicht von der Stelle .
Komme , Stiena . "
Und sie gingen in die Kammer , dem wimmernden Weibe zu helfen .
Die kleine Rauh saß am Tische , geduckt , als wäre sie da niedergebunden .
Wenn Liese Dusenschön aufschrie , fuhr sie mit beiden Händen in ihr wirres Haar .
Wenn sie leiser schrie , hielt sie sich die Ohren zu .
Wenn es aber in der Kammer ruhiger war , reckte sie vorsichtig den Hals und lachte .
So hielt sie es zwei Stunden lang , bis aus der Kammer ein leises , ganz von fern kommendes Weinen kam .
Da warf sie den Kopf auf den Tisch und weinte jämmerlich .
" So !
Das zieht in den Rücken ! " sagte Rieke und kam in die Stube zurück .
" Komme , nun wollen wir Kaffee trinken . "
Sie setzte sich schwerfällig auf ihren großen Lehnstuhl und sah Tiene Rauh an .
" Du ! " sagte sie , " du setzt dich nun da oben auf die Stufe , da an der Tür , und hörst genau zu , ob Liese schläft oder ruft , oder was sonst , und rührst dich nicht von der Stelle ...
Nun komme , Stiena .
Setze dich und sei gemütlich . "
" Wer wohl der Vater ist ? " sagte Stiena und lächelte in seligen Gedanken und drehte sich auf ihrem Stuhl , als säße ihr ein langsamer Walzer in den Gliedern .
" Sicher ein Bauernsohn , du !
Sicher .
Mehr als ein Bauernsohn ...
Daß es ein Junge ist , Rieke !
Wie glücklich bin ich darüber !
Wir Dusenschöns sind immer Mädchen gewesen , seit hundert Jahren .
Aber nun ist es ein Junge . "
" Du könntest Mal erzählen , " sagte Rieke Thomsen und füllte ihre Tasse , " was es eigentlich mit euch Dusenschöns ist .
Aber du sollst nicht übertreiben ; ich mag mich in meinen alten Tagen nicht mehr anlügen lassen .
Nun trinke . "
Stiena trank , setzte die Tasse wieder hin und wiegte sich eine Weile mit süßem , sinnigem Lächeln nach der feierlichen Musik , die immer in ihr war ; die Haubenbänder schwankten und die Perlenfransen wogten hin und her .
" Ach , " sagte sie , " was für eine Geschichte !
Sieh ... vor hundert oder mehr Jahren ... da fing sie an , da war mein Urgroßvater hier in Hilligenlei Bürgermeister und hieß von Dusenschön .
Er lebte mit seinen sechs Töchtern ganz einsam ; er duldete nicht , daß die jungen Männer aus der Stadt an sie herankamen , sondern hoffte , daß Edelleute und Offiziere sie der Reihe nach wegholen würden ; denn sie waren alle sehr schön .
Er sah es ruhig an , daß sie älter und älter wurden und die beiden Älteren schon welk wurden ; er war ein harter Mann und kümmerte sich nicht darum , daß jede Kreatur ihr natürliches Recht haben will .
Da bekam er eines guten Tags die Nachricht , daß des Königs Sohn durch Hilligenlei reisen wollte , und zwar ganz unbekannt und mit einem einzigen Begleiter ; und daß er bei ihm , dem Bürgermeister , die Nacht bleiben wolle .
Da sagte er es seinen Töchtern . "
Die kleine dusselige Tiene Rauh reckte den Hals , um Mutter und Kind zu sehen .
Dabei rührte sie an die Tür ; die knarrte kurz und hart .
Rieke Thomsen sah auf und sagte :
" Will Liese was ? "
" Nein , " sagte die kleine Rauh .
" Sie sieht so rot aus wie_ein Apfel am Baume . "
" Wir kommen gleich , " sagte Stiena und nickte lieblich nach der Kammer hinauf .
" Gib mir noch eine Tasse , Rieke . "
" Nun trinke , Stiena , und erzähle weiter . "
" Als die drei älteren Töchter des Bürgermeisters an diesem Abend zu Bett gingen , sagte die älteste , daß der Besuch eine große Ehre wäre , die zweite sagte , daß sie das damastene Tischzeug auflegen müßten , die dritte sagte , daß sie ihr blauseidenes Kleid anziehen wollte .
Die drei jüngeren aber sannen darüber nach :
was wohl die Liebe wäre .
Das taten sie zwar an jedem Abend ; aber an diesem Abend besonders .
Die erste kämmte ihr Haar und reckte ihre volle Gestalt gegen den Spiegel und dachte : achtundzwanzig Jahre ist er alt und ein stattlicher Mann .
Wie dumm , daß ein Königssohn nur eine Königstochter freien kann .
Die zweite saß in ihrem weiten weißen Hemd auf dem Rand ihres Bettes und beugte den Kopf so tief , daß sie ihren ganzen schönen Körper sehen konnte , vom Hals bis zu den Knien hinab und dachte darüber nach , ob sie nach zehn Jahren ebenso wie ihre älteste Schwester sein würde : so runzelig und so zimperlich und kleinlich , und sie schauderte , und wußte nicht , was sie von der Welt denken sollte , und legte sich hin und schlief ein .
Die dritte aber , von allen die jüngste : das war Suse Dusenschön , einundzwanzig Jahre alt .
Die lag längelang auf dem Rücken , die beiden Hände in dem dicken dunkelblonden Haar und war in bitterer Not .
Sie war in diesem Sommer oftmals zu der alten Pastorin gelaufen , die am Kirchhof wohnte , und hatte mit deren Sohn , einem Studenten , im Garten auf dem Rasen gelegen , an einem Haselbusch .
Und er hatte gepfiffen , wie der Buchfink pfeift , und hatte ihr erzählt , wie die Hasel blüht und Hochzeit macht , und hatte sie geküßt und war fortgegangen .
Seitdem lag sie in stillem , wildem Streit mit Gott und Menschen und dachte in bitterem Grimm :
» Die heilige Dreieinigkeit und die Menschen alle tun mir ein schreckliches Unrecht an . «
Heute abend aber war ihre Not besonders groß ; denn ihr Vater hatte heimlich zu ihr gesagt :
» Ich möchte , daß der Prinz mit besonderer Freude an unser Haus zurückdenkt , damit ich mit seiner Hilfe in die Hauptstadt komme und in ein höheres Amt .
Nun weiß ich , daß er schöne und kluge Frauen gerne hat .
Du bist die klügste und schönste ; du sollst morgen abend neben ihm sitzen . «
Darum lag sie längelang im Bett und machte den Beschluß :
» Wenn er will , soll er mir alles sagen , was ich nicht weiß , und wüßte es gern . « "
Die kleine Rauh reckte den Hals , um Mutter und Kind zu sehen .
Dabei rührte sie an die Tür , die knarrte kurz und hart .
Rieke Thomsen sah auf und sagte :
" Will Liese was ? "
" Nein , " sagte die kleine Rauh .
" Aber sie ist weiß wie Kalk an der Wand . "
" Wir kommen gleich , " sagte Stiena Dusenschön und nickte lieblich nach der Kammer zu , " ich will erst rasch zu Ende erzählen .
Gib mir noch eine Tasse , Rieke . "
Rieke Thomsen schenkte ein .
Hole Biederwand kam wieder herein und stellte sich nach seiner Gewohnheit ans Fenster und sagte nichts .
" Trinke und dann erzähle weiter ! "
" Am anderen Tag kam der Prinz an und saß am Abend neben Suse Dusenschön und unterhielt sich fein mit ihr .
Jedesmal wenn sie über seine Worte lachte , verbeugte er sich und sah ganz ernst drein ; und jedesmal , wenn sie ernst und still war , lachte er und gab ihr Wein .
Beim Aufstehen gab er ihr die Hand und sagte ein paar leise Worte .
Die Schwestern meinten , es wäre irgendeine Höflichkeit ; er hatte aber ein schweres Wort zu ihr gesagt .
Als sie dann im Hause alle zur Ruhe gegangen waren , schlich sie sich heimlich aus dem Zimmer und ging hinunter .
Am anderen Morgen fand die älteste Schwester sie in der Laube sitzen , die Hände fest in den Schoß gepreßt , und sie starrte vor sich auf die Erde .
Der Prinz reiste davon .
Sie wartete ja wohl , daß ein Brief oder eine Botschaft käme , aber die kam nicht .
Da ermahnte sie ihre beiden älteren Schwestern , daß sie sich gegen den Vater empören und einen einfachen bürgerlichen Mann heiraten sollten .
Dann reiste sie heimlich nach Hamburg und wohnte bei einfachen Leuten und nährte sich kümmerlich mit Nähen und gebar ein Mädchen .
Bei denselben Leuten hat sie dann noch acht oder neun Jahre gewohnt ; einige sagen : still und für sich und fröhlich über ihr kleines Mädchen ; andere sagen : daß sie zuweilen von Offizieren besucht worden sei .
Dann ist sie , noch jung , gestorben .
Da haben sie das zehnjährige Mädchen erst nach Hilligenlei geschickt .
Aber da ist der Bürgermeister Dusenschön schon tot gewesen .
Da haben sie das Kind zu den fünf Schwestern geschickt ; die haben in einem adligen Kloster in Ostholstein gesessen und haben Spreitdecken gehäkelt und haben sich über das Kind ihrer Schwester entsetzt und haben sich vom Pastor trösten lassen und haben das Kind wieder nach Hilligenlei geschickt .
Da ist es bei einfachen Leuten aufgewachsen und hat einen wunderlichen Sinn gehabt .
Zuweilen ist sie ganz stolz und verschlossen gewesen ; dann plötzlich ist sie überlustig und leichtsinnig gewesen .
Als sie zwanzig gewesen ist , da ist sie soweit gewesen , wie ihre Mutter .
Ihre Tochter hat wieder unehelich geboren .
Die war meine Mutter ; und ich habe auch keinen Mann bekommen . "
Die kleine dusselige Rauh rührte sich , da die Geschichte zu Ende war .
Dabei knarrte die Tür rasch und hart .
Rice Thomsen wandte den schwerfälligen Körper :
" Will Liese was ? "
" Nein , " sagte die kleine Rauh , " sie liegt ganz still und ist so gelb wie Wachs . "
Da stemmte Rice Thomsen ihre Hände auf die Lehne ihres großen Stuhles und kam allmählich auf die Beine und ging bedächtig in die Kammer hinauf , wobei sie sich an den Pfosten der Tür hielt .
Stiena Dusenschön blieb am Tische sitzen und wiegte sanft den Kopf und lächelte süß und horchte auf eine feierliche Melodie ; die Perlenfransen klirrten leise und die Haubenbänder hatten einen sanften , schönen Schwung .
So saß sie und Wunderweckte so vor sich hin und dachte :
" Es ist ein Edelmann !
Ganz sicher ! "
Hole Biederwand stand am Fenster und sah in die Nacht und den Sturm hinaus .
Nach einer Weile kam Rice Thomsen die Stufen wieder herunter , mit dem Kind vor der Brust , und setzte sich schweratmend wieder an den Tisch , fiel schwer in den großen Stuhl und sagte mit stockender Stimme :
" Liese Dusenschön ist tot . "
Da schrie Stiena Dusenschön gellendes auf und rief Gott und alle Menschen an .
Die kleine Rauh rannte lautlos aus der Stube .
Hole Biederwand war vom Fenster weg und in die Kammer hinaufgegangen .
Als er nach einer Weile mit seinen steifen Beinen wieder herunterkam , sagte er kopfschüttelnd :
" Ist das ein Jammer ! "
Rieke Thomsen schob die Kaffeetasse hart zurück .
" Sei still , " sagte sie .
" Ich mag keine Menschenstimme mehr hören . "
Aber der Alte ließ sich nicht irre machen :
" Was ist hier gesündigt worden , " sagte er ; " der Königssohn und der Bürgermeister Dusenschön und die sich an seinem Geschlecht vergriffen haben , und der Bauer , der sie weggejagt hat , und ihr beide , die ihr nicht aufgepaßt habt .
Diese Stadt heißt Hilligenlei , das heißt heilig Land , aber ich habe hier noch niemals einen Menschen gesehen , der von Sünde und Leid frei war . "
Rieke Thomsen schlug hart auf den Tisch und sagte mit brechender Stimme :
" Ich will es nicht hören .
Unser Herr Christus hat uns erlöst mit seinem Blut ; so habe ich gelernt und dabei bleibe ich . "
" Tühn doch nicht ! " sagte der Alte .
" Ist in der Stadt Hilligenlei oder den Deich entlang ein einziger Erlöster , ein Heiliger ?
Wie viele Faule , wie viele Gedankenlose , wie viele Narren in dieser kleinen Stadt !
Aber ich sage euch :
es wird einmal ein tapferer Mensch kommen ; der wird aufstehen wie ein Richter in Israel , und wird dies ganze Land unter die Schärfe des Schwertes beugen , daß es ein heilig Land wird , wie sein Name ist . "
Indem schoß die kleine Tiene Rauh wieder in die Tür und warf eine Postkarte auf den Tisch : " Die hat der Briefträger bei uns hingelegt , weil du nicht zu Hause warst , Stiena , " und stob wieder davon .
Stiena Dusenschön griff nach der Karte und wischte sich die Tränen aus den Augen und las die Adresse :
" An Stiena Dusenschön in Hilligenlei " , und drehte die Karte um und sah lauter bunte Blumen gemalt und auf dem kleinen freien Raume standen die Worte :
" Du ahnst es nicht . "
Das war derzeit so eine dumme Redensart .
" O , " sagte sie und wischte an ihren Tränen , " sieh doch !
Die ist von ihm !
Was für eine schöne Karte !
Ich ahne es nicht !
Was ahne ich nicht ?
... Daß er ein schwerreicher Mensch ist !
Nein ... ich ahne es nicht .
Rice !
Es ist ein Edelmann !
Er wird in einer Kutsche kommen und das Kind holen , und ich werde mitfahren . "
Rice Thomsen nahm die Karte und besah sie und sagte : " Es ist eine schöne Karte und die Handschrift ist gut ...
Aber das beste wäre , wenn sein Name darunter stände , Stiena . "
" Es ist ganz gleichgültig , " sagte der Alte , " wer oder was sein Vater ist ; es kommt bloß darauf an , daß dieses Kind dabei hilft , daß unser Land heiliger wird , dies Hilligenlei hier .
Das ist es . "
" Ach ! " sagte Rice ärgerlich .
" Rede nicht immer davon !
Ich sage : wenn sein Vater eine solche Postkarte schreibt und seine Mutter eine Dusenschön ist , so kann aus ihm etwas werden und damit gut !
Wir können auch das Kartenspiel Mal fragen , Stiena .
Ach Gott , Stiena !
Was muß man alles erleben !
... Sie liegen auf dem obersten Bord . "
" Oh ja ! " sagte Stiena Dusenschön und stand lebhaft auf ; die Haubenbänder wogten und die Perlenfransen schlugen ziemliche Wellen .
" Du mußt die Karten Mal fragen , Oh Gott , was werden die sagen !
... "
* Am anderen Morgen saß Rieke Thomsen wieder auf ihrem großen Stuhl und auf ihrer Feuerkieke , die ein wenig rauchte , sah scharf nach dem Hause des Hafenmeisters Lau hinüber und wartete , daß sie nun endlich gerufen würde .
Und saß und wartete vier Tage lang und hatte an jedem Tag gegen zwanzig Besuche von alten und jungen Weibern , die alle bei ihr Kaffee tranken ; und klagte über ihre Einsamkeit , und bekam einen heimlichen Groll gegen das Kind .
Am Morgen des fünften Tages , als sie sich eben wieder auf den Thron gesetzt hatte , kam Hafenmeister Lau über die Straße , riß mit seiner großen Tatze ein Fenster aus , daß der Haken davon sprang , und sagte in seiner gemütlichen , ruhigen Weise : " Der Junge ist heute Nacht angekommen . "
Sie richtete sich steil auf , sah ihn mit ihren runden Augen scharf an und sagte :
" Warum hast du mich nicht geholt ? "
" Ja ... , " sagte Lau , " der Junge sagte , es wäre nicht nötig ; er könne sich selbst helfen .
Und hier , " sagte er , " sind die fünfzehn Groschen . "
Und er zählte die Hebammengebühr auf die Fensterbank .
" Das wird ein ganz wetterwend'scher Junge , " sagte sie ; " das kann ich dir sagen .
Aus dem wird nichts . "
Der große Hafenmeister lachte in seinen hellblonden Bart und ging .
Da dachte Rieke Thomsen daran , daß die fünfzehn Groschen von Stiena Dusenschön noch ausstünden und wartete , bis Stiena einmal kam , eine Tasse Kaffee bei ihr zu trinken , und sagte : " Du ... die fünfzehn Groschen . "
Stiena Dusenschön drehte sich ein wenig , und zwar offenbar nach einer wunderschönen , feierlichen Melodie und sagte sauersüß :
" Ich habe dir eine so schöne Geschichte erzählt , während Liese starb : das Geld bekommst du nicht ... Sieh , ich habe mir neue Fransen anmachen lassen und ein Paar neue Haubenbänder gekauft . "
Da fiel auch der kleine Dusenschön bei Rieke Thomsen in Ungnade , obwohl die Karten ihm Gutes geweissagt hatten , nämlich viel Geld und viel Ehre .
Sie sagte allen , die zu ihr kamen : es würde nichts aus ihm .
Und die beiden Kinder , der kleine Dusenschön und der kleine Lau , wuchsen heran und wurden Freunde .
Und wenn sie mit ihrem Lärmen die Hafenstraße erfüllten , erboste Rieke Thomsen sich in ihrem großen Stuhl und es kam zuweilen , daß sie sich schwer heraushob , das Fenster öffnete und dem kleinen Lau zurief :
" Du wetterwend'scher Bengel du ! " und zu dem kleinen Tjark Dusenschön sagte sie :
" Du ?
... du hast nicht Mal dein Hebammengeld bezahlt ! "
Was sollen zwei kleine Jungen dagegen machen ?
Was half es , daß der Hafenmeister vom Boot und Bollwerk her seinem Jungen mit ruhigem , breitem Lachen zurief :
" Jung , laß dich nicht verblüffen ! "
Was half es , daß Stiena Dusenschön mit fliegenden Haubenbändern aus ihrer Tür kam und mit süßer Stimme rief : " Tja ... arg !
Mein Tja ... arg !
Mein süßer Jung !
Komme rasch zu deiner Oma " ?
Nun wohnte da neben dem Hafenmeister und dem langen Haus schräg gegenüber ein Schmied .
Der hieß Johann Friedrich Buhmann ; ganz Hilligenlei aber nannte ihn kurzweg Jan Friech .
Der war sehr groß ; und sein Haar war wirr und ungekämmt und alles in seinem Gesicht war schwarz ; bloß das Weiße in den Augen und seine Zähne waren gelb .
Seine große , magere Gestalt wollte immer auseinanderfallen ; aber die große , steife , schwarzbraune Lederschürze , die immer hin- und herpolterte , hielt sie zusammen .
So sah er von vorn noch ganz gut aus .
Aber von hinten war es sehr schlimm .
Die Lederschürze reichte da nicht zusammen und so war er da gewissermaßen ohne Flügeldecken und war nichts da als viel versunkenes schlappes Hosenzeug und ein dünner und dürrer Lederstreifen , der von der Schürze herunterhing .
Jedermann weiß , wie ein alter Elefant hinten aussieht .
Alle kleinen Kinder der Hafenstraße fürchteten ihn , weil er oft , wenn sie vorüber gingen , mit gebücktem Gang und schrecklichem Gejaul aus seiner Werkstatt herauskroch und seine große schwarze Hand nach ihnen ausstreckte .
Er war aber in Wirklichkeit gar nicht böse , sondern war ein Narr , und zwar ein Kindernarr .
Und war faul .
Der lockte die beiden eines Tages , als sie so sechs Jahr alt waren , in seine Schmiede und wurde ihr Freund und ihr Beschützer gegen das große Weib .
Manche Stunde saßen sie bei ihm , im Sommer draußen auf der Bank unter der Wand , im Winter auf dem Amboß und auf dem Herd , der oft kalt war .
Eines Tages brachte Tjark Dusenschön jene Postkarte mit , die seine Großmutter am Tag seiner Geburt bekommen hatte .
Die wurde nun Gegenstand schwerer Beratung .
Stundenlang wühlte der große Schmied mit seinen großen rußigen Händen in seinem wilden Haar und brummelte so vor sich hin und hielt die Karte gegen Licht und Sonne , um Geheimschrift oder verborgene Zeichen zu entdecken , und sah dann plötzlich von der Schrift auf , und studierte mit seinen wilden , rußberingten Augen das Gesicht von Tjark Dusenschön , ob er irgendeine Ähnlichkeit mit irgendeinem großen Mann in und um Hilligenlei finden könnte ; und schüttelte den Kopf und sagte : " Du ahnst es nicht ... du ahnst es nicht ... "
Der kleine Tjark Dusenschön saß ihm gegenüber und sah ihn mit großen glänzenden Augen an und zuletzt ging ihm das schwere Grübeln des großen wilden Schmiedes so zu Herzen , daß er weinte .
Dann schalt der kleine Lau ihn und prügelte ihn .
Und Tjark Dusenschön wurde stark im Weinen und der kleine Lau wurde stark in der Faust .
Hole Biederwand aber , der Ordonnanzreiter zwischen Gottorp und Kiel , stand am Fenster des langen Hauses und sah nach den beiden Jungen und erkannte bald , daß Tjark Dusenschön nicht der rechte wäre .
Er war schlapp .
Da setzte er seine Hoffnung noch eine Zeitlang auf Pe Ontjes Lau .
Der war von stattlichem Körper , von straffer Haltung , von ruhigem , sicherem Wesen und zeigte die Gabe des Regierens .
Aber eines Tags erfuhr er von Mars Wiebers , dem Lehrer der Hafenschule , daß es auf keine Weise möglich wäre , dem Lau das Einmaleins beizubringen .
Da gab Hole Biederwand auch diese Hoffnung auf .
Der , welcher ein ganzes Land aus Faulheit , Ungerechtigkeit und viel sonstiger Unvollkommenheit in einen gesunden , ja heiligen Zustand bringen sollte , mußte in den Elementen des Wissens klar sein .
So trat der Alte vom Fenster zurück und ging an das Bett seines Bruders , den er vor fünfzig Jahren , als er ein junger Bauer bei Hindorf war , von den sterbenden Eltern übernommen hatte .
Der war von seinen Jünglingstagen an lähmt und lag nun schon dreißig Jahr im Bett .
Er setzte sich zu ihm und las ihm aus der Bibel und aus dem Gesangbuch vor und aus den Büchern Luthers .
Und gab seine Hoffnung nicht auf .
Er wartete , ob vielleicht bald ein junges Ehepaar in das lange Haus einzöge , oder ob vielleicht drüben , im Lehrerhaus von frästet , wo ein altes einsames Paar hauste , neues Leben einzöge und vom Fenster das bekannte Licht über die Bucht schiene .
Denn er dachte sich , daß oben auf dem freien Deich , im Angesicht des weiten Meeres , das bald Licht ist wie die Sonne und bald düster wie das Grauen , das Kind geboren werden sollte .
Zweites Kapitel Und siehe da : als der Lehrer in frästet , oben auf dem Deich , gestorben war , da kam ein neuer Lehrer dahin .
Der hieß Wilhelm Boje .
Der hatte noch niemals ein Weib berührt , außer daß er einmal , wie aus Versehen , die Hand der Schwester eines Freundes berührt hatte , bloß um zu wissen , wie ein Frauenkörper sich anfühlt .
Aber damals war er noch sehr jung gewesen ; jetzt war er vierundzwanzig .
Er hatte sich auf die Zeit des ersten Amtes sehr gefreut .
Er hatte es sich sehr schön gedacht , an jedem Tag nach der Schularbeit und nach einem Spaziergang auf dem Deich in den herrlichen Büchern zu lesen , die er sich als Seminarist mühselig zusammengekauft hatte .
Die Geschichte von Odysseus , das schrecklich schöne Spiel von dem König Macbeth und dem Professor Faust , und die Geschichte von Robinson , und einige andere erschienen ihm wie klare Gläser , in die man hineinsieht , und sieh , man schaut das ganze Spiel der Welt .
Aber er wohnte noch nicht vier Wochen in dem leeren , stillen Hause , da wurde es März .
Und da fiel er in Liebe .
Er wußte nicht , wie ihm geschah .
Es war eine schlimme , selige Zeit .
Er stand eine Weile an seinem kleinen Bücherbord und griff nach einem Buch ; aber seine Gedanken liefen gleich wieder aus dem Buch heraus .
Er sah zwar noch hinein , aber er dachte nicht mehr daran ; und plötzlich überfiel ihn eine so starke Freude , daß er das Buch rasch hinstellte , mit beiden Händen in sein helles Haar griff und vor lauter Lust aufschrie .
So selig machte ihn der Gedanke an sie .
So sehr liebte er sie schon , obgleich er sie noch nie mit seinen Augen gesehen hatte .
Oft ging er in die vordere größere Stube , die ganz leer stand , und malte sich aus , wie es werden würde , wenn sie hier mit ihm hauste .
Da , an der Dielenwand , sollte das Sofa stehen ; da wollte er abends mit ihr sitzen und sie herzen und küssen ...
Von der Stube ging er auf die Diele und griff mit der Hand in den Schrank und sagte bei sich selbst :
" Da wird ihr Sonntagskleid hängen ... "
Er ging in die Küche und stellte sich an den Herd , seitwärts , daß er ihr nicht im Wege war ; aber er hörte doch , wie sie schalt und sagte , sie könnte es nicht haben , wenn jemand bei ihrem Kochen zusähe ...
Er ging in den Garten und rief sie , aber sie schwieg .
Da suchte er sie und fand sie richtig hinterm Stachelbeerbusch kauernd .
Er schalt sie , daß sie die unreifen Beeren aß ; sie leugnete zwar , daß sie welche gegessen hätte ; aber die Schalen , die auf der Erde lagen , verrieten sie .
" Nein , " sagte er , " was bist du noch für ein Kind !
Was für ein liebes , schönes , seltsames Kind bist du . " ...
Abends bevor er schlafen ging , trat er in die mittlere Stube , die auch ganz leer war ; aber in verliebter Sehnsucht sah er das Lager und sah sie daneben stehen .
Sie war stattlich und voll junger Kraft , und hatte unter schwerem , hellem Haar , das lang und glatt herunterhing , stolze , fliegende Augen , die sahen ihn weder gut noch gnädig an , sondern mit einem klugen , klaren Blick .
Aber dann hob sie plötzlich die Arme , wobei sie den ganzen Oberkörper hob , und legte sie um seinen Hals und war nichts als Güte ; und er durfte das Schönste sehen , was Gott gemacht hatte ...
So deutlich stand sie vor seiner Seele , obgleich er noch gar nicht wußte , wer sie sein würde .
Es war eine selige , schlimme Zeit .
Zuletzt kam ein Tag , da er besonders unruhig war .
Den ganzen Tag dachte er an sie und abends fand er sich , wie er sich über sein Bett beugte und mit einem sonderbaren freundlichen und lieben Ton , den er bisher nicht in der Kehle gehabt hatte , sagte : " Du ... , die Deern soll Heinke heißen und der Junge Piet . "
Da erschrak er und dachte : " Gott sei Dank , daß ich unter Menschen wohne !
Und daß Mädchen wie Brombeeren wachsen .
Ich will die suchen , welche ich meine , und will heiraten . "
Am anderen Tag hörte er , daß drüben in Hilligenlei ein großer Bauerntanz wäre :
da wartete er , bis der Hafenmeister Lau mit seinem Boot herüberkam , und fuhr mit dem nach Hilligenlei .
Als er im Tanzsaal ankam , sah er unter den jungen Mädchen , die da an den Säulen saßen , eine , die war dem Bilde , das er im Geiste trug , sehr ähnlich .
Sie war von stattlichen Gliedern und hellem Haar ; und wenn sie zum Tanz aufstand , trug sie ihre frische Schönheit wie ein Königskleid .
Als sie oftmals an ihm vorübertanzte , sah er , daß sie schöne , tiefe Augen hatte , die wegen der Unschuld ihrer Seele stolz und unsicher zugleich waren ; und er gewann sie noch lieber .
Er versah sich so sehr in die Schönheit ihres starken Körpers und in die herbe Süßigkeit ihres kleinen hellen Gesichts , daß seine Seele freudig und liebevoll ihr entgegenflog .
Da traf es sich , daß sie in seiner Nähe vom Tanzen abließ und am Arm ihres Tänzers vorüberging und mit scheuen Augen nach den Männern sah und auch zu seinen Augen kam .
Da irrte sie rasch mit den Augen weg - so schwirrt die Taube ab vom fliegenden Habicht - ging mit gesenktem Kopf weiter und dachte :
" Was ist das für ein langer , schmucker Mensch und wie hat er mich angesehen ...
Ach , wenn er doch mit mir tanzte . "
Es war aber ein unordentliches Tanzen im Saal , weil der junge Ringerang , der Wirt , so lappig ist wie ein nasses Handtuch .
Die jungen Leute stürmten beim Beginn der Musik auf die los , die begehrt waren , so daß es jedesmal ein unwürdiges Drängen gab .
Wilhelm Boje versuchte zweimal , bis an sie heranzukommen , mußte es aber wieder aufgeben und stand und sah finster drein .
Sie hatte ihn aus ihren Augenecken genau beobachtet .
Und als sie nun wieder tanzte , dachte sie in wirrem , wunderlichem Weibssinn :
" Ich tue es - ich tue es nicht , heute ist er da ; nachher sehe ich ihn niemals im Leben wieder ... Ich tue es !
... "
Da flog ihr Schuh zu seinen Füßen .
Sie schrie leise auf .
" O , " sagte sie zu ihm , " ich bin aus meinem Schuh getanzt , " und wandte sich zu ihrem Tänzer .
" Es ist aus und vorbei mit dem Tanzen , die Spange ist gerissen , " und verneigte sich vor ihm .
Der ging .
Denn er war noch jung und dumm .
" Wenn du nicht mehr tanzen kannst , " sagte Wilhelm Boje leise mit schwerer Stimme , " dann gehe mit mir . "
Sie legte die Hand auf seinen Arm , sah in den Schuh und glitt hinein und sagte leise :
" Nicht nach den Stuben zum Weintrinken , sondern hinaus . "
" Ich gehe voran , " sagte er leise , " du kommst nach . "
Er ging und hatte unterwegs im Gewühl Aufenthalt ; und fand sie nicht , als er aus der Tür unter die kahlen Kastanien trat , unter denen es dunkler war .
Aber dann sah er sie an der schmalen Brücke stehen , die über den Burggraben in den Stadtgarten führte .
Die Burg ist schon lange nicht mehr da .
Sie legte den Arm in den seinen und sagte :
" Mein Vater ist hier in Hilligenlei .
Wenn er mich sieht , schilt er . "
" Oh , " sagte er , " das laß jetzt . "
Sie lachte leicht auf :
" Darf ich davon nicht reden ? "
" Nein , " sagte er .
" Wovon denn ? "
" Ob du mich leiden magst . "
Sie beugte sich im Gehen und sagte zögernd :
" Magst du mich denn leiden ? "
" Ich habe noch niemals ein Mädchen geküßt , du ... und noch keine im Arm gehabt .
Wenn ich eine lieb habe , so ist das eine ernste Sache . "
Sie beugte sich wieder vor und sah wieder auf die Erde und sagte schüchtern :
" Es ist auch für mich das Ernsteste auf der ganzen Welt . "
Da blieb er stehen und griff nach ihrer Hand und bat : " Sieh doch auf und sieh mich doch an . "
Aber sie hielt den Kopf gebeugt ; sie scheute sich , ihr Gesicht zu zeigen , in welchem die plötzliche Liebe eine große Verwirrung anrichtete , wie sie wohl fühlte .
Lichter fielen durch die wehenden Zweige und spielten auf ihrem Haar .
Da legte er seine Hand gegen ihr Stirnhaar und bog ihren Kopf zurück und sagte bittend :
" Gib doch her , " und küßte sie scheu ; und da sie mit heruntergeschlagenen Augen still hielt , küßte er sie wieder und wieder .
Dann ging sie langsam neben ihm her , beide Hände an seinem Arm und zutraulich an ihn gedrängt , die Augen wieder an der Erde .
" Ist es deinem Vater nicht recht , daß du zu Tanz gehst ? "
" Nein , " sagte sie , " er will uns alle behalten , daß er billige Arbeitspferde hat .
Unser Hof ist schwer verschuldet .
Meine ältere Schwester ist schon alt und kalt geworden . "
Er war ganz außer sich :
" Das soll dir nicht widerfahren .
Du ?
... Du sollst nicht ledig bleiben . "
" Will ich auch nicht , " sagte sie .
" Aber wer nimmt mich ? "
" Ja , wen willst du ?
Sieh , darauf kommt es dann ja an !
Komme doch Mal her mit deinen Augen .
So , sieh doch auf und sieh mich an .
Sei doch nicht bange ...
So !
... Was hast du für klare , kluge Augen !
Sage Mal , wie muß der aussehen , den du lieb hast ? "
Sie sah ihn eine Weile unbeweglich mit freundlicher Neugier an ; dann hob sie die Hände weich und scheu ; sie wollte sie wohl auf seine Schulter legen , brachte es aber nicht fertig und sagte mit rührender Verlegenheit :
" Ungefähr so wie du . "
Er streichelte sie und sagte : " Zu lieb bist du . "
Sie waren noch ganz darin versunken , sich in die Augen zu sehen , da kam ein Schritt unter den Kastanien her .
Ein breitschultriger , arbeitsschwerer Mann ging vorüber und sagte mit einer eingerosteten Stimme :
" Du kommst mit nach Haus . "
Sie trat , ohne ein Wort zu sagen , von Boje fort und ging an ihres Vaters Seite den Baumgang entlang und verschwand .
Da ging Wilhelm Boje zu Fuß um die Bucht herum nach frästet und kam wieder in sein leeres Haus .
Am anderen Tag dachte er :
" Nein , wie zutraulich war sie , wie lieb und köstlich !
Was für ein liebes , weißes Gesicht . "
Am zweiten Tag malte er sich aus , wie nun diese , die er nun ja kannte , in diesem Hause wohnen würde , und ging durch alle Stuben und sah ihr zu ...
Am dritten Tag kam ein Brief von ihr , mit krickeligen Buchstaben - es war unbegreiflich , wie das große , kluge Mädchen zu so kleinen , wirren Buchstaben kam .
In nicht ganz richtigem Hochdeutsch schrieb sie :
" Ich soll doch heiraten , meinen Vetter auf Krautsiel .
Er hat einen kleinen Hof unterm Deich und braucht keine Aussteuer , sagt Vater ; und sie können zur Pflugzeit zwei Pferde sparen , wenn sie zusammenspannen , sagt er .
Der Vetter ist noch ganz jung und hat eine Hornhaut und fühlt sich nicht menschlich an ; aber ich glaube , ich will ihn doch heiraten , denn was soll ich ?
So bin ich doch von Vater weg .
Mein Fenster ist das letzte an der Deichseite , nach Westen hin .
Aber was hilft das ?
Ich denke die ganze Nacht an den Lehrer von frästet und wollte schrecklich gern wissen , ob er mich noch lieb hat . "
Da zog er abends , als es dunkel wurde , eine starke Winterjacke an und ging an den Strand , machte das Boot vom Krabbenfischer Paulsen los und ruderte in die Bucht hinaus .
Er konnte hoffen , vom Ebbstrom mitgenommen , in einer Stunde in Krautsiel zu sein , denn der Strom ging schräg über die Bucht darauf zu .
Mit dem entgegengesetzten Strom wollte er morgens wieder zurückkommen .
Er kam richtig in den Strom , achtete genau darauf , daß die Lichter von Hilligenlei in der richtigen Stellung blieben , und warf sich in die Ruder .
Als er nach einer Zeit , die er viel zu kurz taxierte , da seine Jugend , seine Gedanken und der Strom ihn gleicherweise fortzogen , aufsah , waren die hellen Lämmerwölkchen verschwunden , die da in Herden gestanden hatten ; statt ihrer waren einzelne schwere , dunkle Kühe heraufgekommen , die grasten bedächtig über die Himmelsweide ; der Deich zur Rechten , dessen dunkle , gerade Linie er vorhin noch deutlich gesehen hatte , war verschwunden .
Da wurde er unruhig und legte sich gewaltig in die Riemen , ob er den Deich nicht wieder erreichen könnte .
Ein scharfer , kalter Wind kam auf , dessen Richtung er nicht kannte .
Es war nichts um ihn , als graue , schwarze Wellen , die stärker wurden und ruhevoller dahinrauschten , darüber ein etwas hellerer Himmel .
Da fror ihn , und er schalt auf das Mädchen :
" Sie soll büßen , was sie hier angerichtet hatte .
Büßen soll sie es ! "
Ganz verdrießlich und ärgerlich gab er es auf , sein Ziel zu erreichen , und beschloß , bis der Morgen graute , so eben weg gegen den Strom zu rudern , damit er die Wärme hielte und nicht zu weit ins Meer getrieben würde .
Er hatte es aber kaum gedacht , da sah er schräg vor sich , gar nicht mehr weit , einen wunderlichen , hellen Lichtschein .
Ein Lichtschein , so schien es ihm ... in einem Turm .
Und der Turm ... wankte ein wenig hin und her ?
.. .
Und lag mitten im rauschenden Strom ?
... Und das Licht war so rot und feurig und hing hoch oben , als wenn es an einer Decke leise schwankte ?
Er hatte Mund und Augen gleich weit offen , und ruderte mit großer Sorge vorsichtig - eins - zwei - darauf zu .
Plötzlich erkannte er es .
Gott bewahre !
Das Feuerschiff !
Das Feuerschiff , das draußen vor der Bucht liegt !
Gott bewahre !
Soweit war er hinausgetrieben !
Er ruderte heran und fand ein Tau , machte sein Boot fest und kletterte an Deck .
Zwei Matrosen lehnten über die Reling und sahen ihm zu , und der eine sagte : " Nanu ?
... Woher kommst du denn ?
... "
" Ich bin der Lehrer Boje von frästet , " sagte er , " ich wollte nach Hilligenlei hinüberfahren und verirrte mich . "
" Das ist nicht wahr , " sagte der Matrose , " du hast nach Krautsiel wollen zu Hella Andersen . "
Boje starrte in das hagere Gesicht des Matrosen , aus dem zwei kluge Augen aus heimlichen Tiefen leuchteten :
" Wer bist du denn ? " sagte er , " daß du das weißt ? "
" Ich bin Thoms Jans ...
Meine Frau hat es mir geschrieben .
Die hat gesehen , wie Hella Andersen aus dem Schuh getanzt ist .
Sie kennt Hella Andersen gut , weil sie da auf dem Hof gedient hat .
Siehst du ! "
" Was hat denn deine Frau bei Ringerang auf dem Tanz zu tun , während du auf dem Feuerschiff sitzt ? "
" Wir haben schon drei Kinder , siehst du ; darum verdient sie etwas dazu .
Sie ist bei Ringerang Aufwartefrau ...
Nun komme mit , du bist ja ganz verfroren . "
An der Treppe standen der Kapitän und der Bestmann , hörten mit Kopfschütteln , was Boje erzählte , und sagten zu Thoms Jans : " Du kannst ihn nachher an Land fahren . "
Weiter kümmerten sie sich nicht um den Gast .
Der saß in der Kajüte auf der äußersten Ecke einer Seekiste , so , daß er den kleinen eisernen Ofen , der ein wenig warm war , zwischen den Knien hatte ; und er klapperte mit den Zähnen und schüttelte sich vor Kälte .
" Bist du schon lange auf dem Feuerschiff ? " fragte er .
" Drei Jahre schon , " sagte Thoms Jans .
" Mensch ! " sagte Wilhelm Boje , " sage doch bloß : wie kannst du das aushalten !
Drei Jahre weg von deiner Frau ?
Ja , wenn du tausend Meilen von ihr weg wärst !
Aber so ?
Zwei Meilen von ihr entfernt ?
Das muß 'ne Höllensache sein . "
" Ist es auch , " sagte der Matrose , " aber was willst du machen ? "
" Was denn ? "
" Ja , siehst du ; erstmal ist in Hilligenlei wenig Arbeit zu haben .
Im Winter hast du sechs oder zehn Wochen gar keine Arbeit ; du weißt wohl , ganz Hilligenlei schläft .
Na und dann ... ja ... sieh Mal ...
Wir bekamen in den ersten drei Jahren gleich drei kleine Mädchen ; da dachte ich : soll das so weiter gehen ?
... "
" Und darum gingst du auf das Feuerschiff ? "
" Darum . "
" Und bist drei Jahre lang nicht bei deiner Frau gewesen ? "
" Ich bin wohl dann und wann dagewesen ... so alle sechs Wochen ; aber ich habe mich fern von ihr gehalten ... verstehst du ... "
" Das ist verrückt , " sagte Boje und nahm den ganzen Ofen und setzte ihn vorsichtig ein wenig näher an sich heran .
" Ganz verrückt ...
Was hast du nun von deinem Leben ? "
" Ja , " sagte Thoms Jans und sah von unten aus den klugen , tiefen Augen auf Boje , " es ist schrecklich .
Das ganze Leben ist nichts , gar nichts .
Aber sieh Mal ... wenn es nun ein Junge wird ?
.. .
Die drei Mädchen laufen wohl an einen ordentlichen Mann .
Aber wenn es ein Junge wird ? "
" Wenn es ein Junge wird ?
Was dann ?
Dann haust du auf_dem Tisch , Mensch , und freust dich ! "
" So ?
Was soll er denn werden ?
Sieh ... mir war als Kind so zumute , als müßte ich immer , immer lernen dürfen ; ich konnte mich nicht satt lernen und lesen .
Der Lehrer sagte zu meinem Vater : » es ist ein Jammer , daß der Junge zu den Bauern muß « ; aber ich mußte dahin ; zehn Jahre war ich alt .
Das Lernen sollte gerade anfangen , da war es vorbei .
Ganz vorbei ...
Vor sieben Jahren , als ich eben von den Soldaten zurückkam , diente ich bei Harn Jansen , weißt du , in Süderwisch .
Der bekam Besuch von seinem Bruder , dem Pastor .
Da mußte ich mit dem drei Tage lang durchs Land fahren , bald nach dem Strand , bald nach den Geestdörfern hinauf ; er wollte einmal sehen , ob er die Spuren seiner Kinderfüße wiederfinden könnte .
In den drei Tagen , da ich neben ihm auf dem Wagen saß und die Zügel führte , sprach er mit mir über alles , was die Menschheit angeht und was die Gelehrten darüber zusammengedacht haben : über Religion und Regierung und Parlament und Selbstverwaltung und über Handel und Industrie und Landwirtschaft .
Aber er hat mir fast keinen Gefallen getan ; denn als die drei Tage um waren und ich wieder in den Stall mußte und abends wieder allein in der Kammer neben dem Pferdestand saß , ohne Buch und ohne Blatt :
ich sage dir , ich bin niemals in meinem Leben unglücklicher gewesen .
Na , und so ist es noch , und so wird es bleiben .
Weißt du , wie es ist ?
Du hast ein großes , leeres Haus im Kopf , ohne Scherwände , ohne Fenster und Möbel , und es wohnt niemand darin .
Kannst du das verstehen ?
Na also !
Und nun ?
Mädchen sind nicht so heißhungrig .
Aber wenn es nun ein Junge wird ?
Soll der in dasselbe Elend hinein ?
Soll der auch sein Leben lang mit einem so großen , öden Haus im Kopf umherlaufen ?
Kannst du das verstehen ?
... Na also ...
Dann weißt du auch , warum ich hier auf dem Feuerschiff sitze . "
" Hast du deine Frau sehr lieb ? " fragte Boje .
" Das kannst du glauben ! " sagte Thoms Jans .
" Sie ist ein liebes kleines Weib . "
Er stützte den Kopf in beide Hände und grübelte vor sich hin .
Drei Matrosen kamen in die Kajüte und setzten sich .
Der eine fing an , seine Pfeife zu reinigen , die beiden anderen sahen zu .
Sie sagten nichts .
Thoms Jans hob den Kopf und sagte so aus seinen Gedanken heraus : " Sage ' Mal , Zimmermann , hast du jemals im Leben eine glückliche Stunde gehabt ? "
" Weiß ich nicht , " sagte der Zimmermann .
" Ganz glücklich ?
Glaub ich nicht .
Vielleicht als ich ganz jung war . "
" Du mußt nachdenken , " sagte Thoms Jans .
" Ach , Mensch ! " sagte der Zimmermann und bohrte an seiner Pfeife ...
" Du bist neugierig wie ein Kind ... Ganz glücklich ?
... Das weiß ich nicht .
Ja ...
Ich fuhr Mal vor sechs , sieben Jahren , bald nach dem Krieg , als Matrose auf einem Frachtdampfer nach London :
da hatten wir ein merkwürdiges Erlebnis ...
Es war da ein Reisender an Bord , ein kleiner Mann , so ein bißchen jüdisch schien mir sein Gesicht .
Der kam eines Abends , als ich Freiwache hatte ... wir stampften hart gegen einen Nordwesten an ... zu uns ins Logis ; Bob Stewens hatte gerade die Bibel aufgeschlagen ; es war also wohl ein Sonntag Abend .
Genug : der Mann kommt ins Logis , setzt sich , sieht das Buch da liegen und , hast du nicht gesehen ? - schlägt er auf das Buch und sagt : » Das Buch ist das beste auf der ganzen Welt , und doch ist es schuld daran , daß soviel Armut und Dummheit in der Welt ist . «
Ja , so sagte er ... so ungefähr . "
Thoms Jans hatte den Kopf höher gehoben .
Seine Augen sprangen in das alte buschige Gesicht des Zimmermanns :
" Weiter . "
" Die Reichen und die Pfaffen , " sagte der Jude , " die streuen uns Sand in die Augen und die Bibel muß ihnen den Sand liefern .
Ja , das sagte er .
Das war seine Meinung . "
Thoms Jans starrte in Bojes Gesicht .
" Was sagst du dazu , Schulmeister ?
... "
" Es ist ein Sozialdemokrat gewesen , " sagte Boje .
" Ich habe Mal davon gehört .
Ein Sozialdemokrat !
Was geht mich das an !
Denke lieber nach , wie ich nach Krautsiel komme . "
" Weiter . "
" Ja , was sagte er sonst noch ?
Er sagte , es werde anders werden .
Alles anders !
Und das bald ! "
" Ich verstehe es nicht , " sagte Thoms Jans ... " Verstehst nicht , Mensch ?
Alle gleich !
Alle gleich !
Das sagte er .
Ein Reicher , sagte er , hat ein großes Feld und einen großen Wald , darum müssen zehn Arme mit all ihren Kinder verfroren und schüchtern auf der Straße stehen oder in engen Höfen wohnen , in welche die Sonne nicht hinein scheint .
Ein Reicher hat feine Kleider , besieht sich die Welt , kauft seinen Kindern alle Bücher , die sie haben wollen ; darum müssen zehn Arme mit all ihren Kindern in Druck und Dummheit dahin leben .
Das wird alles anders , sagte er .
Wenn da zwei Kinder in der Wiege liegen , sagte er , dann soll es nicht heißen : Grafenkind und Reichmannskind reiten voran und Arbeiterkind kriecht hinterher .
Sondern beide aufs Pferd !
Und nun :
Wer kann reiten ?
Wer fällt vom Gaul ?
... Versteht ihr ?
Damit die tüchtigsten Männer dem Volk vorwärts helfen .
Versteht ihr ?
So sagte er . "
Thoms Jans war aufgestanden .
" So ? " sagte er , langsam und schwer .
" Das sagte er ?
Und ... was sagte er ?
... sind da denn auch Leute , die daran glauben ? "
" In Hamburg und Berlin , sagte er ... da sind Tausende in ihren Versammlungen .
Sie haben auch schon Abgeordnete im Reichstag . "
" Und das von den Kindern ? " sagte Thoms Jans und starrte ihn an .
" Die Grütze im Kopf haben , die sollen in die Höhe ?
Das hat er gesagt ? "
" Das hat er gesagt . "
" Dann ... " sagte Thoms Jans ... " Urlaub habe ich ... dann will ich wahrhaftigen Gotts ... ich will ... weg vom Feuerschiff , und will es riskieren !
... Riskieren will ich es ...
Und das auf der Stelle ...
Ich ... ich will nach Hilligenlei .
Komme , Schulmeister , ich bringe dich nach Krautsiel und gehe von da nach Hilligenlei . "
Der Zimmermann wischte sich um den Mund und sah die anderen an :
" Riskieren will er es ? " sagte er ... " was will er riskieren ? "
Die anderen schüttelten den Kopf ...
" Da war Mal einer auf unserem Feuerschiff , " sagte der Zimmermann , " auch so_ein junger Kerl ; der wurde stiller und stiller und starrte nach der Bake von Blausand hinüber , starrte und starrte .
Mit einemmal , abends , so in der Dämmerung , sagte er zu mir : Zimmermann , sagte er , steht da nicht meine Frau ?
Da hielt er , - Gott stehe mir bei - die lange Lattiche Bake von Blausand , die wenigstens fünfzehn Meter hoch ist , für seine Frau .
Da mußte ich ihn an Land bringen ...
So 'n Feuerschiff ist nichts für junge Kerle .
Der Jans ist auch unklug geworden .
Riskieren will er_es ... ?
Was will er riskieren ? "
Indes stiegen die beiden schon über die Reling und ruderten mit Ablösung , und wurden von einem kalten Regen , der aufkam , tüchtig eingeweicht und kamen nach einer Stunde durchnaß in den Priel von Krautsiel .
Schweigsam und verfroren trabten sie oben auf dem Deich entlang , gegen den harten Wind an , bis Thoms Jans sagte : " Siehst du ?
... da unten , unter den dunklen Pappeln ?
... Das ist der Hof . "
Und als der andere , ohne ein Wort zu sagen , seitlich den Deich hinuntertrabte , rief er ihm noch nach :
" Greife zu !
Sonst gibt der Alte die Deern nicht ab . "
Boje kehrte sich im Trab nicht um und sagte : " Sorge ' du für deine eigene Sache ; ich Sorge für meine . "
Als er auf das Strohdach zulief , ehe er noch die einzelnen Fenster unterscheiden konnte , sah er Hella Andersen .
Sie saß auf der Fensterbank , legte den Arm um ihn und erschrak .
" O Gott , wie naß bist du und wie verfroren ... Du lieber Mensch ! Komme rasch herein !
Komme , du sollst in mein warmes Bett hinein !
Komme ... Du stirbst vor Kälte . "
Da stieg er ins Fenster .
" Du ! " sagte er und umfaßte sie fest .
" Sage ' mir , mußt du den Vetter heiraten , den Hornharten ?
Weil der Alte zwei Pferde spart ? "
Sie nickte und klammerte sich an ihn .
" Verlaß mich nicht , du ! "
" Ich dich verlassen ?
... Ich dich verlassen ?
... Wie wunderschön bist du ! "
Nun besuchte er sie sechs Wochen lang .
Da war es soweit , daß sie es ihrem Vater sagen mußte .
* Und als die Zeit um war , wurde im langen Haus in Hilligenlei ein kleiner Knabe geboren .
Als Rieke Thomsen ihn waschen wollte , erschrak sie und wandte sich an die Mutter und sagte : " Sieh Mal ... er hat mitten auf der Brust ein flammendes rotes Mal , rund und groß wie ein Taler .
Was ist das ?
Hast du dich versehen ? "
Thoms Jans beugte sich zu seiner todmüden , kleinen Frau hinab und sagte : " Hast du gehört , Male ? "
Sie tastete nach seiner Hand und sagte : " Ich habe die drei Jahre , die du weg warst , im Geist das Feuerschiff gesehen , besonders abends , wenn ich im Bett lag und nicht schlafen konnte , und sah immer das Licht , so groß und rund wie ein Taler . "
Als Rieke das Kind wohl besorgt in den Arm der Mutter gelegt hatte - es war so gegen Mitternacht - klopfte Hole Biederwand , der am Sterbebett seines Bruders gewacht hatte , ans Fenster und meldete , daß über die Bucht herüber das Licht schiene .
Da fuhr Rieke Thomsen , wie sie ging und stand , hinüber und half Hella Andersen von ihrem ersten Kind , einem starken Mädchen mit hellem Haar , gleich ihrem eigenen Haar , das wirr auf dem Kopfkissen lag .
Wilhelm Boje aber , ihr Mann , drückte ihre Hand so hart , daß sie ihn bitten mußte , sanft zu sein .
So sehr freute er sich über das Kind , das sein schönes , scheues , leidenschaftliches Weib ihm geboren hatte .
Und auch diese beiden Kinder wuchsen auf .
Und der kleine Jans im langen Haus in Hilligenlei wuchs heran und war ein wenig zart , doch nicht unkräftig .
Seine Eltern sah er nicht oft .
Die Mutter ging zu Ringerang auf Arbeit ; der Vater stand am Rand des Meeres über seinem Spaten .
Wenn sie fortgingen , schlief er noch , wenn sie wiederkamen , lag er schon im Bett .
Aber am Sonntag saß er auf ihrem Schoß und stand zwischen ihren Knien .
Bald kam eine Zeit , da griff er in das Kleid seiner Mutter und ging neben ihr am langen Haus entlang bis zur letzten Tür .
Da saß eine ungeheuer große runde Frau ; alles war rund an ihr , besonders , schien ihm , ihre Augen .
Sie trank Kaffee mit braunem Zucker und gab ihm ein Stück davon und sagte zur Mutter :
" Merkwürdige Augen hat der Junge !
Als wenn er sich verwundert !
Ich mag den Jungen sonst ganz gern ; aber diese Augen mag ich nicht .
Was ist denn in der Welt zu verwundern ?
Ich will doch ' Mal sehen , ob die Karten etwas wissen . "
Aber die Karten wußten weiter nichts , als daß da nicht viel Geld läge .
Da meinte die kleine Male Jans stolz : Darin läge das Glück auch nicht .
Zuweilen schob er seine kleine Hand in die große , harte Hand seines Vaters und ging bis zur nächsten Tür und trat in die Stube von Hole Biederwand .
Der gab ihm ein Stück Brot mit dicker Butter und eine alte biblische Geschichte , die wunderliche Bilder hatte .
Während er dann am Fenster , auf dem Stuhl kniend und das Buch auf der Fensterbank , leise mit den Bildern redete , sprach Thoms Jans von seiner Hoffnung , daß die neue Partei , die Partei der Arbeiter , die ganze Welt heilig machen könnte und so den alten Glauben , der an der Bucht wohnte , vielleicht zur Erfüllung brächte .
Aber der Alte war stöckrig geworden und sagte ganz halsstarrig :
" Nein , nein , es soll hier an der Bucht , hierauf dem Deich ein Mensch hausen , der soll mit Macht und großer Gewalt aus dieser Landschaft ein Hilligenlei machen , d. h. ein heiliges Land ...
So glauben wir . "
Und er rief mit seiner hohen , hohlen Stimme das Kind und sah es mit seinen stumpfgewordenen Augen an und schüttelte den Kopf :
" Nein , " sagte er , " dieser wird es nicht sein ; er hat so scheue Augen ...
Der fürchtet sich " und er stieß es fast von sich .
Drittes Kapitel Als er sieben Jahre alt war , sagte seine Mutter eines Tages , sie wolle mit ihm über die Bucht fahren .
In dem Hause , das er da in der Ferne auf dem Deiche sähe , wohne ein kleines Mädchen , das wäre gerade so alt wie er .
Er ging mit seinen aufmerksamen , ein wenig ängstlich verwunderten Augen neben der Mutter nach dem Bollwerk hinunter , die Hand nach seiner Gewohnheit fest in ihrem Rock .
Eine frische Brise wehte ihnen entgegen .
Am Bollwerk stand Pe Ontjes Lau , und zwar in Wollmütze und Holzschuhen .
Niemand sonst an der ganzen Bucht trug diese Kleidungsstücke .
Es war aber eines Tages , vom Weststurm gejagt , ein jütischer Euer in die Bucht von Hilligenlei gelaufen und hatte da drei Tage am Bollwerk gelegen .
Einen ganzen Tag lang hatten der Jütländer und Pe Ontjes sich stumm und unbeweglich gegenüber gesessen , der Jütländer in Wollmütze und Holzschuhen auf der Luke , Pe Ontjes an Land auf einem Pfosten , beide die Hände bis zum Ellbogen in den Hosentaschen .
Am anderen Tage hatte Pe Ontjes die Verhandlung angefangen .
Plattdänisch und plattdeutsch , dazu die Hände : so war es sehr gut gegangen .
Sechzehn gute Groschen hatte Pe Ontjes in die gelbe harte Hand des Jütländers gelegt , mit zusammengebissenen Zähnen .
Aber wahrhaftig : nach einem halben Jahr waren Wollmütze und Holzschuhe richtig angekommen , nicht sehr säuberlich eingepackt , nicht mit der Post , sondern von Euer zu Euer geschickt , von Jütland über die ganze Nordsee bis Hamburg , und von Hamburg wieder hinauf nach Hilligenlei , und die Adresse war mündlich gewesen :
" In Hilligenlei an Bullwark , da steiht 'n Jung von twölf Jahr , denn hört ditt . "
Von Stunde an trug er die Tracht , wenn ein kühler Wind wehte , sobald er von der Schule nach Hause kam .
Er trug sie mit Selbstverständlichkeit , daß er keinen Spott zu leiden hatte .
Er stand breitbeinig auf der Brücke und bis in ein großes Stück Schwarzbrot , das er mit gebratenen Kartoffelstücken belegt hatte .
Wegen des steifen Windes , damit die Kartoffeln nicht wegwehten , hatte er sie mit schwarzem teerartigen Sirup auf das Brot geleimt .
Mit ruhiger , väterlicher Miene betrachtete er den kleinen , scheuen Nachbarn , der sich immer an der Mutter festhielt , und fragte :
" Was willst du werden ? "
Der Kleine sah aus seinen tiefen , blauen Augen forschend zu ihm auf und fragte :
" Was willst du werden ? "
Da wunderte sich Pe Ontjes und bekam ein wenig Achtung , und sagte : " Ich gehe natürlich zur See .
In vier Jahren gehe ich aus der Schule und dann mit Laeiz nach Südamerika . "
" Du hast dir das beste Wetter nicht ausgesucht , " sagte der Hafenmeister zu Male Jans .
" Der Wind geht nach Nord hinüber . "
" Du mußt bis nach dem Dänensand hinaufkreuzen , Vater , " sagte die Wollmütze .
" Dann kommst du leicht wieder herein . "
" Ja , " sagte der Hafenmeister Lau bedächtig .
" Dann wird es dunkel und wird kalt und spät .
Das ist nichts für den Kleinen . "
Sie stießen ab und kamen gut vorwärts .
Pe Ontjes stand am Ufer und sah ihnen nach .
" Du behandelst deinen Jungen , als wenn er dreißig Jahre alt wäre , " sagte die kleine Male Jans streitsüchtig .
" Ja , " sagte Lau , " da hast du recht wie immer .
Sieh , ich bin eines Tagelöhners Sohn aus Eiderstet und habe in meiner Jugend weder schreiben noch lesen gelernt .
Dann bin ich Matrose geworden und weit in der Welt umher gekommen , aber ich habe mich um nichts gekümmert , als um Essen und Rostklopfen .
Es war mir freilich manchmal , als wenn so eine dumpfe Stimme sagte : » Rühr dich , Mensch !
Steige ein wenig ! «
Aber ich rührte mich nicht .
Erst als ich so um vierzig war , da erwachte ich ein wenig und sah mich um und lernte ein wenig , und machte das Examen für kleine Fahrt , und bekam den kleinen Hafenmeisterposten hier .
Weiter kann ich es nicht bringen .
Siehst du : Darum freue ich mich über jede Frage , die Pe Ontjes tut , und rede ernst und bedächtig mit ihm , als wenn ich mit einem Gleichalterigen spreche .
Er ist von Natur schwerfällig und in der Schule kein Held , ganz wie ich , aber weil er einen so guten , verständigen Freund hat , sollst du sehen :
es wird ihm leichter als mir , und er wird weiter kommen als ich . "
Als Male Jans mit ihrem kleinen Jungen an der Hand auf die saubere Diele des Lehrerhauses trat und niemand erschien , wurde sie rot vor Scham und wäre fast wieder leise aus der Tür geschlichen ; da kam von der hinteren Stube her eine Stimme :
" Bist du es , Male ?
Komme her ... ich kann nicht aufstehen . "
Da gingen die beiden auf Zehenspitzen durch die Diele und Küche , und fanden Helle Boje auf dem Stuhle am Fenster im losen , geöffneten Kleid , und ein Neugeborenes lag an ihrer Brust , und der helle Schein von draußen stand um das liebliche Bild .
Male Jans schlug die Hände zusammen und sagte : " Nein !
... und davon weiß ich nichts ! "
" Siehst du ! " lachte Helle Boje .
" Ich dachte , daß du es nicht wüßtest , und freute mich schon über deine Verwunderung .
Sieh Mal , ein großes Mädchen ... das ist nun schon Nummer drei , Male . "
Lehrer Boje kam herein .
Er kam , da es Mittwoch nachmittag war , von seinen Büchern .
Der Abglanz fremder großer Zeiten und gewaltiger Menschenschicksale stand in seinen schönen stählernen Augen und in seiner frischen , frohen Haltung .
Er rief den kleinen Jungen an sich heran und bog ihm den Kopf zurück und sagte zu seiner Frau : " Sieh Mal , wie ein alter Deutscher sieht er aus .
So einer aus Siegfrieds Gefolge , nicht von den Adligen , sondern unter den Bauern .
Ich wette , er wird so ein Grübler wie sein Vater . "
Und da er das sagte , dachte er an jene Nacht vom Feuerschiff :
" Wahrhaftig , ich riskiere es ! "
Und er lachte .
" Wo sind denn die beiden Ältesten ? " sagte Male Jans .
" Sie sind doch nicht krank ? "
" Die ... und krank ! " sagte Boje und stand auf und führte den Kleinen durch die Küche , öffnete die Außentür und zeigte auf zwei Kinder , Knabe und Mädchen , die am Rande des Teiches im hohen Grase lagen , daß man nur eben die hellen Köpfe sah .
Sie sahen aus grauen Augen scharf auf den fremden Jungen .
" Hier ist der kleine Kai Jans !
Wenn ihr nicht freundlich mit ihm seid , gibt es Haue . "
Damit ging Boje wieder zu seinen Büchern .
Kai Jans blieb an der Küchentür stehen , und die beiden am Teich blieben auf dem Bauche liegen , die Hälse hochgereckt , wie Rebhühner im jungen Hafer , und sahen nach ihm .
" Du , " sagte Anna zu Piet , " das ist ein Bangbür . "
" Ach , du liebe Zeit ! " sagte Piet .
" Also das ist er !
Es ist ein richtiger Arbeiterjunge !
Sieh Mal , seine Schuhe sind gar nicht für ihn gemacht .
Das hätte Mutter uns auch sagen können . "
" Wir können dich jetzt nicht brauchen , " sagte Anna ; " aber ich erzürne mich nachher mit Piet , dann will ich mit dir spielen ... so lange kannst du da stehen bleiben und zugucken . "
Er fand es ganz begreiflich , daß die beiden ihn so behandelten , da ihre Umgebung und sie selbst ihm so großartig erschienen .
Er legte sich am Rande des Grases in die Knie und sah ihnen zu .
Sie waren dabei , Binsen zu flechten , um eine spitze Mütze zu machen .
Da sie beide an einem und demselben Stück flochten , kamen sie allerdings bald in Streit .
" Du kannst nichts , " sagte Piet , " gehe man weg . "
" Die Mütze gehört dir nicht allein , " sagte Anna in auffahrendem Zorn .
" Ist mir ganz einerlei , " sagte Piet , " gehe weg oder ich haue dich . "
Und er schlug zu .
Sie wich ein wenig zurück und sah auf den Binsenhut .
Man sah deutlich den Zorn in ihrem trotzigen Gesicht , wie er aufstieg und dann wieder verging .
Dann sah sie auf und sah Kai Jans da sitzen , und sagte zu ihrem Bruder :
" Komme , laß uns ihn verhauen ; was sollen wir sonst mit ihm ? "
Piet erinnerte sich der väterlichen Mahnung und sagte : " Hauen wollen wir ihn nicht , wir wollen ihm bange machen . "
Und plötzlich sprangen sie auf und liefen wie geübte Wegelagerer auf ihn zu , und griffen ihn , und schleppten ihn an den Teich .
" Wir wollen dich in_den Teich schmeißen , " sagte Piet .
" Hilligenleier Jungs schmeißen wir immer in_den Teich . "
" Hundert liegen da schon , " sagte Anna .
Er schrie nicht ; er sah sie nur mit großer Neugier forschend an .
Piet hielt ihn an der Jacke und Anna , die längelang im Grase lag , am Knöchel .
" Erzähle uns was , " sagte sie , " sonst mußt du in den Teich . "
" Von Pe Ontjes Lau ! " sagte er rasch .
" Den kennen wir , " sagte Anna , " ein giftiger Jung . "
" Er ist Mal so groß als ich , " sagte er , " und steht immer am Bollwerk , und guckt übers Wasser und ... hat eine Wollmütze auf ... und will Kapitän werden .
Dann will er weit wegfahren , ganz weit und ... und .. " Er weiß nicht mehr , " sagte Piet .
" Dann soll ich mit ihm fahren , ganz weit weg ...
Da sind Löwen ... und Elefanten ... und dann ... dann soll ich da König werden . Ja ... "
Anna strich sich mit beiden Händen das helle Haar aus der Stirn und sah ihn aufmerksamer an .
Der Kleine wurde heiß und eifrig .
Wie die junge Lerche , die im Nest in der Ackerfurche vom Wiesel aufgescheucht in der Angst zum erstenmal auffliegt , und gleich , da sie merkt , daß sie kann , die Angst vergißt , und der neuen , wunderbaren Kraft froh wird : so zwitscherte er mit großen , verwunderten Augen :
" Ich Bau mir 'n Haus bis nach'm Himmel und alles von Gold .
Und mein Vater und meine Mutter und Pe Ontjes Lau und alle Menschen wohnen darin , und alle lachen und singen immerzu und freuen sich ...
Es hat keiner Husten , du ...
Und es bleibt keiner tot ...
Willst du mit ? "
Aus seinem klugen , niedersächsischen Gesicht brach ein Strom von Güte .
Aber sie riß ihn am Fuß , daß er hinfiel , und nahm den Binsenhut und drückte das ungeschickte Flechtwerk auf seinen Kopf : " So , " sagte sie , " das ist deine Krone . "
Er kümmerte sich gar nicht darum .
" Wenn du mit mir willst , " sagte er mit leuchtenden , gütigen Augen , " kannst du mitkommen .
Willst du mit ? "
" Und ich ? " sagte Piet und stand auf .
Da merkte er , daß der hellhaarige Junge mit den raschen Augen wieder gewalttätige Gedanken bekam : er sah wirr um sich , wie ein jäh geweckter , sprang auf und lief nach der Küchentür und in die Stube ; die beiden anderen hinter ihm her .
" Wir haben uns gut vertragen , " sagte Piet gleich und laut .
" Er will König werden , " sagte Anna , " und das ist seine Krone . "
Lehrer Boje griff seinen Kindern ins helle Haar und sagte : " Was wollt ihr denn werden ? "
" Das weißt du ja , " sagte sie , " wir wollen Nachbar Martens werden .
Soviel Pferde und Kühe , wie der hat , wollen wir auch haben . "
" Wenn ich nun kein Geld habe ? "
" Das ist uns einerlei , " sagte Anna .
" Wenn wir doch Nachbar Martens werden müssen ?! "
" Wer sagt denn , daß ihr_es müßt ? " fragte Boje fast ärgerlich .
" Der liebe Gott , " sagten sie beide .
" Macht , daß ihr wegkommt , " sagte Boje zornig .
" Sie kommen zuletzt immer mit dem lieben Gott .
Aber sie machen ihn zum Diener ihres eigenen Willens . "
Er schob die beiden hinaus .
Als sie in der Tür standen , schien die Sonne auf ihre hellen , trotzigen Köpfe .
Das Haar hatte einen Schein wie frischgespaltenes Eschenholz .
" Die Kinder machen uns Sorge , Male , " sagte Helle Boje .
" Gute , liebe Kinder ; aber sie sind so rasch in Zorn und Tat , und so hochfahrend in ihren Gedanken .
Wenn wir Vermögen hatten und große Leute wären , so könnten wir ihnen zu einem stolzen Weg verhelfen ; aber nun sind wir arm und haben gar noch Schulden .
Wenn sie nun aus diesen kleinen Verhältnissen ins Leben hineinstürmen , so feurig und wild , so werden sie gegen schwere Hindernisse anstürmen , auf schlechtem Weg gegen kalten Wind , und werden sich heißlaufen und werden stürzen .
Sieh , Boje und ich waren auch solche Leute , hatten die Köpfe voll von den hohen Gedanken .
Was habe ich in meiner Stube am Deich für Wunder gesehen !
Da kam das größte Wunder für uns beide :
wir sahen uns und bekamen uns .
Da sind wir still und zufrieden geworden .
Aber werden unsere Kinder solch ein Glück finden ? "
Die kleine Male Jans sah schüchtern von einem zum anderen und dachte :
» Was ist in kurzen sechs Jahren aus den beiden jungen Menschen geworden , die sich im Saal von Ringerang heimlich die Hand drückten und nur den einzigen Gedanken hatten , einer den anderen zu besitzen ? «
Sie stand auf und sagte , sie wolle gehen , Hafenmeister Lau solle nicht auf sie warten , und sie müßte noch das Abendbrot besorgen .
Da nahm sie Abschied und verließ mit ihrem Kleinen das Haus .
Als Thoms Jans abends mit dem Spaten nach Hause kam und hörte , daß sie im Lehrerhaus soviel Sorge hätten , weil die Kinder so herrisch wären , sah er in Gedanken vor sich auf den Tisch und sagte spöttisch , und seine tiefliegenden kleinen klugen Augen funkelten :
" Die Sorge brauchen wir nicht zu haben ; unser Junge ist so duckerig wie ein geschlagener Hund . "
Da fuhr die kleine Male Jans zornig auf :
" Dann hast du keine Augen und keine Ohren , " sagte sie ; und redete mit scheuer , zitternder Stimme von dem heimlichen Leben ihres Kindes und erzählte , wie er gesagt hatte , er wolle König werden .
" Er ist ebenso stolz wie die Bojekinder ; es ist bloß ein anderer Stolz und sitzt ganz tief in der Seele ...
Er will ein anderes Königtum als die . "
" Was denn für eins ? " sagte Thoms Jans verwundert .
" Was denn für eins ?
Eins im Mond ? "
* Am anderen Tag hatte er zum erstenmal den Mut , bis in die Mitte der Straße zu gehen und mit vorgebeugtem Kopf in das Dunkel der Schmiede hineinzusehen , woher statt Hammerschlag und Feuersausen wieder einmal helle Unterhaltung klang .
Pe Ontjes hatte ihn gesehen , kam heraus und sagte : " Komme man herein . "
Er trat hinein und sah sich um .
Jan Friech saß in seiner ganzen Größe und Schwärze , in seiner poltrigen Lederschürze auf dem Amboß , den Hammer bequem unterm Arm ; Scheinhold , der Geselle , stand am Blasebalg .
Sie sahen alle drei auf Tjark Dusenschön , der auf der Drehbank saß und mit seinen nackten Füßen hin und her fuhr , daß die Hosenbeine schlenkerten .
" Warum soll ich das grüne Halstuch nicht tragen , " sagte Tjark Dusenschön , " wenn der Herr Bürgermeister es mir geschenkt hat ? "
" Er lügt , " sagte Pe Ontjes , " er hat das Geld von seiner Großmutter bekommen .
Und wie er das sagt :
Der Herr Bürgermeister !!
Sage doch Daniel Peters , Mensch ; so nennt ihn doch ganz Hilligenlei ! "
" Der Herr Bürgermeister hat es dir geschenkt ? " sagte Jan Friech und zog seine Brauen hoch , " dann ... " und er rührte sich in seiner steifen Lederhaut , daß es durchpolterte , als wenn ein Bergwerk einfiel , " dann ... dann muß ich allerdings auf meine alte Mutmaßung zurückkommen . "
" Welche Mutmaßung , Meister ? " sagte Scheinhold , der Geselle , und blinkte so stark mit den Augen , als wäre in jedes ein Brummer geflogen .
" Schweige still ! " sagte Jan Friech .
" Mit dir rede ich nicht ...
Meine alte Mutmaßung ist , daß Tjark Dusenschön der natürliche Sohn vom Bürgermeister ist .
Da habt ihr_es !
... Hätten wir bloß die alte Postkarte noch !
Es war nicht recht , Pe Ontjes , daß du sie in den Hafen schmissest . "
Pe Ontjes nickte langsam mit dem Kopf und sagte : " Man immer los !
Immer los !
Halb unklug ist er schon ; nun macht ihn ganz verrückt . "
Tjark Dusenschön war glücklich , daß er wieder einmal Gegenstand der Unterhaltung war , und drehte sich und schlenkerte mit den weiten Hosen und bog die großen Zehn nach unten , daß dem kleinen Kai Jans Angst und bange wurde .
" Seht seine Beine ! " sagte Jan Friech .
" Wer hat so gerade Beine ?
Beine wie Ulanenlanzen ?
Der Bürgermeister von Hilligenlei hat sie !
... Wer hat dies hochstrebende Wesen ? " Scheinhold , der Geselle , riß an seinen Augen und sagte : " Es kann auch davon kommen , daß er aus königlichem Geschlecht ist . "
Pe Ontjes stand auf und wollte hinausgehen .
" Ich mag den Quatsch nicht mehr hören , " sagte er .
" Was ist er ?
Ein uneheliches Kind ist er ; und seine Großmutter ist ein altes verdrehtes Weib ; und Rieke Thomsen schilt ihn beinahe jeden Tag , daß er die fünfzehn Groschen Wickelgeld noch nicht bezahlt hat .
Das ist er . "
" Ja , " sagte Jan Friech und ließ die Lederschürze schwer und dumpf poltern ; " das gebe ich zu : die Gegenwart ist dunkel ; es leuchtet aber ein Stern der Hoffnung . "
" Wo ? " sagte Pe Ontjes .
" Willst du die fünfzehn Groschen für ihn bezahlen ? "
Der Meister schüttelte traurig den Kopf .
" Ich kann es nicht , " sagte er , " das weißt du ; ich habe Frau und Kinder , und habe Schulden .
Aber du hast allerdings recht : so lange die Hebammengebühr nicht bezahlt ist , fehlt ihm das Ansehen ; es fehlt ihm gewissermaßen und um es richtig auszudrücken : das volle Bürgerrecht . "
" Jeden Tag kann ich mich von der großen alten Hexe ausschelten lassen , " sagte Tjark Dusenschön und sah mit blanken , braunen Augen um sich .
" Wenn das nicht aufhört , wird nichts aus mir . "
" Wenn du gewollt hättest , " sagte Pe Ontjes , " dann hättest du die fünfzehn Groschen längst selbst bezahlen können .
Ein Junge von fünfzehn Jahren kann doch fünfzehn Groschen verdienen ; aber du kaufst dir ein verrücktes Halstuch , oder du kaufst einem Domschüler so ne alte blaue oder rote Kappe ab .
Oder so was . "
" Wenn ich vielleicht der Sohn vom Bürgermeister bin , " sagte Tjark und seine Augen gleißten und glänzten , " so kann ich nicht einhergehen wie Hans und Franz . "
" Da hat er wieder recht ! " sagte Jan Friech .
Pe Ontjes stand wieder auf und ging nach der Tür :
" Ich will nichts mehr mit euch zu tun haben , " sagte er , " ihr seid alle drei unklug .
Komme , Kai . "
Und er ging hinaus nach seinem Hause zu .
Nach einigen Schritten blieb er stehen , sah sinnend vor sich hin und sagte dann mit einem großen Entschluß :
" Es ist doch das beste , ... ich bringe die Sache aus der Welt ...
Tjark !
... "
Tjark Dusenschön sprang barbeinig und lautlos aus der Schmiede .
" Ich mag das Geschimpfe und Gequese über dein Hebammengeld nicht mehr hören , " sagte Pe Ontjes .
" Zehn Jahre höre ich es nun schon .
Ich will die Sache aus der Welt schaffen . "
" Ich werde dir immer dankbar sein , " sagte Tjark Dusenschön .
" Mensch , " sagte Pe Ontjes , " tühn nicht !
Dankbar ?
Ist ein Mensch dankbar ?
Dankbar ist ein Wort , das kommt in der Schule vor ; aber ein gesunder Mensch ist nicht dankbar ! "
Er suchte in seiner Geldtasche , ging mit den beiden den Deich schräg hinauf nach dem langen Haus und sagte zu Kai Jans : " Nun gehe du hinein und sieh zu , ob sie da in ihrem großen Stuhl sitzt , und ob sie die Feuerkieke unter sich hat , und ob sie in Gedanken ist , und ob sie die Pantoffeln so handlich zum Wurf neben sich hat .
Sage ein Wort zu ihr und schiebe die Pantoffeln ein wenig weg .
Dann komme wieder heraus und laß die Tür offen . "
Der Kleine ging hinein und kam wieder heraus und sagte leise : " Es ist alles in Ordnung . "
Da holte Pe Ontjes hoch Luft , sprang in die Stube , hob die geballte Faust und schlug die fünfzehn Groschen fast in die Tischplatte hinein :
" Hier hast du die fünfzehn Groschen Wickelgeld für Tjark Dusenschön ; ... und nun hört das verdammte Geschimpfe ja wohl auf . "
Die Alte hatte sich entsetzt zurückgebogen .
Dann erschien sie auf der Schwelle .
" Du wetterwend'scher Bengel ... "
Tjark rief wehleidig aus der Ferne :
" Sie soll nun nicht mehr davon reden ! "
" Was ? " rief die Alte , " ich soll nicht mehr davon reden ?
So 'n Lump , wie du bist ?
Andere Leute müssen dein Wickelgeld bezahlen ?
... Steht Kai Jans da auch bei euch ?
Na , der fängt früh an ; aus dem wird auch nichts !
Komme du noch einmal in meine Stube , du Lump ! "
Pe Ontjes schüttelte den Kopf und sagte bedrückt :
" Die fünfzehn Groschen sind weggeworfen ... "
Dann plötzlich packte ihn der Zorn , er trommelte mit beiden Fäusten auf seine Schenkel und rief : " Ich will mich doch in meinem ganzen Leben nicht wieder um diesen elenden Tjark Dusenschön kümmern .
Wo ist er ? "
Der hatte Unheil geahnt und war in Sprüngen auf die Tür seiner Großmutter zugelaufen .
Stiena Dusenschön stand schon mit flatternden Haubenbändern in der Tür : " Tjaark ... Tjaark ... komme rasch zu deiner Oma , mein Kind . "
" Ich will dir was sagen , " sagte Pe Ontjes , " ich will in Zukunft bloß mit dir verkehren . "
Der Kleine sah fröhlich zu ihm auf : " Ja ... , aber du sollst mir versprechen , wenn du Kapitän bist , sollst du mich mitnehmen . "
" Du bist ein drolliger Kerl , " sagte Pe Ontjes , " wo willst du denn hinfahren ? "
" Das wirst du ja sehen , " sagte er mit großem Ernst .
" Weißt du ... wir wollen in ein ganz , ganz wunderschönes Land fahren . "
Und er stampfte vor Eifer mit dem Fuß auf die Erde .
" Denn man los ! " sagte Pe Ontjes und klopfte ihm auf die Schulter .
Und er gewann den Kleinen lieb und hatte ihn immer um sich .
Und der Kleine erstarkte in seinem Umgang .
Viertes Kapitel Der Lehrer der Hafenschule muß ein gewissenhafter Mann sein ; denn die Schulstunden richten sich nach Ebbe und Flut , damit die Kinder der Schiffer und Wattfischer ihren Eltern bei der Arbeit zur Hand gehen können .
Und ein Starker muß er sein ; denn die Jungen kommen barfuß oder in klappernden Pantoffeln oder in schweren Stiefeln , dazu in englisch-ledernen Büren und Hemdsärmeln , und haben rauhe und laute Stimmen und widerspenstige Köpfe .
Es war ein heißer Sommernachmittag .
Die Jungen lagen in Hemdsärmeln schräg und faul auf den Tischen und taten , als wären sie mit ganzer Seele bei der Schreibarbeit ; die Mädchen hoben dann und wann das Schreibheft und fächelten sich damit .
Mars Wiebers , auch in Hemdsärmeln , saß breit hinterm Pult ; sein starkes Haupt , von brandrotem Haarwerk ganz umgeben , lehnte gegen die schwarze Holztafel , die hinter ihm an der Wand hing .
Er kam immer wieder in Versuchung , an die gemütliche Kaffeestunde zu denken , die er nach der Schulzeit mit seiner Frau in der Lindenlaube halten würde ; aber er bezwang die Versuchung , indem er ihr immer wieder mit neuen Bibelworten entgegentrat .
" Laßt uns wirken , so lange es Tag ist , " murmelte er und beugte den großen Kopf ein wenig und griff nach dem Rotstift und einem neuen Aufsatzheft .
Nach einer Weile erschien das Gesicht seiner Frau am Ende des Ganges in der Türspalte :
" Es ist so heiß , " sagte sie ...
" Das Weib schweige in der Gemeinde , " sagte er rasch und leise und schüttelte die Mähne .
Da ging auch diese Versuchung vorüber .
Da stand Pe Ontjes auf , der oberste auf der Jungsseite , und sagte mit seiner rauhen , männlichen Stimme :
" Wir sollen die Aufsätze heute wieder bekommen . "
Es war nicht so , daß Pe Ontjes neugierig war , sein Aufsatzheft wieder zu sehen ; er wollte nur etwas Leben um sich sehen .
Mars Wiebers , der eine unbewußte Neigung hatte , das zu tun , was Pe Ontjes mit ruhiger Sicherheit vorschlug , griff in den großen Stapel blauer Hefte und sagte mit seiner dröhnigen Stimme :
" Das Thema war :
Die Geschichte eines Wassertropfens ...
Die Geschichte eines Wassertropfens ...
Ich hatte gesagt , daß der Wassertropfen mit der Flut hereinkommen und berichten sollte , was er in der Hilligenleier Bucht sieht , und daß er hier am Hafen verdunsten und als Nebel aufsteigen , und wie er dann wieder als Regentropfen niederfallen , und wie er zuletzt die Hafenstraße hinunter wieder ins Meer fließen sollte .
Ihr Lümmel solltet in der Arbeit zeigen , daß ihr wißt , wie Wolken und Regen entstehen .
So !
.. .
Nun ist hier das Heft von Kai Jans ! ...
Kai Jans !
... Der Junge ist ganz merkwürdig zusammengesetzt !
Zuweilen ist er der klügste in der Schule und zuweilen der allerallerdümmste ...
Wenn man ihn nach dem Mond fragt , so weiß er , was für Menschen da wohnen und wer ihnen die Stiefel versohlt ; aber wenn man ihn mit der Nase in einen Dornbusch stößt , weiß er nicht , was es ist ...
Laß das dumme Lachen , Pe Ontjes . "
Mars Wiebers nahm mit zwei spitzen Fingern die Brille vom Pult und setzte sie auf und griff nach dem Heft , um vorzulesen .
Da erhob sich Kai Jans auf der dritten Bank , ganz ängstlich , mit heißflehenden Augen .
" Was willst du ? "
Er machte den Mund auf , sagte aber nichts und setzte sich wieder .
" Der Regentropfen verdunstet also im Hafenstrom und steigt auf .
» Nun wehte aber ein furchtbarer Westwind .
Dieser trieb die Wolke , in welcher sich der Tropfen befand , viele tausend Meilen weit nach Osten .
Als er über Petersburg kam , sah er den Kaiser von Rußland , der fuhr mit seiner Frau in einer goldenen Kutsche .
Er fuhr ebenso rasch wie die Wolke und fuhr immer nach Osten zu .
Da kamen sie nach Sibirien .
Da sah der Regentropfen , daß der Kaiser alle Gefangenen freigab .
Nun flog der Tropfen weiter und kam nach China .
Und da kam ein Regenwetter und riß den Tropfen mit hinunter .
Da fiel der Tropfen gerade in den Brunnen , woraus der Kaiser von China Wasser holen ließ .
Da kam das Mädchen , das bei ihm diente , und hob mit dem Eimer den Tropfen aus dem Brunnen und langte mit dem Becher in den Eimer und gab den Becher dem Kaiser .
Da trank der den Tropfen aus .
Er war ein böser Mann gewesen ; aber nun wurde er gut ; denn der Tropfen war ja heilig , weil er aus der heiligen Bucht gekommen war . « "
Die meisten lachten und prusteten .
Einige Mädchen sahen mit stillen Augen zu Kai hinüber , der so wunderbare Dinge unter seinem dunkelblonden Haarschopf hatte .
" Laßt das dumme Lachen !
... Ein wunderlicher Junge der Kai Jans !
Für gewöhnlich so scheu wie_ein Junghase ; aber plötzlich , ehe man es sich versieht , wird er groß und wild , und schlägt hinten und vorn aus und ist ein Protz und hat das ganze Paradies zu vergeben .
Das ganze Paradies !
Ein ander Mal bleibst du mit deinen Gedanken in Hilligenlei , verstehst du ?
... "
Er legte das Heft hin und nahm ein anderes ...
" Kai Jans ist wenigstens doch beim Wassertropfen geblieben !
Aber Pe Ontjes Lau !
... Pe Ontjes Lau !
... Ihr denkt , Pe Ontjes Lau ist der oberste in der Hafenschule von Hilligenlei ?
Er ist viel mehr !
Er ist Hafenmeister von Hilligenlei !
Viel mehr : er ist Bürgermeister von Hilligenlei !
... Sein Wassertropfen kommt also richtig mit der Flut in die Bucht hinein geschwommen .
Da fängt er mit einem Mal an , grob zu werden .
Er redet in Worten , die ich ja sattsam kenne .
Dein Vater und du , Lümmel , ihr habt den Aufsatz zusammengeschustert ...
» Da sah der Wassertropfen , daß der Hafenstrom immer mehr verschlickte .
Ein ordentlicher Kutter konnte gar nicht mehr hinein kommen .
Die Johanna von Klaus Voß lag vor dem Dänensand schon zwei Tiden fest .
Sie rührte sich nicht .
Wenn eine Stadt ihren Hafen verschlicken läßt , das ist erschrecklich dumm , so , als wenn einer ein Schwein Fettmachen will und bindet ihm Draht um die Schnauze ; es wird immer magerer und zuletzt wie zwei zusammengelegte Bretter und geht zuletzt mit Tode ab .
So kann man auch an Hilligenlei sehen , daß es immer ärmer und dümmer wird ...
« Ich habe ja nichts dagegen , daß Pe Ontjes Lau , wenn er einmal Bürgermeister von Hilligenlei ist , den Hafenstrom gerade legen läßt .
Weil er das aber noch nicht ist und redet doch so klug , als wäre er es , so bekommt er nachher das Fell voll ...
Jetzt wollen wir erstmal eine kleine Pause machen . "
Damit ging Mars Wiebers gemächlich und ruhevoll den Mittelsteig hinunter aus der Schule , um ein wenig mit seiner Frau zu schwatzen .
Pe Ontjes drehte sich in der Bank um und sah auf , und sah die Augen aller größeren Jungen auf sich gerichtet .
" Kinder , " sagte er langsam , " mag kommen , was will : heute mache ich dem Alten nicht das Vergnügen und lasse mich verhauen .
Ich rück ihm aus .
Bis vier ebbt es .
Wer geht mit ? "
" Junge !
Junge , " sagten sie , " es gibt fürchterliche Schmiere . "
" Wer geht mit ? " sagte Pe Ontjes .
" Ich , " sagte Kai Jans .
" Du ? " sagte Pe Ontjes .
" Er hat meinen Aufsatz vorgelesen : darum gehe ich mit . "
Da gingen fünf mit ihm .
Zwei von Fischer Tams .
Der eine hat bei einem großen Schiffsunglück der Marine einen frühen Seemannstod gefunden ; der andere fischt heute im Ontariosee .
Und zwei vom Hirten Süderloh .
Sie haben nachher beide an der russischen Grenze in Garnison gestanden und sind nun Arbeiter am Watt , noch immer kraftvoll und noch immer zu Schelmenstreichen geneigt .
Dazu Kai Jans .
Tjark Dusenschön aber war feige hinausgelaufen , stand hinterm Stall und wartete , bis sie verschwunden waren .
Sie schlichen durch den Garten auf die Hafenstraße , gingen im Trab über den Deich und liefen bald über das grüne Land .
Weites , ganz ebenes Land , mit kurzem schönem Gras bedeckt , kein Haus und kein Baum , nur hier und da , nah oder fern , ein Trupp schwerer Rinder oder edler junger Pferde ; querüber die trabende kleine Knabenschar .
In der Ferne , am Rand , zuweilen ein einziges Aufblinken : das ist der Spaten des Wattarbeiters .
Darüber der Himmel unendlich hoch und unendlich weit .
Nun waren sie am Rand des grünen Landes und stiegen bis über die Knöchel , ja bis zum Knie in den grauen Schlick .
Es gab ein großes Stöhnen und Schelten und Prahlen .
Aber bald waren sie auf festerem Erdreich .
Das schien nun so weiter gehen zu wollen , bis an den fernen , fernen Himmelsrand , an dem ein schmaler Silberstreifen lag .
Sie redeten von allem , was sie um sich sahen , vom Vogel , der vorüberflog , vom Segel , das am Himmelsrand stand , vom Dänensand , in dem das Geldschiff liegt , das einst entdeckt werden wird ; denn der Sand bröckelt ab .
" Dann wird Hilligenlei reich werden !
So reich ! "
Aber Pe Ontjes sagte :
" Es ist ein Unsinn .
Es ist wahr , " sagte er , " daß da ein dänisches Schiff im Sand liegt ; aber es ist kein Geld darin , sondern nichts als Schiet . "
Wenn sie in der Ferne einen Gegenstand sahen , setzten sie sich alle in Trab und jeder sagte seine Meinung , was es wäre .
Danach untersuchten sie , was sie gefunden hatten : ein Ende Brett , eine zerbrochene Kiste , einen Korb , den der Steward des Ozeandampfers verächtlich über Bord warf ; und redeten eifrig darüber .
Zuletzt , obgleich es aussah , als nähme es kein Ende , kamen sie doch an den Hafenstrom , der jetzt , zur Ebbzeit , noch sechzig Meter breit , im grauen , schlickigen Bett langsam zum Meer fließt .
Die anderen fingen an , den abschüssigen Rand des Sandes zu untersuchen , ob nicht vielleicht der Schnabel des Geldschiffes oder gar seine Reling aus dem Sande heraussähe .
Pe Ontjes und Kai Jans sahen aufmerksam nach einem kurzen , grünen Streifen , der jenseits des Stroms auf dem Watt liegt .
Nun sahen auch die anderen hinüber .
" Sieh , " sagten sie , " da ist eine kleine grüne Insel . "
" Die hat Kai Jans vorigen Sonntag entdeckt , " sagte Pe Ontjes .
" Kai Jans hat da einen Pfahl aufgestellt und hat darauf geschrieben :
» Dies Land habe ich entdeckt « und dann seinen Namen .
Der Pfahl steht noch .
Aber das Holzstück , Kai , das du beschrieben hast , das ist weg . "
In dem Augenblick klang von drüben her eine klare Kinderfreude .
Sie sahen alle starr hin .
Dann fing Pe Ontjes an zu schreien : " Heu Do , Heu doo ! "
Da erhoben sich zwei helle , blonde Kinder , beide barfuß , das Mädchen in ärmellosem , wehendem Kleid , der Junge in Hemd und Hose , beide so um zehn Jahre alt .
" Das sind Anna und Piet Boje , " sagte Kai Jans .
" nah ? " schrie Pe Ontjes , " was macht ihr da ?
Macht daß ihr weg kommt , ja ?
Kai Jans hat die Insel entdeckt . "
Da rief der kleine Piet Boje mit heller , klarer Stimme herüber :
" Und ich habe sie in Besitz genommen . "
" Donnerwetter ! " sagte Pe Ontjes , riß sich Hemd und Hose vom Leib und ging ins Wasser .
Der große Tams stand auch schon im wehenden Hemd .
" O , " sagte Kai Jans , " tu es nicht , Pe Ontjes !
Es ist ja doch die Freestedter Seite . "
" Komme mit , " sagte Pe Ontjes .
" Ich kann nicht .
Der Strom ist zu stark . "
Piet Boje stand drüben breitbeinig am Pfahl und redete auf seine Schwester ein ; er wünschte wohl , daß sie weglaufen sollte .
Aber sie blieb neben ihm stehen .
Die beiden großen Jungen schwammen hinüber , kamen an Land und stürmten auf die beiden los .
Kai Jans sah , wie Piet Boje in den Schlick griff und auf die anstürmenden nackten Jungen warf und wie auch der große Tams hineingriff und warf , und das Ohr und Haar des kleinen Mädchens traf ...
Die Wucht des Wurfes bog ihre ganze Gestalt .
Da schrie er laut auf und rief über den Strom : " Pe Ontjes , lieber Pe Ontjes , komme mir entgegen ! " und lief , so wie er ging und stand , ins Wasser und begann zu schwimmen .
Pe Ontjes hatte sich umgedreht , als wenn eine harte Hand ihn hingerissen hätte .
Es fuhr ihm heiß durch die Seele ... so als : » der liebe , wunderliche Junge « , und er lief ins Wasser und kam ihm entgegen , so wie seine Weise war zu schwimmen : mit weitaufgerissenen Augen und immerfort spuckend .
Mitten im Strom drehte er und schwamm schräg vor Kai Jans her , daß der die Wucht der Strömung nicht hätte .
Der atmete mühsam und schwamm tapfer , die Augenbrauen zusammengezogen , den Mund stramm geschlossen und kam glücklich hinüber .
Der große Tams hatte den kleinen Piet Boje an der Brust gepackt und schüttelte ihn derb .
Der Kleine sah stumm und trotzig zu ihm auf , als wollte er sagen : Wehren kann ich mich ja nicht , aber ich kann zeigen , daß ich mich nicht fürchte .
" Halt ihn fest , " sagte Pe Ontjes .
" Wie kannst du die kleine Deern so schmeißen ? " sagte Kai Jans und stand mit geballter Faust und mit sprühenden Augen vor dem langen Tams .
" Komme , " sagte er zu ihr , " ich will dich rein waschen . "
Aber sie war trotzig wie ihr Bruder , stieß seine Hand zurück und sah ihn zornig an .
Sie hatte einen ganz finsteren Ausdruck , obgleich ihr Haar so schön hell war und ihre Augen lichtgrau .
" Ich bin bloß herübergeschwommen , um euch zu helfen ; ich wäre beinahe ertrunken . "
" Bist du der Junge , der bei uns war , als Heinke geboren wurde ? "
" Ja , " sagte er , " der bin ich .
Kennst du mich wieder ? "
Und er griff ins Wasser und spülte ihr mit scheuer Hand ihr Haar und Ohr und sagte : " Das ist doch man gut , daß ich herüber gekommen bin . "
Sie sah sich nach ihrem Bruder um und sagte : " Sage ' dem großen Lau , daß er meinen Bruder nicht stößt . "
" Mensch ! " sagte Pe Ontjes , " kommt Mal her !
Sie haben einen großen Aal gefangen ...
Seht Mal , der wiegt wenigstens ein Pfund ! "
Piet Boje sah patzig auf den Aal , der schwerfällig im nassen Sand spielte .
" Ihr könnt ihn gar nicht festhalten , " sagte er , " so glitschig ist er . "
" Was nicht ? " sagte Pe Ontje , machte aus seinen Fingern eine Kneifzange , ergriff den Aal am Halse , sah sich wild um ... und bis dem Aal den Kopf ab und spuckte ihn aus .
Anna Boje schrie laut und hell auf und schüttelte sich , daß das lose , kurze Kleid hin und wieder glitt .
" Du Schweinigel ! " rief sie und sprang vor Entsetzen steil auf .
" Gittegitt , du Schweinigel !
... Was bist du für ein greulicher Mensch . "
Er tat , als wenn er nun sie fressen wollte , sprang um sie herum und fletschte die Zähne .
Sie wich zurück und hielt den Arm ausgestreckt vor dem Gesicht und schalt heftig :
" Du bist der widerlichste Mensch auf der ganzen Welt .
Du ... Aalfretter , du . "
" Wenn du sie anpackst , " sagte Piet , " Schlag ' ich zu .
Wenn ich auch kleiner bin als du : so leicht wirst du nicht mit mir fertig . "
" Komme , Pe Ontjes , " sagte Kai Jans , " du nimmst den Aal und dann gehen wir wieder hinüber . "
" Ein paar Patzköpfe sind es , " sagte Pe Ontjes und sah die beiden mit Wohlgefallen an und wandte sich ab .
Dann warfen sie sich wieder ins Wasser , links Tams , in der Mitte Kai Jans , rechts , die Strömung abhaltend , Pe Ontjes , der den Aal quer im Mund hatte und gewaltig den Kopf schüttelte und schrecklich schnaufte .
Als sie drüben bei den anderen ans Ufer stiegen und sich umsahen , standen die beiden Kinder nebeneinander , ganz allein in der weiten , leeren , grauen Ebene , auf der hier und da blendende Sonnenspiegel lagen , und ihr Haar lohte .
Das Mädchen hob drohend die Hand und ihre kleine , tapfere Stimme klang hell und zornig herüber :
" Aalfretter , Aalfretter . "
" Die Deern ist eben so wild wie der Junge , " sagte Pe Ontjes und machte die Hand hohl und schrie hinüber :
" Du sollst meine Frau werden .
Freust dich darauf ? "
Aber es kam nichts wieder herüber , als von fernher klar und scharf wie rascher , zorniger Vogelflug , dasselbe Scheltwort .
Als Pe Ontjes am anderen Morgen die Straße hinauf zur Schule ging , da standen seine Mitsünder hier und da an den Türen und in den Hauswinkeln und schlossen sich ihm an .
Sie waren alle still und mieden es , sich anzusehen .
Auch Pe Ontjes Lau war nicht auf der Höhe .
Als sie auf den Schulhof gingen , wandte er sich um und sagte ernst :
" Kinder , heute machen wir unseren Todesritt . "
Sie hatten in der Schule den Ritt von Mars la Tour besprochen .
Dann riß er die Tür auf und ging hinein .
Mars Wiebers griff ins Pult , legte den Stock quer vor sich und betete still ein Vaterunser .
Das tat er immer , bevor er zuschlug ; denn er hatte einst als Junge einem Spielkameraden im Jähzorn einen Arm entzwei geschlagen .
Dann bekamen sie der Reihe nach tüchtig das Fell voll .
Als er als Letzten Kai Jans schlagen wollte , fragte er :
" Warum standst du gestern auf ?
Was wolltest du ? "
Er sagte leise und mit flehenden Augen :
" Ich wollte Sie bitten , meinen Aufsatz nicht vorzulesen ; es ist mir so schrecklich , daß sie über mich lachen .
Sie lachen oft über mich . "
Er zögerte einen Augenblick ; dann schlug er ihn .
Dann aber erhob er den Stock gegen die ganze Hafenstraße von Hilligenlei und sagte grimmig :
" Wehe euch , wenn ihr noch einmal über Kai Jans lacht !
Und wenn er das ganze Paradies in sich hat und den Engel Gabriel dazu , was geht es euch an ?
Sollt ihr ihn aus dem Paradies vertreiben , ihr Lümmel ?
Das wird Gott tun . "
Fünftes Kapitel Schon am ersten März hatte Pe Ontjes Lau seinen ganzen Kram in Ordnung .
Eine neue Kiste brauchte er nicht ; er nahm die seines Vaters , welche die letzten sechzehn Jahre für den Schweinebestand des Lauschen Hauses als Schrotkiste gedient hatte .
Er malte sie selbst braun an , kaufte ein neues Vorhängeschloß und verstaute alles aufs beste .
Den Schlüssel in der Tasche saß er mit gelangweiltem Gesicht auf der Schulbank .
Am Tage nach Sonntag Palmarum sollte er in Hamburg an Bord des Dreimasters " Goodefroo " gehen .
Man sollte denken , daß er ohne Sorgen davonging .
Aber dieses war nicht so .
Wenn er den Blick zur Seite wandte , dann saß da Tjark Dusenschön , lang , dünn , mit unruhigen Schultern und freundlich gleißenden Augen .
Der wurde am Sonntag Palmarum auch konfirmiert , und der hatte seinen Kram nicht in Ordnung .
Der wußte überhaupt nicht , was er werden wollte .
Pe Ontjes Lau hatte freilich einst gesagt :
" Ich will mich nicht mehr um Tjark Dusenschön kümmern . "
Aber kann ein Mensch das durchsetzen ?
Muß man sich nicht um ihn kümmern ?
Muß man nicht bald zu ihm sagen : " Lache nicht so süßlich , Mensch " ... bald : " Lüg doch nicht " ... bald :
" Mensch , woher hast du die Mütze und woher das Halstuch ? "
Man muß Tjark Dusenschön entweder totschlagen oder sich Sorgen um ihn machen .
In der Schmiede gab es schwere Verhandlungen .
Jan Friech Buhmann war ratlos und schwer bedrückt .
" Er taugt zu nichts , " sagte er , " er ist zu faul . "
Pe Ontjes war ratlos und zornig :
" Er ist so faul wie du , " sagte er , " aber er hat noch einen Fehler dazu ; er ist großartig .
Übergeschnappt ist er . "
Scheinhold , der Geselle , war ratlos und wirr ; er blinkte allerdings verdächtig dabei mit den Augen :
" Wir müssen ihn in die Welt laufen lassen , " sagte er , " so wie er da ist .
Er findet , glaube ich , ein neues Handwerk , so zwischen Seiltanzen und Grobschmied .
Dann haben wieder viele Leute Arbeit . "
Tjark Dusenschön saß in der Mitte auf dem Amboß in einem Anzug , der von verschiedenen Gebern stammte , und in grauen Strümpfen .
Um den langen Hals hatte er ein rotes Tuch mit lang herabhängenden Enden , und auf dem runden Kopfe eine alte verschossene Primanermütze .
Die Pantoffeln waren auf die Erde gefallen .
Er schlenkerte mit den Füßen und krümmte die Zehn , und sah sie alle mit großen , freundlich blinkenden Augen an .
Kai Jans saß seitwärts am Schraubstock auf der Nagelkiste , fühlte sich zu jung und unerfahren , um in einer so großen Sache mitzureden , und sah stumm und aufmerksam immer auf den , der das Wort hatte .
" Seine Großmutter ist übrigens beim Pastor gewesen , " sagte Jan Friech .
" Deine Großmutter ? " sagte Pe Ontjes , " Ach , du liebe Zeit !
Stiena Dusenschön !
Das hätte ich sehen mögen !
Natürlich so ... "
Er schwenkte zierlich Schultern und Arme und lächelte .
" Der Pastor sollte ihr sagen , was du werden solltest ? "
Tjark Dusenschön war gar nicht beleidigt ; er sah auf seine Füße und ließ die Zehn miteinander Verstecken und Greifen spielen .
" Sie hat den Pastor gefragt , ob es nicht möglich wäre , daß ich irgendwo an einem Fürstenhof Verwendung fände , so als Vorreiter oder Hofrat oder so was . "
" Na ? " sagte Pe Ontjes , und in seiner Stimme klang Hohn und Hochachtung und Unsicherheit durcheinander .
" Was hat der Pastor gesagt ? "
Tjark zog die Augenbrauen hoch .
" Der Andrang ist groß , " sagte er .
" Verrückt ! " sagte Pe Ontjes erleichtert .
" Es muß etwas sein , " sagte Jan Friech , " wo er sich fein kleiden kann , und wo er mit feinen Leuten Umgang hat . "
" Teer , Mutt und so was darf nicht vorkommen , " sagte Pe Ontjes höhnisch , " und dann :
er muß es weit bringen können . "
Scheinhold , der Geselle , riß an seinen Augen wie der Ewerführer am Großsegel , wenn er drei Tage lang in Windstille gelegen .
" Wenn ich was sagen darf ... dann muß er Schreiber beim Bürgermeister werden . "
Da rief Jan Friech überlaut :
" Zu Daniel Peters !
... Zu seinem natürlichen Vater !
... Das Kind gehört zu seinem Vater !
Allerdings !
Kinder , wir haben es !
Er muß Schreiber bei Daniel Peters werden . "
Er legte die große rußige Hand über die Augen und tat , als schaue er in eine strahlende Landschaft .
" Ich sehe seinen Lebensweg deutlich vor mir , " sagte er .
Pe Ontjes sah voll Widerwillen auf das aufgeregte Wesen von Jan Friech .
" Denke lieber darüber nach , " sagte er , " was wir denn nun tun müssen . "
" Er muß hingehen und sich verstellen , " sagte Scheinhold , der Geselle .
" » Vorstellen « nennt man das .
Aber wir wissen ja noch gar nicht , ob er will . "
" Wer ? " sagte Pe Ontjes , " Tjark Dusenschön ? ...
Ob er will ?
... Das fehlt noch gerade , daß wir ihn fragen .
Der wird das , was wir bestimmen . "
" Ich kann mich doch nicht vorstellen , " sagte Tjark kläglich .
" In diesem Aufzug !
Und Stiefel habe ich überhaupt nicht .
Und der Herr Bürgermeister ist ein feiner Mann . "
Sie sahen alle trübselig vor sich hin .
Zuletzt hob wieder Scheinhold , der Geselle , den angegrauten Kopf und sagte :
" Wenn ich denn was sagen soll ...
In unserem Schuppen steht die alte Vollkutsche von Vollmacht Nissen ... wenn wir nun so_ein Stück vierzig Lose verkauften , das Los zu 'ner Mark ... und verlosten sie .
Dann hätten wir das Geld für Anzug und Stiefel . "
" Sehr gut ! " sagte Jan Friech .
" Sehr gut , " und nickte , ohne aufzusehen , fortwährend mit dem Kopfe .
Pe Ontjes sah mißmutig drein .
" Sie ist zu alt , " sagte er .
" So lange ich denken kann , steht sie schon in dem dunklen Schuppen .
Aber wir können ja Mal hingehen und sie besehen . "
Jan Friech und sein Geselle sahen sich mit einem großen Blick an .
" Was sollen wir hingehen ? " sagte Jan Friech .
" Die Kutsche ist da ... und damit gut . "
" Man kann immer behaupten , " sagte Scheinhold mit gesenktem Kopf , " daß da im Schuppen eine Vollkutsche steht . "
" Sie stammt von Vollmacht Nissen , " sagte Jan Friech .
" Als der Bankrott machen wollte , ließ er mir die Kutsche , daß ich mich damit bezahlt mache .
Aber ich mochte sie nicht verkaufen . "
" Du konntest sie nicht verkaufen , " sagte Pe Ontjes .
" Ich will sie sehen , sonst will ich von der Verlosung nichts wissen . "
" Vierzig Lose , " sagte Tjark rasch und heiß , " das Los eine Mark : dafür kann ich alles bekommen und ein Paar Stehkragen . "
Jan Friech jammerte auf :
" Tjark verwechselt immer Netto und Brutto .
Ich habe doch eine Hypothek auf dem alten Wrack ... wollte sagen , auf der Kutsche .
Vierzig Mark für Tjark und vierzig für mich , zusammen achtzig .
Nun redet nicht lange und macht die Sache fertig ... "
Er legte seine große Hand auf Pe Ontjes ' Knie :
" Bedenk , " sagte er , " was soll Tjark Dusenschön werden ? "
Da beruhigte Pe Ontjes sich , da er auch keinen anderen Rat wußte , und sie machten sich also alle an die Arbeit , legten in einem alten Schreibbuch ein Verzeichnis der Losinhaber an und schnitten aus Pappe achtzig Lose .
Dann wurde Scheinhold unterwegs geschickt :
er solle zu den Bauern rund um Hilligenlei gehen und sagen :
Es handle sich darum , den Enkel einer armen Witwe in einen ordentlichen Lebensberuf hinein zu bringen .
Wenn er nach dem Zustand der Kutsche gefragt würde , sollte er sich " mit Vorsicht äußeren " .
Es war sehr peinlich , daß von den Anwesenden keiner ein Los kaufte .
Kai Jans hatte kein Geld ; Pe Ontjes sagte , er wolle in ein so muffiges Unternehmen kein Kapital stecken ; Jan Friech sagte , er täte als Besitzer der Kutsche mehr als alle anderen ; kein Mensch könne verlangen , daß er auch noch Bargeld zusetze ; Bäckermeister Nissen , der gerade vorüberging und hereingerufen wurde , wollte wohl ein Los nehmen ; er wollte aber nur dann bezahlen , wenn sein Los gewönne .
Das wurde mit drei gegen zwei Stimmen abgelehnt .
Aber Scheinhold , der Geselle , nahm ein Los und bezahlte es bar .
Dann machte Scheinhold sich auf .
Im kleinen Trab , bald gegen , bald mit dem harten Märzwind , lief er rund um Hilligenlei , vier Tage lang ; kam jeden Abend nüchtern nach Haus und hatte am Abend des vierten Tages richtig die achtzig Mark in der Tasche .
Jan Friech bekam vierzig .
Mit den anderen vierzig in der Tasche und Tjark Dusenschön auf Pantoffeln zur Seite , ging Pe Ontjes zu Schneider Lammmann und bestellte den Anzug und sagte ausdrücklich , daß der Anzug für diesen hier neben ihm stehenden Tjark Dusenschön wäre ; denn Schneider Lammmann hatte den Ruf , daß er alle Anzüge etwas nach seiner eigenen Figur mache .
Er war kurz und säbelbeinig .
Dann berieten sie , wie sie die Sache beim Bürgermeister machen sollten .
Es war keine Kleinigkeit , dem großen und schönen Daniel Peters etwas richtig zu machen .
Zuletzt sagte Scheinhold , daß er auch dies übernehmen wolle ; man solle ihm nur drei Tage Zeit lassen .
Pe Ontjes drängte sehr , daß die Sache zum Ende und ins reine käme ; denn wenn im Frühling das Wetter warm wurde , war kein Verlaß mehr , weder auf Jan Friech noch auf Scheinhold .
Über Jan Friech kam dann eine unbezwingliche Neigung zu Angelrute und Duttnetz , und über Scheinhold zur Kümmelflasche und Wanderung .
Den Winter über arbeitete er bei Jan Friech in der Hafenstraße von Hilligenlei , war kinderlieb und hilfreich .
Im Sommer aber gehörte er zu den Tausenden , welche die langen , kahlen , hellgrauen Landstraßen von Schleswig-Holstein , von Hamburg bis Kolbig , auf- und Niederwandern , schlapp , faul , betrunken .
Drei Tage lang ging Scheinhold , der Geselle , wie im Traum einher .
Pe Ontjes und Kai Jans fürchteten schon , daß das Unheil bei ihm ausbräche ; denn die Witterung fing an , warm zu werden .
Sie paßten auf ihn , so gut sie konnten ; sogar in der Schulpause rannten sie nach der Schmiede , ob er noch da wäre .
Am dritten Tag fanden sie ihn nicht .
Da hörte Kai Jans , der eine besonders große Angst um ihn hatte , daß aus der Kammer hinterm Blasebalg , wo er hauste , ein eintöniges Gemurmel hervordrang .
Jan Friech kam auch , und sie öffneten leise die Tür .
Da stand er da , den Rücken ihnen zugewandt , und knickte wie ein strammes Federmesser ein und sagte gegen die Wand an :
" Hochzuverehrender , hochgebietender Herr Bürgermeister , Ritter Pepe ...
Dieser Jüngling , der hier neben mir steht , ist der Enkel der ehrlichen Witfrau Stiena Dusenschön , von Mutter wegen aus hohem Hause , dazu von einem gelehrten , unbekannten Vater , wie eine Postkarte bewiesen hat , welche Pe Ontjes Lau leider schmissen hat .
Es ist derowegen kein Wunder , daß der Jüngling sein Streben auf hohe Ziele gestellt hat , nämlich : unter Ew. Hochwohlgeboren die edle Kunst des Schönschreibens und des Stils zu erlernen .
Meine geringe Person wird Ew. Hochwohlgeboren ganz unbekannt sein : ich bin Geselle bei Jan Friech Buhmann in der Hafenstraße , namens Adalbert , Heinrich , Reinhold van der Beeke , von den kleinen Kindern der Hafenstraße Scheinhold genannt , weil sie des R es nicht mächtig sind . "
Jan Friech Buhmann machte die Tür leise wieder zu , setzte sich ganz verwirrt auf den Amboß und sagte nach einigem Schweigen :
" Dieser Mensch ist unter allen Menschen , die Gott gemacht hat , eine wunderbare Schöpfung für sich : ein Kinderfreund , ein Säufer , ein Gelehrter , und ein Mann mit einem großartigen und schönen Namen .
Wie ist sein Name ?
Ich habe nie gewußt , daß er einen so großartigen Namen hat .
Aber das ist klar : die Sache Tjark Dusenschöns ist in den besten Händen .
Dieser Ansprache kann Daniel Peters nicht widerstehen . "
Gleich nach Mittag machten sie sich auf ; nachher sollte die Verlosung vor sich gehen .
Scheinhold in dem schwarzen Abendmahlsrock von Jan Friech , der ihm bis über die Knie reichte , die Ärmel unten umgeschlagen , voran ; halb links hinter ihm Tjark Dusenschön in seinem neuen , schönen Anzug , in blanken Stiefeln , schwarzem Rundhut und blauem Schlips ; hinterher die ganze Klappjagd aus der Hafenstraße , alle in Holzpantoffeln ; Pe Ontjes und Kai Jans in einiger Entfernung .
Tjark Dusenschön sah sich zuweilen mit strahlenden Augen um und sagte : " Ihr müßt vor der Tür stehen bleiben . "
Die beiden kamen richtig in die Amtsstube und fanden Daniel Peters an seinem Schreibtisch sitzend .
Wie er immer tat , wenn Besuch kam , selbst wenn es Kinder waren , erhob er sich , daß seine ganze herbe Größe und Schönheit sichtbar würden , strich seinen mächtigen , seidenweichen Schnurrbart und hörte stehend , was Scheinhold , der Geselle , ihm vortrug .
Es war seine stete Klage , daß der Sinn für Autorität und Wohlanständigkeit in unseren Tagen zugrunde ginge .
Hier war beides .
Mit einem gnädigen Kopfnicken wurden sie entlassen .
Niemals hat über den Marktplatz von Hilligenlei solch wildes Pantoffelgeklapper geschallt , obgleich drei Süderlohs ihre Pantoffeln in die Hände nahmen und auf Strümpfen dahinrasten .
Niemals hat eine feierlichere Sitzung in der Schmiede von Jan Friech Buhmann stattgefunden , als da sie nun die Verlosung vornahmen .
Niemals hat Tjark Dusenschön so mit blanken Augen im Mittelpunkte seiner Freunde gesessen , als da er die Lose schüttelte , die in dem alten , schwarzen , abgründigen Schlapphut von Jan Friech lagen .
Niemals hat die Schmiede so verdutzte Gesichter gesehen , als da Scheinhold , Scheinhold , der Geselle , und niemand anders , die Kutsche gewann .
Es gab eine gräßliche Bestürzung .
Pe Ontjes bis sich auf die Lippen und sah finster vor sich nieder .
Scheinhold saß erschüttert auf der Schiebkarre und hörte nicht , daß Tjark Dusenschön leise zu ihm sagte : " Du , nun könnten wir die Kutsche noch einmal verlosen ...
Ich habe noch allerlei Bedürfnisse . "
Jan Friech saß am Amboß , paffte stark aus seiner kurzen Pfeife und redete von Tücke des Schicksals .
Plötzlich erhob sich Pe Ontjes , sah gar nicht auf und sagte : " Na , ich gehe ja davon in die Welt ... Adieu , alle miteinander !
Ich will in meinem ganzen Leben nichts mehr mit euch zu schaffen haben . "
Damit ging er .
Tjark Dusenschön ging auch .
Kai Jans wollte auch gehen .
Da der Meister und sein Geselle aber mit so stillen Gesichtern dasaßen , blieb er noch und sagte bedrückt :
" Ihr solltet jetzt anfangen zu arbeiten .
Peter Thebens will seinen Pflug gern wieder haben .
Fangt man an ! "
Jan Friech Buhmann erhob sich vom Amboß , stieß das verstaubte Fenster auf , das nach dem Hafen hinaus ging , und holte tief Atem und sagte : " Eine merkwürdig warme Luft ... Mache Feuer , Scheinhold , wir wollen den Pflug fertig machen !
... Sieh da ...
Hinnerk Iwert geht zum Aalfang ... fängt nichts ... ist zu dumm ... " Scheinhold , der immer noch auf der Schiebkarre saß , hatte den Kopf gehoben und die Luft gewittert :
" Merkwürdig warm , " sagte er .
Dann schwieg er eine Weile .
Dann schüttelte er schwerfällig den Kopf :
" Ich komme da nicht drüber weg , " sagte er .
" Ich habe ein zu feines Gewissen .
Sie werden alle sagen , ich habe beim Losen betrogen . "
Er stand mit steifen Gliedern auf und öffnete die große Tür und sah die Hafenstraße entlang .
Kai Jans sah ängstlich von einem zum anderen , trat neben Scheinhold an die Tür und sagte wieder wie beiläufig :
" Ihr solltet nun man anfangen zu arbeiten .
Mache doch jetzt Feuer , Scheinhold . "
Jan Friech hatte versucht , das Pflugeisen abzuschrauben , mußte aber durchaus einen anderen Schraubenschlüssel holen und kam wieder am Fenster vorbei :
" Nun sitzt Karl Martens da auch ... mit seinem Krautnetz ... fängt auch nichts ... zu dumm dazu !
... Es ist eine großartig warme Luft .
Die Aale laufen . "
" O , " sagte Scheinhold .
" Geht doch , Meister , fangt Aale . "
Jan Friech drehte sich um und sagte verächtlich :
" Meinst du , daß ich nicht weiß , was die Glocke geschlagen hat ?
Du willst zum dicken Bütt hinauf und dich besaufen ! "
Kai Jans wollte aufspringen und Pe Ontjes holen , fürchtete aber , daß er zu spät wiederkäme , und blieb stehen und sah mit starren , bangen Augen auf Scheinhold .
Er kannte ihn von seiner Kindheit an und hatte ihn lieb .
" Ich zu Bütt ? " sagte Scheinhold , " mit nichten ! "
Er saß eine Weile still .
Dann fiel er wieder in sich zusammen und sagte klagend :
" Wenn mein Gewissen nicht so fein wäre ... aber ich kann da nicht darüber hin .
Man soll nicht sagen , daß ich ein Betrüger bin . "
Jan Friech trat vom Fenster zurück und sagte : " Ich will doch Mal sehen , ob mein Netz in Ordnung ist ; " und ging in den Hof hinaus .
" Du , " sagte Scheinhold mit schwerer Stimme ... " ich ... zum Arbeiten habe ich keine Lust heute ...
Ich will Mal zum Sattler gehen , ob er mir den Leibriemen geflickt hat . "
" Du , " sagte Kai Jans und faßte ihn am Arm und sah ihn bittend an :
" Ich bitte dich , gehe doch nicht zu Bütt . "
" Bewahre , " sagte er , " wie kommst du darauf ?
Aber ich muß doch zum Sattler , das kannst du doch begreifen !
... Und meinst du , daß einer arbeiten mag , wenn er einen so faulen Meister hat ? "
" Und meinst du , " sagte Jan Friech durchs Fenster , " daß einer arbeiten mag , wenn er einen so saufen Gesellen hat ?
... Es ist weder zu viel noch zu wenig Wasser .
Gerade die richtige Höhe !
Ich gehe nach dem Hafen . "
" Hu ... all das Wasser ! " sagte Scheinhold und schüttelte sich .
" All das Wasser ! "
Und er hob die zitternde Hand , die Finger gegeneinander gekrümmt , als hätte er ein kleines Glas darin , und lächelte glücklich .
Da drängte sich Kai Jans mit Angst und Hast an ihn , suchte seine Augen und sagte eilig und dringlich , wie zu einem Schlafenden :
" Du , Scheinhold ... du !
... Kennst du die Geschichte vom Schmied von Barlt ? "
" Kenne ich nicht , " sagte Scheinhold und stierte die Straße hinauf .
Seine Augen waren wie von schmutzigem Glas .
" Der war ein Schmied , wie du bist , und wurde von einem tollen Hund ins Bein gebissen .
Der Hund war ganz toll und die Wunde war ganz tief ... Weißt du , was er da tat ?
Der Schmied von Barlt ?
Er machte die Tür zu und arbeitete drei Tage lang .
Die ganze Schmiede war voll von blankem Feuer , und große gelbe Funken flogen aus dem Schornstein . "
" Ich mag heute keine Geschichte hören , lütt Jung , " sagte Scheinhold mitleidig und erhob sich , als hätte er tausend Pfund auf jeder Schulter und ging auf die Straße .
Kai Jans sah sich nach Jan Friech um , ob der ihm helfen könnte ; aber der ging eben mit seinem Netz über den Hof und rauchte mächtig .
Da lief er neben Scheinhold her auf die Straße und sah zu ihm auf und redete heiß und eifrig :
" Am dritten Tag hörte das Hämmern und Glühen auf .
Da schrie der Schmied , als wenn ein wilder Stier schreit . "
" Lütt Jung , " lallte Scheinhold , " ich mag deine Geschichte nicht ; ich mag sie ganz und gar nicht . "
" Da wagte es zuletzt sein lieber Bruder .
Der war ebenso groß und stark wie er , und war ein Zimmermann .
Der schlug mit der Axt die Tür ein .
Und da ... da lagen alle Zangen und Hammer und Feilen und Kohlen ... alles lag in der Ecke zusammengeschmissen und der Schmied stand am Herd und schäumte und riß an großen Stangen und Ketten .
Mit denen hatte er sich zwischen Herd und Amboß festgekettet .
Als sein Bruder ihn so sah , sagte er : » Gut gegen gut , mein lieber Bruder « und erschlug ihn mit der Axt , daß er sich nicht länger quäle . "
Da stieß Scheinhold den Jungen roh von sich , daß er zur Seite taumelte und hart auf die Steine fiel .
Der dicke Bütt stand mit seinem schönen , schneeweißen Haar vor seiner Tür und lachte laut : " Recht so ! " sagte er .
" Gib es ihm !
Nun komme ! "
Da stolperte Scheinhold über die Schwelle .
Kai Jans erhob sich und ging , blaß wie ein Geist , ohne Atem , die Straße hinunter und wollte ja wohl nach Haus ...
Da kam Pe Ontjes aus seiner Haustür und sagte von weitem :
" Ich habe vorhin die Tür zum Schuppen aufgebrochen : die Kutsche hat gar keine Räder mehr .
Und das Leder ist auch weg ; das hat der Mensch sich unter die Pantoffeln genagelt .
Es ist nichts da als der Holzkasten und die Achsen .
Und daß Scheinhold das Los bekam , ist sicher ein Betrug von Tjark Dusenschön .
Sie sind alle miteinander Lumpen .
Ich bin froh , daß ich morgen davon gehe ' . "
Er kam näher ; und nun sah er Kai Jans' Gesicht und erschrak so , daß er mit beiden Händen nach vorne griff :
" Jung , " sagte er , " was fehlt dir ? "
Kai Jans atmete einmal , zweimal heiß und wild und brach dann mit wehem Aufschrei in die Knie .
Pe Ontjes nahm ihn mit seinen starken Armen hoch und brachte ihn nach dem langen Haus hinauf zu seiner Mutter .
Da lag er auf dem Fußboden , wimmerte und war wie sinnlos .
Pe Ontjes erzählte , was alles geschehen war ; es kam auch die alte Zacharische und erzählte , wie Scheinhold ihn niedergestoßen und wie der alte Bütt gelacht hatte .
Da sagte die Mutter traurig :
" Dann kann ich mir wohl denken , was mit ihm ist .
Er hat mich früher , als er noch kleiner war , in seinen ersten Schuljahren , oft gefragt , ob es wirklich wahr wäre , daß es schlechte Menschen gäbe .
Er konnte das nicht begreifen und ich armes Mensch konnte es ihm nicht klar machen .
Nun hat er mit einemmal einen ganzen Berg Böses gesehen , eines aufs andere aufgestapelt .
Das hat ihn so wirr gemacht . "
" Es ist schade , " sagte Pe Ontjes , " daß er nicht mit mir hinausgeht .
Er muß in die Welt hinaus , daß er sie kapiert .
So geht es nicht . "
Sechstes Kapitel Es war ein schöner , sonniger Septembertag und in Hilligenlei war Jahrmarkt .
Auf den fünf Straßen , die nach Hilligenlei führen , klapperten die Pferdehufe und rollten die Wagen ; und am Bollwerk landete Hafenmeister Lau zum drittenmal allerlei Volk , das von frästet her über die Bucht kam .
Piet Boje sprang von allen als erster an Land , hinter ihm her seine Schwester ; beide nun schon große Kinder , dicht vor der Konfirmation .
Sie sahen mit scheuen , fliegenden Augen das lange Haus entlang und sahen Kai Jans vor der Tür stehen .
Seine zierliche , kleine Mutter , die nun nicht größer war als er , stand hinter ihm .
" Kommt einen Augenblick herein , " sagte sie freundlich .
" Habt ihr Heinke und Hat nicht mitgebracht ? "
Die beiden kamen hinein und füllten die kleine , ärmliche Stube mit der geraden Schlankheit ihrer Gestalten und dem hellen Glanz ihres Haares ; sie bestellten einen Gruß von Vater und Mutter und sahen sich um wie Rehe auf der Waldwiese .
" Unsere Wohnung ist nur klein , " sagte Male Jans , " und der Fußboden ist von Lehm ; aber reinlich ist es hier .
Sieh ... da liegen noch die Itzehoer Nachrichten :
da lese ich Sonntags darin ; Werktags habe ich keine Zeit .
Gehe nach der Kammer , Kai , und zieh deine gute Jacke an ; du kannst mit ihnen zu Markt gehen . "
Sie sah wieder auf die großen , geraden Kinder und strich dem Mädchen schüchtern über die Schulter .
" Sieh , " sagte sie und zeigte auf den runden Tisch , über dem die kleine , dürftige Lampe hing : " Hier sitzt er jeden Abend .
Er ist immer in den Büchern . "
" Er ist wohl sehr klug , " sagte Anna .
" Hast du das schon gemerkt ? " sagte Male Jans und ihre Augen verbargen nicht den großen , heimlichen Stolz .
" Lehrer Wiebers ging vor acht Tagen hier vorüber und sagte : es ist schade , daß Kai nicht Lehrer werden kann .
Aber es geht ja nicht ; wir haben ja nicht die Mittel dazu .
Er wird Buchdrucker und kommt zu Heine Wulk in die Lehre ; er arbeitet da jetzt schon jeden Nachmittag und ist sehr stolz darauf .
Heine Wulk sagt auch : auf dem Wege kann er alles erreichen !
Denke Mal ... neulich hat er schon ein kleines Gedicht geschrieben ; Heine Wulk sagt : es ist sehr gut , und hat es abgedruckt ...
Was willst du denn werden , Piet ? "
" Ich gehe Ostern nach Itzehoe auf die Realschule , " sagte er , " ich will Kaufmann werden . "
" Ich dachte , du würdest Lehrer , " sagte Male Jans .
" Als Lehrer verdient man nicht genug , " sagte er ernst ; " aber ein tüchtiger Kaufmann verdient viel Geld . "
Kai kam herein .
Sie zupfte ein wenig an ihm herum , fragte ihn , ob er ein Taschentuch hätte , strich ihm über den Ärmel , um zu zeigen , daß es eine gute Jacke sei , und gab ihm zwei Groschen , die schon auf der Fensterbank bereit lagen .
Sie sollten doch sehen , daß er nicht ohne Marktgeld war .
Als sie hinausgingen , winkte sie ihm noch mit den Augen und sagte : " Mußt gerade gehen , hörst du ? " und deutete auf das Mädchen , das gerade und vornehm wie ein Königskind stand .
Als sie aus der Hafenstraße in die Kirchstraße einbogen , kamen sie gleich in den Strom der Marktgänger und in den Trubel des Tages .
Unter dem Fenster von Uhrmacher Reimers saß Tim Söth , der kleine verkrüppelte Geiger , auf der Erde , und fiedelte und wackelte mit dem Kopf ; seine Mütze lag auf seinen Knien , damit die Vorübergehenden eine kleine Münze hineinwürfen .
Als er die Bojekinder vorübergehen sah , ließ er die Fiedel sinken und sagte : " Du , Prinz Boje , kannst du mir eine Mark wechseln ?
Ich habe soviel Kleingeld . "
Piet langte in seine Geldtasche und sagte : " Das kann ich , " und wartete , bis Tim Söth die Summe in halben Groschen gezählt hatte ; er empfing das Kleingeld und gab das Markstück hin .
Im Weitergehen zählte er und sah , daß er nur neun Groschen bekommen hatte .
" Stimmt es ? " sagte Anna .
" Ganz genau ! " sagte er und steckte das Geld ruhig ein .
Aber plötzlich durchfuhr es ihn ; er kehrte kurz um , griff in die Mütze von Tim Söth und sagte mit funkelnden Augen :
" Du hast mich betrogen , du Lump .
Wenn du nicht ein Krüppel wärst , schlüge ich dich kurz und klein . "
Der Geiger sah unsicher zu ihm auf und hob die Geige , als hätte er nichts verstanden .
An der Ecke des Marktplatzes , gleich rechts , stand ein Orgeldreher neben einer großen bunten Leinwand , worauf eine wüsste Mordgeschichte gemalt war .
Mit roher Stimme , in fremder Mundart , besang ein Weib die gemalten Taten .
" Sie ist wohl selbst dabei gewesen , " sagte Kai Jans , der mit großen Augen hinsah .
Piet war mißtrauisch und meinte , die ganze Geschichte wäre erlogen .
" Kannst ja sehen , " sagte er , " das Beil trifft ja gar nicht , der Kerl haut ganz beizu . "
Anna hielt sich zurück und sah mit fremden Augen auf das singende Weib .
" Komme , " sagte Kai , " wir wollen nach dem Blumenverspieler gehen .
Da gewinnt jede Nummer ... Sieh , da steht es :
» Jede Nummer gewinnt « . "
" Die Blumen sollst du haben , " sagte er und setzte seine ganzen zwei Groschen .
Das Rad schwirrte ; der Weiser stand , und zwar zwischen zwei Nummern .
" Leider keine Nummer , " sagte der Mann und sah über die Kinder hinweg .
" Immer heran , meine Herrschaften , jede Nummer gewinnt . "
" Mir scheint , " sagte Kai mit rotem Kopf , " das lassen wir , " und trat zurück .
" Nun hast du all dein Geld verspielt , " sagte Anna .
" Ich hole mir nachher neues , " sagte er .
Da gingen sie zusammen nach dem Kasperletheater und standen lange und sahen zu ; und er freute sich jedesmal , wenn Anna leise und kurz auflachte ; das klang so schön ; er sah von der Seite ihr kleines , weißes Gesicht und fragte sie mehr als einmal , ob sie es sehen möchte .
" Es ist zu dumm , " sagte sie , " aber ich mag es doch sehen . "
Dann , als er merkte , daß die Frau des Puppenspielers mit dem Sammelteller kam , sagte er wichtig , er müsse nun auf einige Stunden zu Heine Wulk in die Druckerei gehen und arbeiten .
Er machte mit ihnen ab , daß er sie nach zwei Stunden in der Durchfahrt vom Hamburger Hof treffen wolle .
Dann wolle er sie ans Boot bringen .
Während er in der öden , schmutzigen Werkstatt von Heine Wulk saß und noch einige Jahrmarktsanzeigen drückte , kam von Südwesten her ein leises Gewitter und warf einen ganz leichten Regenschauer aufs Land und ging vorüber .
Bald darauf aber kam ein stoßender Wind auf , schwere Donner rollten über See und Land , und harte Blitze flogen wie ungeheure , wilde Peitschenschläge glühend durch die Luft .
Der Staub , der nach langer Trockenheit auf allen Wegen und Straßen im ganzen Lande lag , dazu Sand von fernen und nahen Dünen , wurde aufgerissen und erfüllte und verfinsterte weithin die Luft .
So fegte das Unwetter durch Hilligenlei und über die Bucht , und verging rasch .
Doch fuhren noch lange aus breiter , dunkelblauer Wolke , die jenseits des Wassers über frästet lag , schräge , silberne Blitze .
Als Kai Jans so um fünf Uhr von Heine Wulk losgelassen wurde , hörte er bald , daß das Unwetter in der Stadt und ihrer Umgebung schweren Schaden angerichtet hatte .
Ein junges Paar , das auf der Krautsielerstraße nach der Stadt unterwegs war , um zum erstenmal im jungen Ehestand zu tanzen , war vom Blitz erschlagen ; einige Kinder , von dem dichten Staub verwirrt , waren in die Au geraten und mit Mühe gerettet worden ; ein Fuhrwerk war an einer Hauswand zerschellt .
Als er über den Marktplatz rannte , hörte er von ungefähr , daß auch auf dem Freestedter Bollwerk ein Unglück geschehen sei .
Er hörte den Namen : Lehrer Boje .
Er trat an einen Freestedter Bauern heran und erfuhr , daß man nichts Bestimmtes wisse und daß Piet Boje schon unterwegs sei .
Da suchte er Anna Boje .
Er suchte und fragte und fand sie nicht .
Auch ihre Nachbarn konnten ihm keine Auskunft geben .
Niemand hatte sie gesehen .
Er trat an seine Bekannten heran und fragte , ob sie ein großes Mädchen gesehen hätten , so ungefähr vierzehn oder fünfzehn Jahre alt , gerade und mit einem kleinen , weißen Gesicht und ganz hellem , losem , schlichtem Haar .
Er kam so in Eifer , daß seine Wangen glühten , und kam sich sehr wichtig vor , als suchte er ein anvertrautes Königskind , das in einer fremden Stadt unerkannt umherirrte .
Zuletzt als er sich ganz heiß gelaufen hatte , ging er noch einmal in die Durchfahrt und ging hindurch in den kleinen Garten , wo im Sonnenschein einige Tische und Bänke standen .
Da fand er sie .
Sie saß in ihrem halblangen , blauen Kleid auf der Bank , den kleinen Strohhut ziemlich weit in die Stirn , das Gesicht ein wenig heiß und das lange Haar ein wenig unordentlich und sah mit großer , etwas verwunderter Aufmerksamkeit zu Tjark Dusenschön auf .
Der stand in engen Hosen und hängendem , blauem Schlips vor ihr und fuhr mit lässiger , säuselnder Bewegung durch sein schön gewelltes Haar und sagte gerade :
" Es würde mir ein ganz besonderes Vergnügen sein , Sie in unseren kleinen Tanzklub einzuführen .
Meine Stimme wiegt da viel . "
Als sie Kai Jans sah , blickte sie ihn mit ihren ruhigen Augen an und sagte : " Dusenschön ist Mitglied eines Tanzklubs .
Tanzt du auch ? "
" Du , " sagte er und sah sie ernst an , " Piet hat ein Gerücht gehabt , als wenn dein Vater krank sei , und ist mit einem Nachbarn nach Haus gefahren . "
Sie erschrak sehr , daß ihr kleines , feines Gesicht plötzlich ganz verändert war , stand auf und trat zu ihm .
" Das Boot fährt jetzt nicht ; soll ich dich um die Bucht herum nach Hause bringen ? "
Sie nickte ihm mit ihren klaren Augen zu : " Dann wollen wir gleich losgehen . "
Sie gingen die Kirchstraße hinunter .
Tjark Dusenschön ging mit ihnen .
Sein Schlips wehte ; seine Lippen waren ernsthaft zusammengepreßt ; er drückte bei jedem Schritt das rechte Knie so energisch durch , daß eine Art von gelindem Hinken entstand .
Er hatte diesen Gang und diesen Gesichtsausdruck vor zwei Jahren am Bürgermeister studiert , als der einen Podagraanfall in dieser Haltung und Gebärde würdig und schön ertrug .
Seitdem ging er so .
Unten an der Hafenstraße nahm er höflich Abschied ; er sagte : der Bürgermeister hätte ihm die Marktpolizei übertragen , er müsse die Budenbesitzer noch besichtigen , und ging .
Kai Jans sprang zu seiner Mutter hinauf und erzählte ihr , was geschehen war .
Dann ging er , als die Dämmerung kam , neben Anna Boje aus der Stadt .
Sie kamen auf die Landstraße , die auf die Höhen führt , und bogen dann rechts ab in einsame , schmale Wege , die zu beiden Seiten Wälle hatten , auf denen Hasel und Dornen und niedrige Eichen dicht zusammen wuchsen .
Und es wurde dunkel .
Er fühlte sich sehr stolz in seiner Aufgabe und war erregt und wollte sie erfreuen und den Weg kürzen , und erzählte in einem fort .
Er gehörte sonst zu den Menschen , die schweigsam sind , weil ihre Seele nur von den schwersten und heimlichsten Dingen erregt wird , über die man nur vertraulich redet .
Aber an diesem Abend , vor dieser lieben Hörerin , redete er .
Was er niemals und niemandem erzählt hat , das erzählte er .
Daß sein Vater acht Wochen an Lungenentzündung krank gelegen und danach den halben Winter nicht hätte arbeiten können und daß die Mutter oft weine , weil kein Groschen im Hause wäre .
Da wäre sie zu dem schrecklichen Menschen , dem dicken Bütt , gegangen , um auf Borg Waren zu holen , und jeden Sonntagnachmittag müsse sein Vater dahingehen und einen Kümmel trinken und eine Zigarre rauchen , und er möge weder das eine noch das andere .
Und vielleicht käme zum Herbst die alte Großmutter , die Stiefmutter der Mutter zu ihnen , eine alte , schwächliche Frau ; Vater wolle nicht , daß sie der Gemeinde zur Last fiele .
" Sieh , " sagte er , " wenn ich nun abends von der Druckerei komme , bin ich manchmal schrecklich müde .
Aber ich kann nicht einschlafen , weil Mutter weint . "
" Verdienen denn deine Schwestern nichts ? "
" Vater will und will nicht , daß sie von ihrem Lohn etwas abgeben , damit sie nicht nachher , wenn sie Mal heiraten , so schrecklich armselig anfangen müssen . "
" Ja , " sagte sie ...
" Was meinst du ?
Wir sind auch arm .
Denke Mal , Vater hat noch Schulden vom Seminar her .
Das macht aber nichts . "
" Was sie redet ! " dachte er .
" Die und arm ! "
Ein Lehrer war in seinen Augen ohne weiteres reich .
Dann kamen sie auf den Konfirmandenunterricht und er sagte : " Denke ' Mal , die Hälfte von den Jungs glaubt nicht , was der Pastor sagt ...
Glaubt Piet es ? "
Sie schüttelte den Kopf und er sah im Dämmern , wie sie die feinen Augenbrauen bedenklich hochzog .
" Der Pastor sollte bloß hören , was er manchmal unterwegs zu den Jungen und Mädchen sagt ; dann würde er sicher nicht konfirmiert ...
Er glaubt gar nichts !
Neulich suchten wir auf unserer Steinbrücke Regenwürmer , weißt du , die großen ... wir wollten sie zum Fischen brauchen .
Da sah er sich um und sah die Sterne am Himmel . "
" War es denn Nacht ? "
Sie sah ihn verwundert an .
" Ja , Mensch !
Bist du so dumm , daß du nicht weißt , daß die Regenwürmer bloß nachts unterwegs sind ?
Wir waren aus dem Fenster geklettert und suchten . "
" Im Hemd denn ? "
" Ja , im Hemd ...
Er sah nach den Sternen und sagte : » Sieh Mal ...
Da sind mehr als fünfzig Millionen Sterne .
Meinst du , daß da keine Wesen wohnen ?
Hat es nun fünfzig Millionen Gottessöhne gegeben ?
Ich glaube nicht , was der Pastor sagt .
Ich glaube es nicht , und ich brauche es nicht .
Ich bin auch ohne das ein ordentlicher Mensch und weiß , was ich will . «
Sieh , so schrecklich redet er . "
" Aber du , " sagte Kai Jans , " du glaubst es ! "
" Ich glaube es alles , " sagte sie , " weil der Pastor es sagt . "
Sie sah vor sich hin und schwieg eine Weile .
" Weißt du , was mich manchmal traurig macht ?
Gott ist doch dreieinig , nicht ?
Nun bin ich manchmal so bange , weil ich abends so müde bin und keine Reihe darin halte .
Ich glaube , daß ich am wenigsten zum heiligen Geist bete und gewiß ist der böse auf mich . "
" Du kannst es ja so machen , " sagte er , " daß du sagst : Gott , Vater , Sohn und heiliger Geist ! und dann beten .
Dann hast du alle drei und auch in der richtigen Reihenfolge . "
Das leuchtete ihr ein .
" O ja , " sagte sie .
" Das geht !
Was du klug bist ! -
Sie sagen , daß du ein wunderlicher Junge bist und der klügste in der Schule .
Weißt du das ? "
Ihm schlug das Herz bis zum Hals , so freute er sich , daß sie so zu ihm sprach ; und er ging stillselig neben ihr .
In den Hecken saßen die Vögel zwischen den hängenden Regentropfen und sahen mit unbeweglichen , aufmerksamen schwarzen Augen auf die beiden Vorübergehenden ; der Mond schien hinter Wolken schräg hervor quer durch die linde Nacht .
Am Horizont hob sich eine tiefgraue Wolkenbank , in der schwerer Donner grollte .
" Komme , " sagte er , " wir wollen rascher gehen ; es will noch ein zweites Gewitter kommen . "
Sie stiegen von den Höhen herunter und kamen durch ein stilles Dorf .
Hier und da , in und unter schwarzem Baumwerk lagen in schwarzen Haufen die strohgedeckten Häuser .
Aus einem Garten schien noch ein Lichtlein , ein gedämpftes Wort klang und eine Tür klappte leise .
Ein Nachbar hatte Abendbesuch gemacht und ging nach seinem Hause hinüber .
Ein Blitz warf sein Licht in die Dorfstraße :
da ging der Nachbar mitten auf dem Wege , ein großer , breiter , etwas gebeugter Mann .
Gleich darauf , an der Kreuzung , mitten im Dorfe , kam ihnen ein kleiner Wagen entgegen mit einem Pony bespannt , auf dem zwei Kinder , ein Knabe und ein Mädchen , dicht beieinander saßen , ein kleiner bunter Hund lief neben den Rädern her .
Deutlich sahen sie die stummen , forschenden Augen der Kinder .
" Was alles unterwegs ist , diese Nacht , " sagte Kai Jans .
Der Blitz und die Erscheinung des Wagens hatten sie wohl einen Augenblick verwirrt , so daß sie an der Kreuzung in einen verkehrten Weg einbogen und in die Heide hineinkamen .
Sie merkten es erst nicht , da sie wieder über das Gewitter sprachen , das dunkel und schwer überm Wasser stand und höher stieg .
Sie gingen wohl eine Viertelstunde oder mehr :
da erkannten sie an einer Steigung des Weges , daß sie falsch gingen .
Nun wollten sie erst quer über die Heide den rechten Weg erreichen .
Aber da grollte es mächtig vom Wasser her , als wenn viele schwere Schiffe durch die vereiste stählerne See Bahn brächen und dumpf gegen den Strand stießen .
Wie von schweren , nassen Segeln rauschte und klatschte es von Wind und Regen .
Da faßten sie sich an der Hand und ohne ein Wort zu sagen , erschreckt und bange , bogen sie wieder nach dem Dorfe zurück und gingen auf ein Licht zu , das kurz vorm Dorfe am Wege brannte .
Auf den Zehenspitzen gingen sie die paar Schritte durch den kleinen Garten und stellten sich an die Wand dicht beim Licht , und standen ganz still .
Sie waren ja nun in Menschennähe .
Als sie aber eben standen , wurde das Fenster dicht neben ihnen geöffnet ; ein großer , bärtiger Mann von mittleren Jahren steckte seinen Kopf heraus , sah nach dem Himmel und sagte ängstlich : " O , Mutter , Mutter !
Sieh doch bloß Mal hinaus !
Die ganze eine Seite vom Himmel ist eingefallen . "
Eine alte , gemütliche Stimme antwortete :
" Macht nichts , mein Junge :
dann fallen alle Spatzen tot .
Aber sieh Mal nach ... mir war , als wenn ich etwas gehen hörte . "
Der Mann sah zur Seite .
" Da steht ein Kind , " sagte er .
" Und noch eins . "
Die beiden standen wie Pfähle .
Die alte Frau öffnete die niedrige , dunkle Tür und sagte : " Kommt herein , Kinder !
Seid nicht bange , kommt herein ! "
Und sie ging voran in die niedrige Stube und sagte : " Setzt euch , Kinder ; " und zu ihrem Sohn : " Gehe rasch in die Küche , mein Junge , ob da noch eine Tasse Kaffee ist ...
Er ist ein wenig wunderlich , " sagte sie , " besonders wenn Gewitter ist .
Er ist als Soldat mit dem Pferde gestürzt und in einer Winternacht halb erfroren .
Er tut aber niemandem was .
Setzt euch hin , Kinder , und fürchtet euch nicht .
Wenn ich ihm was erzähle , vergißt er das Gewitter und wird still . "
Dann fragte sie nach dem Woher und Wohin , und sagte :
" Wenn das Gewitter vorüber ist , soll er euch auf einem Fußsteig über die Heide bringen ; dann seid ihr in einer halben Stunde in frästet . "
In dem Augenblick blitzte es so stark , daß die Stube weiß vom Licht war , und es donnerte so stark , als stürzten große Felsen durch die Decke des Himmels ... und die Kronleuchter des Himmels klirrten und fielen auf die Heide nieder , daß sie bebte .
Die alte Frau stand auf und sah nach der Tür , und setzte sich wieder .
Da kam ihr Sohn schon aus der Küche , kreideweiß im Gesicht , und fiel wie kraftlos vor ihr in die Knie :
" Mutter , " sagte er , " es ist mir auf den Schädel gefallen ... er ist ganz eingedrückt . "
" Kind , " sagte sie und streichelte sein früh ergrautes Haar , " dann müssen wir eine Geschichte hineinstopfen , daß er wieder weit und hoch wird .
Paßt auf , Kinder ...
Das ist schon lange her ... wohl siebenhundert Jahr ... sei ruhig , mein Junge , sei ganz ruhig ... da kam eines Tages der Bischof von Hamburg hier unterm Fenster vorüber ... hörst du ?
... hier unter unserem Fenster ... um Hilligenlei zu besehen ...
Auf der Höhe vor unserem Haus , da hielt er sein kurzes , dickes Pferd an und sah auf das weite , weite Land hinunter , über das hier und da noch die grauen Meereswogen liefen .
Und sah die niedrige Düne von Hilligenlei mit einigen breiten Strohhütten darauf , und sah die Mauern der neuen Kirche , die er bauen ließ , mannshoch ragen .
Aber er wurde darüber , was er sah , nicht froh .
Er war in jungen Jahren in England ein tapferer Streiter für seinen Glauben gewesen ; aber nun da er ältlich wurde , konnte er Rohes und Unfertiges nicht mehr ansehen .
In dem schweren , steinernen Hause , das die Priester sich im Schutz der unfertigen Kirche gebaut hatten , fand er den Tisch gedeckt .
Und der Mehlbeutel , der aus dem Leinentuch in die Schüssel sprang , war größer als sein großes , graues Haupt ; und der Schnitt in den großen , großen Schweinskopf war tief und schwer .
Da setzte er sich hin und aß mächtig ; der Seewind , den er den ganzen Tag geschluckt hatte , hatte ihn hungrig gemacht .
Er löste den ledernen Leibgurt und aß weiter und hörte den Priestern zu , die ihm von dem trägen , widerwilligen Volk erzählten ; und aß immerzu .
Am anderen Morgen stand er auf und klagte , daß er schlecht geschlafen hätte und daß er von wilden und wüssten Träumen , als von bösen Geistern , heimgesucht worden wäre .
Er hätte Wesen gesehen , sagte er , die hätten erschrecklich große , runde und weiße Köpfe gehabt , ohne allen Ausdruck .
Er war ganz ärgerlich ; und ärgerlich ging er in die Kirche .
Da standen sie denn ja alle , so drei- oder vierhundert , Männer und Frauen , in der unfertigen Kirche , mit den Füßen im weißgelben Dünensand und über ihnen die freie Luft , und sahen andächtig nach dem grauen Steintisch und hörten zu , was der heilige Mann in der fremden Sprache sang und sagte .
Es war sehr würdig und heimlich , und gefiel ihnen wohl .
Es kam dazu , daß der heilige Mann ein Gesicht hatte , das von starker , fast wilder Männlichkeit sprach , von tapferen Taten und von schwergrabenden Gedanken .
Solche Leute hat man in diesem Lande immer gern gehabt , besonders auch am Altar .
Danach aber trat der Bischof vom Steintisch weg zu ihnen heran und fing an , diesen und jenen nach dem Vaterunser zu fragen und nach dem Glauben .
Die Antworten waren spärlich , und der Bischof wurde wieder ärgerlich .
Als er so fragend weiter in die Kirche hinein ging , da sah er zur Linken an den zwei unfertigen Pfeilern einen langen , jungen Mann stehen , mit langem , schlichtem , hellem Haar und ruhigem , starkem Gesicht ; er trug über dem wollenen Hemd eine Seehundstasche , aus einem einzigen Stück gemacht .
Als der kleine Priester , der hinter dem Bischof einherging , diesen Mann sah , sagte er leise und eifrig in lateinischer Sprache :
» Hoc est asinus ferocissimus . «
Der Bischof drehte sich um und sagte ärgerlich :
» Hic ! mußt du sagen , Broder , « und trat an den Mann heran und sagte : » Wie heet uns'n Heliand sein Moder , Miene Söhn ? «
» See Schall Maria hätten hem , « sagte er gemütlich .
Der Bischof ärgerte sich und fragte weiter :
» Unn sein Vader , Miene Söhn ? «
Er wußte , daß da ein Haken versteckt lag , und wagte nicht recht tiefer hineinzugreifen .
» Ist das nun Joseph ? « sagte er bedenklich , » oder uns'
Herr Gott sülm ? «
Der Bischof ärgerte sich noch mehr .
» Uns'
Lord Gott wäre et ! « sagte er ...
» Unn was is see tiet Ehre Lewens bleuen ? «
» Sinne Frau , « sagte er .
» Dumm Snack ! « sagte der Bischof in hellem Ärger .
» Ein Jungfer ist see bleuen . «
Da schlug der andere mit der Faust in ehrlicher Verwunderung auf seinen Schenkel :
» Ist nie möglich ! « sagte er .
Da wurde der Bischof wild , hob seine schwere Hand in heißem Zorn , und gab ihm eine harte Ohrfeige .
Der Geschlagene richtete sich auf und wurde totenbleich und sah geradeaus .
Dann griff er , immer so geradeaussehend , mit der rechten Hand an den Pfeiler und zerbröckelte einen Eckstein - es ist noch zu sehen - und ließ die Bröckel in den Sand fallen und ließ seine Hand wieder sinken , drehte sich um und ging aus der Kirche .
Er ging drei Stunden nach Westen zu , bis zu seiner Schilfhütte , die da auf einer geringen , grünen Anhöhe am ewig brausenden Meer stand , und sagte kein Wort zu seinem Weib und spielte auch nicht mit seinem kleinen Knaben .
Gegen Abend , als die Dämmerung kam , nahm er seine Axt vom Herd und machte sich auf und lief im Trab den Weg von heute morgen , über weite weiße Sande und über weites grünes Feld und durch tiefe Wasserläufe und erreichte so gegen Mitternacht die Düne von Hilligenlei und das Priesterhaus ... und beharrte bei seinem Entschluß , den Heiligen tot zu schlagen .
Er fand die Hintertür des Hauses unverriegelt und schlich den Gang entlang zu einer anderen Tür und hörte dahinter die Stimme des Heiligen , der in der Kammer mit sich selbst zu sprechen schien .
Da machte er einen langen Hals und sah durch die Türspalte in die Kammer .
Da lag der Heilige im Schein des Mondes auf den Knien vorm Tisch und betete in fremder Sprache .
Hinter jedem Satz machte er eine Pause und dachte nach .
Als er aber den fünften Satz gesagt hatte , wurde sein Denken plötzlich hörbar .
Er schlug auf den Tisch und sagte laut und erzürnt : » Dad ich so doll war und em an dee groten Ohren schlaget !
... Das kam von dee graue Mehlklump und dee mächtige Swienskoppe von jester tag , und von dee verdammte Spitznässe , de achter mi Stunde ...
Lewer Lord ... und Geoode Heliand , samt Moder Marie ... vergewe mi Miene Verschuldinge und make Weg sein trotzig Harte . «
Der Mann mit der Axt drehte sich um , hob sich höher auf den Zehn und schlich aus dem Hause , und lief in einem Trab über Sand und Gras und Wasser nach Haus , mit zusammengebissenen Lippen und wildsprühenden Augen .
Sie wartete auf ihn vor der Tür , griff gleich nach der Axt und fühlte mit den Fingern nach der Schneide und sah ihn unruhig an .
Da breitete er beide Arme aus und rief unter lautem Luftholen und schrie mit großem Lachen :
» He is gar kein Helliger ... he hat live hatte . «
Obgleich die Leute in der Landschaft sich damals fast alle Christen nannten , wunderten und ärgerten sie sich doch gewaltig , daß er den Bischof nicht totschlug ; ja selbst der eine Priester , der ein Landeskind war , grämte sich , obgleich ihm die Haare zu Berge stiegen , wenn er daran dachte , daß der Heilige also hier im Lande die Märtyrerkrone erlangt hätte .
Sie verachteten den Strandmann manchen Tag , bis er bei einem Frieseinfall zeigte , daß eine hohe und heiße Tapferkeit in ihm war .
Von der Zeit an rühmte man auch das andere , das in ihm war : nämlich seine milde Gerechtigkeit , die er in jener Nacht gezeigt hatte . "
Die alte Frau ließ den Kopf ihres Sohnes los , der tief in Gedanken , wie träumend aufstand und sich an den Ofen stellte .
Anna Boje war über die Geschichte eingeschlafen ; ihr Kopf lag auf der dunkelbraunen Tischplatte auf ihren Armen ; ihr schönes helles Haar lag ausgebreitet auf dem Tisch .
Kai Jans hatte beide Arme auf die Tischplatte gelegt und sah noch immer unbeweglich mit seinen dunkelgrauen Augen auf die alte Frau .
" Siehst du ? " sagte sie zu ihrem Sohn ...
Seine Gedanken spielten wie Kinder in der Dämmerung auf einer großen Bauerndiele .
" Was ist denn nun ? " sagte er aus tiefen Gedanken .
" Gibt es denn nun gar keine Heiligen ? "
" Nein ... " sagte die alte Frau , und schüttelte den Kopf : " es gibt keinen , keinen einzigen .
Es ist beides durcheinander im Menschen : heilig und unheilig .
Heilige gibt es nicht ...
Sieh Mal nach , Hans , ob der Himmel wieder heil ist . "
Der Sohn trat ans Fenster und sagte in ehrlicher Verwunderung :
" Die Sterne stehen da wieder alle . "
" Das dachte ich mir , " sagte sie ...
" Nun bringe die Kinder rasch bis an den Goosweg .
Wach auf , kleine Deern , es geht nun weiter . "
Da führte er sie über die Heide .
Am Rand verließ er sie , ohne ein Wort zu sagen .
Die beiden stiegen schweigend den Hohlweg hinunter in die Marsch und waren bald auf dem schmalen grauen Fußsteig , der auf frästet zuführt .
Zur Rechten zeigte sich schon der schwere , gerade Strich des Deiches .
Als sie dicht vor dem Dorfe angekommen waren , da wo die Windmühle steht , sah Anna Boje verschlafen auf und erschrak :
" Alle Häuser haben noch Licht ? " sagte sie , " unser Haus auch ?
... Was ist das ?
.. .
In der Schulstube ist auch noch Licht ?
... "
Da fing sie an zu weinen und zu laufen .
" Was ist geschehen ? " fragte Kai Jans einen Mann , der des Wegs ging .
" Lehrer Boje wollte einen schweren Kornwagen aufhalten , " sagte der Mann , " der während des Gewitters auf dem Bollwerk ins Rollen kam .
Es saß ein Betrunkener auf dem Wagen und ein Kind daneben .
Er konnte aber die Last nicht halten und stürzte mit allem in den Strom hinein .
Sie haben ihn eben gebracht . "
Anna drang durch die Männer , die , mit grauem Schlick bedeckt , auf der Diele und in der Schulstube standen , bis zu ihrer Mutter , die neben dem Pult zusammengebrochen war .
Piet stand aufrecht neben der Leiche seines Vaters , auch er von oben bis unten mit nassem grauem Schlick bedeckt .
Hella Boje schrie vor Freude laut auf , als sie ihr Kind sah : " Du lebst doch , " sagte sie .
" Du lebst doch !
Du ! "
Und sie riß das große Mädchen in die Knie und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen .
" Ich habe doch alle meine Kinder ...
Wo sind Heinke und Hat ? "
" In der Schlafstube , " sagte Piet , mit fester , verbissener Stimme .
Hans Märtens , der Gemeindevorsteher , sagte mit seiner knarrigen Stimme :
" Er ist für seine Familie zu früh gestorben .
Gut fünfzehnhundert Mark hat er von seinen Seminarschulden abbezahlt , tausend stehen noch ...
Ich bin damals als Mensch und Nachbar Bürge geworden . "
Helle Boje hatte nur halb gehört und wollte fragend aufsehn .
Aber in dem Augenblick war Piet auf den Gemeindevorsteher losgesprungen , stand vor ihm und schlug sich immerfort auf die Brust und schrie :
" Ich ... ich ... bringe es in Ordnung . "
" Ist gut , mein lütjer Nachbar , " sagte Hans Märtens .
" So ist das nicht gemeint . "
" Es ist doch so gemeint , " schrie Piet .
" Ich ... " sagte er , und fing wieder an zu schlagen ... " ich bringe ' alles in Ordnung . "
Dann kehrte er sich zu seiner Mutter und sagte : " Sei man still , du hast mich und bist noch lange nicht verloren . "
Helle Boje legte den Arm um seine Beine und fragte wieder :
" Wo sind Heinke und Hat ? "
" In der Schlafstube ... komme , wir wollen dahin gehen .
Vater können wir doch nicht mehr helfen . "
Kai Jans war mit ausgerecktem Hals und entsetzten Augen in der Tür stehen geblieben .
Als nun die Männer Laternen hoben und Platz machten und er in dem veränderten Licht die unordentliche Schulstube sah und den Toten ausgestreckt , das schöne , noch junge Haupt machtlos zurückgebogen ; und das ganz verzerrte Gesicht und unordentliche Gewand der schönen Mutter und die entstellten , sonst so ruhevollen Gesichter von Piet und Anna : drehte er sich um , wie herumgerissen , und lief den Weg zurück , im Trab , stehenbleibend , atemlos , wieder im Trab , entsetzt und verwirrt , verängstigt und mit Weinen , während sich das trostlose , wirre Bild immer tiefer in seine Seele grub und sein Geist schwere , wirre Gedanken mühselig und hoffnungslos wälzte .
Mit Schweiß bedeckt kam er gegen Morgen nach Haus .
Er erzählte seiner Mutter zerhackt und stotternd , was geschehen war .
Sie ging nach der Küche und setzte sich auf den Herd und er stand vor ihr .
" Es ist schrecklich , " sagte er , " schrecklich . "
" Ja , " sagte sie , " es ist schrecklich ... was soll nun aus ihr und den Kindern werden .
Die Rente ist klein und sie haben noch Schulden .
Piet kann nun wohl nicht auf die Schule kommen . "
" Das ist ja nicht das Schlimmste , " sagte er ; " das bringt Piet schon alles in Ordnung ; aber das andere . "
" Was denn ? " sagte seine Mutter .
" Mutter ! " sagte er , " denke Mal an ...
Wenn der Mensch auf dem Wagen sich nicht betrunken hätte ! ...
Der ist gerettet !
Und Lehrer Boje und das Kind sind ertrunken .
Und nun denke noch an all die Not , welche die Bojes nun ihr Leben lang haben werden .
Bloß weil der Mensch sich betrunken hatte !
Das ist ja alles verrückt . "
Sie sah zu ihm auf .
Sein Gesicht war ganz blaß und seine Augen brannten .
" Die Welt ist nun so , " sagte sie .
" Ja ... sie soll aber nicht so sein , das kannst du glauben ...
Wenn die Frau von Heesedorf sagt :
es gibt keine Heiligen ... es soll aber welche geben ; die Menschen sollen alle heilig sein . "
" Du kommst nun in die Arbeit , mein Jung , " sagte sie hart , " dann hört das Grübeln auf . "
" O , Mutter , " sagte er und sah sie mit Angst an , " wenn das man nicht Mal meine Not wird ... ich kann nicht nachlassen , darüber nachzudenken ; ich glaube , ich grüble mir noch Mal den Kopf entzwei . "
Siebentes Kapitel Heine Wulk saß mit seinem blassen Kleistergesicht in seiner staub- und schimmelgrauen Werkstatt an dem langen , schmutzigen Tisch , der mit Ausschnitten , Scheren , allerlei Schreibzeug und Zeitungshaufen bedeckt war , und starrte in das Korrespondenzblatt , das eben aus Berlin gekommen war .
Kai Jans kam an , lang aufgeschossen und blaß , ging nach seinem gewohnten Platz am Setzkasten und fing an , die eingegangenen Anzeigen zu setzen .
Er hatte schon sechs Stunden Schulzeit hinter sich .
Aber wenn er nun in acht Tagen die Schule verließ , wollte er seine ganze Kraft der Firma Heine Wulk widmen .
" Du , " sagte Heine und strich sein langes , glattes Haar bis auf den Rockkragen : " Der Kerl aus Berlin ... was hat er da wieder einen großartigen Leitartikel geschickt !
Über den Frühlingsanfang ...
Aber hier , an einer Stelle , redet er von Libellen , die sich auf Wasserlilien schaukeln ?
Was ist das ?
Ich habe in meinem Leben nichts von Libellen gehört . "
" Das ist , was wir Speckfretter nennen , " sagte Kai Jans .
" So !
Ein Speckfretter ist das !
Wir können aber unmöglich einen Speckfretter in einen Leitartikel bringen .
Dann laß es also bei den Libellen beruhen ; ein wunderschönes Wort ... Du mußt hier und da ein wenig ändern , Kai ... er redet hier zum Beispiel von Buben und Mädeln , dafür kannst du Knaben und Mädchen setzen .
Verstehst du ?
Aber den Schwung nicht zerstören !
Schwung ist und bleibt die Hauptsache .
Du hast das schon ganz gut heraus , aber es kann noch besser werden ; du weißt , was ich dir immer wieder sage :
Der Bürgermeister !
Der hat Stil !
.. .
Hier weiter unten , wo der Berliner ... übrigens wieder großartig ... von den schüchternen Sonnenstrahlen redet , da kannst du einfügen , daß die Hühner wieder anfangen zu legen ; das hat der Berliner in seiner Dummheit vergessen . "
Kai Jans besah die Stelle und sagte bedenklich :
" Es paßt gerade nicht sehr gut . "
" Es muß gehen , also geht es ! " sagte Heine Wulk .
" Sieh ... wenn so_ein Bauer das liest , riskiert er schon Mal eher eine Anzeige und bezahlt sie mit Eiern .
Ich habe manchmal um diese Zeit gute Geschäfte gemacht ...
Was ist denn in der Stadt passiert ?
Hast du was gehört ? "
" Schiffer Tams hat sich in Finkenwärter einen Euer gekauft .
Das ist nun der fünfte , der in Hilligenlei beheimatet ist .
Hafenmeister Lau sagt , es ist ein schönes Schiff . "
" Ach , was ist das ! " sagte Heine Wulk .
" Einen Euer kaufen kann jedermann . "
" Pe Ontjes Lau hat in Altona sein Steuermannsexamen mit » gut « bestanden . "
" Ich mag den Lau nicht .
Und was geht Hilligenlei das an ? "
" In der Kirchstraße ist das Siel seit gestern abend verstopft ; das schlechte Wasser steht in den Straßen und kann nicht weg . "
Heine Wulk schüttelte stark den Kopf .
" Was haben wir davon ? " fragte er .
" Wenn wir das bringen , ärgert sich der Bürgermeister , und der Polizeidiener wird giftig und macht mir Scherereien .
Ist nichts für uns .
Was sonst ? "
" Kaufmann Dicksen hat seinen Trauring wiedergefunden , den er vor zwanzig Jahren in seinem Garten verloren hat . "
" Sieh ... das ist interessant ... das kannst du bringen .
Weißt du : so kleine Züge aus dem Menschenleben , das ist was für uns . "
" Und Gastwirt Birnbaum hat eine Weinflasche voll Erbsen ausgestellt .
Der die Zahl am besten rät , bekommt ein Dutzend Bier . "
" Sieh ... das ist nett .
Da sitzt darin , was man Humor nennt .
Führe das ein bißchen aus , so mit Schelmerei , weißt du , und natürlich mit Schwung .
Du mußt zu verstehen geben , daß Birnbaum , indem er diese Aufgabe stellt , Geist und Witz zeigt , und daß eine solche Aufgabe , indem sie gemütliche Zusammenkünfte hervorruft , zur Belebung von Herz und Geist in dieser Stadt beiträgt .
Wenn du in Stimmung bist , kannst du den Bericht vielleicht mit einigen Reimen , einem dichterischen Scherzwort schließen .
Nun man los ...
Es muß dir doch Spaß machen , Junge , daß du mit deinen fünfzehn Jahren schon mitten im Getriebe dieser Tage stehst .
Nun sei fleißig ; ich will Mal in die Stadt gehen und sehen , ob da sonst noch was geschehen ist . "
Heine Wulk zog seinen alten Überzieher an , steckte beide Hände in die großen , weitoffenstehenden Taschen und ging mit seinem glinsenden Gang zu Gastwirt Birnbaum , trank ein Glas Grog und gab sein Gutachten über die Zahl der Erbsen ab , sorgte dafür , daß seine Zahl richtig notiert wurde , ging noch in einige andere Wirtschaften und sprach mit den Bürgern , die da faul und breit und in protziger Unterhaltung saßen , und ging dann wieder nach der Werkstatt .
Kai Jans hatte inzwischen die beiden Artikel gesetzt und ein Stück von einem Roman gelesen , den eine Berliner Firma in gelben Heften geliefert hatte und den er beurteilen sollte , ob er zum Abdruck tauglich wäre , und war nun dabei , das Programm eines Tingeltangels zu setzen .
Heine Wulk schielte nach dem Setzpult , an dem er nun eigentlich stehen sollte , war aber so faul , daß er nicht einmal seinen großen Rock ausziehen mochte .
Er sank sachte auf seinen bequemen Stuhl am Tisch und griff nach einer Hamburger Zeitung .
Da kam Anne Wische Martens aus frästet , die Nachbarin der Bojes .
Sie trat in ihrer ganzen stattlichen Fülle in die Werkstatt , setzte ihren Korb auf den langen Tisch und sagte : " Wir haben eine faire Kuh im Stalle , Heine ; du kannst Mal 'ne Anzeige loslassen , kurz und bündig , " und nahm ein schmales Schälchen Butter aus dem Korbe .
" Ich habe Dirn Pfund Butter mitgebracht ; Bargeld ist knapp . "
" Es ist eine Not , " sagte Heine Wulk , " daß keiner bar bezahlen will .
Butter laß ich mir gefallen ; auch habe ich nichts gegen einen halben Sack Kartoffeln .
Im vorigen Herbste , als die Ferkel so billig waren , daß Hans Hansen fünf Stück auf dem Marktplatz laufen ließ , kam Jakob Sothmann mit der Todesanzeige seiner Frau und brachte ein Ferkel mit und dachte , daß ich hineinfiele .
Aber sie stiegen im Preis und ich kam gut heraus .
Aber nun sieh Mal ... hier - was liegt hier alles in der Ecke ! "
Er legte ein Ziegenfell zur Seite .
" Kannst du das brauchen ?
... Kai , komme her , mein Junge , und sieh dir dies an .
Wenn du nachher an eine große Zeitung kommst : was mag da erst zusammenkommen ! ...
Der Mensch muß sich vielseitig bilden .
Sieh ... Kinderkleider . "
Er griff in einen dunklen , weichen Haufen .
" Die Kaufleute sind die schlimmsten . "
" Lauter Ladenhüter ! " sagte Anne Wische und schüttelte den Kopf .
" Ich muß weiter ... Sieh , " sagte sie und blieb stehen , " das wollte ich noch sagen : die Frau vom Lehrer Boje kommt mit dem Nachmittagsboot .
Sie will hierher nach Hilligenlei ziehen und sucht eine kleine Wohnung : drei Stuben , daß sie einen Domschüler in Kost nehmen kann ; billig muß sie sein . "
Heine Wulk war noch ganz in Gedanken über das Wesen des Tauschhandels und schüttelte den Kopf .
Anne Wische ging .
Sie war eben weg , da trat der große , schwere Kassen Wedderkop herein .
Er war ein geborener Hilligenleier , war aber weit in der Welt umhergekommen und im Auftrag eines alten Hamburger Hauses lange Jahre in Ostasien gewesen .
Als ein Vierzigjähriger hatte er da drüben eine Rückenverletzung erlitten , die ihn zum Invaliden machte .
Da hatte er seinen Beruf aufgeben müssen und hatte sich mit einem bescheidenen Vermögen nach seiner Vaterstadt zurückgezogen und hatte angefangen , Aufsätze über Handelsverkehr und Handelspolitik zu schreiben .
Erst zagend und unsicher , merkte er bald , daß er zu einem Handelspolitiker mehr Gaben hatte , als zu einem Händler , und war schon zu dieser Zeit , zehn Jahre nach seiner Heimkehr , ein gerngesehener Mitarbeiter großer Zeitungen deutscher und englischer Sprache .
Er verkehrte in Hilligenlei mit fast niemandem , und die Leute kannten ihn nicht .
Er war ein wortkarger , ernster Mann , fast immer , auch unterwegs , in seine Gedanken vertieft .
Wenn er seinen Mund auftat , sprach er mit einem lauten Bass .
Er stützte seine breite , nicht große Gestalt schwerfällig auf eine Handkrücke und bat in seiner kurzen , rein sachlichen Art um einen bestimmten früheren Jahrgang der Zeitung , in welchem einst sein Vater , wie er neulich erst erfahren hatte , von seinem schlichten Lebenslauf erzählt hatte .
Heine Wulk , der ihn nicht leiden mochte , gab ihm den Jahrgang , und Wedderkop ging an das Fenster , an dem Kai Jans bei seiner Arbeit stand .
Er sah den langen , blassen Jungen , den er wohl zuweilen auf der Straße gesehen hatte , aufmerksam an , setzte sich schwerfällig hin und fing an zu lesen und stöhnte dabei zuweilen , was er sich angewöhnt hatte .
Es kamen diese und jene Leute .
Eine Frau , deren Kinder hungrig und unordentlich durch die Straßen gingen , bestellte Gratulationskarten für die Konfirmation ; der Küster brachte den Kirchenzettel ; dann kam der Bürgermeister .
" O ... der Herr Bürgermeister ! " sagte Heine Wulk und machte eine große Verbeugung .
Daniel Peters grüßte kurz und fremd zu Wedderkop hinüber , zog seine hellen Beinkleider hoch und setzte sich würdig auf einen Stuhl .
" Ich hatte nicht viel Zeit für den Artikel , " sagte er .
" Die Sorge um die Stadt läßt einem Tag und Nacht keine Ruhe . "
" Es ist ein Jammer , " sagte Heine Wulk und strich sich lebhaft übers Haar .
" Was wäre aus dem Herrn Bürgermeister geworden , " sagte er , " wenn er mit dem Pfunde , das Gott ihm gegeben hat , hätte wuchern können . "
" Ja , " sagte Daniel Peters und strich den langen , weichen Schnurrbart .
" Nun wird man so als Verwaltungsbeamter verbraucht .
Das Leben geht hin ... Weg damit !
... Ich will Ihnen vorlesen , was ich geschrieben habe . "
" Lege die Arbeit hin , Kai .
Paß auf , mein Junge . "
Daniel Peters legte die Faust aufs Knie , hob die Schultern ein wenig und las mit verengter Kehle - alle Hilligenleier sprechen vor lauter Wichtigkeit mit gehobenen Schultern und verengter Kehle - : " Überschrift : Der Stadt Hilligenlei Zukunft ...
Wunderbar ist unser Meer , die Mord- und Nordsee , ersteres wegen ihrer Schiffsunfälle , letzteres im Unterschied zu den Engländern , welche sie deutsches Meer nennen ; aber am wunderbarsten ist es , wenn es gewissermaßen nicht da ist , wenn es uns armen , kleinen Menschen seine weiten Watten darbietet und gewissermaßen hinlegt , daß die Bürger von Hilligenlei , vom Stand der Honoratioren abwärts bis zum Stand der Tagelöhner , hinaus , hinaus , ins sonnige Watt gehen , hinaus nach dem Dänensand .
Warum nach dem Dänensand ?
Warum nicht nach den anderen Sanden im weiten Watt ?
Fragt man mich so mit Recht ?
Nein , nein , und dreimal nein .
Denn dort , im Dänensand , über den die See gleitet , liegt die Hoffnung der guten , alten , oft schwer heimgesuchten Stadt Hilligenlei .
Unsere Leser wissen , was wir meinen .
Jeder , der voll und ganz Hilligenleier ist , - und es gibt Gott sei Dank noch solche - weiß es .
Es war im Jahre des Herrn 1813 ...
Da wurde von der damaligen , jetzt schon allzulange hochseligen Majestät ein Schiff nach Glückstadt geschickt , das mit dreihunderttausend Reichstalern befrachtet war , die für die Armee seiner hochseligen Majestät bestimmt waren .
War es die finstere Macht wilder Naturgewalt ?
Nein .
Wir sagen als Christen , die immer und allewege zu ihrem alten , angestammten Glauben stehen : es war der Wille eines weisen , gnädigen Gottes .
Das Schiff wurde in einem gewaltigen Sturm in unsere Bucht getrieben , ging mit Mann und Maus unter und verschlickte sofort in der Tiefe des Sandes .
Es war weiterhin der Wille des großen , gnädigen Gottes , daß er das Herz seiner hochseligen Majestät dahin wandte , daß er das Geld , wenn das Schiff wieder zum Vorschein kommen sollte , der Stadt Hilligenlei zusprach .
Und nun sehet !
Der Gott , der mit den Naturgewalten spielt , daß sie seinen Menschenkindern dienen müssen , nachdem er in seinem Rat beschlossen hatte , seiner guten Stadt aufzuhelfen , hat es gefügt , daß der Dänensand seit zehn Jahren , gerade solange als der jetzige Bürgermeister , Herr Daniel Peters , an der Spitze unseres Gemeinwesens saß , abbröckelt ; wie es in einem Dichterwort heißt :
» In der Zukunft Schoße lagen die glücklichen Lose . «
Das Schiff wird wieder das Licht des Tages sehen und Hilligenlei wird werden ein heilig Land , wie sein Name sagt , nicht allein aufs beste verwaltet und stehend in der Väter Glauben , sondern auch ohne Steuern .
Aber trotz alle und alledem , obgleich die lautere Güte Gottes also über uns scheinet , gibt es Leute , die hiermit nicht zufrieden sind , sondern jahraus jahrein drängen und treiben , daß der Hafenstrom gerade gelegt wird .
Und weswegen ?
Wegen der fünfzehn Krabbenfänger , welche auf kleinen , elenden Booten ihrem Gewerbe nachgehen oder wegen der zwanzig Euer , welche einlaufen ?
Und wenn diese und jene infolge der Gradlegung sich vermehrten , wollen wir mehr Verkehr , mehr Leben , mehr Bevölkerung , etwa eine zweite Zeitung , welche in den nörgelnden Ton dieser Tage verfällt ?
Leben wir hier nicht in Frieden ?
Sollen auch zu uns jene Menschen kommen , welche Thron und Altar untergraben ?
Gott sei es geklagt !
Wir sind schon nicht ganz frei von ihnen .
Sie schleichen im finsteren .
Sie verunreinigen dies heilige Land .
Wir kennen ihre Namen und wir wissen ihre Zusammenkünfte . "
Daniel Peters hielt schweratmend inne und strich finster an seinem weichen , langen Schnurrbart .
Heine Wulk , noch ganz ergriffen , sagte leise und feierlich :
" Siehst du , Kai ... das ist das , was man Stil nennt .
Hast du gut aufgepaßt ?
Sieh : dies ist dein Ideal und Vorbild .
Nun setze den Artikel ... sofort ...
Ich gehe mit Ihnen , Herr Bürgermeister . "
Die beiden gingen hinaus , ohne Wedderkop zu beachten .
Kai Jans trat wieder an seinen Setzkasten .
Nach einer Weile sah Wedderkop wieder von seiner Zeitung auf , und wieder schien es ihm , als wenn in den tiefliegenden , ernsten Augen des Knaben eine verwunderte , sonderlich reife Seele hocke , die spähend und wirr auslugte , wie ein scheues , feines Mädchen mit unruhigem Herzen nach dem Geliebten auslugt , den es doch fürchtet , weil es ahnt , daß er ihrer nicht würdig ist .
Dazu hatte er einen starken Mund und das Kinn war breit .
Er dachte :
» Was ist das für ein starkes , schönes Gesicht . «
" Es war ein gutes Stück Arbeit , " sagte er mit seiner lauten Stimme , " was der Bürgermeister da gemacht hatte . "
" Ja , " sagte Kai Jans erschrocken .
" Der Bürgermeister schreibt fein . "
" Kluge Gedanken ! " sagte Wedderkop donnernd .
" Er ist ein sehr kluger Mann , " sagte Kai Jans verständig .
" Ich glaube , wenn er wollte , könnte er Minister werden ; aber nun opfert er sich für Hilligenlei auf . "
Wedderkop machte die Augen ein wenig größer .
" Du lernst hier wohl viel ? " sagte er .
" Sehr viel ! " sagte Kai Jans ernsthaft .
" Es ist so freundlich von Herrn Wulk , daß ich schon soviel selbständig arbeiten darf . "
" Was denn ? " fragte Wedderkop .
Kai Jans erzählte bescheidentlich , doch stolze Röte in den blassen Wangen , von seiner Mitarbeiterschaft an den Leitartikeln .
" Und neulich habe ich den ersten selbständigen Artikel geschrieben und veröffentlicht ; es ist die Geschichte vom Strandmann und vom Bischof ...
Sie haben sie vielleicht gelesen . "
" So ? " sagte Wedderkop .
" Du bist es gewesen , der da in der Gewitternacht in Heesedorf bei der alten Frau eingekehrt ist .
Ich kenne die Geschichte auch und weiß , wie die alte Frau sie erzählt . "
" Sie erzählte sie ganz kurz und hart , " sagte Kai Jans ; " ich habe sie ausgeschmückt . "
Kassen Wedderkop nickte und sah ihn aufmerksam an .
Der junge Künstler hatte den Strandmann zu einem faden Gesellen und den Bischof zu einem Wüterich gemacht ; dazu hatte er viel weichlich Geranke herumgetan .
" Ja , " sagte er , " du hast sie ausgeschmückt !
... Sage Mal , wie weit hast du es in der Schule gebracht ? "
" Ich bin in den letzten beiden Jahren der oberste gewesen . "
Kassen Wedderkop stand mit Stöhnen auf und setzte sich in Bewegung .
" Wenn du magst , " sagte er , " dann kannst du morgen vormittag - morgen ist Sonntag - so um zehn zu mir kommen ... Du kannst die Zeitungsnummern vom letzten Vierteljahr mitbringen ...
Hörst du ?
... Ja , die kannst du mitbringen . "
Kai Jans sah den breiten Mann , über den Heine Wulk und der Bürgermeister so wegwerfend urteilten und der nun bei näherer Bekanntschaft so was Klares und Festes hatte , mit etwas schwankendem Selbstbewußtsein an und versprach schüchtern , daß er kommen wolle ... * Am anderen Morgen saß Kassen Wedderkop in seinem Hause , das draußen vor der Stadt lag , und las in Zeitungen und Zeitschriften , wie Kai Jans sie noch nie so groß und fremd gesehen hatte , und notierte noch eine Weile auf einen Papierblock , den er auf der Stuhllehne festhielt , und stöhnte ordentlich dazu , nicht aus Schmerzen , sondern weil ihm ein dumpfer Druck , den er immer im Rücken hatte , lästig war .
" Setze dich , Kai Janslein ! " sagte er .
" Mußt nicht bang sein , weil ich so laut spreche .
Die Menschen da oben in Korea , wo ich lange war , sind alle schwerhörig und das Land ist da so weitläufig .
Da habe ich mir das so angewöhnt ...
So ... das ist recht :
da sind die Zeitungsnummern !
... "
Er nahm das erste Blatt und , ohne ein Wort vorauszuschicken , fing er an , Satz für Satz mit lauter , dröhnender und donnernder Stimme vorzulesen und kurze Bemerkungen darüber zu machen .
Kai Jans saß auf der Kannte eines Stuhles , die Mütze in der Hand und sah vor sich hin , und wurde rot und dann blaß und blasser .
" Sieh Mal ... dieser Satz ...
So !
... Du siehst , wie lächerlich er ist ...
Weiter !
... So , das sind drei Sätze , zwei davon sind unnötig , und der dritte ist Quatsch ...
Weiter !
... So ...
Was ist das für ein Gerede ?
Sieh dir das Ding doch an !
Wenn du es mit deinen ruhigen , verständigen Augen ansiehst , sieht es so ... und so aus ...
Weiter !
... Sieh : das ist wahrhaftig eine Wahrheit ... aber nur eine halbe ; sie geht mit einem Verrückten Arm in Arm ; denn was daneben steht , ist unklug .
In Wirklichkeit ist es so und so ... das weißt du selbst ganz genau ... "
So ging es in einem fort , Satz für Satz ... zwei , drei Zeitungen hindurch .
Alle Artikel , die Heine Wulk und der Bürgermeister geschrieben hatten : " Unsinn ... "
" Eine Komik und ein Jammer !
Nichts als Verlogenheit und Unsinn .
Was für ein Elend richten diese Leute mit ihrer Zeitung an .
Die Leser halten diesen Patriotismus , diese Windbeuteleien , diese Überschwenglichkeiten , diese Sprache für echt und recht ; und fangen an , so zu glauben , zu denken , zu reden , Briefe zu schreiben ; und so wird ihr ganzes Leben durch diese Zeitung in Verlogenheit und Falschheit eingewickelt ...
Hast du keine Augen ?
Siehst du nicht all die Verlogenheit und Faulheit in Hilligenlei ? "
Kai Jans saß da auf der Stuhlkante , die starren Augen auf die Mütze in seiner Hand und rührte sich nicht .
Er war ganz bleich .
Alle Götter , die er gehabt hatte , fielen von ihren Thronen und wurden im Fallen komische Strohpuppen .
Nun kam die Geschichte vom Strandmann .
Kassen Wedderkop nahm sie fest in die Hände und riß ihr langsam all die Federn aus , die Kai Jans ihr angeleimt hatte , und zeigte , wie schlicht und schön sie im alten Kleide war .
Um Kai Jans' Mund zuckte es und seine Hände zitterten .
" Es ist alles Unsinn , mein Junge !
Dein ganzes Dasein ist ein einziger Unsinn !
... Inwendig !
Ja , inwendig bist du ein ehrlicher , kluger Junge .
Als ich dich da in der dreckigen Werkstatt sah , dachte ich : das ist der rechte Niedersachse , ein Mensch , der nicht hinter anderen herbetet , sondern eigene , ernste Gedanken hat .
Aber auswendig !
Da bist du ein Windbeutel .
Verstehst du ?
Ein Windbeutel bist du .
In Grund und Boden hinein mußt du dich schämen . "
Da sprang Kai Jans auf und sah mit verstörten Augen auf den fürchterlichen Menschen :
" Ich weiß , daß Sie recht haben , " sagte er .
" Sie brauchen mir nun gar nichts mehr zu sagen , gar nichts . "
Und lief zur Tür hinaus .
Er lief ins Feld und wußte nicht , was er mit seinem Leben anfangen sollte .
Als wenn er aufgehoben wäre und sich in der Luft nicht mehr halten konnte und nicht wußte , auf welches Feld er hinunterstürzen würde .
Er hatte vor seinen Eltern oft und gern mit seinen Heldentaten bei Heine Wulk geprahlt ; er hatte so durchblicken lassen , daß er sich mit dem Bürgermeister gut stände und daß er in Hilligenlei schon etwas bedeutete und daß er vielleicht einmal Bürgermeister werden könnte und daß er dann dafür sorgen würde , daß die Stadt Hilligenlei ganz und gar heilig Land würde .
Und sie , die Eltern , hatten ihm mit still glücklichen Augen zugehört , jeder in seiner Weise , der Vater ein wenig schelmisch und spöttisch lächelnd , aber doch glücklich über seine Phantasien , die Mutter ganz gläubig .
Sein Kopf flammte von Röte der Scham und er knirschte mit seinen Zähnen gegen sich und stöhnte .
Hilligenlei ist nicht heilig Land !
Nein ... nein ... er wußte es jetzt ... er sah es so deutlich ...
Ein Narrenhaus ist es .
Nichts von Heiligem !
Ein Narrenhaus !
Nichts als Lug und Trug .
Er war blind gewesen .
Er wußte gar nicht , was heilig war ...
Es war klar , er kannte die Welt nicht .
Er mußte seine Augen darauf richten , wie er die Welt erkennen konnte .
So wie ein Schmied seinen Hammer kennen muß , so muß ein Mensch die Welt erkennen ; sonst wird nichts aus ihm .
Nun also :
dann mußte er aus Hilligenlei heraus und nach Hamburg .
Denn in Hamburg war die Welt ; Hamburg war die Welt .
Er wollte da in eine Druckerei eintreten , eine große .
Aber vor allem wollte er dort seine Augen aufmachen und die Welt kennen lernen .
Er stand auf und ging langsam und schwer , als hätte er Blei an den Füßen , nach der Stadt zurück .
Als er in die Hafenstraße kam , sah er Anna und Piet Boje vom Bollwerk heraufkommen .
Er wollte rasch ausweichen ; aber sie hatten ihn mit ihren Häheraugen schon gesehen und riefen ihn mit ihren hellen Stimmen .
Sie erzählten ihm , daß sie nach dem Burggarten wollten .
Da hätte ihre Mutter in der Kastanienreihe ein Haus gemietet ; das wollten sie sich Mal ansehen .
Da ging er mit ihnen .
Sie gingen zusammen hinauf und zählten die freundlichen , roten , spitzgiebligen Häuser , die da am Burggarten unter den stattlichen Kastanien in gerader Reihe stehen ; und fanden das eine , das ohne Fenstervorhänge war und leer stand .
Das war es .
Schmal war es , einstöckig , das kleinste von allen , unten die Haustür und zwei Fenster , oben im Giebel eine Stube .
Sie gingen in den schmalen Gang hinein , der in den Garten führte , und sahen in das Küchenfenster und in die Kammer .
Der Garten war klein ; doch hatte er einen Apfelbaum und an seinem Ende einen kleinen Rasen zum Bleichen .
Dahinter führte ein Gartenpförtlein auf den freundlichen Heckenweg , der zwischen den Hausgärten aus der Stadt führte .
Die Kinder sahen sich das alles an und redeten altklug darüber und fanden es wunderschön und gemütlich .
Besonders Anna war des Lobes voll .
" Ich will die Küche übernehmen , " sagte sie und drückte ihre Stirn gegen das Küchenfenster ; und sah in die Kammer und sagte : " Hier will ich schlafen ...
Wir bekommen zwei Kostgänger von der Domschule ; die sollen die Giebelstube haben ; für die will ich sorgen . "
" Was will deine Mutter denn tun ? " fragte Kai Jans .
Sie warfen sich einen raschen Blick zu ; dann sagte Piet rasch und kurz : " Mutter hat sich eine Strickmaschine gekauft .
Vater hatte noch Schulden ... zwölfhundert Mark ... die müssen bezahlt werden . "
" Wir können dir ja gern alles sagen , " sagte Anna .
" Mutter wollte ja , daß Piet nach Itzehoe auf die Realschule ginge ; aber dann müßte Mutter wer weiß wie lange an dieser Strickmaschine sitzen .
Kurz und gut : Piet will gleich verdienen und geht in vier Wochen zur See !
... Nach Hongkong ... denke dir ! " Kai Jans sah Piet Boje an und sah etwas Neues in seinem hellen Gesicht : einen frühen Ernst , der weiß , was er will , und was das Vollbringen kostet , und sich doch nicht fürchtet ...
Es stürmte mit einer ungestümen Wucht auf ihn ein ...
Wenn er nun als Seemann in die weite Welt ginge ?
Pe Ontjes war Seemann , und nun Piet Boje .
Warum er nicht ?
.. .
Er sah und hörte nicht mehr , was die beiden erzählten ...
Da taucht eine Küste auf !
... Was mögen da für Menschen wohnen ?
Ob sie gut oder böse sind ?
Ob sie heilig sind oder unheilig ?
... Es muß doch irgendwo in der weiten Welt ein heilig Land geben ?
Wenn es das nicht gibt , ist das Leben ein wunderlich , unsinnig Ding ...
Man muß eben suchen und die Leute fragen :
Was wohnen da , an der Küste , für Leute ?
Wie leben sie ? ...
So müßte man um die ganze Welt herum fragen und suchen .
Dann lernte man die Welt kennen und fände sicher , sicher ein heiliges Land .. Und dann , wenn er es gefunden hätte , wollte er wieder hierherkommen und dann wollte er hier ...
Er sah und hörte nicht mehr , was die beiden erzählten ; er sann und spann an seinen Gedanken und ging stumm neben ihnen her und gab ihnen unten in der Hafenstraße die Hand und verließ sie .
Als er in die niedrige , kleine Stube trat , sah er seine Eltern mit den drei Schwestern und dem kleinen Bruder am Tisch sitzen beim Mittagessen .
Es lagen Kartoffeln rund umher ausgestreut und in der Mitte stand die niedrige Pfanne mit zerlassenen , kleinen Speckstücken .
Das war das Mittagessen .
Thoms Jans hatte wegen harten Frostes sieben Wochen lang keine Arbeit und keinen Verdienst gehabt .
" Vater ! " sagte er an der Tür und wiegte den Kopf ...
" Piet Boje will Seemann werden ... ich will es auch ...
Frag ' mich nicht , ob es richtig ist ... ich weiß , es ist richtig .
Vater !
... Ich muß unterwegs ! "
Sie wurden blaß und stumm und wußten sich keinen Rat und sahen vor sich nieder .
Thoms Jans hätte einen Sohn , der ihm betrunken ins Haus gekommen wäre , und wäre der Sohn dreißig Jahre alt , mit raschem Entschluß in aufbrausendem Zorn schwer geprügelt ; aber nun sein fünfzehnjähriger Sohn mit diesen ernsten Augen zu ihm sagte : " Vater ... ich muß unterwegs , " da überkam ihn ein dumpfes Gefühl der Unsicherheit und der Furcht , er könnte den Weg verbieten und versperren , den heimliche , große und unerkannte Gewalten seines Sohnes Seele schicken wollten , daß sie stärker würde .
Er sagte nur leise , mit ein wenig Schelmerei und Bitterkeit zugleich in seinen klugen , versteckten Augen :
" Also Matrose ... und dann Feuerschiff ... und dann Wattarbeiter ... und die Sonntagsstube immer groß und immer leer ... immer ganz leer ... "
" Nein , Vater ! " sagte er , " das kannst du mir glauben :
Ich habe die Augen offen und finde etwas ! "
Die kleine Male Jans sah stumm auf den Tisch , die Augen voll Tränen .
Sie dachte nur daran , daß er von ihr fortginge ... und noch dazu auf die wilde See .
* Vier Wochen später saßen die beiden am Vorsetzen in Hamburg auf ihren Seekisten .
Sie sahen links und rechts den Kai entlang , auf dem in dieser Stunde nur ein spärlich Treiben war , und sahen dann nach dem Dreimaster , der schon an den Schlepptauen lag , und warteten auf das Boot , das sie holen sollte .
Piet Boje langte von ungefähr in die Seitentasche und fühlte ein Stück Papier , zog es heraus und sah eine krickelige Handschrift , die ihm bekannt vorkam , und las : " Dein Lebelang habe Gott vor Augen und im Herzen , und hüte dich , daß du in eine Sünde willigst , noch tust wider Gottes Gebot .
Deine treue Mutter Helle Boje . "
Er steckte das Papier rasch wieder ein und sah wieder den Kai entlang und tat , als wenn ihm nichts Besonderes widerfahren war , und dachte , ganz wie einst vor sechzehn Jahren sein Vater : wie es doch möglich wäre , daß die große , kluge Mutter eine so schlechte Handschrift hätte .
Kai Jans hatte es aber gesehen und fing an , als Piet Boje wegsah , heimlich in seinen Taschen zu suchen und fand richtig auch ein Stücklein Papier .
Er zog es vorsichtig heraus und warf einen raschen , heimlichen Blick darauf .
Da sah er gleich , daß es eins von den langen , schönen Gedichten war , die Heine Wulk so gern abdruckte .
Es war überschrieben :
" Der Abschiedsgruß einer frommen Mutter an ihren Sohn am Tag der Konfirmation . "
Er wurde rot und pfropfte es rücksichtslos wieder in die Tasche .
Piet Boje reckte den Hals und sagte : " Du ... wer kommt da angestapft ...
Ist das nicht dein Freund , der Dusenschön ? "
" Ja , " sagte Kai Jans , " das kann sein ... der ist seit vier Wochen hier in Hamburg . "
Wahrhaftig !
... Tjark Dusenschön kam da an ... mit seinen langen , geraden Beinen , aber ohne den steifen , schleppenden Bürgermeistergang , sondern ganz schön und schlank , mit einem wehenden , blauen Schlips .
" Ich wußte , daß ihr heute an Bord ginget .
Es ist schade um dich , Kai Jans ; du hättest in ein Kontor müssen wie ich .
Ich habe schon eine feine Stellung ... bei einem Rechtsanwalt . "
Piet Boje kümmerte sich gar nicht um ihn ; er sah immer nach dem Schiff hinüber und verfolgte die an Deck gehenden Menschen und sah einen Mann ins Boot gleiten .
" Wohin gehst du denn jetzt ? " fragte Kai Jans .
" Ich gehe von hier zu einem Bekannten , der mich in seinen Klub aufnehmen will .
Lauter Kontorbeamte mit ihren Damen .
Weißt du :
ich mache mir nichts aus Weibern , gar nichts ; aber gerade für den , der sich nichts aus ihnen macht , sind sie nützlich .
Immer freundlich , vornehm , kühl , verstehst du ?
Dazu mein Name ... ein großartiger Name :
Tjark Dusenschön ... und das königliche Blut . "
" Sprichst du denn davon ? " sagte Kai Jans .
" Ich nicht , Mensch .
Das müssen andere besorgen ... "
Er sah das Boot ankommen und trat etwas zurück .
" Na , Jungs ... " sagte der Matrose ... " da seid ihr ja !
... Ihr habt mehr Glück als Verstand :
ihr kommt auf 'n gutes Schiff !
... Will das lange Ende auch mit ? "
" Nein ! " sagte Tjark Dusenschön und trat noch weiter zurück .
" Gute Fahrt ! " sagte er und schwenkte mit schöner Bewegung den Hut und stakte davon .
Als die Kisten auf den Duchten standen , griff Piet Boje mit beiden Händen nach dem Riemen und stieß das Boot ab .
" Hallo ! " sagte der Matrose .
" Bist du so einer ? " Kai Jans sah ins Wasser , ganz in Gedanken .
" Schiebe die Kiste weg ! " sagte der Matrose ...
" Wohlen Philosoph ? " sagte er zu Piet .
" Ja , " sagte Piet und lachte kurz und spöttisch auf : " der will ein Königreich suchen . "
Achtes Kapitel In dem schmalen Hause am Schloßgarten , unter den Kastanien , wuchsen die beiden Bojemädchen heran .
Sie wuchsen so mächtig lang und schlank mit so hellem , hohem Haar , daß fremde Leute , die vorübergingen , wenn eins der Kinder gerade heraustrat , im stillen erschraken :
" Bewahre !
Was für hohe Menschen wohnen in dem kleinen Haus . "
Anna Boje wurde siebzehn und ging ins achtzehnte hinein , wurde groß und von straffer Fülle und trug ihre blühenden Glieder , als ginge sie vor den Edelsten des Volkes , und die starken Flechten ihres Haares wie eine Königin ihr Diadem ; und war das Schönste , was Hilligenlei besaß .
Sie träumte so vor sich hin , nach der Weise ihrer Jahre , und wußte nichts von sich und von der Welt , und hatte keine Wünsche , als daß Haus und Küche reinlich wären -
denn die Mutter saß den ganzen Tag an der Strickmaschine - und daß Piet schrieb , daß er gesund wäre , und daß sie selbst , später einmal , einen schönen und klugen Mann bekäme .
Heinke wurde zehn und ging ins elfte , ein langgliedriges , hellhaariges Kind mit einem zierlichen , etwas scharfen Gesicht und feinen , stahlgrauen Augen .
Sie spielte mit den Jungen der Nachbarschaft , im Winter im Burggarten unter den Bäumen und auf dem Eis , im Sommer ins Watt hinein bis an die Mündung des Hafenstroms .
Sie hatte in diesen Jahren , wie derzeit auch ihre Schwester Anna , immer irgendwo am Körper eine Wunde , sei es an den Händen , am Knie oder am Fuß , vom Sprung oder Stoß , Wurf oder Fall .
Aber obgleich sie so mit den Jungen durch dick und dünn ging und ihre helle Stimme und ihre jungen Glieder nicht schonte , galt sie doch für stolz , ganz wie ihre Schwester .
Das kam davon , daß sie beide so gerade und schön gingen , so ein wenig umständlich steif und so ein wenig königlich , und so feine Gesichter hatten , schön weiß mit zartem Rot , und ihre Augen ganz klar und ganz ruhig waren .
Auch Heinke machte sich keine Gedanken .
Sie dachte oft , wenn sie allein war , an den Tag , wo ihr großer Bruder Piet heimkommen würde , der nun schon drei Jahre weg war ; sie hatte dabei immer die Sorge , daß er roh und ungeschlacht sein könnte .
Im übrigen war sie zufrieden , wenn sie in der Schule Ehre gewann , was ihr innerer Stolz von ihr verlangte , und wenn der Tag verlief , ohne daß die Mutter schalt .
Es verging nämlich kein Tag , daß sie nicht in einen Streit mit Hat , dem jüngern Bruder , kam , der alles für sich haben wollte .
Die Mutter liebte ihn über alles und gab ihm immer recht ; er war aber ein Lügner und ein habsüchtiger Weichling , am schönen Baum der geile Zweig .
Helle Boje , deren Haar in diesen Jahren seinen Glanz verlor , konnte an ihre Töchter nicht herankommen ; sie waren zu scheu , auch nur die geringste Zärtlichkeit zu zeigen .
Erst in den Jahren , da sie selbst Mannesliebe erfuhren und damit das Wesen der Mutter verstehen lernten , wurde das Verhältnis zu ihr besser .
Darum war die ganze Liebe Helle Bojes in diesen Jahren bei ihren beiden Söhnen , dem einen , der in die weite Welt gegangen war , um ihr beizustehen , und dem schönen , weichlichen , der seine Arme so zärtlich um sie legte und so schön betteln konnte , obgleich er schon ein großer Junge war .
An diese beiden und an ihre Zukunft dachte sie den ganzen Tag , während sie an der Maschine arbeitete .
Eines Abends im April - die Kastanien bekamen die ersten grünen Spitzen - sollte Anna wieder einmal zum Hafenmeister Lau gehen und die große Karte von Ostasien holen , auf der die Mutter die Reisen von Piets Schiff unermüdlich verfolgte , da zögerte sie zu gehen und sagte : " Ich gehe jetzt nicht gern hin , der große Pe Ontjes ist da und die Karte gehört ihm .
Lene Winkler sagt , er tut so großartig ernst und würdig , als wenn er fünfzig ist , und ist höchstens vierundzwanzig .
Er war als Junge schon so unausstehlich ... "
Die Mutter aber kümmerte sich nicht um ihre Rede und sagte : " Du gehst hin und damit gut . "
Da band sie mit dem patzigen Gesicht , das sie dann hatte , die Schürze ab und lief durch die Hintertür und den kleinen Garten den Heckenweg entlang und trat durch die Küchentür in das Haus des Hafenmeisters und hoffte , die Mutter zu finden , die ihr die Karte herausbrächte .
Die stand auch richtig am Aufwasch , sagte aber kurz und gemütlich :
" Bin ich dein Schleppenträger ?
Hole sie dir selbst .
Er beißt dich nicht . "
Der Steuermann Pe Ontjes Lau saß am Tisch und arbeitete an einer großen Zeichnung .
Er sah gleichmütig auf - jedermann weiß , wie so_ein junger Steuermann einen Leichtmatrosen anredet .
- " Nun ?
Was ist ? "
Sie stand hell und steil , wie ein Licht , sofort voll heißen Zorns und sagte mit hoher , fliegender Stimme , was sie auf dem Herzen hatte .
Er stand gemächlich auf und nahm die Karte von der Wand .
" Wie geht es denn deinem Bruder ? ...
Er ist jetzt in bedenklicher Zeit . "
" Wie meinen Sie das ? "
" Na , wenn man so um achtzehn ist , " sagte er ... " man will kein Junge mehr sein und ist noch kein Mann ... "
" Piet will immer nur sein , was er ist , " sagte sie ; " er stellt sich nicht an , wie andere Leute . "
Er verstand den Hieb nicht ; er hörte nur , daß sie ihn mit Sie anredete ; und das gefiel ihm ; und er sagte ein wenig gemütlicher :
" Sieh : was ich hier zeichne . "
Sie trat mit ruhigem Gesicht näher an ihn heran und sah in die Zeichnung .
Er sah indes ihre Gestalt an und hatte eine dumpfe Empfindung : ein schönes , starkes Mädchen ist dies , lauter Kraft und Gesundheit und Reinheit .
Es war eine Empfindung , als wenn man auf weiter Wanderung , da man an viel tausend Häusern vorüber kam , die man bald alle vergaß , ein besonders schönes und trautes Haus sah , in einem stillen , grünen Garten ; man ging auch daran vorüber , aber man behielt eine leise , schöne Erinnerung .
" Es ist der Hafenstrom von Hilligenlei , " sagte er .
" Was soll die Zeichnung ? " warf sie hin .
" Es ist ein alter Gedanke von mir ... "
" Seit fünfzig Jahren ! " sagte sie .
" Was schnackst du ? " sagte er , " seit fünfzig Jahren ? "
" Ach , " sagte sie gleichmütig , " Sie sprechen so , als wenn Sie fünfzig Jahre alt sind . "
Nun wurde er wieder steif und sagte kühl :
" Ich habe einen Plan ausgearbeitet , den Hafenstrom gerade zu legen , daß die Krabbenfischer rascher zu ihren Fangplätzen kommen und die Euer zu jeder Zeit herein und hinaus können ; ich werde den Plan heute abend dem Bürgermeister vorlegen . "
" So ! " sagte sie und sah noch einmal flüchtig auf die Karte .
" Wann reisen Sie wieder ? "
" Morgen ...
Ich gehe als Steuermann an Bord der Goodefroo nach Samoa .
Ich fahre seit drei Jahren als Steuermann . "
" So ! " sagte sie wieder und warf den Kopf zurück , daß er die weiße Kehle sah ; " in zwei Jahren ist Piet auch so weit . "
Sie konnten nicht voneinander finden , so groß war die unbewußte Zuneigung ; sie strebten aber beide danach , dem anderen etwas zuleide zu tun .
" Ich wollte , " sagte er , wie in Gedanken , " daß ich den Kai Jans und den Piet Mal als Matrosen an Bord bekäme . "
" Das wollten Sie wohl ! " sagte sie .
" Aber die werden sich hüten ! "
" Warum ? " sagte er .
" Ach , " sagte sie und stand nun in der Tür .
" Warum ?
Weil es nicht schön wird für die beiden . "
" Warum ? "
" Ach , " sagte sie ...
" Sie haben damals mit uns gespielt und nun ... nun lassen Sie sich gefallen , daß ich » Sie « sage ...
Was sind Sie denn ?
Damals auf dem Dänensand ... "
Da dachte sie plötzlich daran , daß er nackt vor ihr gestanden hatte , wurde rot und sagte mit ungestümem , heiß hervorbrechendem Zorn :
" Sie sind immer noch derselbe unausstehliche Mensch wie damals .
Das wollte ich Ihnen sagen . "
Damit schlug sie die Tür hinter sich zu und ging .
Als sie nach Haus kam , sagte sie zu ihrer Mutter :
" Er ist der unausstehlichste Mensch auf der ganzen Welt und ein Ekel .
Wenn er da ist , gehe ich nicht wieder zu Tante Lau . "
Dann fing sie an , das Abendbrot zu machen .
Nach dem Abendessen , als es dunkel genug war , stach sie der Hafer , den Heckenweg entlang in den Garten des Rathauses zu laufen und einen vorsichtigen Blick in die Amtsstube des Bürgermeisters zu tun , welcher die Gewohnheit hatte , bei unverhängten Fenstern zu sitzen , damit er bei seiner Regierung gesehen würde .
Sie gelangte glücklich an das Gesträuch zur Seite des Fensters .
Richtig !
Da stand Pe Ontjes Lau an dem großen Tisch und hatte seine Zeichnung ausgebreitet .
Hinterm Tisch saß Daniel Peters in seiner ganzen Schönheit und Würde : neben ihm die beiden fetten Ratmänner , die mit dem Schlaf kämpften .
Und Pe Ontjes sagte gerade so recht selbstverständlich und sicher :
" So muß es gemacht werden . "
Der Bürgermeister drehte seinen schönen , weichen Schnurrbart und sah seitwärts nach den beiden Alten und sagte wohlwollend :
" Mein lieber Herr Lau ... ! "
Und verbreitete sich über die Grundsätze einer " stabilen " , wie er sagte , " Gemeindepolitik " , und konnte kein Ende finden .
Als er noch im besten Zug war , breitete Pe Ontjes plötzlich die Arme aus und packte den Hafenstrom samt ganz Hilligenlei zusammen und sagte ganz ruhig :
" Ich will meinen Plan wieder vorlegen , wenn hier ein anderer Bürgermeister ist ... "
Damit nahm er seine Zeichnung und ging .
Anna Boje stand noch , ganz verwundert und zornig über dies Benehmen :
da hörte sie seinen Schritt näher .
Er wollte auch durch den Garten nach Hause gehen .
" Na ? " sagte er spöttisch .
" Hast du gelauscht ? "
" Was geht dich das an ? " sagte sie .
" Ich kann wohl stehen , wo ich will . "
" Du bist eine widerwärtige , streitsüchtige Deern , " sagte er ernst und böse .
" Wenn du so bleibst , wird es dir noch ganz schlecht gehen . "
" Du ? " sagte sie , " willst mir was sagen ?
... und kannst nicht Mal das Wort » Durchstich « schreiben ?
Auf deiner Zeichnung stand , » Durchstieg ! Durchstieg ! « ... Du hast überhaupt in der Schule wenig gelernt ; meinst du , daß ich das nicht weiß ?
Du schlugst die anderen , wenn sie mehr wußten als du .
So bist du der Oberste geworden .
Siehst du ! "
Er wurde bleich vor Zorn und wandte sich ab , und sie ging nach der anderen Seite .
Sie atmete schwer vor Aufregung und dachte :
» Niemals im Leben wirst du einen Menschen so hassen wie diesen . «
Sie wühlte ordentlich in diesem neuen Gefühl , daß es sich ausbreitete und rasch ihre ganze Seele füllte .
Sie malte sich aus , wie sie ihm ihre große Verachtung zeigen wollte , und ob Piet ihr vielleicht helfen würde , ihn zu kränken .
» Ich wollte , ich könnte ihm Böses wünschen , « dachte sie .
» Könnte ich ihm bloß etwas Böses zufügen . «
Ihr Geist wurde ganz wirr und dunkel und ihre schönen , klaren Augen bekamen einen harten , dunklen Schein , und nun schluchzte sie heiß auf .
Sie ging den Kastaniengang entlang nach ihrem Hause zu und kehrte wieder um und ging einige Straßen , und wurde ein wenig ruhiger und begehrte einen Menschen zu finden , mit dem sie freundlich sein könnte ; fand aber erst keinen .
Als sie aber in die Gegend von Ringerangs Gasthaus kam , das an der anderen Seite des Schloßgartens unter schönen Linden steht , stand dort im Dunklen ein Landmannssohn , mit dem sie einst in frästet auf der Schulbank gesessen hatte .
Der hatte sie erkannt und wartete , bis sie nahe kam .
" Sieh , " sagte er .
" Da bist du , ich kannte dich am Gange ; ich würde dich auf eine halbe Meile erkennen . "
Und er ging neben ihr und erzählte , daß er vorgestern vom Militär zurückgekommen wäre .
Nun freute sie sich , daß der schmucke Junge so freundlich neben ihr ging , und wurde gegen ihre Art aufgetan und eifrig , und erzählte von ihrer Mutter und von Piet und fragte nach seiner Schwester , und hörte allerlei von diesen und jenen gemeinsamen Bekannten .
Während sie über all dies sprachen , stand in ihren Augen zarte , sinnliche Freude am anderen , die höher und höher stieg .
" Was hat er für schmucke Augen ! " ...
" Wie rein und klar sind ihre Augen . " ...
" Wie lacht er herzlich . " ...
" Ich möchte mit meiner Hand ihr Haar berühren ; wie wunderschön ist es . " ...
" Wie klug und freundlich spricht er von Piet , der liebe Junge ! " ...
" Ich möchte sie einmal an mich drücken , einmal , ganz fest . " ...
Als sie in den langen Lindengang einbogen , der quer und einsam durch den Burggarten nach den Kastanien führt , rissen ihm die Gedanken immer ab und standen zuletzt still .
Da wurde auch sie ganz still .
Er dachte in seiner jungen Männlichkeit , doch mit Bangen : » Waage ich es und küsse sie ?
Sie ist sehr stolz . « ...
Sie dachte mit Herzklopfen und mit zugeschnürter Kehle :
» Er will mich küssen . « ...
Ein Strom von süßer Freude und Erwartung ging ihr durch alle Glieder .
Im letzten Schatten faßte er sie wirklich an und küßte sie , ohne ein Wort zu sagen , mehrmals .
Sie hielt in unsagbarer Verwirrung still .
Als er sie losließ , lief sie weg , auf die Haustür zu .
Sie lief in die Küche und kühlte ihre brennende Wange und Stirn mit Wasser .
Da die Glut und die Verwirrung aber nicht abnahm , suchte sie nach einer Ursache , in der Küche zu bleiben , und holte aus der Schlafstube das Silberzeug , das die Mutter besaß , sechs Eßlöffel und ein Dutzend Teelöffel und eine kleine Zuckerdose , und fing an , es zu putzen .
Während sie so rieb und glättete - immer noch im Geiste in seinen Armen - stand zugleich , da der Geist so heiß bei der anderen Sache war , das Kind in ihr auf , und sie fing an , jeden Löffel auf der hohen Hand in der Schwebe zu halten ; dann bewegte sie ihn zwischen zwei Fingern hin und her und beobachtete , wie er sich auf dem dunklen Hintergrund der Küchenwand machte .
" Wie wunderschön war es !
... Wie stark und fest stand er und umfaßte mich ...
Ich konnte mich nicht rühren ...
Wie schön ... wie wunderlich ... meine Knie waren ganz schwach und ... so selig war mir . "
Als sie noch so träumte , waren Hände und Augen , als ohne Aufsicht spielende Kinder , dahin gekommen , die Namen und Daten zu lesen , die auf den Löffeln standen :
" Zur Hochzeit " und wieder :
" Zur Hochzeit " , und Name des Gebers und das Datum .
" Wie mag die Mutter an dem Tage ausgesehen haben ? ...
So jung wie ich ... nur zwei Jahre älter ... Schön und jung und glücklich ...
Wie glücklich !
... Immer so bei dem Liebsten zu sein ...
Schön muß das sein ... und schlimm zugleich ... ja , auch schlimm ...
Ach nein , nicht schlimm ... Wunderschön ...
Und dann kam das erste Kind ... das war ich ...
Ob Mutter sehr schwerfällig gewesen ist ?
.. .
Einige sehen so häßlich aus ...
Ob sie sehr krank gewesen ist ?
... Wie lange sie wohl allein gewohnt haben , ohne Kinder ? ...
Sieh ... das kann man ja auf dem Löffel sehen . "
Sie hielt ihn gegen das Licht und rechnete vom Hochzeitstag bis zu ihrem Geburtstag , und rechnete wieder und bekam schmale Lippen und einen stillen , harten Ausdruck in den Augen , warf das Silberzeug klirrend in die Schublade und ging , ohne der Mutter " Gute Nacht " zu sagen , in ihre Kammer .
Sie wurde von diesem Tage an noch scheuer und stolzer , als sie schon von Natur war .
In der ersten Zeit nach jenem Tage konnte sie zuweilen der Lockung nicht widerstehen , daß sie , wenn sie abends Besorgungen machte , den Lindengang entlang ging und an der Stelle stehen blieb , wo er sie geküßt hatte .
Sie stand und schloß die Augen und fühlte die ganze Süßigkeit des Kusses .
Aber sie zwang sich bald , dieser Versuchung zu widerstehen .
Sie wollte an solche Dinge nicht denken ; denn sie waren - so schien es ihr - unsicher und gefährlich wie weicher Moorboden , über dem eine dünne Grasnarbe liegt .
Sie hatte die unklare Empfindung , daß sie heißes Blut hätte , und war nun unruhig geworden , so wie ein Wald im Mai , wenn der Morgen leise graut , wenn die ersten Vögel sich regen .
Gegen die Mutter war sie unfreundlich und sprach nur das Notwendige ; an Heinke und Hat hatte sie viel zu tadeln .
Die großen Schüler der Domschule , die in den Giebelstuben am Kastanienweg wohnten , wagten es zur Herbstzeit , eine Kastanie oder ein Zweigstück hinunterzuwerfen , wenn sie unten vorüberging ; aber sie tat , als merkte sie es nicht .
Auf den Bällen , die sie besuchte , wurde sie als Tänzerin freilich sehr begehrt , besonders von männlich schönen und sicheren Tänzern ; denn sie tanzte leicht und sicher und es war eine helle Freude , dicht neben ihr zu gehen und all ihre Schönheit zu bewundern ; es wagte aber keiner , sie zu einem Glas Wein aufzufordern oder zu einem trauten Spaziergang unter den dunklen Bäumen .
Sie merkte wohl , daß solche Aufforderung ausblieb .
Da wurde sie noch trotziger und stolzer und tat , als wenn sie solchem Tun ganz abgeneigt wäre ; redete sich auch selbst ein , daß es so wäre .
Die Mutter nahm die Unfreundlichkeit ihres ältesten Kindes still hin ; sie dachte an ihre eigene Not und Unruhe in jenen Lebensjahren und fühlte sich machtlos , hier irgendeine Hilfe zu bringen .
Sie arbeitete den ganzen Tag an der Strickmaschine , damit sie die zwölfhundert Mark Schulden abtrüge .
Was Piet zu dem Zweck von seinem kleinen Verdienst sandte , brachte sie , bei Mark und Groschen sorgfältig in Papier gewickelt , selbst auf die Sparkasse , damit es für die Steuermannsschule da wäre , und freute sich auf die Stunde , da er endlich wiederkommen würde .
So wurde es wieder einmal Herbst , ein schöner Herbst , mit frischem Wind und heller Sonne .
Und die Sonne schien schräg durch das Türfenster auf die halbdunkle kleine Diele .
Da kam wieder einmal der Briefträger .
Und diesmal hatte er ein Paket .
Ein Paket !
Sie wußten nachher gar nicht , wie sie alle Mann zusammen in die Diele gelangt waren .
Die kleine Diele wurde ordentlich hell von den vier hellen Köpfen .
Dann gingen sie mit dem Paket in die Stube .
Heinke , die immer wach und doch ruhig war , hatte den Meißel schon in der Hand und brach das Holz auf , und nahm die kleinen chinesischen Schachteln und Kästchen heraus , die , sorgfältig in ein fremdes , faseriges Stroh verpackt , nebeneinander standen .
Auf jedem Stück stand der Name des Besitzers .
" Sieh Mal , Mutter , das ist für dich ! "
Helle Boje setzte sich auf ihren Stuhl an der Maschine und fuhr mit zitternder Hand über das blanke , schwarze Holz .
" Das hat er gekauft , " sagte sie leise .
" Das hat er in der Hand gehabt . "
Die Augen waren plötzlich voller Tränen .
Anna sah still und mit verschlossenem Gesicht auf die zierliche Arbeit in ihrer Hand und dachte heimlich mit weichem Herzen an den Bruder , den sie sehr liebte .
Heinke hatte ihr Gesangbuch , in dem sie gelernt hatte , beiseite geschoben und hatte ihre Kette von Jettperlen vom Hals genommen und in ihren Kasten gelegt , und betrachtete nun die Wirkung und lobte mit freundlichen Worten den fernen Bruder :
" Es ist zu nett von ihm , Mutter .
Du , Mutter ... das sage ich dir ... dies bekommt Hat aber nicht . "
Hat schielte nach den anderen , ob sie etwas Besseres bekommen hätten als er .
Als er sah , daß da vorläufig nichts zu machen war , ging er hinaus zum Spielen .
Helle Boje hielt den Brief in der Hand ; konnte aber wegen der Tränen , die in den Augen standen , nicht lesen .
" Mutter , lies vor . "
" Ich kann nicht , Kind ... lies du vor . "
Da las Heinke .
" Liebe Mutter !
Gleich als wir von Wladiwostok hier in Hongkong angekommen sind , habe ich dies für Euch gekauft .
Ich wollte es Euch selbst geben , aber nun habe ich gedacht , ich wollte Hilligenlei nicht eher wiedersehen , als bis ich auf die Steuermannsschule gehen kann .
Das ist noch ein Jahr .
Denn ich verdiene hier mehr .
Ich weiß nicht , ob Kai Jans mit mir auf ein anderes Schiff geht .
Wir haben nämlich abgemustert und suchen einen schneidigen Segler .
Wenn er wieder mit mir will , ist es mir recht ; denn er ist wirklich ein guter Junge ; aber es ist nicht nötig .
Ich glaube aber , er bleibt bei mir , weil er einen haben muß , mit dem er allerlei schnacken kann , was er doch vor den alten Matrosen nicht darf .
Er ist ein wunderliches Kraut .
Liebe Anna !
Du kannst in Deinen Kasten die Stopfnadeln hineintun .
Du mußt gewiß viele Strümpfe stopfen für die beiden Kleinen !
Herrjeh , was sage ich da : Heinke wird schon ein langes Mädchen sein und Hat ist elf Jahre alt .
Als ich den Kasten für Dich kaufte , wollte der Chinese mich betrügen , weil er vor meinen achtzehn Jahren keinen Respekt hatte .
Aber er hatte nicht gesehen , daß unser Segelmacher hinter mir stand , der schlug ihn an die Ohren , daß er auf die Matte flog .
Das ist hier so .
Ich habe mir einen neuen Anzug kaufen müssen ; denn der alte war auf und alle , und ich war auch ganz herausgewachsen .
Ich habe aber doch noch fünfundsiebzig Mark in der Kiste ; die kommen bald nach diesem Paket bei Euch an .
Fünfzig Mark sollst Du auf die Sparkasse bringen für die Steuermannsschule ; aber fünfundzwanzig sollst du von Vaters Schuld abtragen , wenn Ihr gesund seid und das Geld entbehren könnt .
Liebe Anna , sei eine gute Tochter und Sorge dafür , daß Mutter nicht den ganzen Tag an der Maschine sitzt .
Wenn ich gesund bleibe , kann ich Vaters Schulden in fünf Jahren abtragen .
Darum braucht sie sich nicht krumm und schief zu sitzen .
Liebe Mutter , Du brauchst dir keine Sorge zu machen wegen der Strümpfe ; ich kann meine Strümpfe eben so gut stopfen , wie Anna .
Ich sage Dir , an meinen Hemden und Hosen fehlt kein Knopf .
Immer adrett , das ist das allererste .
Und dann aufgepaßt !
Und zum dritten immer unzufrieden !
Immer mehr lernen und weiter wollen .
Du kannst glauben , daß ich luchse .
Auf unserem alten Schiff war ein junger Amerikaner an Bord .
Der will sich bloß Mal die Welt besehen , sagt er , und umsonst ; nachher will er werden , was er mag ; sein Vater ist Pastor .
Dem habe ich viel abgeluchst .
Ducken ist nicht .
Frisch und sicher muß man sein .
Das steht mir gut , kannst Du glauben .
Kai Jans kann das nicht ; der ist immer so scheu ... so wie der Zweijährige von Nachbar Märtens ... weißt Du noch , Anna , auf dem Vorland ?
Wir liefen einen halben Tag hinter ihm her .
Du wolltest Mal auf ihm reiten , aber wir kriegten ihn nicht .
Liebe Mutter !
Ich habe mir das so zurecht gedacht , daß ich immer auf Segelschiffen fahren will .
Viele Leute meinen , sie kommen aus der Mode ; aber der Alte sagte zum Steuermann :
» Sie sollen sehen , Steuermann , die großen Segler werden für Rohfracht und weiten Weg immer das billigste sein . «
Neulich fuhr ein schöner neuer amerikanischer Segler an uns vorbei .
Ich sage Dir , das war ein Staat !
Obgleich er nicht mehr Tuch hatte , als wir , kam er weiter als wir .
Der Steuermann schimpfte , der Kapitän tat , als wenn er nichts sähe .
Ich aber luchste hinüber , woran das wohl lag .
In Vancouver und San Francisco bin ich den ganzen Tag auf der Werft herumgelaufen ; ich sage Dir , das ist ein Spaß ; so eine Werft , das ist für mich schon mehr Hilligenlei , heilig Land .
Ich glaube , Kai Jans ist auf See gegangen , um es zu finden .
Er macht immer , wenn er an Land geht , einen langen Hals , geht durch die Menschen und durch alle Straßen und macht große Augen , und sagt nichts .
Aber neulich in Vancouver , wo wir zwanzig Tage lagen und viel Freiheit hatten , ist er mit einem alten wunderlichen Matrosen , der dort von Bord ging , durch die Stadt drei Tage lang bis oben auf das Gebirge gefahren .
Als wir dann im Schlepptau wieder aus dem Hafen fuhren , vergaß er Arbeit und alles , sah nach dem Gebirge hinüber und sagte mit einemmal zu mir :
» Du , da hinter den Bergen , da ist ein großartiges Land .
Das ist so weit und groß und rein , als wenn es heilig wäre .
Da werde ich mich später einmal ansiedeln , glaube ich . «
Na , das Ende vom Liede war , daß er vom Steuermann einen Schiester bekam .
Er ist mit keinem Menschen bekannt geworden , so lange wir von Hilligenlei fort sind , als bloß mit mir und mit dem alten Wunderlichen .
Sonst ist er immer allein und hört zu und macht seine Augen .
Sie mögen ihn aber doch leiden , weil er ein guter Kerl ist , immer hilfsbereit , und , als der Steward so krank lag , mit einemmal weinte .
Liebe Mutter !
Wenn ich wiederkomme , werdet Ihr Euch wundern , daß ich so groß und braun bin .
Und Hände , sage ich Euch !
Nun bleibt gesund und behaltet lieb Euren treuen Sohn und Bruder Piet Boje . "
Sie lasen den Brief jeder für sich wenigstens dreimal und sprachen über alles und saßen inzwischen wieder still und nachdenklich .
Dann kam Hat herein und ging zu Bett .
Dann gingen auch Anna und Heinke ; Anna in ihrer Art , unfreundlich , ohne Gutenachtgruß ; Heinke ruhig und schlichtfreundlich .
Helle Boje saß noch eine Stunde lang an der Maschine .
Eintönig und nüchtern klang das klipp , klapp des Hebels in der kleinen , niedrigen Stube .
Dann ging sie in die Schlafstube .
Sie trat an die Betten ihrer Kinder , beugte sich über die Gesichter , zuerst über Hetts , und sah im Licht der Halbdunkeln Lampe das schöne Gesicht ihres Jüngsten und sah den schweren , üppigen Zug ; dann über Heinkes Gesicht und sah das ruhevolle , klare Gesicht mit dem freien Zug um den starken , schönen Mund und sah lange in Gedanken darauf nieder .
Sie ging auch nach der Kammer hinüber , wo Anna schlief und sah auf sie nieder und sah , daß die Zeit nicht mehr fern war , daß sie ein Weib würde .
Ein starkes und mit schwerem Blut .
So wie sie .
Sie ging nach der anderen Kammer zurück und setzte sich auf den Rand ihres eigenen Bettes und dachte an die Unterhaltung , die sie mehr als einmal mit ihrem Mann gehabt hatte :
" Wenn unsere Kinder nicht das Glück haben , daß sie früh genug in gute Hände kommen , dann wird leicht schwere Not über sie kommen . "
Sie faltete die Hände und fing an , heiß für ihre Kinder zu beten .
Allmählich , wie ihr Gebet matter wurde , während sie noch so saß , kamen ihre Gedanken , ruhiger nun und leichter , zu ihrem Helden , ihrem Tapferen in der weiten , weiten Ferne :
wie er wohl aussähe und auf welchem anderen Schiff er jetzt wohl fahre .
Und sie kam ja wohl in Schlaf und Traum hinein und sah im Traum sein Schiff , ein schönes , schlankes Schiff , mit zwei Masten , die seltsam schräg nach vorn standen .
Es wurde aber das Schiff von einer schweren Dünung hin- und hergeworfen , wie zwecklos , wie von unsinnigen Kinderhänden ; und es war ihr , als wenn das Deck verwüstet und zerbrochen wäre , und sie dachte :
da ist kein Hilligenlei .
So stand sie am Ufer , in großer Sorge , und sah nach dem Schiff und sah es ganz deutlich .
Wie deutlich sie es sah !
Da ... da trieb es , und schwankte und tanzte in haushoher Dünung .
Neuntes Kapitel Die Klara , der Hamburger Gaffelschoner , trieb vor flauer Brise in haushoher Dünung auf dem südchinesischen Meer .
Sie hatte den achttägigen Sturm schlecht genug überstanden , die halbe Reling und das ganze Vorderhaus waren über Bord gegangen und das Großsegel dazu .
Sie waren schlimm hineingefallen .
Als sie vor vierzehn Tagen am Kai von Hongkong entlang lümmelten , lag die Klara auf dem Strom , lang und schlank , und die Masten wunderbar nach vorn gestakt .
Piet Boje , der jede Linie an jedem Schiff mit den Augen fraß , starrte nach dem Schoner hinüber und wartete auf das Boot , das an Land steuerte , und fragte den schmächtigen , linkischen Mann , der im Boot saß und sie forschend ansah , nach Namen und Fahrt .
" Mit Tee und Matten nach Havre , " sagte er .
" Wir können noch zwei Mann brauchen .
Ich bin der Steuermann . "
Sie fragten noch dies und das , während Piet mit langen , hungrigen Blicken nach dem grauen Schoner hinüber sah .
Dann traten sie zurück und beredeten sich .
Sie wären lieber nach Amerika hinübergefahren , nach Frisco oder Vancouver , auf einem der gewaltigen hölzernen Schoner , Viermaster , stark und neu und mit der besten Heuer auf der Welt .
Aber am Ende war es gleichgültig , wohin ; und dieser Schoner ... er war fein gebaut .
Da musterten sie auf dem alten , guten Schiff ordnungsmäßig ab , aber mit merkwürdig unruhigem Gewissen , und drückten sich davon , als wollten sie auf schlechten Wegen ungesehen sein .
Nun schwammen sie schon acht Tage und wußten , daß sie eine große Dummheit gemacht hatten .
Der Alte war den ganzen Tag betrunken .
Der Steuermann war ein Lapp ; er hätte Schneider werden sollen und nicht Seemann .
Der Koch , ein älterer , versoffener Mensch , fuhr schon länger auf der Klara und hatte im Lauf der Zeit dem Alten den Kram aus der Hand gespielt .
Die zwölf Mann Besatzung waren vor acht Tagen in Hongkong und Macao aus aller Herren Länder zusammengesucht : ein Hamburger , der ganz in Schnaps verkommen war , ein langer blasser Franzose , zwei Südostreicher und ein Holländer , drei Italiener und zwei Belgier , ein kurzer , gemütlicher Däne , ein schmutziger Werftarbeiter von Gadeshead , der hinkte ; alle ganz jung und unbefahren und alle mehr oder weniger vom Schnapsteufel besessen .
Keiner war über zweiundzwanzig .
Und das Schiff ?
Was soll ich mit schönen Linien , wenn ich in jeder Wache eine Stunde an der janken und klapprigen Pumpe stehen muß , und Tuch und Tau und Eisenwerk vermodert und verrostet sind ?
Nun hatte der Sturm ihnen das ganze Vorderhaus weggerissen , mit Logis und Kombüse , mit Kisten und Säcken und allem .
Sie standen breitbeinig auf dem schmierigen , glitschigen Deck des schwerrollenden Schiffes , die meisten angetrunken , alle durchnaß ; hungernd und frierend ; einige klarten das Tauwerk auf , das aus den Speigatten schwabbelte ; andere besserten an elenden , alten Segeln ; andere flickten an der Reling .
Sie fluchten dabei und beredeten das Unglück .
Piet Boje saß mit verfinstertem , ganz verschlossenem Gesicht halb in Segeltuch vergraben ; Kai Jans stand überwacht und müde , mit einem elenden Zug im scharfgewordenen Gesicht , und spleißt an einem Topsegelfall .
Wenn einer aufsah , sah er am anderen vorbei .
So schämten sie sich ihrer Dummheit .
Da fingen die anderen an , Piet Boje zu höhnen : " Sage ' Mal , Hilligenleier ?
Was arbeitest du so ?
Und warum schleichst du so um den Alten und den Steuermann ?
Und warum liegst du in all der Kälte an Deck , wenn du Freiwache hast , und schläfst nicht ? "
Er riß sich zusammen , lachte und sah sie freundlich an :
" Ich bin bange um euer Leben , " sagte er .
" Darum passe ich auf , bei Tag und Nacht . "
Aber sie sagten :
" Wir trauen dir nicht .
Ganz und gar nicht .
Das sollst du wissen . "
" Falsch ist er , " sagten mehrere .
" Gestern , " sagte der Österreicher , " hatte ich mir einen angetrunken und spleißt und machte es ihm nicht rasch genug :
Da riß er mir das Tau aus der Hand und sah mich an ... ich sage euch :
es sprang ein wütender Kater aus seinen Augen . "
Da trat Kai Jans vor , der sonst nie etwas sagte , legte seine flache Hand auf die Brust und sagte : " Ich will Gift darauf nehmen , daß er ein ehrlicher Junge ist ; ich kenne ihn von Kind an . "
Da wunderten sie sich und schwiegen .
Nach einer Weile konnte Kai Jans an Piet herankommen .
" Du , " sagte er leise mit schwerer Stimme , " wenn du den Teufel machst , mache ihn gut , und mache ihn immer , Tag und Nacht , daß sie nichts merken . "
Und plötzlich , da er das gesagt hatte , kam ihm der Gedanke , wozu er eigentlich von Hilligenlei weg in die weite Welt gegangen war , und es stieg ihm heiß und naß in die Augen :
" Wir verkommen in diesem Schmutz , " sagte er und atmete schwer .
" Kopf hoch , " sagte Piet , " fürchte dich nicht !
So wahr Gott im Himmel ist und ich bleibe gesund in diesem Dreck , so wollen wir Hilligenlei wieder sehen .
Komme , wir wollen lügen und trügen , wachen und luchsen . "
Es kam eine elende Zeit .
Sie hausten mit vierzehn Mann in den kleinen , dumpfen Löchern im Hinterdeck .
Der Kapitän saß in seiner Freiwache in seiner Koje , trank und schlief , und klempnerte an kleinen , zierlichen Segelschiffsmodellen , von denen er wohl fünfzig Stück , alle verschieden und genau nach der Wirklichkeit zusammengelötet hatte ; jedes hatte seine Berechnung , Zahlen und Stärken , auf einem Stück Papier in seinem Bauch .
Damit beschäftigte er sich immerzu und trank dabei .
" Der Alte , " sagte der Hamburger , " das will ich euch sagen !
Der hat in jungen Jahren eine schöne Segelschiffswerft am Reiherstieg gehabt , wißt ihr : in Hamburg .
Aber dann hat er das Saufen angefangen , hat seinen ganzen Kram vernachlässigt , hat Bankrott gemacht und ist zur See gegangen ... "
Während seiner Wache saß er gebeugt und unbeweglich auf der Skylightbank , irgendein der Modelle auf den Knien , und starrte bald auf das zierliche Ding in seiner Hand , bald über Bord .
Der Steuermann saß gedrückt und unsicher zwischen den Leuten .
Nun er mit ihnen zusammen hausen mußte , hatte er den Rest der Sicherheit verloren .
Er wagte nicht , ihnen etwas zu sagen , und sie kümmerten sich nicht um ihn .
In dem großen , eisernen Graben , der oben mit Zeisings festgebunden war , rührte der Koch das halbgare , schmutzige Essen .
Die Bohnen waren hart , das Salzfleisch hatte einen fauligen Geruch und das Hartbrot fing an , lebendig zu werden .
Sie ließen sich das alles gefallen ; denn der Koch trug den Schlüssel zum Kümmel auf seinem bloßen Leibe .
Trinker haben keine Empfindung für Unreinlichkeit .
Nach acht Tagen wurde der lange blasse Franzose krank ; seine Beine schwollen an .
Er humpelte in Lee an der Reling entlang und sah über Wasser und hatte Heimweh .
Er war guter Leute Kind ; aber der Schnaps , den er schon als Junge gemocht hatte , hatte ihn um Gesundheit und Charakter gebracht .
Bald darauf wurde auch der eine Belgier krank ; er wurde gelb wie eine Quitte und seine Augen brannten .
Er lag in der Kammer des Kapitäns in der dunklen Ecke auf ein wenig altem Segeltuch ; hatte die Hände auf der Brust gefaltet und nahm nichts zu sich , als dann und wann ein Stück von dem verdorbenen Hartbrot , das der Franzose in Kümmel tauchte und zwischen die widerwilligen Zähne schob .
Die anderen blieben gesund ; waren aber abwechselnd betrunken oder schlapp .
Piet Boje arbeitete für zwei und wachte für vier ; er wurde knochig wie ein junger Jagdhund , der bei magerem Futter steht , und blieb bei fester , stählerner Kraft .
Kai Jans aber , der von Kind an von biegsamem , zartem Wuchs war , wurde schmal , und seine Brust sank ein wenig , und sein Rücken wurde ein wenig gebogen , als hätte er einen schweren Kornsack auf den jungen Schultern ; sein Gang wurde müde und seine Augen bekamen einen trockenen , kranken Schein .
So fuhren sie , ein Jammerschiff , dem Süden zu , und kamen in die Hitze vor den Sundainseln , und der Geruch im Hinterdeck wurde unerträglich .
Da holten sich Kai Jans und Piet und der Däne und der Steuermann , dazu der Franzose , die ganze Backbordwache , Matten aus der Ladung und machten sich auf der Back eine Art von Hütte und lagen nun da und sahen nachts nach dem ruhigen , feierlichen Tropenhimmel über sich .
Die Masttoppen strichen hin und her durch die Sterne .
Da sie nun sahen , daß der Alte auf der Skylightbank oft einschlief , das Schiffsmodell auch im Schlaf sorgfältig in der Hand - ein wunderliches Bild im Sternenschein - und daß er zuweilen hinunterstieg , neuen Spiritus auf sein dürftig Lämplein zu gießen , und daß auf dem Großdeck die Flasche kreiste :
da beschlossen sie , daß immer einer von ihnen wachen sollte .
Aber Kai Jans fielen die Augen zu .
So kamen sie langsam in die Nähe des südchinesischen Inselgewirres ; der Wind war stark böig und schralte zuweilen .
Und in der vierten Nacht waren sie alle eingeschlafen , übermüde von Elend und Arbeit .
Da erwachte Piet Boje von einem schweren Klappern und Schlagen ; er sprang auf , riß seinen Geist mit wildem , auffahrendem Willen aus dem Schlaf und lief schreiend nach achtern und sprang ans Ruder .
Eine starke Bö fiel hart in die Segel .
Er stieß den Mann , der betrunken am Ruder lag , mit dem Fuß zur Seite , und warf das Rad hart Backbord .
Die anderen kamen auch auf und sprangen an die Brassen und riefen nach der Wache .
Aber da war nichts als ein schlafender Haufen Betrunkener .
Da holten sie das Gaffeltoppsegel allein herunter .
Das Schiff fiel glücklich wieder ab .
Der Steuermann war aus Rand und Band ; er schlug sich mit der Faust vor den Kopf :
" Was tue ich , " sagte er .
" Was tue ich ! "
" Der Kümmel muß über Bord , " sagte Piet .
" Jetzt , in diesem Augenblick .
Da liegt der Koch ... der hat den Schlüssel . "
" Es geht nicht , " sagte der Steuermann und schüttelte jammernd den Kopf .
" Ich habe das einmal getan ; da wurde der Kapitän sinnlos und raste , und der Koch spuckte in den Graben . "
Er setzte sich auf die Treppe , faltete die Hände zwischen den Knien und sagte ganz in Gedanken , zu sich selbst :
" Wenn ich diesmal nach Hause komme , will ich es aufgeben , und will mir eine Wirtschaft am Deich kaufen . "
Piet fuhr bitter auf :
" Wenn wir einen Deich wiedersehen . "
" Ich kenne den Reeder , " sagte der kleine Steuermann leise und sah mit großen Augen vor sich hin .
" Ein Mensch mit großen Füßen und einem Gesicht wie ein Bulle .
Die Klara steht vorm Kondemm und soll versaufen .
Das ist es .
Darum hat sie einen solchen Kapitän und einen solchen Steuermann . "
Da stand der achtzehnjährige Piet Boje plötzlich dicht vor ihm und sagte mit sprühenden Augen :
" Steuermann ... laßt uns wie zwei Männer miteinander reden , treu und brav , " und er schlug sich vor die Brust .
" Sorgen Sie dafür , daß der Alte mir die Steuerbordwache gibt . "
" Er tut es nicht , Hilligenleier ... er tut es nicht !
... Und was wird der Koch sagen und der Belgier ? "
" Ich bin zweiundzwanzig und war schon zwei Monate in Emden :
da ging mir das Geld aus . "
" Hilligenleier : es schlägt nicht an . "
" Mein Vater hat eine kleine Werft in Hilligenlei ; ich bin in den Spänen der Werft groß geworden und habe mir auf den Helgen die Hosen zerschlissen .
Das sagen Sie dem Alten !
... Kai Jans , du weißt es . "
" Es ist so , " sagte Kai Jans laut .
" Ich kann es beschwören , Steuermann . "
Der Steuermann stand auf und ging hinaus und Piet Bojes Gesicht verzerrte sich , daß es häßlich war :
" Ich will ihn bekatzbuckeln , hinten und vorn ; am Tag aber , wo ich von Deck gehe , spuck ich ihm in sein Grützgesicht . "
" Sei still ! " sagte Kai Jans , und heißes Weh stand in seinem gelben fiebernden Gesicht .
Bald darauf kam der Kapitän wahrhaftig herauf , und fragte Piet Boje mit einigen Worten aus .
Der stand mit treuherzigen , ehrerbietigen Augen vor ihm und sagte ihm alles , was er hören wollte .
Darauf rief er seine Wache zusammen und sagte : " Lied ... von nun an geht Piet Boje Miene Wach . "
Es gab eine große Erregung .
Piet Boje tobte .
Er schwor , er täte es nicht .
Kai Jans sagte verächtlich :
" Steuermannsschule ? Aufs Patent kommt es an ! "
Auch der kleine gemütliche Däne , der treu zu ihnen hielt , sagte :
Der Piet wäre ihm wohl recht ; aber dies wäre gegen die Ordnung , und Ordnung müsse sein .
Sie logen und heuchelten ; ihre niedersächsische Verschlagenheit glänzte und gleißte .
Da beruhigten sich die anderen und sagten :
" Dann laßt ihn da auf der Pope stehen und das Steuer selbst halten und wachen ; dann wollen wir supen . "
Da trat Piet Boje an diesem Abend die erste Wache an , beugte sich über den Kompaß und sah mit harten fliegenden Augen nach den Segeln .
Kai Jans , der mit ihm zur Backbordwache übergegangen war , stand mit schweren Beinen und dumpfem Kopf am Ruder .
Seine Arme zuckten von der schweren , stößigen Arbeit an der Pumpe .
Der Rest der Wache betrank sich an diesem Abend mehr als je .
Gegen Mitternacht kam der eine Italiener , ein ganz junger Mensch , gutmütig , und nur von der schlechten Nahrung und von Prahlsucht zum Trunk verführt , mit der vollen Flasche nach achtern , bot sie wankend Piet an und sagte etwas in seiner Sprache .
In plötzlicher Bewegung faßte Piet ihn und preßte ihn gegen seine Brust , sah ihn wild an und sagte : " I want to see my mother , you blackguard " und ließ ihn los .
Der ging schimpfend nach vorne .
" Kai Jans , my boy ... es genügt nicht , daß du deine Hände brauchst und deine Beine .
Du mußt auch noch deinen Kopf brauchen , wie ich es tue .
Weißt du was ?
Mir hat einmal ein Junge in Hilligenlei gesagt , du könntest Geschichten erzählen .
Mache deinen Mund auf , Kai Jans , und erzähle , daß sie das Saufen vergessen . "
" Ich kann nicht , Piet ; ich bin zu scheu . "
" Es kommt unruhiger Wind auf und sie wollen nicht wachen ...
Wir haben vier Fuß Wasser im Raum , und sie wollen nicht pumpen . "
" Ich kann nicht , Piet .
Ich kann es mir wohl in mir selbst ausdenken ; aber ich kann es ihnen nicht ins Gesicht erzählen . "
" Tu es , Kai ...
Wir wollen doch nach Hilligenlei ?
Bis Kapstadt , Kai !
Da laufen wir von Bord ... Kai ... in Kapstadt laufen wir von Bord ! "
Da ging Kai Jans mit schweren , schleppenden Füßen die Treppe hinunter , sagte gemütlich :
" Kinder ... wir müssen ein wenig pumpen . "
" Ach , pumpen !
... Du sollst mit uns trinken , du Ducker ... "
" Gebt her !
.. .
Nun aber kommt ... "
Da fingen sie an zu pumpen und waren bald überdrüssig .
" Nun ist es genug . "
" Ist das eine Arbeit ! "
" Ja ...
Mein Großvater , " sagte Kai Jans , " hatte es besser als ich . "
" Was geht uns dein Großvater an ? "
" Na nun ?
Mein Großvater ? ...
Der hat was erlebt , das sage ich euch ! "
" Erzähle , " sagte der kleine Däne .
" Erzähle ein Stück von deinem Oldefader . "
" Ja ... wir wollen erst ein wenig pumpen ... "
" Ja ... was mein Großvater gewesen ist ...
Der hat lange Jahre zusammen mit einem anderen gedroschen , der hat Ohle Griesack geheißen ... Ja ... der hat jeden Abend seine beiden großen Stiefel voll von Korn gefüllt und so jeden Abend ungefähr vier Pfund Korn nach Haus geschleppt .
So 'n Kerl war das . "
" Wir wollen Mal wieder pumpen ... "
" Aber das tollste war , daß er kein schlechtes Gewissen hatte .
Wenn er ein schlechtes Gewissen gehabt hätte , dann hätte der Pastor wohl nichts dazu gesagt .
Aber wenn Ohle Griesack nach Hause kam und die Stiefel ausschüttete , lachte er .
Das konnte der Pastor natürlich nicht so ansehen und ging hin .
Er setzte sich breit und wichtig auf den Lehnstuhl und ließ erst so zwanzig bis dreißig Bibelsprüche auf ihn niederhageln .
Aber Ohle Griesack blieb ganz ruhig .
Das ginge ihn alles gar nichts an , sagte er ; er dürfe tun , was er in seinem Gewissen verantworten könne ; er fühle ein Recht , das Korn zu nehmen , und sei nie friedlicher und glücklicher , als wenn er sich abends auf seinen Lehnstuhl setze , die Stiefel ausziehe und das Korn ausschütte ; was der Pastor sage , wäre chaldäisch für ihn .
Er wurde gemütlich und schenkte dem Pastor einen Schnaps ein und wünschte ihm , daß er immer ein so gutes Gewissen hätte , wie er .
Na ...
Da ging der Pastor , und sagte es am selben Abend dem lieben Gott . "
" Wir wollen Mal wieder pumpen ... "
" Na ...
Der liebe Gott denkt dann wahrhaftig erst daran , selbst hinzugehen ; schickt aber dann einen von seinen Steuerleuten .
Als Ohle Griesack so in der Dämmerung mit seinen schweren Stiefeln , langsam und so recht gemütlich den Schafweg entlang nach seinem Hause geht ... wer sitzt da auf dem Heck von Mumm Arens ?
Der Engel Gabriel .
Seine weißen , schweren Flügel hängen bis an die Erde und als er absteigt , bleibt der eine Flügel am Nagel hängen und er löst ihn mit seinen weißen Händen , und geht mit Ohle Griesack und redet ihm zu .
Aber der blieb dabei , er könne mit dem besten Willen nicht .
Und wenn er sein Inwendiges mit der Laterne durch und durch leuchte , wie jene Witfrau im Evangelium ihr Haus , er könne eine unreinliche oder dunkle Stelle , wo ein Teufel hocke , nicht finden .
Dann lud er den Engel ein , bei ihm einzutreten , zog gemütlich seine Stiefel aus , schüttete das Korn aus , und ging auf Strumpfsocken und holte die Kümmelflasche , entschuldigte sich , daß er nur ein Glas im Haus hätte , und trank sich einen mit dem Engel und freute sich , daß es dem Engel so gut schmeckte .
Der ging zum lieben Gott und erzählte ihm :
So und so ... und da wäre nichts zu wollen !
Ja ... "
" Wollen Mal 'n paar Schläge tun . "
" So !
... Da sagte der liebe Gott :
» Denn hilft das nichts ; denn muß ich ja selbst in die Stiefel und mit Ohle Griesack sprechen . «
Und machte sich auf und wollte kein Tagwerk an die Sache wenden , sondern meinte , er könne es vorm Kaffee abmachen und ging in aller Herrgottsfrüh - in the morning of our Lord - zu dem Bauern und saß schon auf einem Weizensack , als Ohle Griesack und mein Großvater auf die Dreschdiele kamen .
Ohle Griesack bekommt doch einen kleinen Schrecken , als er den alten Herrgott da auf dem Weizensack sitzen sieht , so ganz ohne seinen Staat , aber mit Augen , die nicht von gestern sind .
Er redet denn ja nun freundlich auf Ohle Griesack ein ; aber er erreicht nichts .
Gar nichts .
Ohle Griesack , der ein kleiner , stämmiger Kerl mit runden , hohen Schultern war , zog die Schultern noch höher , so daß es wahrhaftig aussah , als wenn er drei Köpfe hätte , und sagte :
» Wenn der liebe Gott ihm ein böses Gewissen schenkweise geben wolle , so würde er sich schönstens bedanken ; er selbst könne es sich nicht verschaffen ; Mühe genug habe er sich gegeben .
Im übrigen : nichts für ungut . «
Da geht der liebe Gott ja denn so wieder weg ; mag sich aber natürlich da oben nicht sehen lassen und treibt sich den ganzen Tag in London und Hamburg am Hafen umher , aber am Abend muß er ja wieder nach Haus .
Na ... sie machen ja heimlich ihre Gesichter und freuen sich , daß der Chef Mal hineingefallen ist und setzen sich zum Abendbrot und lassen es sich gut schmecken .
Da hebt der liebe Gott , der oben an der Tafel sitzt , den grauen Kopf und sagt zum Tod , der immer an seiner Tür steht :
er solle hingehen und Ohle Griesack heute Nacht noch zu Weges Ende bringen ; dann könne er gleich zu dem alten Kreisarzt Rühmann in Hilligenlei gehen , daß er morgen früh bereit wäre , Ohle Griesack die Mütze abzunehmen .
Wissen wolle er , was an dem Menschen sei .
Ja , das wolle er . "
" Wir wohl 'n Mal wieder pumpen . "
" So !
... Das geht ja nun los .
Mein Großvater hat bei dem Schwerkranken gewacht , bis er tot war ...
Am Morgen in aller Frühe - mein Großvater hat sich gerade Ohle Griesacks kurze Pfeife angesteckt , die er sich für die Wache zugedacht hat - da kommt der alte Rühmann und bald darauf der liebe Gott mit zwei von seinen Himmelsleuten .
Der alte Rühmann schneidet ; auch die Engel beugen sich über Ohle Griesack ; der liebe Gott sitzt einstweilen , ruhig zurückgelehnt , in Ohle Griesacks Lehnstuhl und sieht sich so gemächlich in der Stube um , und freut sich , daß sie so sauber ist .
" Da schüttelt der alte Rühmann den Kopf und sagt , er könne nichts finden .
» Wir auch nicht , « sagen die beiden Engel .
» Es ist ganz wie bei den anderen Menschen . «
" Da seufzt der liebe Gott und holt hoch Atem und sagt : » Was so ein holsteinischer Tagelöhner einem doch für Mühe macht ! « und steht auf und nimmt das Hirn in die hohle Hand und besieht es mit seinen glänzenden , klaren Augen .
Und bald - er hat nicht lange hingesehen - sagte er :
» Seht ... hier ist es ... hier die kleine Windung ... seht ihr ?
... sie geht ein ganz klein wenig einen anderen Weg . Damals ... wißt ihr noch ?
... als wir das Hirn des guten Dichters besahen ?
Da war es dieselbe Windung , die aber wiederum anders lief .
Hier gab es einen Dieb , da einen Dichter .
Es ist ein Gequarke und Gequese mit den Menschen !
Sie quarken , und quesen , und richten , und richten .
Sie sind unglaubliche Besserwisser und Nörgelpeter !
Und dabei habe ich ihnen erst vor zwei Tagen durch den Heiland ganz klar und deutlich meine Meinung sagen lassen :
» Richtet nicht , sondern sorgt dafür , daß euer Land heilig wird ...
Vergeßt nicht , « sagte er , » daß Ohle Griesack heute bei uns zu Abend ißt ; seine saubere Stube hat mir Freude gemacht . « "
So erzählte Kai Jans , als sie an Borneo vorüber auf die Sundastraße zufuhren .
Er saß auf den Spieren , hatte die Hände von den Knien genommen , die spitz und hart wie Kiesel waren , und spreizte die Finger , als hätte er eine handgroße goldene Kugel darin , die herunterrollen wollte .
Seine breite , niedersächsische Nase war kantig und knochig , und seine Augen glühten unter der gedankenschweren Stirn , wie ein Feuer unter einem schweren schwarzen Herdbogen .
Die Schiffsleute aber staunten und sagten einer zum anderen :
" Was ist das mit ihm ?
Er war der Stillste von uns allen , und nun erzählt er solche Geschichten ? "
Da wurde er der unheimlichen Gabe froh und er erzählte mit der Stimme , die von Hunger und Mattigkeit hohl war , manche bunte Geschichte , meistens Seegeschichten .
Da ließ er den Koch und den Steuermann böse Pläne spinnen , und die Leute wurden ihnen zum Bösen untertan .
Da wurde der Kapitän schwer krank ...
Aber da ... siehe ... kamen Wetterwolken auf ... die gingen wie große , dicke Schweine über die Himmelsweide und wurden größer und größer und dunkler und bedeckten Himmel und Meer ... und da ... plötzlich , in einem Nun ... kamen Engel vom Himmel hernieder und standen in dichten Haufen an den Grootwanten .
Vom Heck her aber schallte Gottes helle Stimme .
Da gab es schweren , harten Richterspruch ...
Und es war nichts im Himmel und auf Erden , das sein kranker , überreizter Geist nicht in wilden , heißen Bildern sah .
Da geschah es , daß der bleiche , kranke Franzose seine dürren Arme hob und sagte : " O , Hilligenleier ... tu es wahrhaftig un bon catholique ; car les Saints ... die Heiligen ... Run among the pople . "
Der Koch aber starrte auf die Kümmelflasche in seiner Hand .
Piet Boje stand auf der Pope und sah nach Kompaß und Segel ; der Kapitän saß neben ihm und starrte dumpf übers Meer .
" Ich , Piet Boje von Hilligenlei , soll versaufen ?
Daß der reiche Lump mit den großen Füßen zu seinem Gelde kommt ?
Ich , Piet Boje ?
Und wenn mir vor Durst und Fieber und Müdigkeit die Augen im Kopfe in Brand kommen :
ich will Hilligenlei wiedersehen .
Höre ...
Mutter hebt den Kopf !
Nun hält sie die Maschine an ... Kinder , hört !
... Was ist das für ein rascher Schritt ? ...
Anna ... Heinke ... hört ihr ?
... Unsere Tür !
... o ... o ...
Piet ... mein lieber Junge ! "
" Kapitän : einen Steuermann , der so viel fragen muß , haben Sie noch nie gehabt . "
" Fragen Sie nur ...
Sie sind ein Mensch , der Interesse und Willen hat ...
Darauf kommt es an . "
" Zeigen Sie wieder ein Modell , Kapitän ? "
" Ich will ein paar heraufholen . "
" Die Segel , Kapitän ? "
" Sind richtig so . "
" Danke , Kapitän . "
" Sehen Sie !
... dies Modell ... "
So kamen sie glücklich in den Indischen Ozean hinein und hielten in die Passattrift und kamen gut vorwärts .
Es war ein elendes Dasein .
Der Speck war verschimmelt , das Hartbrot und das Mehl lebendig , das Wasser faul , das einzige Hemd zerrissen .
Die Zunge klebte und die Augen brannten .
Sie sprangen und sangen , wachten und luchsten , logen und trogen .
" Lache , Kai Jans ... sieh nicht so sauer ... erzähle den Lumpen eine Geschichte ... Mensch , was ist mit dir ?
Hast du getrunken ?
Du ?
... Pfui , Teufel ! "
" Ich kann das Wasser nicht trinken , Piet . "
Er sah ihn mit jammervollen Augen an .
" Ein Trinker werde ich nicht , du . Niemals ...
Sieh mich nicht so an !
... Du , der Genter ist giftig auf dich , weil du ihm die Pütz aus der Hand gerissen hast ; er hat sich besoffen und redet gegen dich .
Gib ihm ein gutes Wort . "
" Ich will nach der Back kommen und ihn umhalsen .
Gehe hin und erzähle ... "
Kai Jans erzählte .
Und seine Geschichten wurden hart und unnatürlich .
Im Fieber , mit rasenden Schlägen trieb er die Erscheinungen seines Gehirns wie wilde Tiere vor sich her in ihre umnebelten Köpfe hinein .
Er erzählte von dem Weiberschiff .
" Zwanzig Weiber die Besatzung !
Denkt euch !
Alle jung und alle liebestoll .
Und der Kapitän das schönste von allen .
Wenn ihre Sehnsucht zu groß wird , so alle vier Wochen einmal , dann schleichen sie sich nachts an ein Schiff heran , auf offener See ... nun liegen sie Bord an Bord ... nun springen sie an Deck ... Kinder , malt euch das aus !
Wenn uns das passierte !
... "
Da beredeten sie es mit rohen Worten und brüllten und pumpten , und zum Takt der schreienden Pumpe rief er ihnen zu , daß die wilden Bilder wieder vor ihren Seelen standen .
Für seine eigene Seele aber waren es nur windige , protzige , leere Worte ; er war noch ganz rein .
Es war ein Glück , daß schwere Wetter ausblieben und daß die Nächte sternklar waren ; der Steuermann wäre sonst zusammengebrochen .
" Kapitän ... ich habe hier einen gemütlichen Stuhl hingesetzt ...
Mein Vater sagte immer , wir müßten die Klipper bauen , die man in Glasgow baut , die eisernen , mit dem schnittigen Bug und dem runden Heck .
Er sagte , wir wären da noch weit zurück .
Amerika und England !
... sagte er . "
" Davon habe ich drei gebaut , " sagte der Kapitän ...
" Ich war der erste in Deutschland ...
Ich will das Modell holen . "
Er stand mit steifen Gliedern auf und stieg mit unsicherem Gang die Treppe hinunter , und kam mit dem Modell wieder , das er sorgfältig im Arm hatte .
Es geschah nie , daß er eins davon beschädigte , so fein sie gebaut waren und so sehr seine Hände zitterten .
" Mein Vater schickte mich nach Glasgow und über See nach Hoboken .
Wir beide , sagte er zu mir , du und ich , wir wollen Deutschland lehren , Segelschiffe bauen .
Ich habe als junger Gesell erst mit dem Niethammer gearbeitet , dann mit dem Zeichenstift ; ich war schlau und fleißig und stolz ...
Nachher habe ich selbst Schiffe gebaut ...
Siebzehn habe ich gebaut ...
Da hatte ich keine Lust mehr ... ich ging zur See ...
Und nun bin ich auf der Klara ... "
Er sah sich suchend um .
" Die Flasche steht unterm Stuhl , Kapitän . "
" Und mein Bruder , der jüngste , hatte eine Wiege von Nussbaum ...
Als ich die Werft aufgab , ... hatte er auch keinen Mut mehr ... der ist nun Heizer auf einem englischen Dampfer ... viele Deutsche stehen vor englischen Feuern ... so heiß und so dunkel und so schmutzig ... arme verkommene Deutsche . "
" Trinken Sie , Kapitän , daß Sie die alten Gedanken los werden . "
" Verflucht ist die Flasche , Steuermann ; aber ich kann sie nicht mehr entbehren .
Wie weit wären wir Deutsche ohne das verfluchte Saufen . "
Er tat einen schweren Schluck , und wurde wieder lebendig und erklärte das Modell .
Wenn seine Stimme schläfrig wurde , schob Piet Boje die Flasche hin , daß er sie sah und trank .
So kamen sie eines Tags auf die Höhe von Kapstadt .
Da mußten die beiden Kranken von Bord .
Piet Boje und der jüngere Italiener ruderten sie an Land ; der Kapitän fuhr mit , neues Getränk einzukaufen .
Piet blieb als Wache beim Boot .
Da trat er an zwei , drei Matrosen heran , die da am Kai gingen , und fragte , und hörte nicht das , was er wissen wollte , und ging mit spähenden Augen weiter .
Da kam von ungefähr ein blutjunger Matrose daher , in weitläufigen Bramtuchhosen und Hamburger Hemd , klein , frisch und blond , mit raschem Gang und munteren Augen .
Der und Piet Boje sahen sich an und merkten an den Gesichtern , daß sie Landsleute waren .
" Ich bin auf einem Hamburger Dreimastvollschiff ... sieh da !
... die Goodefroo ... mit Stückgut von Hamburg nach hier ... und morgen fahren wir in Ballast nach der Südsee ... und wir haben noch Schanze für zwei Mann . "
" So ! " sagte Piet und warf einen langen , sehnsüchtigen Blick nach dem Dreimaster , der stolz und ruhig auf der weiten Reede lag .
" Wie heißt du denn ? "
" Ich bin Hans Jessen von Brunsbüttel . "
" Was du sagst !
Der Sohn vom Apotheker ?
... Ich bin Piet Boje von Hilligenlei , und da ist noch ein Hilligenleier : Kai Jans ...
Ist dein Schiff gut ? "
" Großartig !
Wir sind alle aus Blankenese und Glückstadt und daherum . "
Der Hilligenleier sah vor sich hin .
" Ich glaube , " sagte Hans Jessen , " wenn der Steuermann hört , daß ihr von Hilligenlei seid , tut er ein Ding und nimmt euch . "
" Sieh Mal ! " sagte Piet Boje und zeigte mit dem Arm nach der Klara .
" Da sind wir .
Und du kannst dem Steuermann sagen :
Da liegen zwei Hilligenleier Jungs richtig in Schiet und Dreck .
Wenn er will , kann er uns heute abend um zehn holen . "
Der Brunsbüttler versprach alles und ging .
Der Kapitän kam wankend , mit großen , gläsernen Augen ; hinter ihm her eine Kiste mit Flaschen .
So ruderten sie wieder an Bord .
Piet nahm dem Italiener die Kiste ab und trug sie dem Kapitän nach in die Kammer .
" Ist was Gutes , Kapitän ? "
Der Kapitän schlug mit einem verlegenen , heiseren Lachen und mit zitternder Hand die Flasche gegen die Pultkante , daß der Hals absprang , und füllte das Glas und bot es ihm .
" Harmlos ! " sagte Piet Boje und gab das Glas wieder und sah ihn an mit Augen , welche sagten :
" Trinke , trinke !
.. .
Machen Sie sich einen gemütlichen Abend , Kapitän ... wir liegen hier ja sicher und ich stehe für alles . "
Die Backbordwache ging zur Koje ; die Steuerbordwache saß auf der Back und trank .
Er ging auf der Pope hin und her .
Kai Jans , der noch bei ihm bleiben wollte , setzte sich auf die Treppe und schlief ein .
Er hatte ihm kein Wort gesagt .
Nach einer Stunde - es war schon dunkel - ging er wieder in die Kammer des Kapitäns und fand ihn schlafend .
Da verschaffte er sich die Schlüssel und nahm seine und Kai Jans' Papiere und nahm zwanzig von den besten Modellen , steckte sie in einen großen Sack und stellte den Sack in die Ecke .
Dann nahm er fünf Flaschen von dem Genever und ging nach der Back und sagte , indem er schlau lächelte und mit der Hand am Ohr waberte : " Schscht ...
Hier sind fünf für euch .
Allerfeinste Sorte !
Still ... , daß der Alte nichts merkt . "
Da ergaben sie sich alle dem stillen Trunk und schliefen bald ein .
Auch Kai Jans schlief .
Bald darauf hörte er leisen Ruderschlag und vorsichtigen Anruf .
Er fierte den Sack hinunter , ging zu Kai Jans und rührte ihn an der Schulter .
Der stand lautlos auf , als hätte er auf den Ruf gewartet , und ging mit halbgeschlossenen Augen hinter ihm her .
So sehr folgte er in allen äußeren Dingen dem hellen Lehrersohn .
Eine halbe Stunde später kletterten sie an Bord der Goodefroo .
" Sieh , " sagte Hans Jessen mit seiner munteren Stimme :
" Da kommt der Steuermann . "
Die beiden Hilligenleier sahen auf und sahen einen großen Mann auf sich zukommen , der im Gehen einen Jungen , der dastand , zur Seite schob .
Und sie erkannten ihn im Sternenschein .
" O Gott , " sagte Kai Jans leise ...
" Pe Ontjes Lau ! "
Er sah sie fremd und ruhig an und dachte :
» Was sind sie verhungert und verlumpt ! «
Und fragte kalt und kurz nach ihren Papieren .
Sie griffen in die Taschen und gaben sie ihm .
" Ihr gehört zu meiner Wache . "
Als sie nach dem Logis zu gingen , sah Kai Jans erst den Sack , den Piet trug , und hörte es darin klirren .
" Was hast du da ? " sagte er mit zusammengeschnürter , kläglicher Stimme .
Aber er wußte es schon .
Er setzte sich auf die Treppe , stützte den Kopf in die Hand und sagte verzweifelt :
" Wir haben den Dänen verlassen , der immer so treu zu uns hielt ; nun sind wir auch noch Diebe ... und ... und ... O , wie hat er mich angesehen !
... Huh ...
Wie schmutzig bin ich . "
Und er warf die Hände vor die Augen .
" Du bleibst dein Leben lang ein Narr , " sagte Piet Boje , " und bist zu nichts zu gebrauchen , " und trat mit zusammengerissenem Gesicht ins Logis der Goodefroo .
Zehntes Kapitel Die Goodefroo ! ...
Damit kein Irrtum möglich ist :
Der Dreimastvollricker Goodefroo , auf dem Pinnaß von Jan Marbst gebaut .
Wer hat sie gesehen ?
Nicht im Hafen , wenn ihre Riggen stakig und dürr , wie verdorrte Tannen , in die Luft starrten , wenn die Stagnahtblöcke klirrten und rollten und die Schauerleute in ihrem Bauch rumorten .
Sondern : wenn sie zum dreiundsechzigsten Grad unter Kap Horn heruntergekommen , vom Südoststurm gejagt , Reling und Wanten blinkend von Eis , unter Sturmsegeln , schräg liegend , eine graue Woge nach der anderen nimmt ... durch die tobende See stürmt ...
Oder wenn sie in der Südsee , alle ihre weißgrauen Segel , fünfundzwanzig weißgraue Flügel ausgebreitet , leicht und stolz sich neigend über das unendlich sonnige , blinkende Meer dahinzieht , Preis und Ehre ihrer fernen Heimatstadt .
Oder wenn sie an jenem düstern Novembermorgen vor dem wilden Nordweststurm , an den Brechern von Texel , die weiß und schrecklich herüberblinkten , hart arbeitend durch das graue , wüsste , weite Meer den Eingang in die Elbe suchte , tapfer und hoheitsvoll , so tief auch das harte Wetter sie beugte .
Kann man irgend etwas gegen die Goodefroo sagen ?
Hat sie ein einziges Stück morsches Tauwerk an Bord , das dem Matrosen heute Ärger bringt und morgen den tödlichen Sturz auf die Decksplanke ?
Oder ist da irgend welch töricht überflüssig Schnörkelwerk , das dem Matrosen unnütze Arbeit macht ?
Aber der Kapitän !
Jan decken von Blankenese ist Kapitän .
Es ist wahr :
er hatte bei stattlichem Oberleib kurzes und krummes Beinwerk ; auch ist es Tatsache - keiner streitet dagegen - daß er auf Deck mit kurzen Schritten immer hin- und herging , immer hin und her mit gesenktem Kopf , dann aufsah und einen raschen Blick über Deck und über Bord warf , und dann , wenn er den Kopf wieder senkte , ausspuckte , leise und trocken .
Es ist auch wahr , daß er keine weiche Seele hatte .
Aber was sagt das alles ?
War er nicht gerecht ?
Sorgte er nicht für Feierabend zur rechten Zeit ?
Gab er nicht an den Koch einen stattlichen Proviant ?
Und was die Hauptsache ist ... verstand er sein Fach oder nicht ?
Es ist eine Sache , bedenklich , fast unheimlich , darüber zu reden .
Es war da irgendein Zusammenhäng zwischen seinem kurzbeinigen Körper und den Elementen der See ; oder was soll man sonst denken .
Der ganze Hewen war hellblau , kein Wölkchen am ganzen Horizont und die Brise stetig .
Da steht Kapitän decken mit einemmal still .
Er hört auf zu spucken .
Alle Matrosen lassen Arbeit Arbeit sein und stehen und sehen nach ihm .
Er hebt den Kopf und schnuppert in die Luft .
Er dreht sich um und geht gemächlich in seine Kammer und kommt wieder und hat statt der blauen Tuchmütze eine alte englische Wollmütze , mit einem Klunker darauf , bis an die Ohren gezogen .
" So !! " sagen sie alle .
" Dittmal lügt he ... "
Das sagen sie alle .
" He lügt ... dee Ohl lügt !
Gott sei Dank ! "
Aber er log nie ...
Eine halbe Stunde später flog das erste Kommando über Deck .
Kann man etwas gegen Jan decken sagen ?
Es ist nicht möglich .
Der faulste Matrose - wenn auf der Goodefroo ein fauler Matrose denkbar wäre - muß ihn loben .
Aber der Steuermann !
Hochmütig war er ... da ist kein Zweifel .
Man hat ihn nie scherzen hören ; er war selten ein wenig gemütlich .
Gescherzt hat er nur später , ganz heimlich , und ganz selten einmal , mit Anna Boje und ihren Kindern ...
Aber er war kein Treiber und kein Schimpfer .
Immer vornehm und ruhig Blut .
Und er verstand seine Sache .
Wer hat den Steuermann Lau gesehen ?
Wie er am Sonntagmorgen , wenn Schönwetter war , in seinen Morgenschuhen , die seine Mutter ihm gestickt hatte , schön mit bunten Perlen , auf dem Hinterdeck hin- und herging ?
Oder damals als im Kanal der Junge aus der Galion fiel ... wie er an die Reling sprang und aus sicherer Hand den Gürtel warf und zugleich klar und sicher sein Wort kam : " Leeboot aus " ?
... Oder wenn er selbst Hand anlegte ?
Als sie unter Kap Horn am sechsten Sturmtag übermüdet waren und mit fünf Mann am Fall hingen und der schwere Wind stärker war als sie , und er anfaßte und das Part plötzlich kam , daß sie alle fünf platt auf Deck saßen ?
... Oder wer hat gesehen , wie er den alten Bootsmann vom Hinterdeck wies ?
Der war in jungen Jahren Steuermann auf einer norwegischen Bark gewesen , Patent von Dronteheim und alles in Ordnung ; aber der verfluchte Kümmel wand ihm das schöne Patent aus der Hand und stieß ihn vom Hinterdeck und jagte ihn wieder ins Logis .
Er war sonst ein ruhiger , nüchterner Mann , aber sobald er an Land kam , trank er sich voll ; und dann setzte sich ihm der Gram ins Gemüt und er kletterte , das alte Herz übervoll von großer Zeit , die Treppe nach achtern hinauf .
Aber als er aufsah , stand Steuermann Lau da , sah ihn an und sprach ein ruhiges Wort .
Da torkelte er brummend wieder nach vorne ...
Oder wer hat gesehen , wie Steuermann Lau in weißem Leinen vor der kleinen Schenke in Apia hinter einer Flasche Sodawasser saß ?
Da kam eine Schar schöner brauner Mädchen vorüber , mit nackten Oberleibern , Kränze um die Hüften , und lachten ihm zu .
Er sah sie freilich an und es flammte etwas in seinen Augen auf - das ist nicht zu leugnen - aber gleich war es gebändigt . Weg war es !
Wie nachlässig , gleichmütig sah er sie an !
... Wahrhaftig , wer den Steuermann Lau von der Goodefroo gekannt hat , der weiß : er ist fürwahr ein großer und gerechter Mann .
Aber der Koch !
Nichts über den Koch !
Klaus Gudewill war tüchtig , sauber , flink .
Und war kein Kapitänskoch .
So gern er dem Hinterdeck einen guten Tisch gab : seine Kunst und seine Liebe galt dem Vorderhaus .
Wenn es angeht - und es geht immer an - stahl er für sie .
Und wohl dem Kochsgast !
Zu guter Letzt hatte er auch noch die Gabe , die man von einem rechten Schiffskoch erwartet :
er erzählte gut und gern , und sang auch gut .
Als er auf der Reede von Apia seinen Geburtstag hatte , mußte der Alte ihm Stoff für einen Grog geben .
Da hat er erzählt !
Da hat er gesungen !
Sie lagen auf Deck und Spieren , ihre Mücken in der Hand , und hörten ihm zu .
Zuletzt sang er das Kochslied .
Das war lang ; jeder Wochentag hatte seine Strophe .
Er sang es aber zu Ende und wurde so begeistert , daß er auf den Gedanken kam , dem Alten ein Ständchen zu bringen ; aber der winkte ab und spuckte aus .
Aber die Back !
Die Back ?
... Das ist ein ganz und gar unnötiges Anfragen .
Ein gutes Schiff ... ein guter Kapitän ... können immer gute Mannschaft haben , wenn sie wollen .
Und Jan decken wollte es ; also hatte er es .
Kapitän decken kümmerte sich nicht weiter um die beiden abgerissenen , verhungerten Leute , die auf der Reede von Kapstadt an Bord gekommen waren .
Der Steuermann hatte die Garantie für sie übernommen .
Dieser Steuermann kümmerte sich auch nicht um sie .
Gar nicht .
Er sah über sie weg , als hätte er sie nie gesehen !
Als hätte er ihnen nie gezeigt , wie man Aalen die Köpfe abbeißt .
Er kannte sie nicht .
Piet Boje sagte : " Er ist ein hochmütiger Mensch . "
Kai Jans suchte zuweilen mit langen flehenden Augen sein Angesicht ; aber er bekam es nicht .
Am fünften Tag , da sie an Bord waren , fand er zu oberst in der kleinen Kiste , die sie ihm zur Verfügung gestellt hatten , zwei schöne reine Hemden .
Sie waren sehr groß und der Name war herausgeschnitten .
Er suchte wieder sein Angesicht ; aber er bekam es nicht .
Da ging er still mit bebenden Lippen seiner Arbeit nach .
Auch die Mannschaft war kühl gegen sie .
Es waren fast lauter Leute , die sechs oder zehn Jahre auf der Goodefroo fuhren ; sie standen in engem Verband und bedurften der beiden abgerissenen Hungerleider nicht .
Die mochten zu ihnen kommen und sich bewähren .
Man dringt nicht an einem Tag in eine Familie ein .
Sogar die Jungen und die drei Leichtmatrosen standen zu den Alten und hielten sich fern von ihnen .
So waren die beiden Helden von der Klara nun plötzlich klein und aufs große Maul geschlagen .
Sie arbeiteten mit heißem Eifer , waren bescheiden und freundlich in der Freiwache und lugten klug , was das für eine Gesellschaft wäre , unter die sie geraten waren , und staunten über die vielen gerechten und weisen Menschen - wie es ihnen schien - und warteten , wo das Ding hinaus wolle .
So blieb es fünfunddreißig Tage ... bis der Sturm am Kap Horn kam und sie in die Reihe brachte .
Sie hatten bei nassem , schwerem Nordwestwind eine gute Fahrt bis zum dreiundsechzigsten Grad hinab gemacht und hatten genügende westliche Länge , um den Kurs nach Norden zu nehmen :
da sprang der Wind nach Südwest um und wurde böig und eisig und wehte drei Tage .
Am dritten Tag , gegen Abend - das Deck fing an zu vereisen - holte der Alte seine Wollmütze mit dem großen Klunker .
Es wurde aber dunkel und es blieb bei der steifen , eisigen Brise .
Aber gegen neun Uhr - es war schon dunkle Nacht - wurden Wind und Wasser aufgeregter .
Ein dumpfes Sausen und Brüllen erfüllte die Luft und fuhr durch Masten und Tauwerk ; lang und hoch schreiend pfiff es dazwischen .
Piet Boje stand zufällig am Ruder .
Seitlich vor ihm stakte der Alte unermüdlich hin und her .
Da trat Steuermann Lau ans Rad , faßte es und sagte : " Hole die Rudertaille ... "
Piet Boje lief , und kam schon die Treppe wieder heraufgesprungen , die Taille in der Hand ... in dem Augenblick kam unerwartet eine schwere See von achtern , warf die Goodefroo nach vorn und riß dem Alten das kümmerliche Beinwerk unter dem Leib weg , daß er einen bösen Fall tun wollte .
Steuermann Lau ließ das Rad fliegen und griff nach dem Alten .
Im Nun war Piet Boje da , sprang heran und faßte das wild wirbelnde Rad mit einem Griff und brachte es wieder zum stehen und schlug es zurück .
Der Steuermann Lau übergab den stöhnenden Alten dem Koch , schrie Piet Boje zu : "' ne gute Tatze !
... " gab das Rad an den Bootsmann , winkte Piet , nach vorne zu gehen , und trat an die Treppe und befahl : beide Wachen an Deck und alle drei Obermarssegel festmachen .
Die Leute stolperten in ihrem schweren Ölzeug und den langen Seestiefeln aus dem Logis und geiten auch glücklich auf .
Der Sturm heulte wild über das Schiff ; die Goodefroo rollte schwer .
Starke Seen schlugen über und füllten das Großdeck mit gischendem Wasser :
es leuchtete schreckhaft im Dunklen .
Nun ging die Backbordwache mit zehn Mann in den Vortopp und die Steuerbordwache mit elf Mann in den Großtopp .
Es war stockdunkel ; man konnte keine Hand vor den Augen sehen ; scharfer Hagel schnitt ihnen ins Gesicht .
Sie kamen aber glücklich hinauf und begannen in dem schweren Wind mit krummen , verfrorenen Fingern in das harte , neue Tuch zu greifen .
Kai Jans stand an der Nock ; neben ihm arbeitete der Danziger ; dann kam der kleine gewandte Heine Marquard .
Es ging alles gut , obgleich die Goodefroo wohl fünfunddreißig Grad hin und her schlug und sie nur den hellen Schimmer von Tuch sahen .
Es ging gut .
Das Segel lag schon auf der Ra , und Kai Jans bückte sich gerade und reichte dem Danziger von unten den Zeisig .
Der Danziger will zugreifen ... und lehnt sich über die Ra ... er ist ein ziemlich langer Mensch ... da schießt die Goodefroo schwer nach vorn ...
Ein furchtbarer Schrei gellt durch die finstere Luft .
Kai Jans hat nichts gesehen ; aber er fühlt einen heißen Schmerz die Hand entlang gleiten , die den Zeisig hält , und stöhnt wild und laut auf , und als er zur Seite ins Dunkle starrt , ist ihm , als wenn da ein leerer Raum ist ; er legt dabei die Hand aufs Segel und fühlt wieder den schrecklichen Schmerz und läßt Zeisig Zeisig sein und tastet sich wimmernd nach innen und klettert hinter den anderen Gestalten her in all dem grausigen Dunkel , und dem Brüllen und Pfeifen .
Die Steuerbordwache stand da schon , in kleinen dunklen Haufen voraus an den Fockwanten .
Da kam Steuermann Lau von achtern gelaufen und rief laut :
" Was habt ihr ausgesungen ... da oben ? "
Sie schüttelten die Köpfe ; einer sagte :
" Es hat einer geschrien . "
" Es schrie zweimal . "
Da sagte Torril Torrelsen , der Norweger , mit seiner ruhigen Stimme :
" Ich glaube , Steuermann , da ist einer von boben kamen ... einer von den Backbordeschen ... "
Da reckte Pe Ontjes Lau den Kopf vor ... nach der Backbordwache ... die aus den Wanten kletterte , und rief überlaut : " Kai Jans ...
Mein Junge ... ! "
" Er ist noch nicht hier , " sagte Piet Boje .
Da schrie er noch einmal laut : " Kai Jans , mein Junge ... Bist du da ? "
Da kam der letzte wimmernd von der Fockwant und stolperte an Deck und sah in dem Dunkel keinen anderen als den großen Steuermann Pe Ontjes Lau , lief wankend auf ihn zu und hielt seine blutige Hand hin und schrie : " Pe Ontjes ... lieber Pe Ontjes ... meine Hand ist ganz zerrissen ...
Ein Krüppel bin ich . "
Und hielt ihm die Hand hin , als wenn er sagen wollte :
Da hast du sie .
" Der Danziger ist von der Ra geflogen ... und hat sie mir mit dem Zeisig zerrissen . "
Pe Ontjes Lau hatte ihn an der Schulter gefaßt :
" Sei still , mein Junge , " sagte er .
" Piet , bringe ihn nach achtern in meine Kammer ... "
Die anderen hatten sich über Deck zerstreut und kamen zurück .
" An Deck ist er nicht . "
" Jungs , " sagte Steuermann Lau .
" Ihr müßt es einsehen , daß wir nicht wenden können ... wir fahren mit zehn Meilen vor Sturm . "
Da hob Torril Torrelsen , der Norweger , seine beiden Hände und betete laut ein Vaterunser und betete es rasch , daß der Kämpfer seine Ruhe fände .
Das war um Mitternacht .
Gegen Morgen , so um fünf Uhr - sie lagen mit den beiden Untermarssegeln beigedreht - da wurde der Wind stark und stärker .
Gegen sechs Uhr war das Großdeck unter einer gischenden , wilden , weißen , brüllenden See und über die Back flogen schneeweiß in der dunklen Nacht hohe Wasserberge .
Sie standen alle Mann auf dem Achterdeck .
Gegen sieben Uhr , der Morgen wollte grauen , warfen Wind und Wogen sich so hart gegen das Schiff , daß es sich auf die Seite legte und nicht wieder aufrichten wollte .
Sie standen und warteten .
Dreiundzwanzig Mann oben ; dazu die beiden Verwundeten unten .
" Es kommt ... "
" Es kommt nicht . "
Da schrie der Steuermann Lau :
" Marssegelschoten losschmeißen ...
Wer will ? "
Das ist freiwillige Tat .
Torril Torrelsen und der Zimmermann wollten Piet Boje in den Arm fahren .
Und Dierk Peters schrie :
" Ich ... an mir ist nichts gelegen . "
" Er ist zu jung . "
Steuermann Lau wollte sagen : " Ich will es selbst . "
Aber Piet Boje vom Freestedter Deich sprang schon die Luvtreppe hinunter , flog an die Reling - eine See kam über ... er bückte sich gut , die Arme um die Stütze geworfen ...
Wie sprang er auf !
So springt im Morgennebel der Fuchs , der schon lange am Wall lag und lauerte , wenn der Hase aus dem Weizenfeld kommt .
Da ist er am Vorderhaus .
Jetzt läßt er die Reling los ... jetzt ... Schwer stürzt er gegen das Haus .
Er drückt sich am Haus entlang und verschwindet .
Gleich darauf fliegt das gewaltige , weißgraue Segel in die Luft ...
Hei , wie es fliegt ...
Die Goodefroo hebt sich langsam und mächtig .
" Wo bleibt Piet Boje ? "
" Er kommt nicht wieder . "
" Die Kette hat ihn getroffen . "
" Er ist zu jung . "
Steuermann Lau sieht Torril Torrelsen an mit einem raschen Blick :
" Du hast das Kommando auf der Goodefroo " ... er schleicht die Treppe hinunter - wie wunderlich kleidet es den mächtigen Mann ...
Er geht durch brausendes Wasser ihm entgegen .
Da erscheint Piet Boje drüben im Sprung an der Reling ...
Auf halbem Wege treffen sie sich und kommen zu den anderen zurück .
Sieben Tage dauerte das schwere Wetter .
Sieben Tage arbeiteten sie hart und kamen nicht aus den Kleidern und trauerten um den Danziger .
Kein Scherzwort fiel .
Der achte Tag war freundlich und sonnig ; ein frischer Südost trieb sie in den Ozean , den fernen , schönen Inseln zu .
Da packten sie die Kiste des Danzigers , umwanden sie mit Stricken und stellten sie in die Proviantkammer , vergaßen Sturm , Tod und Mühe und wurden guter Dinge .
Kai Jans und Piet waren nun ganz in Reihe und Glied .
Aber Kai Jans war Invalide .
Der Kapitän hatte die abgerissene Sehne des Daumens und des vierten Fingers in ihre alte Lage gelegt , hatte die ganze Wundfläche mit Borsalbe bestrichen und eine kunstreiche Binde gemacht .
Mehr verstand der auch nicht .
Nun ging er an Deck hin und her , war blaß vom Schmerz und vor Kummer , daß er ein Krüppel wäre und so untätig umherstehen müßte .
Mit der linken Hand faßte er an , so viel er konnte .
Am dritten Tag konnte Pe Ontjes es nicht mehr ansehen und sagte zu Piet :
" Was machen wir mit ihm ? "
" Hat der Steuermann nichts für ihn zu lesen ?
Dann kommt er auf andere Gedanken . "
" Wenn wir unter uns sind , " sagte Pe Ontjes ... " dann können wir wohl du zueinander sagen . "
" Wie du willst , " sagte Piet hochmütig .
" Was für Bücher mag er denn ?
Nautische ? "
" Das ist nichts für ihn . "
" Ist nichts für ihn ?
Das heißt : er ist kein Seemann . "
" Das ist er auch nicht . "
" So ... so !
... " sagte Pe Ontjes , " ... so .
Das ist was anderes . "
" Am liebsten , " sagte Piet , " nimmt er solche Bücher , die man auf der Schule hat .
Als Junge hat er eine französische Grammatik kurz und klein gelesen .
Er ist ein Mensch ... er sieht nicht das , was rund um ihn geht und steht ... er sieht immer Wunderdinge .
So taxiere ich ihn . "
Pe Ontjes sah in Gedanken über das sonnige Wasser und sagte so für sich hin :
" Ja ... so ist er ... und dann ist es ganz falsch , daß er Seemann geworden ist . "
" Ja , " sagte Piet , " das ist es ...
Es gibt bei uns viele , die müßten ein Herzogtum haben , aber woher eins nehmen . "
Steuermann Lau ging in Gedanken nach achtern .
Da fiel sein Blick von ungefähr auf Heine Marquard ; der saß , die Mütze im Nacken , platt auf Deck an der Reling , klopfte Rost und pfiff leise dazu .
" Sage ' Mal ... du bist ja doch auf der Lateinschule gewesen ?
... habe ich nicht allerlei Bücher bei dir gesehen ?
Es war wohl Latein , was ? "
Heine Marquard erstarrte der Pfiff im Munde ...
" Ja , " sagte er Verbaast .
" Ich habe das Zeug mitgenommen und wenn ich einen Einfall bekomme und bin allein im Logis , schmeiß ich es von einer Ecke in die andere .
Seine Rache will der Mensch haben , Steuermann . "
" Ich glaube , " sagte Lau , " du machst dem Jans eine große Freude , wenn du ihm diese Bücher gibst und ihm da ein bißchen hineinhilfst ... weißt du ... bis er die Hauptwege kennt ...
Die Feldwege kann er sich selbst suchen , denke ich . "
Am Nachmittag holte Heine Marquard , der Sohn des Oberregierungsrats aus Berlin , die lateinische Grammatik und den Cäsar , spuckte erst aus , genau so wie Kapitän decken es tat , machte einige unheimliche Handbewegungen , Grauen und Abscheu zu zeigen , setzte sich wieder platt aufs Deck , schlug auf und zeigte die Hauptwege und hatte zum erstenmal in seinem Leben eine Freude an dieser Sache .
Kai Jans saß mit bekümmertem , stillem Gesicht neben ihm , die eiternde , klopfende Hand hoch aufgestützt .
Sie waren alle freundlich mit ihm .
Wenn sie sahen , wie er verstohlen den Verband löste und nach der Wunde sah , kamen sie heran , besahen die Wunde und erzählten Geschichten von wunderbaren Heilungen .
" Du brauchst gar nicht bange zu sein , " sagten sie , " die Hand wird noch ganz fix wieder .
Damit kannst du noch ' Mal Bäume ausreißen .
Paß man auf !
... "
Wenn er in einer Ecke über den Büchern saß und aufsah , sagten sie irgendein Scherzwort , und Jens Petersen tat , als wenn er ihn gegen alle anderen in Schutz nehmen müßte und sagte : " Lerne du man .
Das steht dir am besten . "
Und zu den anderen sagte er :
" Ich will euch was sagen :
Da war , als ich in die Schule ging , ein Junge , der lernte , daß ihm der Kopf rauchte .
Immer bei den Büchern !
Er lernte so sehr , daß er das Fieber bekam und seine Mutter ihn ins Bett stecken mußte . "
" Was wurde aus ihm ? "
" Was wurde aus ihm ?
Sie haben ihm die Bücher in seinen kleinen Sarg gelegt .
Darum hatte er nämlich gebeten ...
Wenn das Lernen in einem Menschen sitzt , da ist nichts zu machen .
Ich sage euch :
Das ist ebenso schlimm als das Saufen . "
Piet Boje mochten sie nicht so gern .
Obgleich er bei Kap Horn so wacker die Treppe hinunter sprang und so mächtig freundlich war , mochten sie ihn doch nicht .
Sie fühlten , daß seine Freundlichkeit Klugheit war , und daß er mehr sein wollte , als sie .
Steuermann Lau kam auch nicht an ihn heran , obgleich er ihn zuweilen anredete .
" Die Klara war ein schlechtes Schiff , " sagte er .
" Ich habe aber mächtig viel gelernt , " sagte Piet Boje .
" Kapitän und Steuermann kenne ich , " sagte Pe Ontjes verächtlich .
" Gerade darum ! " sagte Piet .
" Die beiden waren nicht wie unser Herrgott und sein Stellvertreter . "
" So ! " sagte Pe Ontjes , " so waren sie nicht ! "
Und ging weg .
Am anderen Tag , in der Freiwache , kam er wieder .
Piet saß nach seiner Gewohnheit ein wenig abseits und las in einem Buch über Schiffsbau , das Heine Marquards Vater seinem Sohn mitgegeben hatte .
Lau hatte die kurze Scheckpfeife quer im Mund und schien in guter Laune .
Er rauchte nur , wenn er übermütig war und nicht wußte , wohin damit .
" Sage ' 'mal , was macht deine große Schwester ? "
" Ich denke , es geht ihr gut , " sagte Piet .
" Wie alt ist sie jetzt ... so achtzehn , was ? "
" Ja . "
" Was schreibt sie dir denn ? "
" Nun ... dies und das . "
" Ich denke , sie kommt zuweilen zu meinen Eltern ? "
" Davon schreibt sie nichts . "
" Sage ' 'mal , hat sie ' Mal was über mich geschrieben ? "
" Sie hat ' Mal geschrieben :
Gott bewahre Dich davor , daß Du mit dem großen Lau auf ein Schiff kommst . "
Pe Ontjes lachte kurz auf .
" Wie lange ist das her ? " sagte er .
" Wohl so ein Jahr . "
" So , " sagte er beruhigt .
" Inzwischen hat sie ihren Sinn geändert , meine ich . "
" Ich glaube nicht , " sagte Piet .
" Was weiß ein Bruder von seiner Schwester ! " sagte Pe Ontjes und kehrte sich um .
Im Weggehen sagte er :
" Du kannst dir nachher einen Jahrgang englischer Schiffsbauzeitung holen , da findest du viele Modelle .
Liest du englisch ? "
" Natürlich , " sagte Piet gleichmütig .
" Du willst wohl hoch hinaus ?
Hast die Nase mächtig voran . "
" Das liegt in der Familie . "
" Ja , " sagte Pe Ontjes , " das tut es .
Wahrhaftig ! "
Sie hatten eine herrliche Fahrt .
Jeder , der sie mitgemacht hat , erinnert sich ihrer , besonders die , welche nachher in einen Landberuf übergingen .
Und sie waren alle einig .
Da waren keine Parteien , keine Cliquen .
Sie waren wie Kinder einer ordentlichen Familie .
Haben sie es nicht gemacht wie die Dorfkinder , welche ihre Spiele wechseln nach dem Jahreslauf ?
Im Winter nach dem Schweineschlachten spielen sie Katerlücken ; um Ostern Ballholz und Pickpahl ; im Sommer Reigen und faule Sau ; im Herbst Läufern sie und lassen im freien Feld die Drachen steigen .
So hat eine ordentliche Schiffsmannschaft , die auf weiten , öden Meereswegen dahinfährt , ihre Zeiten und Spiele .
Hinter Kap Horn begann ein großes Mützenschneiden .
" Koch , einen Teller !
... Einen großen und einen kleinen ! " ...
Zweimal rund um den Teller geschnitten ; der Unterschied gibt den Rand : fertig ist die Bäckermütze ...
Es hätte sich der eine oder andere leicht um die Arbeit drücken können .
Ja Torril Torrelsen , der Gute , und Wilhelm Baldermann , der Leichtsinnige , hätten die paar Mützen gern ganz allein zurechtgeschneidert .
Aber nein :
sie waren als ordentliche Kinder alle zusammen bei einem Spiel .
Nachher , als der Südpassat wehte , fischten sie und fingen Vögel .
Alle Mann , nein , alle Kinder .
Ein Stück Speck an die Angel und nun alle übers Heck ins Kielwasser gesehen .
Hans Jessen hält die Angel .
Da sieht Hinnerk Lornsen auf : " Kinder !
Da kommen Albatrosse !
... Rasch , ... wo ist die Schnur ? " ...
Hinnerk Lornsen pflückt die Federn und stopft sie in Segeltuchsäcke und bringt sie nach Haus .
Seine sieben Kinder schlafen in einem kleinen , roten Haus hinterm Elbdeich in den Federn , die ihr Vater in der Südsee pflückt und stopft .
Acht Wochen später , als sie nach einigen rauhen Tagen Kap Horn wieder hinter sich hatten und den Bug heimwärts , mit dem Südostpassat , ein wenig langsam zwar , nach Teneriffa trieben - drei Wochen lang änderten sie nicht die Segel - :
da fing eine große Schiffsschnitzerei an .
Das ganze Vordeck lag voll von Spänen .
Das kunstvollste machte Dierk Peters , der alte Matrose , schon an die fünfzig .
Er hatte als junger Mensch in einer Straße Hamburgs ein schmuckes holsteinisches Mädchen kennen gelernt ; die war dem heißen Seemann zu Willen gewesen .
Da hatte er ehrlich an ihr gehandelt und sie geheiratet .
Er war im ersten Ehejahr ganze zwölf Tage bei ihr .
Als er zum erstenmal wiederkam , war sie außer sich vor Freude .
Als er zum zweitenmal wiederkam , fand er am Fensterplatz eine fremde Zigarrentasche .
Als er zum drittenmal wiederkam , lag sein Kind auf dem Kirchhof und sie war nicht imstande , ihm die Nummer des Grabes zu nennen .
Als er zum viertenmal kam , fand er sie verwahrlost auf dem Bett .
Als sie erwachte und ihn sah , ging sie aus der Stube und kam nicht wieder .
Da ging er wieder in See und wurde stiller und stiller .
Er hatte sich in den Kopf gesetzt , daß er ein zwiefacher Mörder wäre , nämlich des Weibes , daß er sie aus dem stillen Elbdorf nach Hamburg nahm , und des Kindes , daß er ihm das jämmerliche Dasein und damit den Tod gegeben hatte .
Er stammte aus einem Geschlecht , das nicht so rasch bei der Hand ist , eine Sache auf Gott zu werfen oder auf das Schicksal , sondern sie auf die eigenen Schultern nimmt .
Die werden dann breit und dick davon ...
Er schnitzte das beste Schiff , er schnitzte sechs Wochen daran bis auf die Höhe von Teneriffa und schenkte es dem Steuermann Lau .
Anna Bojes kleine Kinder , wenn sie auf dem Rücken im Kinderwagen lagen und ihre Augen spazieren gehen ließen , sahen entweder das schöne Gesicht ihrer Mutter oder das Schiff unter dem Balken , das Dierk Peters , der sich einen zwiefachen Mörder nannte , im Atlantik geschnitzt hatte .
Piet Boje schnitzte auch ; er machte aus Klugheit alle Spiele mit , welche die Kinder der Goodefroo spielten ; aber er ging immer bald zur Seite und saß bis über die Ohren in dem Lehrbuch für Schiffsbau , das ihm von achtern geliehen war , und bei seinen Modellen , und studierte die Berechnungen .
Der Südostpassat hielt fünf Wochen an .
Von Staaten Island bis zum Äquator ist kein Mann in die Recken gestiegen , ein Segel zu wechseln .
Danach wechselte der Wind in einer Bö zu einem leichten Nordostwind ; und wieder waren sie wochenlang ohne Segelarbeit bis auf die Höhe von Western Islands .
Was waren das für Sonnabendnachmittage !
Jedermann weiß , was die Sonnabendnachmittage auf einem guten Hamburger Segler bedeuten ; aber niemals hat es auf irgendeinem Hamburger Schiff so schöne gegeben , als auf der Goodefroo auf dieser Fahrt .
Sie saßen alle in Lee auf Deck .
Der eine flickte ; der andere wusch ; der dritte stopfte ; der vierte las ; der fünfte pfiff ; der sechste erzählte allen , die zuhören wollten .
Wilhelm Baldermann saß mit dem Rücken gegen das Wasserfaß und nähte am Unterfutter seiner Donkyjacke .
Er hätte wohl eigentlich eine neue verdient ; aber er wollte sparen .
So wenig es ihm bis jetzt gelungen war :
jetzt wollte er sparen .
Früher war es nämlich nie der Mühe wert gewesen .
Hundert Mark ? Zweihundert Mark ?
So wenig Geld kann man nicht sparen .
Das geht in drei Hafentagen so durch die Finger .
Weg ist es .
Aber jetzt war es der Mühe wert .
In Apia war er Gott sei Dank krank gewesen und nicht von Bord gekommen ; so hatte er nun fünfhundert Mark beim Alten stehen .
Fünfhundert Mark !
Das wird eine Heimkehr !
Zuerst nach Glückstadt zu den beiden Alten !
Dreihundert Mark auf den Tisch geworfen !
" Hier für eure alten Tage . "
Dann nach Altona auf die Steuermannsschule !
Es wurde nämlich Zeit :
er war schon achtundzwanzig ...
So flickte er nun an seiner Jacke und lächelte still glücklich vor sich hin ...
Er hat seinen Plan nicht ausgeführt .
Schon in Cuxhaven fiel er den Landhaie in die Hände .
Sie schwatzten ihm zwei goldene Uhren auf , für jede Westentasche eine : so wäre die neueste Mode .
Am anderen Tag sahen sie ihn in St. Pauli in der Herkuleshalle in einer Loge sitzen , links und rechts eine aufgetakelte Dirne .
Am neunten Tag schlich er auf einer englischen Bark wieder von Hamburg weg .
Heine Marquard hatte seine eingeseifte Arbeitsbüx auf Deck gelegt , stand mit gespreizten Beinen darauf und bearbeitete sie mit dem Besen und dachte mit stillem Lachen :
» Das sollte deine Mutter sehen und der Bruder , der Leutnant , « und vergaß wieder das Elternhaus , fing an zu pfeifen und schwenkte den Besen im Takt .
Jakob Simsen und Otto Funk saßen Rücken an Rücken .
Jakob Simsen schnitzte an einem Wandbrett , darauf der lateinische Spruch stand , daß es nötig wäre , auf die wilde See und in die bunte Fremde zu fahren und müßte man dabei sterben .
Otto Funk stopfte Strümpfe .
Obgleich sie beide gleich alt waren , so um zwanzig herum , ganz junges , frisches , starkes Blut , war ein großer Unterschied in ihren Gesichtern .
Jakob Simsen stammt aus einem freundlichen , milden Pfarrhause und seine Brüder und Schwestern wohnen heute in Schleswig-Holstein in Pfarrhäusern zerstreut , und er selbst ist ein eifriger Bibelleser und ist mit Torril Torrelsen , dem Guten , befreundet , obgleich der dreißig Jahre älter ist .
Er will das Schnitzwerk seiner Mutter schenken und denkt bei seiner Arbeit an die Schelme von Brüdern und an die kleine Schwester , die heiraten will , und an ihre Kinder ; und sein Gesicht hat über solche Gedanken einen sanften , freundlichen Schein .
Otto Funk aber sieht finster darein .
Er war eines reichen Bauern Sohn in Dithmarschen und hatte eines Vormittags , siebzehnjährig , mit vier Pferden und dem Dienstjungen am feuchten Graben gepflügt :
da war das Handpferd ausgeglitten und hatte das Sattelpferd mitgenommen .
Darauf lagen alle vier Pferde und der Junge dazu im Graben .
Sein Vater hatte , die Hände in den Armlöchern der Weste , unter der Tür gestanden und hatte es gesehen und kam an , als zwei Pferde und der Junge glücklich wieder heraus waren .
Aber trotzdem , und obgleich er sah , wie abschüssig und glitschig das Ufer war , hatte der jähzornige Mann den Jungen wild angefahren :
" Du bist zu nichts zu brauchen ...
Ich wollte , du gingst mir aus den Augen und ich sähe dich nicht wieder ... Du kannst bloß sagen , wann du gehen willst ... und wie viel du mithaben willst ... Mir alles einerlei !
Bloß weg ! "
Mit den Worten war er fortgegangen ...
Der Junge machte alles wieder in Ordnung und pflügte bis Mittag .
Da kam er zu seinem Vater in die Stube und sagte mit verschlossenem Gesicht :
" Gib mir das Geld , wie du gesagt hast ... "
Der warf ihm mit demselben Gesicht einen Tausendmarkschein auf den Tisch und sagte kein Wort dazu .
Da ging der Junge in die Kammer seiner Schwester ; die mußte ihm ein Beutelchen von weißem Leinen machen an einer starken Schnur ; darin hängte er sich das Geld um den Hals auf der bloßen Brust ; und ging aus dem Haus eine Stunde Wegs zu seiner Tante und blieb dort acht Tage .
Acht Tage stand er an jedem Nachmittag zur Vesperzeit und sah nach dem schönen , breiten Hof seines Vaters , und acht Tage lang zu derselben Zeit stand der Vater auf dem Deich an seinem Hof und sah hinüber .
Sie sahen sich da wohl stehen und jeder wußte vom anderen , daß sein Herz nach dem anderen schrie ; aber keiner konnte sich beugen , weder der Siebzehnjährige noch der Vierzigjährige .
Es fiel aber keinem anderen Menschen ein , die harten Herzen zu ändern , nicht der Mutter , nicht der Schwester , nicht dem Pastor , nicht den Nachbarn .
Sie wußten alle , daß jedes Wort das Herz noch härter machte .
Da ging er am achten Tag nach Hamburg und nahm Dienst auf der Goodefroo .
Nun saß er Rücken an Rücken mit Jakob Simsen .
Der schnitzte an seinem harten lateinischen Spruch und dachte fröhlich an sein freundliches Elternhaus ; der andere dachte mit finsterer Stirn an die im Grimm verlassene Heimat .
Jakob Simsen ist zwei Jahre später auf der Goodefroo , in der Gegend der Goldküste , am Klimafieber gestorben ; Torril Torrelsen , sein Freund , hat mit ihm gebetet und hat das Vaterunser gesprochen , ganz langsam , als er auf der Reling lag .
Sein Vater und seine Mutter sehen täglich nach dem Schnitzwerk hinauf ; das richtig in ihre Hände gekommen ist und überm Sofa hängt ...
Otto Funk verließ bald danach in irgendeinem südamerikanischen Hafen die Goodefroo .
Man hörte nirgend von ihm .
Er schrieb auch nicht .
Fünfundzwanzig Jahr später , ein Jahr nach dem Tod seines Vaters , erschien er plötzlich in der Heimat , ein stattlicher , verschlossener Mann , ganz das Ebenbild seines Vaters , unverheiratet , Kapitän auf einem mächtigen Dampfer , der von Frisco nach Yokohama fuhr .
Er besuchte seine Tante , die ihn damals beherbergt hatte , und machte einige kleine Fahrten durchs Land , traf einige alte Bekannte bei einem Glase Wein , sprach ruhig und wenig von seinem jetzigen Leben , sprach mit seinem jüngern Bruder wie mit einem Fremden - seine Schwester war gestorben - und blieb acht Tage .
Auf Vaters Hof kam er nicht ; zu Vaters Grab ging er nicht .
Er hatte so etwas Starres im Gesicht und etwas Aufrechtes in der Haltung , als zürnte er noch mit irgendeinem .
Es konnte keiner an seine Seele herankommen .
Das alles hatte das eine wilde Wort getan : Ich wollte , ich sähe dich nicht wieder .
Piet Boje nähte einen losen Knopf an seinen besten Anzug .
Obgleich er wahrhaftig nicht kleinlich war , so war seine ganze Kiste nichts als Ordnung und Sauberkeit .
Kai Jans sitzt ganz zusammengesunken , die noch immer wunde und verbundene Hand über den Kopf gelegt - wenn er sie hochhält , brennt und klopft es nicht so sehr - und liest abwechselnd im Cäsar und sucht in der Grammatik .
Neben ihm erzählt Hinnerk Lornsen von Apenrade dem Segelmacher die Geschichte , die er am liebsten erzählt : wie er als Junge mit dem kanadischen Holzschiff in Aberdoway in Wales gelegen hat und die blonde vierzehnjährige Lotsentochter jeden Nachmittag mit ihm den Fluß hinaufgegangen ist und ihm , dem steifen Nordschleswiger , das Englisch und das Küssen lehrte .
Das liegt nun weit zurück ; er ist über vierzig und Vater von fünf Kindern .
Hans Jessen sitzt in der Mitte , platt auf Deck .
Er hat einen Band Gartenlaube auf den Knien , den die gute Nachbarin des Elternhauses ihm mitgegeben hat .
Sie hat selbst acht Kinder und hat doch an ihn gedacht .
Als er von ungefähr ein Blatt umwendet , sagt er :
" Seht ' Mal , hier ist die Mannschaft von einer Nordpolfahrt ! "
Zwei , drei sehen ihm über die Schulter .
Heine Marquard , der jetzt gern , wo es irgend angeht , seine Gelehrsamkeit anbringt - auf der Schulbank saß er mit saurem , stumpfem Gesicht - lehnt ihm fest auf den Schultern .
Torril Torrelsen , der Gute , der neben ihm sitzt und mit einem grauen Wollfaden , fast so dick wie ein kleiner Finger , Kai Jans' Wolljacke stopft , beugt sich auch zu dem Buch und sieht auf das Bild , und ganz gemächlich setzt er seinen braunen , verarbeiteten , teerigen Zeigefinger unter das Bild .
" Sieh , " sagt er :
" Da steht mein Name . "
Da besahen sie alle das Bild und erkannten ihn .
Auch Kai Jans hob die Augen und besah es und sah dann träumend übers Meer und sah in ferne , grausige Finsternis .
Danach , wenn es Abend wird , singen sie die alten Lieder .
Wer hat die Sonnabendabende auf der Goodefroo mitgemacht ?
Der hat sie nicht vergessen .
* Hundertfünfzig Tage waren vergangen , seit die Goodefroo mit ihren Kindern im Hafen von Apia die Anker gelichtet hatte , da kam ein schöner , klarer Septemberabend .
Da standen sie alle auf der Back und sahen schräg voraus und warteten .
Aber die Sonne ging unter , die Dämmerung kam , und das Feuer kam nicht .
Da gingen sie ins Logis ; denn die Luft war kalt .
Sie waren aber kaum hineingetreten - Wilhelm Baldermann , der immer zuletzt kam , stand noch in der Tür - da sang Jakob Simsen , der Ausguckmann , hell und freundlich :
" Für ruht ?! "
Da stürzten sie alle hinaus ... auf die Back ... und starrten über die dämmernde See ... da stand da in der Ferne das Feuer von Lizzard .
Wie mit zwei großen , wilden Löwenaugen starrte es von der Klippe herab , über die wogende , graue Wüste ... " Mensch ... nun sage ... was wollen wir zuerst tun ... wenn wir in Hamburg sind !
... "
" Jung ' , was wird Mutter sagen !
... "
" Du , Piet ... ich bin in zwei Jahren nicht zu Hause gewesen . "
" Ich in vier Jahren nicht , " sagte Piet ...
Als er sich mit blanken Augen umsah , stand Kai Jans nicht unter den anderen .
Da ging er ins Logis und fand ihn geduckt in der dunkelsten Ecke sitzen , auf Torril Torrilsens Kiste , die verbundene Hand aufs Knie gestützt .
Er blieb an der Tür stehen und sagte unsicher : " Freue ' dich doch ... "
" Worauf soll ich mich freuen ? " sagte Kai Jans tonlos .
Da ging Piet wieder hinaus .
Am anderen Morgen stieg langsam die Küste von England auf .
In zwei Tagen hatten sie den Kanal hinter sich .
Am Abend des vierten fuhren sie am ersten Elbfeuerschiff vorüber .
Am fünften , als sie im Schlepptau hinauffuhren , waren sie vom Backbord nicht wegzutreiben .
Steuermann Lau verteilte etliche tüchtige Anreden , aber auch das half nicht viel .
Hans Jessen kam immer wieder zu Piet : " Sieh da ... du ... die Ziegelei von Neufeld !
... Siehst du , die Bösch !
... Mensch , waschen Spaß !
... "
Piet Boje hörte zu und sah fern im Geist den Turm von Hilligenlei und sah die niedrige Stube und sah die Mutter ...
Da ging Steuermann Lau vorüber :
" Was hast du nun für Pläne , " sagte er ... " ich meine für dein ganzes Leben ?
... Zeitlebens Seemann bleiben ? "
Piet Boje hob die Schultern :
" Wenn es noch so wäre wie früher , " sagte er , " da einem das Schiff selbst gehörte oder doch ein Stück daran . "
" Ja , " sagte Pe Ontjes , " wenn ! ...
Aber nun ist es eine verdammt schmale Sache .
Man ist Beamter , und zwar auf dem Wasser .
Solange man jung ist , geht das , aber dann ! "
" Ja , " sagte Piet Boje gedankenschwer , und da ... wie er so in die Zukunft hineintastete , sah er , verschwommen und undeutlich , so etwas wie einen Lebensweg , wie man einen Hafenstrom im Morgennebel sieht .
" Ich habe , seit ich zur See ging , mehr Interesse am Schiff selbst gehabt , als am Fahren .
Der Bau und sein Schwimmen und sein Treiben vor Segeln hat mich immer mächtig interessiert .
Da war der Alte auf der Klara : der hat mich da noch weiter hineingerissen .
Ich weiß nicht ... wenn ein Mensch von seiner Jugend an all seine Liebe an eine Sache wendet und kennt am Ende diese Sache besser als die anderen :
Dann muß man ihn doch brauchen können , ja , dann muß er einen guten Wert haben .
Je höher , je wichtiger die Sache selber ist ...
Nun also ... das ist es , was ich darüber denke , und weiter weiß ich nichts . "
Steuermann Lau nickte mehrmals langsam mit dem Kopf .
" Das läßt sich hören , " sagte er ... nickte noch einmal und strich mit der Hand durch die Luft .
" Da ist nichts davon wegzupusten ...
Die Nase immer voraus und helle Augen ... dann muß es sich machen ... Inspektor an einer Werft ... so was .
Immer hinauf ! "
" Und was willst du ? " fragte Piet höflich .
" Ich ?
... Ja !
Das will ich dir sagen ... du sprichst mit anderen nicht darüber ... ich will noch drei , vier Jahre mit der Goodefroo fahren ; dann will ich ' Mal sehen , ob ich am Lande fest werden kann . "
" In Hamburg ? "
" In Hilligenlei . "
" So ! " sagte Piet erstaunt .
" In Hilligenlei . "
" Ja , mein Alter hat da einen Plan und ist schon dabei , ihn auszuführen .
Einen kleinen Kornhandel , verstehst du , Mais und Gerste mit Euren von Hamburg .
In Hilligenlei selbst ist ja nichts zu machen :
da ist alles verschlafen , aber die Umgegend ist gut .
Die Landleute !
... Übrigens ... ich komme diesmal nicht nach Hilligenlei .
Du gehst wohl ' Mal zu meinen Alten und grüßt sie von mir .
Du kannst auch deine Mutter und deine Schwester grüßen . "
" Ich dachte , " sagte Piet , " du wolltest mit nach Hilligenlei fahren und zusehen , was aus Kai Jans wird . "
" Ich habe mir schwere Gedanken darüber gemacht , das kannst du mir glauben , " sagte Pe Ontjes .
" Ich habe aber nichts anderes ausgetüftelt , als daß ich einen mächtig langen Brief an den alten Wedderkop geschrieben habe .
Du kennst ihn ... das ist der einzige Mensch da , der ein wenig über das Gewöhnliche hinaussieht .
Gehe du auch ' Mal zu dem Alten , sage ihm , daß der Kai Jans ein feiner Kerl ist , so und so , du kennst ihn ja eben so gut , wie ich ... als Seemann nicht zu gebrauchen , ganz abgesehen von seiner kaputten Hand .
Wenn er nichts anderes weiß , kann er ihn vielleicht in Hamburg in einem Kontor unterbringen . "
* Als am anderen Tag die Sonne sank , wollten sie sich in dem kleinen , spitzgiebligen Hause unter den Kastanien zum Abendbrot niedersetzen .
Die Mutter saß noch an der Maschine ; aber Heinke und Hat klapperten schon ungeduldig mit den Tassen .
Da kam ein rascher Schritt den Bürgersteig entlang ... ein rascher , unruhiger Schritt ... und zögerte unter dem Fenster ...
Es stand ihnen der Atem still ...
Wie freuten sie sich !
Nein ... wie freuten sie sich !
Wie streichelte ihn die Mutter !
Als Heinke und Hat das sahen , fingen sie laut an zu weinen ; denn sie hatten noch nie gesehen , daß ein großer Mensch gestreichelt wurde .
Und nun ging das Verwundern los !
.. .
" Wie bist du groß geworden ! " ...
" Groß nicht , Mutter ; aber breit ist er geworden ... "
" Deern , Anna , was bist du für ein mächtiges Mädchen ! " ...
" Ich bin so groß , wie du , " sagte sie ...
" Ich bin auch fast so groß , " sagte Heinke , " und bin erst zwölf " ...
" Am Ende bin ich der kleinste , " sagte er und lachte .
" Aber wer ist der dümmste ? " ...
" O , " sagte sie , " das wird sich zeigen ; wir sind auch nicht auf den Kopf gefallen ! " ...
Da sah er sich in der hohen , hellhaarigen Gesellschaft um und sah in lauter stolze , graue Augen und freute sich .
Und nun ging das Fragen an .
Dreihundert Mark legte er auf den Tisch ... " Zweihundert hat Mutter abgetragen , " sagte Heinke ; " Mutter arbeitet viel zu viel ... "
Er setzte sich an die Maschine und ließ sich zeigen , wie es gemacht wurde , und schalt die Mutter .
Die stand mit feuchtlächelnden Augen neben ihm .
" Wie war denn Lau gegen dich ? " sagten sie .
Er lobte Lau ...
" Ein bißchen hochmütig ... na ... das sind wir auch .
Aber tüchtig und gerecht !
... Ich soll euch grüßen , auch dich , Anna . "
Die warf den hellen Kopf zurück und sagte nichts .
Heinke stand schon lange da , eine Frage auf den jungen , roten Lippen .
" Du ... ich habe alle Briefe gelesen , die Kai Jans nach Hause geschrieben hat , und habe ihn immer grüßen lassen und er hat wieder gegrüßt .
Weißt du das ? "
" Das weiß ich ...
Seine Hand ist noch immer nicht heil. "
" Noch immer nicht ?
... Mutter , darf ich jetzt gleich hingehen ? " ...
Sie stob die Hafenstraße hinunter , lief die Deichschrägung hinauf und trat hinein und fand den langen , braunen Jungen mit der verbundenen Hand am Tisch sitzen ; Vater und Mutter bei ihm ; und alle drei mit stillen , bedrückten Gesichtern ; sie waren ja wieder ' Mal so weit wie sie vor vier Jahren waren .
Da blieb sie steif und verlegen an der Tür stehen , sah ihn an und dachte :
wie mager und häßlich ist er .
Sie hatte ihn ein einzig Mal gesehen , vor vier Jahren , als er mit Piet fortging , und meinte , daß er ein feiner Junge wäre .
" Sieh , " sagte Male Jans und richtete den Kopf ein wenig auf :
" Da ist Heinke Boje ; die hält viel von dir . "
Sie machte die zwei Schritte zum Tisch und hielt den Arm lang hin :
" Ich freue " mich , daß du da bist , " sagte sie freundlich .
" Tut die Hand weh ? " ...
Er schüttelte den Kopf : " Jetzt nicht mehr , " sagte er .
Er langte nach der Fensterbank : " Sieh ' , ich habe dir einen kleinen Korb mitgebracht von Samoa . "
Er wußte , daß man vorsichtig mit den Bojes umgehen mußte , und setzte ausdrücklich hinzu :
" Ich habe ihn extra für dich gekauft . "
" Das ist aber gut von dir , " sagte sie langsam und deutlich , und sah glücklich auf den Korb in ihrer Hand ...
" Was willst du nun aber werden ? " sagte sie .
" Ja , " sagte er bedrückt , " wenn ich das wüßte ! " und er suchte unsicher die stillen Gesichter seiner Eltern .
" Ich habe dir noch nicht gesagt , " sagte seine Mutter , " daß Kassen Wedderkop sich deine Briefe geholt hat .
Er wollte sie ' Mal lesen .
Er sagte , Pe Ontjes hätte ihm geschrieben .
Vielleicht weiß Wedderkop etwas für dich . "
Indem ging die Tür und Kassen Wedderkop kam herein .
Er war entschieden zu breit und auch zu groß für diese niedrige Stube mit den beiden kleinen Fenstern .
Sein Stöhnen zuerst , und seine Stimme , die dann kam , waren auch viel zu laut für einen so kleinen Raum und für drei so verschüchterte Menschen .
" Nun , da ist er ja ! " sagte er ... " nun , was macht die Hand ? "
Er faßte ihn am Arm und drehte ihn nach dem schwachen Tagesschein und sah ihn an , und wieder , wie vor vier Jahren in der Werkstatt von Heine Wulk , gefielen ihm die klugen , vornehmen Augen und der stolze , breite Mund .
" Was macht die lateinische Grammatik ? " sagte er , " und der Cäsar ?
Die Leute da in Korea waren so taub ; davon spreche ich etwas laut ...
Kurz und gut ... wenn du Lust hast , sollst du in die Bücher hinein .
Der alte Direktor ist tot und es sind hier zwei , drei jüngere Lehrer , die an einem wunderlichen Fall ihre Freude haben . "
Er stöhnte sehr und griff nach seinem Rücken .
" Ich verlange aber von dir , daß du dich später , wenn du ein Mann bist , für meinen großen Gedanken begeisterst , nämlich : daß die Völker um die Nordsee ... sie sind von einem Stamm und einem Glauben und haben alle den Löwen im Wappen ... sich zu Schutz und Trutz zusammentun ... und wenn es auch fünfzig Jahre dauert , bis das geschieht , und Kriege zuvorkommen , glauben sollst du daran . "
" Das will ich ! " sagte Kai Jans und sein hageres Gesicht strahlte von Freude und Güte .
" Alle Völker sollen einig sein ! "
Als sich die erste Freude ein wenig gelegt hatte , sagte Thoms Jans mit den klugen , schelmisch verlegenen Augen , die er oft hatte , besonders wenn er mit sogenannten Gebildeten sprach : " Ja , " ... sagte er , " er hat nun soviel gesehen ... Amerika ... Afrika ...
China ... rund um die Erde ist er gewesen ... aber Hilligenlei , das heilige Land , hat er nicht gefunden . "
Kassen Wedderkop lachte verlegen : " Ja , " ... sagte er ... " wo das finden ? "
" Ja , " sagte Thoms Jans .
" Wo das finden !
... Ich glaube ... " und er machte noch immer seine schelmisch verlegenen Augen :
" Ich glaube , es ist noch gar nicht da ; es liegt irgendwo in der Zukunft . "
Er dachte an die Zukunftshoffnung der Arbeiterpartei ; er meinte , da wäre das heilige Land und dachte :
» Nun wird er ein Gelehrter , und wird uns helfen , daß wir hineinkommen . «
Er wagte es aber weder vor seinem Sohn noch vor dem gebildeten Mann zu sagen .
Seine kleine Mutter stieß ihn an und sagte leise mit heimlich strahlenden Augen :
" Du , Kai ?
Ob du wohl in deiner Donkyjacke in die Schule gehen kannst ? "
Er aber hörte nichts von dem , was sie sprachen .
Er stand in wirrer Verwunderung vor dem neuen Weg .
Und sah sich darauf wandern ; und wanderte , und zog dahin , und dachte an jeder Wegbiegung und auf jeder Anhöhe :
» Nun kommt es , das heilige Land !
Nun kommt es ! «
Elftes Kapitel Ein Jahr nach seiner Heimkehr lief der Vollmatrose Kai Jans , zwanzig Jahre alt , mit einer blauen Mütze in die Domschule .
Das war keine Kleinigkeit .
Man denke an Torril Torrelsen , der niemals ein Buch oder eine Zeitung in die Hand nahm , es sei denn sein altes Drontheimer Gesangbuch mit dem Bild von Gottvater vorne ; oder an Heine Marquard , der behauptete , wenn er Herr in Deutschland wäre , dann würde er die gesamte deutsche Jugend statt in die Lateinschule , je nach ihrer Tüchtigkeit auf die Back oder aufs Hinterdeck schmeißen .
Und nun saß er unter Leuten , welche es fertig brachten , eine halbe Stunde lang über einen lateinischen Satz zu sprechen , und unter Lehrern , von denen der eine behauptete , der alte Horaz wäre von allen Menschen der lebensklügste gewesen , und der andere tat , als wenn der binomische Lehrsatz aller Weisheit Schlüssel war .
Fürwahr , die Welt , in der er nun hauste , war eine andere .
Fürwahr : früher im frischen Wind auf weitem , unendlichem Meer ; jetzt in einer wunderlichen , niedrigen Stube mit vielen Büchern und kleinen Fenstern .
Aber die größte Schwierigkeit war , daß die alte Not , die ihn von Kindheit an und durch die Seejahre begleitet hatte , in dieser gelehrten und spitzfindigen Gesellschaft besonders unangenehm wurde , nämlich : daß ihm zuweilen aus dem untersten Gelaß seines Geistes herausschoß , was er für etwas ganz Gewöhnliches und Selbstverständliches taxierte , das aber ein großes Erstaunen oder Spotten hervorrief .
Wenn er gewußt hätte , daß das , was er sagen wollte , verwunderlich wäre , so hätte er geschwiegen ; aber eben dies erfuhr er erst aus den verwunderten und höhnischen Gesichtern .
Es war da ein Schulball und er ging nicht ungern dahin ; denn er tanzte gern .
So etwas matrosenhaft breit machte er es .
Am liebsten tanzte er mit Anna Boje , seinem Altersgenosse .
Sie waren nun beide zwanzig .
Er sprach mit ihr über Piet , der auf der Steuermannsschule war , und unterhielt sich schlicht und gemütlich mit ihr .
Und wenn er auch in dieser Unterhaltung etwas Wunderliches gesagt hätte :
Anna Boje hätte es nicht weiter erzählt ; die Bojes hielten zu ihm und konnten es nicht vertragen , daß über einen , der ihnen nahe stand , gelacht wurde .
Aber nachher tanzte er mit der Tochter eines Oberlehrers und machte in guter Laune den Saal von Ringerang , in dem er neben ihr einherging , zum Hafen von Hamburg , und zeigte ihr den Kai , wo die großen Treckschuten lagen : drei alte dicke Biertrinker ; und im Segelschiffshafen die Viermastvollrigger : sieben ältliche breite Frauen ; und die Verkehrsboote :
zwei kleine zungenfertige Doktortöchter .
Sie hielt den Fächer vors Gesicht und lachte .
" Und nun , " sagte er , " wollen wir quer durch den Hafen fahren ...
Sieh ... da Raketen wir ein Kohlenschiff ... wie schwarz ist die Deern ... sieh , da fährt Anna Boje , die stolze Goodefroo ...
So ... nun gehen wir vor Anker !
... "
Die Schöne brachte so allmählich unter die Leute , was Kai Jans gesagt hatte , und es gab ein großes Gerede .
Seine Kameraden neckten ihn sehr ; sie sagten :
" Du hast sonst kaum einen Ton in der Kehle , aber nun hast du plötzlich ein ganzes Lied gesungen . "
Die Treckschuten und die Vollrigger sagten , er wäre eben ein Arbeiterssohn und würde den Matrosen sein Lebelang nicht los .
Der Direktor rief ihn zur Seite und empfahl ihm , vorsichtiger zu sein .
Es war ihm sehr peinlich , und er machte den festen Beschluß , seinen Mund nicht zu öffnen , wenn es nicht durchaus nötig war .
Er nahm sich starken Herzens vor , daß er vorsichtig sein wollte .
Aber von ebenso einfachem als vertrauensvollem Gemüt , wie solche Leute sind , vergessen sie immer wieder die künstlich gemachte Vorsicht , und es kommt eine Stunde , wo die Seele , übervoll und gequält von ihrer großen Fülle , übersprudelt .
Dann zeigt sich die ganze Heimlichkeit und Herrlichkeit , die in keuschen Träumen auf die Zeit der Reife wartet , in ihrer süßen Unreife und Verwirrung .
Da war jener Jakob Sühl in der Prima , welcher an Körper und Geist von allen der schönste und herrlichste war .
Er wurde nachher , als er Student war , von einer wilden Gier nach Wein und Weib gepackt , daß er noch in der Blüte seiner Jugend elendig und verzweifelt ins Grab steigen mußte .
Der sah mit seiner hellen , schönheitsdurstigen Seele , daß in der Tiefe von Kai Jans' Augen , auf einem dunklen Thron , eine lichte Schönheit saß , und suchte seinen Umgang und gewann sein Vertrauen .
Auf den drei Stegen , jenem Fußsteig , der nach der Höhe hinaufführt , und auf dem Lohweg , der oben längs geht - man sieht da weit über Land und Meer - hat Kai Jans seine wilden schönen Tauben fliegen lassen .
Hei , wie flogen sie schön !
Hei , wie überschlugen sie sich in der Luft , wenn die Wirklichkeit , der böse Häher , über sie kam .
" Was meinst du ?
... Glaubst du das , was er über die französische Revolution sagte ?
War sie nicht gut und richtig ?
Wenn eine unfähige und faule Regierung duldet , daß die starre Schicht einer herrschenden Kaste über dem Volk liegt , so daß es sich nicht mehr rühren und keine Luft mehr holen kann :
dann durchbricht das Volk eines Tages , als in Atemnot , die tote , starre Schicht .
Eine kluge Regierung sorgt , daß in allen Schichten ein Steigen und Perlen ist , daß überall Bewegung und Hoffnung ist .
Das ist die erste politische Weisheit .
" Man muß überhaupt nicht glauben , du , was die Lehrer sagen .
Man muß alle Behauptungen , die an einen herantreten , und wenn sie in der Bibel stehen , ja , wenn sie ein Wort des Heilands sind , mit Entdeckeraugen ansehen , wie Adam sie hatte , als ihm auf seinem ersten Weg immer neue Formen der Natur entgegentraten .
Neulich warf er wieder so einen schweren Satz aufs Pult .
Er sagte , es würde immer und immer Kriege geben .
Wie kann man sagen : immer , immer ?
Was wissen wir von immer ?
Das Wort hat der alte Moltke ihm gegeben und er hat es unbesehen angenommen und wir bekommen es von ihm und wir geben es später unbesehen weiter .
Was geht mich Moltke und seine Meinung an ?
Was geht mich an , was der Kaiser oder Papst oder die Zeitung über dies und das meinen oder glauben ?
Wer auf andere Menschen hört , der hat die Kokarde verloren und ist ein Mensch zweiten Grades .
Das Leben ist eine zu gefährliche , verantwortungsvolle und ernste Sache , um es zu erledigen , indem man hinter anderen Menschen herläuft .
" Warst du neulich dabei , als ich mein Neues Testament vergessen hatte und Fritz Petersen mir das seine reichte ?
Er gab es mir und sagte mit komischem Ernst :
» Dies ist mein Blut , das für euch vergossen wird . «
Ich sah ihn an ; und sah , daß er ein schönes , ernstes Gesicht hatte und wunderte mich , daß ein solcher Mensch solchen Spott treiben kann .
Wenn du vor einem feinen Mädchen stehst :
das faßt du doch nicht an und stößt es in den Rinnstein ?
Und wenn du vor einem tapferen Mann stehst , hast du doch Respekt vor ihm ?
Aber weißt du , wovon das kommt ?
Das kommt davon , daß die Kirche den Heiland nicht menschlich darstellt , sondern als ein goldbeschlagenes Heiligenbild mit toten , stumpfen Augen .
Ein altes , totes Götzenbild :
das kann ich in den Rinnstein werfen . Weg damit !
Fritz Petersen kann über Friedrich den Großen oder über Bismarck oder über ein feines Mädchen niemals spotten .
Das kann er nicht über die Lippen bringen .
Aber über den Heiland spottet er . "
Der Deutschlehrer war ein kluger und gewissenhafter Mann : der verlangte und bekam einen Aufsatz über das Thema :
Raste ich , so roste ich ...
Nach einigen Tagen wurden die Arbeiten zurückgegeben , und es begab sich , daß er zu Kai Jans' Arbeit kein Wort sagte und daß darunter stand :
" Die Arbeit ist gut . "
Kai Jans witterte unter dem kurzen Wort etwas Verdächtiges und fragte den Lehrer .
Der sagte : " Wenn Sie es wissen wollen :
Die Arbeit ist gut ; aber sie ist nicht von Ihnen gemacht .
Es steht da eine Reihe von Gedanken , die nur ein Fünfzigjähriger haben kann ... "
Kai Jans wurde blaß und setzte sich und wußte nicht , was er in der Sache tun sollte .
Aber gegen Ende der Stunde stand plötzlich Jakob Sühl auf und sagte :
" Erlauben Sie , daß ich etwas sage ?
... Ich bin überzeugt , daß wir alle für möglich halten , daß Kai Jans von Natur Gedanken und Erkenntnisse hat , die andere Menschen erst durch Lebenserfahrung gewinnen . "
Der Lehrer sah erstaunt auf den Sprecher , besann sich eine Weile und sagte dann schlicht :
" Dann nehme ich mein Wort zurück ... "
Er traute aber der Sache doch nicht und blieb kalt gegen Kai Jans .
Jakob Sühl hatte versprochen , von den Unterhaltungen am Lohweg kein Wort zu erzählen ; es kam aber eine leichtfertige Stunde und er redete doch .
Da gab es wieder Sticheleien und spöttische Augen ; auch einige Lehrer spotteten .
Von da an war er wieder vorsichtiger .
Er redete mit den Kameraden nur über das , was die Schulstunden brachten , und über die Dinge , die er um sich sah .
Inwendig aber schlich seine Seele mit Verwundern und Angst durch alles Gestrüpp der Menschenmeinungen , mit jenen Adamsaugen , davon er zu Jakob Sühl geredet hatte .
O , daß doch all die Stolzen , Einsamen in ihrem ungeheuerlichen , schrecklichen Grübeln , in ihren wilden , großspurigen Jugendphantasien irgendeinen Menschen fänden , der sorglich mahnend neben ihnen ginge .
Aber wenn sie auch einen fänden , sie hörten doch nicht auf ihn .
Sie hören in ihrer Jugend weder auf den Heiland , noch auf Goethe .
Sie wollen und müssen ganz allein durch den schreckhaft schönen rotbraunen Märchenwald .
Aber wenn Kai Jans in diesem Heimlichsten , Tiefsten ohne Führung war , weil er keine Hilfe haben wollte : in allerlei Lebenserkenntnis und Weisheit hatte er einen guten Unterricht .
Hei , was hatte er für einen Unterricht !
Hei , wie lernte er buntes Menschenleben kennen und das wunderliche Menschenherz .
Jeden Mittag , gleich von der Schule weg , ging er stracks zu Kassen Wedderkop und setzte sich dem gegenüber an den Mittagstisch .
Und während des Essens und nachher bei der Zeitung erzählte Kassen Wedderkop mit vielem Stöhnen und mit seiner koreanischen Stimme von allem , was in der großen Welt vorging ; und erzählte es nicht dem " Grünschnabel " , dem " dummen Jungen " , sondern seinem jungen , verständigen Freund ; und erzählte es nicht mit :
" So ist es , und alles andere ist Unsinn , " sondern so :
" Das und das habe ich erlebt , als ich in Berlin in Stellung war ... " oder :
" Als ich in Hongkong im Kontor saß , da habe ich einen Mann kennen gelernt ... " oder :
" Ich habe in Ostasien die Erfahrung gemacht , daß wir Deutsche ... es soll aber inzwischen anders geworden sein ... " oder :
" Ich ging in London an jedem Sonntag in irgendeine Kirche und beobachtete da ... " oder :
" Nun höre doch bloß , Kai , was über Chicago an Fleisch und Korn ausgeführt wird ... " oder :
" In Japan glauben die Leute ... ich möchte wohl wissen , Kai , was so ein kluger Japaner über unsere Kirchenlehre denkt ; lies Mal diesen Aufsatz in der Times über die japanische Religion .
Mir scheint , der Mann hat recht ... "
" Was ist das für ein Glück , Mensch , daß du englisch kannst !
Und daß du vier Jahre Schiffsboden unter den Füßen gehabt hast .
Wenn du Hilligenlei auch nicht gefunden hast , du Narr , so kann man nun doch ein verständiges Wort mit dir reden . "
Hei , was hatte er für einen Unterricht !
.. .
Wie es im Leben des einzelnen flaute und stürmte , das lernte er sehen .
Denn er war der Sohn des Wattarbeiters Thoms Jans , und ein Bewohner des langen Hauses auf dem Deich von Hilligenlei .
Es wurde in diesen Jahren in der Wohnung am Ende des langen Hauses ruhiger und ein wenig sorgenloser .
Die beiden ältesten Schwestern gingen mit ihren Männern nach Amerika ; die jüngere heiratete einen ordentlichen Handwerker .
Der Jüngste , einfachen , schlichten Geistes , kam zu einem strebsamen Klempnermeister in die Lehre .
Thoms Jans , der nur noch für sich und seine Frau zu sorgen hatte , und der sah , wie sein Sohn lernen durfte und lernte , daß ihm der Kopf rauchte , bekam einen ruhigen , zuweilen fröhlichen Ausdruck in dem klugen , verwitterten Gesicht .
In den Versammlungen der Arbeiterpartei , die nun schon so groß waren , daß sie die große Wirtsstube von Hans Reimer füllten , saß er in der Ecke und hörte zu , und zuweilen fiel ein Hieb auf ihn ; er sagte aber nichts .
Es war damals die wildeste Zeit , die Zeit , da sie alle lachten , wenn das Wort Religion genannt wurde .
Wenn er nach Hause kam , setzte er sich hinter die Bibel und suchte die Stellen , die von kommenden , glücklichen Weltzeiten redeten und freute sich daran und glaubte daran .
Mit seinem Sohn sprach er über diese Dinge nicht .
Er sprach aber viel mit ihm über Menschenschicksal .
Wenn sie das Abendbrot hinter sich hatten , oder am Sonntagnachmittag nach dem Kaffee , lehnte er sich in Gedanken zurück und fing nach seiner Weise an , mit den Fingern leise auf der Fensterbank zu trommeln ; und bald , wie unter dem Einfluß dieses Klangs oder dieser Bewegung , hob er an , von irgendeinem Menschen zu reden , der ihm in seinem Leben begegnet war , erzählte von dessen Großeltern und Eltern , von seinem Charakter , und wie sich der Charakter geändert hätte , und welche Ereignisse sein Leben beeinflußt , und wohin dies Menschenleben wohl hinauslaufen würde .
Da sah Kai Jans manchen Lebenslauf , und hörte manch ruhige , eigene Lebensweisheit und hörte mit stillem Interesse zu .
Male Jans war von dem Tage an , da ihr Sohn zur See ging und nachher , da er als Krüppel wiederkam , ein wenig kleiner geworden .
Ein kleines , mageres , zierliches Mütterchen war sie ; und es war unglaublich , daß sie einen so großen Jungen hatte .
Sie war sehr stolz auf ihren klugen , grübelnden , schelmischen Mann und auf ihren stillen , ernsten Sohn und war nun auch mit seinem Angesicht fast zufrieden .
Sie hatte schon immer , von ihrem Mädchenstand an , Sonntagsnachmittags die Romane in den Itzehoer Nachrichten gelesen , die von wunderbar vornehmen und schönen Lords und Ladies handelten , welche " Sie " zueinander sagten , auch wenn sie miteinander verheiratet waren , und welche Kinder mit hohen Stirnen und wunderbar edlen Nasen und Augen hatten .
Da hatte sie oft heimlich zu ihrem Sohn hinüber gesehen und hatte gefunden , daß seine Stirn zu niedrig , seine Nase zu breit und seine Augen zu klein waren .
Aber seit er auf der Domschule war , stellte sie weiter keine Ansprüche an sein Gesicht , und freute sich heimlich , daß er so was Starkes darin hatte , und daß er gerade und schlank gebaut war .
Als er nach Oberprima kam , war ihr silberner Hochzeitstag .
Da kaufte Thoms Jans ihr im Ehestand das erste Kleid .
Er kaufte es auf eigene Faust in der Süderstraße und bezahlte es bar .
Nun saß sie , am Sonntagnachmittag , während Vater und Sohn über wirkliche und ernste Menschenschicksale redeten , in diesem Kleid ihnen gegenüber am Tisch an dem anderen Fenster und las von den Lords und Ladies .
Aber er hatte noch andere Helfer .
Hei , was hatte er für einen Lebensunterricht !
Zuweilen , wenn er aus der blaugekalkten Kammer , in der sein Bett und sein Büchertisch standen , durch die kleine schwarze Küche in die Wohnstube kam , fand er Stiena Dusenschön bei der Mutter sitzen .
Die Mutter war klug und fein , und wußte , wie fahrig und wirr die Alte war ; aber sie hatte ihren freundlichen Spaß daran und hatte Mitleid .
Stiena Dusenschön klagte über Rieke Thomsen , daß sie keinen Frieden mit ihr halten könnte - dabei tranken sie und Rieke täglich sieben Tassen miteinander - und daß Tjark ... o , Tjark ... !
Er kam zwar nie zum Besuch nach Hilligenlei ; auch duldete er nicht , daß sie zum Besuch nach Hamburg reiste ; aber er schrieb dann und wann , und hatte ihr zu Weihnachten ein Stücklein Geld geschickt und einen schönen , schwarzen Kleiderrock aus Halbseide , und hatte dabei geschrieben , sie solle nicht zeitlebens für fremde Leute Strümpfe stricken ; er werde noch etwas aus sich machen .
" Er ist nun schon Vorsteher im Kontor ; fünf Leute arbeiten unter ihm ... O , Tjark !
Der wird es noch weit bringen ... "
So erzählte sie und ihre Stricknadeln klirrten und ihre Haubenbänder und die Fransen der Mantille tanzten nach einer fernen , süßen Melodie .
Zuweilen , wenn er auf den Deich gehen wollte , ein wenig Seeluft zu atmen , und mit einem Schwung über das Staket setzte , öffnete Rieke Thomsen das Fenster und redete dies und das und sagte : " Na , der alte Lau hat sich nun einen zweiten Euer gekauft , und läßt denn ja ordentlich Mais und Gerste von Hamburg kommen und verkauft es an die Bauern ; und der Pe Ontjes will ja wohl seinen Steuermann an den Nagel hängen , und dann wollen sie das Geschäft erweitern .
Das wird ein schönes Geschäft :
Der Alte kann kaum schreiben und Pe Ontjes ist ein steifer Mensch ...
Hast schon gehört , was Stiena Dusenschön überall erzählt , daß ihr Tjark zwanzig Schreiber unter sich hat ?
Glaub doch so ' was nicht !
Es wird nichts aus ihm ; das habe ich immer gesagt .
Der Einzige , der an ihn glaubt , ist Jan Friech Buhmann ...
Hast du übrigens in den letzten vier Wochen einen einzigen Schlag aus der Schmiede gehört , oder einen Funken vom Feuer gesehen ?
Er hockt den ganzen Tag an der Au , in seiner großen Lederschürze , und macht mit ihrem Poltern die Fische bang ...
Sage zu deiner Mutter , daß sie mich bald ' Mal besucht ; ich bin ein armes , altes , verlassenes Frauensmensch .
Sieh , da kommt Trine Söht !
Die bringt immer einen Mund voll Schnack .
Kannst sehen ?
Sie hat ihre kurze Pfeife in der Brust ; Tabak muß ich zugeben . "
" So ... " sagte er , " nun will ich ein wenig den Deich entlang . "
" Ach , " sagte sie , " du lernst und lernst , aber glaube man nicht , daß du die vier Jahre noch einholst , die du auf See verbummelt hast .
Deine Alten sehen zuviel in dir , Kai ; du kannst dir gratulieren , wenn du durch die Domschule kommst .
Ich habe es immer gesagt . "
Zuweilen , wenn er nachmittags aus der Schule kam , ging er durch den Kastaniengang .
Und wenn er dann Annas hellen Kopf hinter dem Fenster sah , ging er hinein und begrüßte die Mutter an der Maschine und setzte sich Anna gegenüber und spielte mit ihrer Schere und ihren Nadeln und redete sinnvoll und männlich und sah sie an .
Sie antwortete ihm ruhig und sah ihn mit ihren klaren , schönen Augen gleichmütig an und sah zuweilen aus dem Fenster , als suchte sie etwas , oder als erwartete sie , daß etwas vorüberkäme , was ihr gefallen würde .
Seit sie die zwanzig erreicht hatte , regte sich eine heimliche Verwunderung und Unruhe in ihr , daß niemand kam und ihre Liebe begehrte .
Diese Unruhe wuchs und wuchs .
Er merkte es nicht ; er meinte , sie wäre wie sie schien : lautere Ruhe und schöner Friede .
Er merkte auch nicht , daß die kleine Heinke , die am Sofatisch bei ihren Schularbeiten saß , oft den Kopf hob und ihre klaren , grauen Kinderaugen unbeweglich auf ihn richtete , wie ein Zugvogel seinen Flug auf sein Ziel richtet .
Als er in der Oberprima war , gründete er einen Klub , den sie " Die Wahrheit " nannten .
Er war der Älteste und Lebensreifste , und bald der Häuptling .
Sie behandelten natürlich die schwersten Dinge auf der Welt , denen sie in ihrem Alter am wenigsten gewachsen waren : Religion , Staatskunst , Menschencharaktere .
Sie behandelten die Dinge mit unruhigem Eifer und mit Überlegenheit , als Richter und Radikale .
Zuweilen freilich , wenn sie das Urteil gesprochen hatten , bekamen sie ein schlechtes Gewissen , weil sie doch ordentliche und tiefe Jungen waren .
Besonders Kai Jans bekam es .
Er sagte dann seine Bedenken und ging noch einmal , und nun mit mehr Ehrfurcht , um die Sache herum .
Aber es ließ sich nicht leugnen , daß er also in diesem letzten Schuljahr doch noch hochmütig wurde .
Er vergaß nun doch noch , was er doch vor vier Jahren so deutlich erkannt hatte : daß Torril Torrelsen , mit seinen großen Teerhänden , der nicht schreiben konnte und nichts anderes las als das Drontheimer Gesangbuch und die Bibel , ein viel weiserer und vornehmerer Mensch war , als einige der Domlehrer .
Das vergaß er ganz .
Die Wissenschaft und seine Begabung machten ihn hochmütig .
Mehr als einmal klang im Klub seine Stimme so hell und klar , als wäre es eine Siegesfanfare :
» Seht , da habe ich Hilligenlei , heiliges Land ! ...
Seht ... ich , Kai Jans !
Ich finde den Sinn der Welt ! «
Und in seinen Augen stand : » O ...
Ihr sollt sehen , was noch aus Kai Jans wird ! «
Und zu seiner Mutter sagte er mit verständiger Miene :
" Es ist mir sehr unangenehm , daß Vater zu den Versammlungen der Arbeiter geht .
Und was ist das mit seinem Bibellesen , Mutter ?
Die Bibel zu verstehen , dazu gehört schweres , wissenschaftliches Studium ; es ist eine Narrheit , was er da treibt . "
Male Jans wurde still und bis sich auf die Lippe ; sie war sehr betroffen .
Aber dann sagte sie mit ungewöhnlicher Sicherheit und sah ihn fast feindlich an :
" Du , daran rühre nicht , das sage ich dir !
Da laß ihn in Ruhe ! "
Dieser Hochmut dauerte aber nur ein Jahr ...
Als es Frühling wurde , kam ein Sinnen über ihn .
Sein Geist zog die scharfen Spitzen ein und wurde milder , breiter , ruhiger .
Seine Augen schauten glänzend und versonnen über die Abgangsprüfung weg in das Land der Studentenjahre .
Das Alter tat das Seine ; er war nun über zweiundzwanzig .
Genug ... es ging eine leise Verschiebung in ihm vor ... er merkte es nicht ... Student ?
... Ein freier Mensch sein ?
.. .
In fremder Stadt wohnen ! ...
Leben ...
Leben !
... Was nützt all das Denken und Tüfteln !
Sieh doch !
Was hat Anna Boje für einen schönen , weichen Gang !
... Genug : als der Maiabend da war , stand er am Weg im Dunklen und ließ die Leute an sich vorübergehen , die nach dem Maifeuer hinaufgingen ... und wartete , bis Anna Boje kam .
Sie kam Arm in Arm mit Anna Martens von frästet , die zur Zeit bei den Bojes wohnte , um in Hilligenlei das Weißnähen zu lernen .
Die war ein schönes Mädchen , dunkel , und breiter als Anna Boje , und von gleicher Größe .
Sie war den ganzen Tag fleißig , nähte und nähte und lachte dabei :
sie lachte oft so , daß sie nicht allein sich selbst , sondern auch alle anderen , die mit schneiderten , unter den Tisch lachte ; und zwar brachte sie solch Lachen ohne alle Ursache fertig .
Aber abends war sie ernst und sagte zu Anna :
" Ich will noch ' Mal nach dem Deich hinaufgehen und über die Bucht starren , ob ich ihn behexen kann , daß er heute abend noch zu mir kommt . "
Und zuweilen brachte sie es wirklich fertig .
Er kam und erzählte :
er hätte schon im Bett gelegen ; aber holterdiepolter ... er hätte hinausgemußt ... hinauf aufs Pferd ... im Bogen um die Bucht .
Nun stand er bei ihr unterm Apfelbaum vor Anna Bojes Kammer und Anna Boje hörte , wie sie flüsterten und küßten ...
Sie ist später seine glückliche Frau geworden .
Sie hat ihn sein Leben lang behext .
" Siehst du ? " sagte sie , " da im Dunklen unterm Baum ?
Da steht Kai Jans , der geht mit dir ... ich kehre wieder um ... "
Sie wollte wieder ' Mal das Hexen versuchen .
Da gingen die beiden allein über die drei Stege .
Er ging neben ihr , und zuweilen , wegen der Schmalheit des Steiges , hinter ihr und erglühte an ihrer schönen , starken Gestalt , die er undeutlich im Dunklen sah .
Sie sprachen wenig miteinander .
Was nützte das Reden ?
Jeder wollte Taten erleben .
Er war aber in seiner großen Jugend und Unschuld so unsicher , daß er nicht einmal wagte , sie anzureden .
Als sie die Höhe erreicht hatten , sahen sie sich um .
Man sieht von dort nach allen Seiten weit ins Land hinaus .
Weit und breit , im ganzen Halbkreis , leuchteten die Maifeuer .
Da brannte , nach Südwesten zu , das Feuer von frästet .
Das hatte Anna Boje einst selbst mit errichtet .
Mit brennenden Torfsoden als Fackeln waren sie hingezogen und hatten es angezündet und waren ums Feuer gesprungen ...
Da weit in der Marsch nach Norden zu brannte das Feuer von Hemme .
Das große schwarze Bauwerk , das hinter dem Feuerschein stand , war der dicke , hölzerne Glockenturm .
Der Pastor selbst lieferte jährlich eine Teertonne dazu und baute den Feuerstoß eigenhändig auf ...
Ganz fern im Westen , einen Strich nach Süden , leuchtete ein schwächlich Feuerlein .
Das machte mitten im grauen Watt auf seiner Insel der Hirte , der da allein mit seinen Schafen hauste .
Aus getrocknetem Seegras und gestrandetem Kistenholz baute er es auf .
Sein Hund stand mit klugen Augen neben ihm ; aber die Schafe standen ferner im Dunklen und sahen mit dummen Augen in die lohende Glut .
Und rund um die Stadt Hilligenlei ...
Wie viele Feuer brennen am Maiabend um Hilligenlei ?
Es brennen seit tausend Jahren ... ach wer weiß , wie viel länger ... drei Feuer um die Stadt .
Es liegt um die alte Stadt die Mainacht als ein dunkles Band , darin drei Feuer glühen .
Das eine gehört dem Westereck und brennt oben auf dem Deich .
Zusammengestohlen und geraubt haben sie es .
Sie halten es für keine Sünde , zum Maifeuer zu stehlen ; und es ist auch keine Sünde .
Was nicht angenagelt oder angehängt ist , oder in der Erde wächst oder steht : das gehört den Jungen für ihr Feuer .
Es ist jetzt nicht mehr so groß - als es vor zehn Jahren war , da Pe Ontjes Lau der Held des Westerecks war .
Damals schlugen die Flammen bis zum Himmel und die Engel zogen die Füße hoch .
Aber schön ist es noch immer .
Das zweite Feuer ist in der ebenen , freien Feldmark , wo das Land sieben Meilen weit so eben ist wie ein Tisch , und gehört dem Nordereck .
Die Jungen vom Nordereck sind uneinig Volk ; sie sind wie Hunde , die sich nicht leiden mögen .
Was könnten sie sonst für ein Maifeuer haben !
Sie sind ein zahlreiches und starkes Volk ; man denke : allein sechs Witten , sieben Suren , neun Hansens , Enkel von dem Hansen , der noch als ein Sechzigjähriger , wenn ihn der Übermut packte , unter seine Hausmauer trat und eine Wagenrunge über sein Hausdach warf .
Aber nun , unter dem argen Streit , leidet ihr Maifeuer .
Zweimal ist es ihnen geschehen , daß ein Verbitterter , ein Landesfeind , ihnen den Holzstoß in der vorhergehenden Nacht ansteckte .
Er brannte und brannte , und sie schliefen .
Seitdem lauern Wachen am Feuer in der Nacht und erteilen dem , der sich nähert , ohne vorhergehendes richterliches Urteil , ja ohne genaues Ansehen der Person , jämmerliche Haue .
Das dritte Feuer ist oben auf der Höhe , wo Anna Boje und Kai Jans , die Altersgenossen , nebeneinander stehen .
Auf der Höhe , zwischen den Gräbern ihrer heidnischen Väter , haben die Domschüler ihr Feuer .
Von alters her haben sie es ; aber mit zwei Unterbrechungen .
Einmal , vor fünfhundert Jahren , verbot der Domherr den Jungen das Feuer :
er fürchtete Rückfall ins Heidentum .
Und ohne Grund war die Furcht nicht .
Denn Tode Witt von Volkmersdorf - es liegt gleich hinter der Höhe - ein alter Graukopf und Griesgram , war mit einem Pferdeschädel gekommen und hatte ihn in das Feuer gelegt und hatte in die Glut gestarrt , als starrte er in die Tiefe von tausend Jahren .
Und vor vierzig Jahren hatten der Bürgermeister und der Rektor es verboten ; sie sagten , es wäre nicht mehr zeitgemäß .
Maifeuer nicht mehr zeitgemäß !!
Daß Gott ihnen Ruhe läßt in ihren Gräbern , den Narren , den Zeitgemäßen .
Anna Boje blieb in einiger Entfernung stehen und sah nach dem Feuer , das lichterloh brannte .
Wie schwarze Teufel sprangen die kleinen Lateinschüler um die Glut .
Vom Feuer in ihren ganzen Erscheinungen schön beleuchtet standen die Großen mit ernsten , träumenden Gesichtern , darunter manche schöne , jugendliche Gestalt .
Anna Boje stand im Dunklen und ließ ihre kühlen , klaren Augen über sie hingleiten und dachte wieder , was sie seit einem Jahr so oft dachte :
» Wie ist es möglich , daß in ganz Hilligenlei kein einziger Mann sich um dich kümmert ?
Und wenn sich einer um dich kümmerte , würdest du ihn nehmen ? «
Und sie wußte keinen einzigen .
" Du , " sagte Kai Jans mit bebender Stimme :
" Ich wollte dich fragen , ob du ... "
" Nun ? " sagte sie und sah ihn neugierig ruhig an .
" Ich möchte wissen , " sagte er und atmete hörbar , " ob du mich wohl ein wenig lieb haben kannst ? "
Sie schwieg eine Weile , ganz erstaunt .
" Du , " sagte sie dann ruhig ... " du bist immer ein Freund von uns gewesen ...
So halte ich etwas von dir ... "
" So meine ich nicht , " sagte er ... " Weißt du , daß der Oberprimaner Thedens heimlich verlobt ist ?
... Du ...
Anna !
... Ich bin ein unruhiger Mensch , immer unruhig und unglücklich und weiß nicht , was ich soll ... sieh ... wenn du mich lieb hättest ... du bist so schön und so rein ... Du solltest sehen , wie lieb und treu ich sein würde ... "
Da hob Anna Boje die Schultern :
" Das Mädchen , mit dem Thedens sich verlobt hat , muß anders sein als ich , " sagte sie klar und ruhig .
" Nein ! " sagte sie und schüttelte bestimmt den schönen , hellen Kopf :
" Das tue ich nicht .
Du bist mir viel zu jung ...
Das ist nichts für mich ...
Und dann noch fünf oder acht Jahre warten ?
... nein , ich will dir sagen :
dann lieber tot . "
Er stand ordentlich geduckt : es war ihm mit einemmal so sonnenklar , daß er einen großen Irrtum gehegt hatte .
" So ! " sagte er leise und bis sich auf die Lippen ...
" Hast du einen anderen , einen älteren ? "
Sie machte ein hochmütiges und finsteres Gesicht :
" Wer soll mich heiraten ? " sagte sie .
" Einige Familien verkehren nicht mit mir , weil ich die Tochter einer armen Lehrerwitwe bin ; die anderen sagen : ich bin hochmütig .
Ich gehöre zu niemandem .
Bloß zu Anna Martens von frästet , die ich von Kind an kenne .
Und die jungen Männer ?
Wirkliche Männer sind hier ja wenige ...
Sieh ... die da kommen , sind das Männer ? " ...
Es kamen zwei Lehrer den Weg herauf : der eine war körperlich schwach ; der andere war ein Muttersohn .
Sie standen eine Weile schweigsam nebeneinander .
Dann sagte sie gleichmütig : " Gehe ' zu deinen Freunden .
Ich will nach Hause gehen . "
Da fuhr er auf :
" Ich habe dich so lieb , " sagte er mit heißer Bitterkeit .
" Von meiner Kindheit an habe ich dich lieb !
Und ich bin doch was und werde was , das sollst du sehen !
Und du stößt mich so von dir ! "
" Ich kann_es nicht ändern , " sagte sie und kehrte sich um und ging den Weg hinab. * Kai Jans ging acht Tage lang mit zusammengekniffenen Lippen umher und mit finsteren Augen , so daß sie ihn fragten , ob er krank wäre .
Und Jan Friech Buhmann kam auf die Straße und sagte :
" Gegen Zahnweh ist Ausglühen mit einem kleinen Nagel das einfachste Mittel , Kai . "
Kai Jans wollte das Haus im Kastaniengang nicht mehr betreten .
Aber eines Tages , als er sich vierzehn Tage lang nicht hatte sehen lassen , kam die große Heinke auf ihn zu und sagte in ihrer lieben , scheuen Art : " Du , Kai , ich habe so einen verdrehten Aufsatz aufbekommen ; du mußt mir helfen . "
Das klang so selbstverständlich und so zutraulich , daß er nicht widerstehen konnte .
Da ging er wieder hin , und freute sich , daß er wieder in der kleinen , gemütlichen Stube saß , in der die Maschine fleißig klapperte und die schmucken Mädchenhände sich rührten und die großen Kastanien die Luft rotbraun machten .
Hell schienen die Köpfe der beiden Mädchen .
Er kam also wieder ; aber er fand Anna seltener .
Sie machte sich in der Küche zu schaffen , oder ging in ihre Kammer , so daß er mit der Mutter und Heinke allein war .
Da sprach er viel mit dem Kind : über seine Schularbeiten und über Piet ; und verschaffte ihr gute Lesebücher , und spielte mit Hat und ihr ein Kartenspiel .
Und er gewann das Kind lieb , weil es so natürlich und so scheu zutraulich war .
Einmal , als er vorüberging , traf er sie auf der Straße und sah , daß sie verweinte Augen hatte , und fragte sie , was ihr fehlte .
Sie fing an zu schluchzen und sagte , die Mutter hätte sie hart angefahren , weil sie Hetts Buch genommen hätte ; er hätte es ihr aber vorhin ausdrücklich gestattet , es zu nehmen .
So sei er immer : er löge , aber die Mutter glaube ihm .
" Mutter hat mich gar nicht lieb , " sagte sie und schluchzte ; " sie sagt :
ich mache alles verkehrt und bin verstockt und unliebenswürdig . "
" Wie kommt sie dazu , das zu sagen ? "
" Ja ...
Hat sagt immer : Mama , meine liebe Mama !
Das sagt er zwanzigmal am Tag .
Nun soll ich das auch sagen .
Und das kann ich nicht . "
" Warum kannst du es nicht ? "
" Das weiß ich nicht .
Ich kann es wohl denken ; aber ich kann es nicht sagen .
Ich bin gar nicht verstockt , aber ich muß es ja werden . "
Sie schluchzte erbärmlich .
Da tröstete er sie :
" Du wirst bald groß , " sagte er , " und dann gehst du ' Mal vom Haus , und nachher , " sagte er , " bekommst du einen feinen , klugen Mann . "
" Ich habe es noch keinem gesagt , " sagte sie bitterlich weinend , " als bloß dir , weil du immer so freundlich mit mir bist und mir nun auch sagst , daß ich einen guten Mann bekomme ...
Ich wollte , ich bekäme ihn bald ; ich kann mich mit unserer Mutter und Hat nicht vertragen . "
Ihre Zuneigung und Offenheit rührte ihn und er sagte : " Wir beide wollen immer Freunde sein .
Komme , darauf wollen wir uns die Hand geben . "
" Ja , " sagte sie ... " du bist immer gut mit mir .
Du bist auch der einzige ; " und sie sah ihn aus tränenfunkelnden Augen sehr ernst an und schüttelte ihm kräftig die Hand und lief ins Haus .
Er meinte es ehrlich und treu mit der Freundschaft .
Das lange , schöne Kind aber wußte nicht , was es tat , wenn es in diesen Sommermonaten ins Feld ging und am Weg und an der Hecke , hier ein Zweiglein , und da eine Blume pflückte und daraus , so im Dahingehen , mit feinem angeborenen Sinn ein schönes Sträußlein zusammenstellte und darüber sann , was sie damit nun tun sollte , und träumend dachte , ob sie es wohl Kai Jans bringen könnte und wie sie es anfangen müßte .
Sie glitt am Wall in die Knie und besah den Strauß von allen Seiten und malte sich aus , was für ein Gesicht er machen würde , und hörte seine gute Stimme und sah seine guten , schönen Augen und stand auf , ganz in Sinnen , und ging weiter .
Aber wenn sie dann durch die Wiesen heimging , wurde sie bedenklich , und allmählich wurde sie traurig , und zuletzt setzte sie sich auf den letzten Steg und nahm eine Blume nach der anderen und warf sie in das fließende Wasser und ging still nach Haus .
Kai Jans redete und tat viel mit ihr und hatte eine herzliche Freude an ihr , aber seine Sinne waren bei ihrer großen Schwester .
" Wo ist Anna ? " sagte er .
" Die ist weg , " sagte Heinke .
" Wo ist sie ? "
" Sie ist mit Anna Martens bei der Schneiderin .
Du weißt doch , daß sie das Schneidern lernt . "
" Wo ist Anna ? "
" Sie ist weg ! "
" Wo ist sie ?
Es ist doch jetzt keine Schneiderstunde ? "
" Sie hockt am Heckenweg bei den Kindern . "
Was tut denn Anna Boje am Heckenweg ?
.. .
In diesem Jahr , da ihr Leben öder und öder schien , ein Tag reihte sich an den anderen und keiner brachte das große Ereignis ; über die Seele war schon lange ein unruhig Verwundern und Verbittern gekommen :
da hatte Anna Boje dennoch eine Freude , ein große , schöne , heimliche Freude .
Seit einem Jahr , fast an jedem Spätnachmittag , wenn sie in der Küche bei der Arbeit stand , kam vom Heckenweg her eine kleine Sperlingsstimme : " Antje Boje ? "
Dann kam Anna Boje in der großen Küchenschürze mit ihrem weichen , wogenden Gang in den Garten und sah sie da schon stehen : die beiden Kleinen in der Pforte und hinter ihnen ihr Vater .
Die Mutter war immer kränklich und konnte nicht mit ihnen gehen .
Und Anna Boje beugte sich nieder , mit den Kleinen zu reden .
Und wenn sie niederkniete : " knack , " sagte ihr Knie .
Dann lachten die drei .
Dann fragte die Größere , während die Kleine in ihrem Arm stand :
" Was hast du gegessen ?
Wo bist du gewesen ?
Magst du mein Kleid leiden ?
Sieh Mal , meine Strümpfe ? "
Und die Kleine streichelte ihr Haar und faßte an ihr Ohr und sagte : " Ei ... ei ... wie weiß ist dein Ohr ... Dein Haar ist ganz blank .
Mutters Haar ist nicht blank ...
Was hast du für einen roten Mund ?
... " und spitzte ihren Mund und küßte sie .
Und die stolze , schweigsame Anna Boje streichelte und drückte das Kind und redete lieblich mit ihm .
Dann stand sie auf und sah mit Verwirrung in das kluge und gütige Gesicht des Mannes und redete ein paar Worte .
Sie kannte ihn von ihrer Kindheit an .
Als sie noch ein Kind war , hatte sie oft gehört , daß er in seinem Amt tüchtig und freundlich wäre ; seit sie größer wurde , hatte sie ihn nach Jungmädchenweise heimlich von fern verehrt .
Dann sagte sie :
" Ich muß wieder an die Arbeit ; " gab den Kindern die Hand und ging .
Unterm Apfelbaum wandte sie sich noch einmal um und nickte .
Wie sah das aus , wenn sie mit ihrem hellen Haar und ihrer stolzen Gestalt unter den weißen Blüten stand und unter den reifen Früchten .
Was tut Anna Boje am Heckenweg ?
Das tut sie .
Und das ist ihre heimliche , stille , reine Freude .
Aber nun , in diesem Sommer ... in diesem Sommer ... da wurde es etwas anders .
Es wurde Not ; es wurde eine Seligkeit .
" Meine Mutter mag mich nicht ...
Heinke ist noch ein Kind ...
Hat denkt nur an sich ...
Piet ist in der Fremde ...
Wo soll ich hin mit der Seele ?
Grete Dellen hat mit neunzehn geheiratet ; Liesbeth Taten mit zwanzig ...
Ich bin zweiundzwanzig , und kein Mensch kommt .
Ich bin ganz verlassen ... ich glaube , wenn er , der am Heckenweg mit mir redete , ledig wäre :
er würde mich um Liebe fragen !
Wie gütig und klug ist er !
Wie lieb sind seine Augen . "
Ist da kein junger Mann in Hilligenlei , der Augen hat , daß er das Schönste sieht im Land : diese junge , strahlende Kraft , diese tiefverborgene Klugheit ?
Der sie an seine Hand nimmt und freut sich der Wunder ihres Leibes und ihrer tiefen , klaren Seele ?
Und zeugt gesunde und starke Kinder , ein Geschlecht , das der bösen Zeit gewachsen ist ?
.. .
Die jungen Männer von Hilligenlei !
Der eine hat ein wildes Kneipenleben hinter sich und ist nun kränklich .
Jetzt , da er ein Mann sein sollte , geht er langsam auf dem Deich auf und ab und schnappt nach Luft .
Zwei andere , leidlich frische Gesellen , machen mit großen Stöcken weite Fußwanderungen , die Augen am Straßenrand , und besseren beim Wandern in schweren , gewichtigen Reden an den Einrichtungen des Staates , in einem Lebensalter , da der Mensch nicht weiter sehen kann , als bis in eines jungen Weibes Augen und auf ein begrenztes Arbeitsfeld .
Andere junge Leute , Bürgerkinder , stellen sich , eben aus der Garnison zurück , hinter Vaters Ladentisch und setzen sich an Vaters Schreibtischlein und sehen sich nach einer Geldheirat um und gewinnen ein Weiblein , das ihren bescheidenen Geldbeutel für wertvoller hält als ihre Person , und dies Geldbeutelein und dazu den Hausschlüssel festhält , daß der Ehegemahl sich nicht in irgendein Unternehmen stürze .
Und so sitzen sie in den Sträßchen und Lädchen und sehen gegen des Nachbars Hauswand und haben nie einen frischen Wind sausen hören und erfahren nie , daß ein frischer , starker Mensch und ein frischer Mut viel mehr wert ist , als hunderttausend Taler .
Andere sitzen nach der Arbeit mit den Verheirateten zusammen im Domklub , geduckt am Biertisch .
Die Alten erzählen faule Anekdoten und verderben die männliche Jugend , daß sie für die Ehe und ihre Mühe zu feig und roh ist ...
An Anna Boje denkt kein Mann .
Wenn sie vorübergeht , sagen sie :
" Mensch , was für ein Mädchen ...
Sieh doch den Gang ! "
Dann sagen die anderen :
" Versieh dich nicht , du !
Sie hat keinen Groschen , und sie wartet auf einen Grafen . "
Das sind die jungen Leute von Hilligenlei .
Und darum bewegt Anna Boje , die Zweiundzwanzigjährige , in ihrer reinen Seele den Gedanken und kann ihn nicht von sich weisen , so sehr sie sich auch quält : " O ... wenn er ledig wäre !
Und würde mich um Liebe fragen !
O ... wie selig müßte das sein ! "
Kai Jans ist ihr viel zu jung .
Einmal traf er sie ganz allein in der Küche und trat dicht an sie heran , und bat sie flehentlich :
" Du , Anna gib mir einen einzigen Kuß , einen einzigen in meinem Leben . "
Sie trat zornig zurück .
" Ich bitte dich , daß du mich in Ruhe läßt , " sagte sie , " mit dieser Sache spiele ich nicht .
Wenn du noch einmal so kommst , Kai , dann ist es aus mit unserer Freundschaft . "
Als sie einige Tage später , am späten Abend , noch einmal in den Garten ging , Leinenwäsche hereinzuholen , die sie gebleicht hatte , sah sie ihn seitwärts im Heckenweg stehen , und vor ihm stand eine große , schmucke Bauerntochter , Kind einer heruntergekommenen Familie und selbst träge und geil .
Da sagte sie am dritten Tage zu ihm , als er kam , in großem Zorn : " Gehst du mit der ?
Du ?
Hast immer so hohe Worte über Hilligenlei geredet ?
.. .
Bist damals in die Welt gezogen , um es zu suchen ?
... Und gehst mit der ? "
Da wurde er sehr zornig :
" Du ! " sagte er , " du !
... Du bist schuld !
Wenn du mich lieb hättest , so würde ich weiter an Hilligenlei glauben können ... aber nun ... "
Sie erstaunte und sagte : " Na , das kann gut werden !
Ich soll Schuld haben ?
Ich will dir was sagen :
Das steckt in dir selbst , Kai Jans ! "
Zwölftes Kapitel Ende August machte Kai Jans sein Abgangsexamen .
Drei Tage später kam er nach dem Kastaniengang und nahm Abschied .
Anna gab ihm gleichmütig die Hand ; Heinke drückte sie ihm rasch und fest und lief dann hinaus und weinte .
Kassen Wedderkop wollte ihn bis Hamburg begleiten ; dann wollte er allein nach Heidelberg weiterfahren .
An diesem Abend kam eine Depesche von Piet aus Hamburg : " Anna soll kommen ... "
Er hatte ihr immer versprochen , sie solle einmal auf seine Kosten Hamburg sehen .
Nun hielt er sein Wort .
Da freute sie sich , daß er an sie dachte und daß dies Einerlei ihres Lebens endlich einmal unterbrochen würde , und war zur Überraschung der beiden Hamburgerreisenden morgens in aller Frühe auf dem Bahnhof und fuhr mit ihnen .
Sie war noch niemals aus Hilligenlei herausgekommen .
Wie wunderte sie sich , als sie auf der hohen Bahn durch die große , große Stadt fuhr .
Sie stand am Fenster und staunte stumm .
Am Dammtorbahnhof stand Piet .
Es war erstaunlich , daß er da stand .
Sie hatte ihn bis jetzt immer nur in Hilligenlei gesehen ; nun stand er da am fremden Ort unter lauter fremden Menschen und blitzte sie mit seinen Augen an und nickte kurz .
Ja , so war er immer , von Kind an , und darum liebte sie ihn so sehr :
weil er eine so entschlossene Männlichkeit hatte .
" Na ! " sagte Kassen Wedderkop .
" Nun geht ihr unterwegs und zeigt Anna Boje Hamburg ; heute abend um sieben aber seid ihr in Altona , im Kaiserhof in der Weinstube .
Setzt euch so hin , daß ihr in die Bierstube hinuntersehen könnt .
Ich komme dann mit zwei alten Freunden , geborenen Hilligenleiern , die mit mir in Ostasien gewesen sind ...
Nun macht , daß ihr wegkommt . "
Da nahmen die beiden Anna Boje in die Mitte und gingen mit ihr nach dem Jungfernstieg .
Sie zeigten ihr die Post und das Kriegerdenkmal , und an der Alster die gewaltigen Gasthöfe und Bankhäuser .
Dann gingen sie mit ihr über den Rödingsmarkt nach dem Hafen und fuhren mit dem Dampfboot nach dem Kranhöft .
Ihr Staunen hatte schon abgenommen ; sie sah alles mit ruhigen , wenig verwunderten Augen und dachte :
» Ach ... ach ... was geht mich das alles an ?
Was soll ich mit all den vielen Menschen und all den großen Dingen ?
Hätte ich nur einen Menschen , der mir gehörte . «
Dann und wann , wenn es unbeobachtet geschehen konnte , sah sie ihren Bruder von der Seite an und dachte an ihre Kindheit , und ihr wurde das Herz heiß von Liebe zu ihm und sie grämte sich , daß er immer so kühl und kurz mit ihr war , und sie dachte : » Kai Jans ist lange nicht so sicher wie er . «
Er wiederum sah sie auch an , wenn sie es nicht merkte , und dachte :
» Was für ein Wandel !
Sie stand barfuß im Watt , das Kleid reichte eben bis zum Knie und ihr kleiner Fuß blutete von einem Muschelschnitt , und nun ist sie ein großes , schönes Mädchen geworden . «
Kai Jans sah immer nach vorn , ob er im Gewirr der Masten die Goodefroo fände .
Auf der Goodefroo rumorte es von Dampf und Kettenrasseln und Zuruf .
Kai Jans ging nach vorn , das Haus und die Back zu besehen .
Piet aber und Anna gingen nach achtern .
Er beantwortete ihre leise Frage , wo er sich aufhielt , wenn er Wache hätte , und sie stand da lange und sah über das weite Schiff und hinauf nach den Toppen und versuchte , sich mit Hilfe von Bildern , die sie gesehen hatte , vorzustellen , welches Bild der Bruder bei Sonnenschein und bei Sturm vor Augen hätte , und faßte leicht seine Hand , ohne ihn anzusehen , und ging dann mit ihm die Treppe hinunter .
" Siehst du ?
Hier wohne ich . "
" Junge ! " sagte sie mit ehrlichem Erstaunen , " das ist aber ein kleines Loch . "
Er lachte : " Ja , nun denke , daß der große Pe Ontjes hier gewohnt hat , als er zweiter war . "
" Wo ist er jetzt ? " fragte sie gleichmütig .
" Er ist hier in Hamburg und geht morgen mit Mannschaft nach Glasgow , um ein Schiff zu holen .
Mit dem will er noch zwei Fahrten tun ; dann will er nach Hilligenlei ziehen und sehen , ob das Geschäft des Alten sich erweitern läßt . "
" So ! " sagte sie .
Sie hatte schon in Hilligenlei davon gehört .
" Du hast dich noch gar nicht darüber gewundert , " sagte er , " daß ich so früh zweiter Steuermann geworden bin und auf einem so schönen Schiff . "
" O , du ! " sagte sie .
" Wie hat unsere Mutter sich gefreut !
Und wir alle ! "
" Und nun sollst du ihr noch was anderes erzählen ! "
Und er fing an , in seiner Kiste zu kramen und holte eine Zeitschrift über Schiffsbau heraus , zeigte ihr zuerst das Titelblatt und schlug sie dann auf :
" Nun sieh ! "
Sie las : " Die Verwendung von Dampfmaschinen oder Motoren auf großen Segelschiffen " , und darunter stand : " von Piet Boje " .
Da schlug sie die Hand vor die Brust und sah ihn mit großen Augen an .
" Nein ! " sagte sie , " Piet ! "
" Ich sage dir , " nickte er , " ich habe mich dabei abgesetzt !
Weißt du : nicht bei der Sache selbst - die war mir klar - ; aber beim Ausdruck .
Man ist so unsicher , wenn man keine höhere Schule besucht hat .
Siehst du : darauf hin habe ich die Stelle bekommen !
... Und bei der Gelegenheit habe ich unserem Reeder ... sieh Mal ... dies Modell gezeigt ... du kannst es so nicht verstehen ... es zeigt eine Vergrößerung des Laderaumes .
Siehst du ?
Immer wache Augen haben , immer vorwärts !
Das liegt so in mir . "
" Aber wer hat dich zuerst auf solche Gedanken gebracht ? "
" Ja , " sagte er , " das war der alte Süffel auf der » Klara « ... du erinnerst dich ... der hat mich auf die Spur gebracht . "
" Wo ist der jetzt ? "
" Im Hospital in Lissabon verkommen , sagen sie . "
Und er breitete die Zeitschrift noch einmal aus und lachte fröhlich .
" Hat mir Spaß gemacht , du ! " und legte sie wieder hin .
Anna beugte sich über den Tisch und besah die Bilder , die da an die Wand genagelt waren .
Ach ... wie eigen !
... da war in dem kleinen , fremden Raum das Bild der Eltern , einst in ihrem jungen Ehestand aufgenommen , und das gemeinsame Bild von Heinke und Hat , als sie so zehn Jahre waren .
Und dann ihr Bild , als sie so achtzehn war .
Sie hatte ganz verwirrte Augen , weil der Lichtbildner , ein junger Mensch , ihr vorsichtig ans Haar gerührt hatte , ihrem Kopf die Stellung zu geben , die er wünschte .
Und da neben ihr ?
... Wer war das ?
Sie erkannte Pe Ontjes Lau , in kurzem , hellblondem Vollbart , sah ihn mißtrauisch und scharf an und wandte sich ab .
Als sie alles gut besehen , auch die Koje begutachtet hatte , gingen sie alle drei wieder von Bord und trieben sich den ganzen Tag umher : auf der Alster , in der Kunsthalle , in den Hauptstraßen .
Als sie dann , gegen Abend , da es warm genug war , vor dem Alsterhaus unter dem Glasdach saßen ... wer kam da ?
... Wer war der lange , feine Herr mit dem runden , bartlosen Gesicht und den großen , blanken , freundlichen Augen ?
Tjark Dusenschön ... Natürlich !
Er verbeugte sich vor Anna , den Zylinder in der Hand und sagte mit schelmischer Freundlichkeit :
" Gestatten die Herrschaften , so setze ich mich ein wenig zu Ihnen ...
Ich pflege hier eine Tasse Kaffee zu trinken , " sagte er , " wenn ich ein gutes Geschäft gemacht habe ; und da das glücklicherweise häufig vorkommt , so trinke ich hier häufig Kaffee . "
Er gab dem Kellner , der besonders eilfertig herankam , den Überrock samt dem weißseidenen Kragenschoner und den Stock , der mit Silber beschlagen war , und setzte sich gemächlich hin .
" Ich sah die Herrschaften da sitzen und erkannte sie alle , weil ich Piet erkannte . "
" Warum kommen Sie nie nach Hilligenlei ? " fragte Anna mit verhaltenem Zorn .
" Ihre Großmutter lebt doch da ? "
Tjark sah sie ruhig an und sagte : " Ich habe kein Bedürfnis , Fräulein Boje ; und meine Großmutter hat ihr täglich Brot durch ihre Arbeit .
Was soll ich also in Hilligenlei ?
Ja , ließe sich in Hilligenlei ein Geschäft machen !
Vergnügungsreisen zu machen , habe ich keine Zeit . "
" Was treibst du denn jetzt ? " fragte Kai Jans .
" Ich bin fünf Jahre Kontorvorsteher gewesen ; jetzt mache ich Geldgeschäfte . "
Er sah sie dabei der Reihe nach an , wie er sie weiland in der Schmiede von Jan Friech Buhmann angesehen hatte .
" Geldgeschäfte ? " sagte Anna .
" Ich kann mir nichts dabei denken . "
" Ich will es Ihnen kurz erklären , Fräulein Boje , " sagte Tjark höflich , indem er sich ganz zu ihr wandte :
" Sehen Sie :
da sind Leute , die brauchen für irgendein Unternehmen Geld ; da sind aber andere Leute , die haben Geld und wollen es unterbringen .
Und keiner weiß vom anderen .
Sehen Sie ?
Nun bringe ich diese Leute zusammen .
Oberkellner ! ...
Der Oberkellner will z. B. ein Hotel anfassen , hat aber kein eigenes Kapital .
Da kann ich es ihm vielleicht verschaffen ...
Tasse Schwarz , Herr Oberkellner ! "
Die Kinder von Hilligenlei staunten .
Die alte Stiena Dusenschön ließ da vor dem langen Haus ihre Haubenbänder fliegen und erzählte Wunderdinge von Tjark , Tja ... arg ... und siehe : es ist alles Wahrheit .
Alles ist Wahrheit !
Denn was hat Tjark Dusenschön für einen feinen Anzug an .
Und wie ruhig und solide ist der ganze Mann !
" Was machst du denn , Kai ? " sagte er .
" Ich gehe nach Heidelberg und dann nach Berlin ... Theologie und neuere Philologie . "
" Theologie !
Das freut mich , " sagte Tjark bedächtig .
" Das Volk , die Maße , braucht die Geistlichen , ihre natürlichen Führer .
Du , eines Arbeiters Sohn , wirst das Volk verstehen ...
Und Sie , Fräulein Boje ?
Noch bei der Mutter ? "
" Da ist Arbeit genug , " sagte Anna .
" Wenn Sie sich jemals eine Stellung in Hamburg wünschen sollten , schreiben Sie , bitte ; ich habe Beziehungen zu einigen angesehenen Familien und glaube wohl , daß ich Ihnen einen guten Platz verschaffen kann . "
" Ich möchte nun gehen , " sagte Anna ...
" Ich bin den ganzen Tag im Gange gewesen ; ich will mich ein wenig ausruhen . "
" Ich bleibe noch eine Weile , " sagte Tjark Dusenschön , stand auf und half Anna höflich in die Jacke .
" Ich mag den Menschen nicht sehen , " sagte Anna , als sie unterwegs waren ; " es ist alles falsch an ihm : sein ganzes rundes , blankes Gesicht , und seine Großvaterweisheit erst recht . "
Piet und Kai Jans schwiegen ; ihnen hatte Tjark Dusenschön doch Respekt gemacht .
Um acht Uhr waren sie in Altona im Kaiserhof , fragten ein wenig schüchtern nach der Weinstube und setzten sich .
Als der Kellner kam , bestellten sie das erstemal in ihrem Leben - Piet war der Besteller ; sie haben es nie vergessen - eine Flasche Wein , leichtesten Moselwein , und wagten es , sich umzusehen .
Als sie merkten , daß alle Gruppen an allen Tischen in gewohnter Unterhaltung blieben , wurden sie sicherer und fingen an , sich behaglich zu fühlen .
Da sah Anna Boje , seitwärts an einem kleinen Tisch , hinter einer Rotweinflasche einen einsamen Gast sitzen , der unbeweglich zu ihrem Tisch herübersah .
Er war in grauer , behäbiger Bürgerlichkeit gekleidet , in zweireihigem dunklem Tuchrock , hatte einen breiten , sehr gewöhnlichen Kopf und die weißen fetten Hände ineinandergelegt auf dem Tisch .
Er hatte etwas an sich , daß sie sein Gesicht deutlicher zu sehen suchte .
Sie tat sich aber einen Zwang an und sah weg ; und sah nach einiger Zeit doch wieder hin .
Er glotzte unter schwer herabhängenden Augenwimpern träge und unbeweglich zu ihnen herüber .
Es wurde ihr unbehaglich , sie wandte sich ganz ab und lehnte sich schräg gegen den Tisch .
Kai Jans hatte sich fröhlich im Raum umgesehen , sah nun Anna an und hob sein Glas .
Da sah auch er , an Annas Kopf vorbei , den Fremden und hatte gleich ein Gefühl der Unbehaglichkeit und bog sich , daß er ihn nicht mehr sah , und sagte mit einem tiefen Atemholen :
" Nun geht es über die Elbe und ins Leben hinein ! "
Und er nickte den beiden fröhlich zu und trank .
Da erschien Kassen Wedderkop , etwas schwer hinkend , aber in guter Stimmung ; hinter ihm seine beiden Freunde , ein kleiner Roter und ein langer Blonder ; alle drei so um Fünfzig und stattliche , wohlerhaltene Männer .
" Was ? " sagte der kleine Rote , " mit so jungem Volk sollen wir zusammensitzen ? "
" Benimm dich gut ! " sagte Kassen Wedderkop , " du hast lange nicht mit so frischer Jugend zusammengesessen .
Sieh Anna Boje an !
... War_es ein schöner Tag , Kind ? "
Der lange Blonde setzte sich neben Anna .
Neuer Wein stand auf dem Tisch .
" Habe ich dir Mal erzählt , " sagte er zu Wedderkop , " wie ich einmal acht Tage lang mit einer jungen Schönen verkehrt habe ?
Es ist lange her .
Es ist eine Geschichte zum Wein und es ist eine Geschichte , vor einem jungen Mädchen gut zu erzählen . "
Er sah Anna Boje freundlich und höflich an :
" Wollen Sie es hören ?
... Ihr beiden alten Reisegefährten wißt , daß ich meine Kindheit in Hilligenlei , aber meine Jünglingsjahre in Itzehoe verlebt habe .
Zwei Kinder waren wir :
mein Bruder und ich ; eine Schwester hatten wir nicht .
Wir kamen nicht aus der Stadt heraus ; wir machten den Verkehr mit , den die Eltern hatten ; einen sehr ordentlichen und sehr steifen Verkehr ; denn unsere Eltern waren sehr korrekte Leute .
Junge Mädchen lernten wir nicht anders kennen , als wenn wir auf den Hausbällen in schwarzen Röcken und weißen Handschuhen mit ihnen tanzten , und wenn wir sie auf der Straße im Vorbeigehen höflich grüßten .
Wir waren eben Naturen , unseren Eltern ähnlich .
So blieb es , bis ich so siebenundzwanzig war und mein Bruder fünfundzwanzig ; der war Kaufmann , wie ich .
Da machte er eines Tages aus lauter Langeweile und Neugierde einen kleinen Ausflug zu einem entfernten Vetter , der als Pastor in einem abgelegenen Dorf unserer Landschaft unter einem breiten Strohdach wohnte .
Als er sich eben zwischen dem Vetter und der Cousine an den Kaffeetisch gesetzt hatte , kommt da ein großes , schönes Mädchen in die Stube , die Tochter eines benachbarten Landmanns , die zum Besuch da weilte .
Nach dem Kaffee hatte er Gelegenheit , eine Stunde lang mit ihr allein durch den Garten zu gehen .
Nach acht Tagen war er wieder da .
Nach vierzehn Tagen trafen sie sich im Dunklen an einem dritten Ort .
Dann verlobte er sich mit ihr .
Bald darauf besuchte sie ihn acht Tage lang in unserem Elternhaus .
Diese acht Tage sind die merkwürdigsten und schönsten meines Lebens gewesen .
Wir beiden guten dummen Jungen lernten in den Tagen etwas kennen , etwas , wovon wir nichts gewußt hatten , daß es existierte , daß es so etwas wunderbar Merkwürdiges auf der Welt gäbe .
Was war es ?
Wir lernten ein schönes , junges Mädchen kennen , gesund an Leib und Seele , so schlicht und natürlich , als wäre es erst gestern von Gott geschaffen .
Wir kannten von der Schule her , wie viele verschiedene Sorten von Nashörnern in Afrika lebten ; und wir hatten gelernt , was eine Oper ist und eine überseeische Handlung , und wie man eine Auster aufmacht .
Aber dies Wesen war uns noch nicht vorgekommen .
Wir kannten es weder auswendig noch inwendig .
Wir lernten es ganz plötzlich kennen .
Ich kann euch nicht sagen , wie wir uns gewundert haben , und wie übervoll von Glück diese acht Tage waren .
Mein Bruder und ich haben uns über dies Stück Schöpfung sehr gewundert .
Es war Sommerzeit .
Sie lag in unserem Garten im Gras , in ihrem losen Kleid , in ihrer ganzen Herrlichkeit .
Mein Bruder saß zu ihrem Haupt und ich zu ihren Füßen .
Ihr müßt nicht denken , daß es mich quälte , daß sie so herrlich jung und schön und schlicht war und nicht mir gehörte .
Das hat mir ganz fern gelegen .
Ich habe nichts als Freude gehabt ; ich freute mich über sie wie über eine große , schöne Schwester , die mir plötzlich geschenkt war .
Ihr müßt auch nicht denken , daß sie die erste Schönheit war , die ich sah ; es wächst da manche Schönheit in der Gegend .
Sondern es war : daß sie ihre Glieder und ihre Seele so dicht vor unseren Augen und so ganz selbstverständlich und harmlos ausbreitete und gar nicht wußte , was sie uns Neues und Schönes zeigte .
Ich wunderte mich über jede Bewegung ihrer Glieder , und fast noch mehr über jedes Wort , das sie sagte .
Ihre Glieder waren , wie wenn über einen weichen , jungen Wald leichter Wind hinrauscht , daß es ist , als wenn er atmet und sich dehnt unterm Wind ; ihre Worte waren , als wenn eine Linde redet , die in Blüte steht ; wir sahen immer auf ihren Mund .
Die acht Tage gingen vorüber .
Ich mußte nach Hamburg und ging bald darauf nach China ... "
Er sah sinnend vor sich ins Glas ...
" Ich weiß nicht , " sagte er , " ob diese acht Tage Ursache gewesen , daß ich einsam geblieben bin .
Jedenfalls waren sie die schönsten meines Lebens . "
Und er faßte sein Glas und wandte sich Anna Boje zu , grüßte sie mit dem Glas und sagte : " Sie sind schuld , daß ich auf diese Geschichte gekommen bin . "
Und trank .
Da nickten auch die anderen ihr zu , und Kai Jans sah sie an und sah die leichte Röte in ihrem reinen , schönen Gesicht , und dachte :
Wie schön ist sie .
Kassen Wedderkop schenkte neu ein und sie sprachen ein wenig durcheinander und sahen auf die Gäste , die da saßen und ab und zu gingen .
Anna wandte sich zu Piet und sagte leise : " Sieh Mal den Mann an , den breiten , grauen , schräg hinter mir . "
Piet bog sich ein wenig , daß er am Kopf seiner Schwester vorbei sah , und sah hin .
Er saß immer noch hinter seiner Rotweinflasche , in derselben breiten , trägen Ruhe , die etwas Unnatürliches hatte , so , als wäre seine Seele zur Zeit nicht in ihm , so , wie ein leeres Haus unheimlich ist ; und sah mit seinen glotzenden , unbeweglichen Augen nach ihrem Tisch .
Piet wandte sich rasch wieder zur Seite und sagte leise und leicht :
" Ein Hamburger Philister und Rotweintrinker .
Läßt andere für sich denken und arbeiten .
Was geht er uns an ? "
" Du ! " sagte Wedderkop zu dem kleinen Roten , " sage mir Mal eins !
Weißt du noch , wie wir drei auf dem russischen Dampfer von Wladiwostok nach San Francisco fuhren ?
Erinnerst du dich noch der Fahrt ?
Niemals in meinem Leben habe ich etwas so Wildes und so Großes erlebt :
wir fuhren mit schmieriger Maschine , ohne ordentliche Navigation , ohne Ausguckmann , durch schwere , graue Wogen , durch kalte , treibende Nebel , durch tagelange , brausende Schneestürme , immer geradeaus , wir drei Deutschen einsam unter lauter Russen , die vor ihren Heiligenbildern soffen und fluchten .
Wir beide , der Lange und ich , waren in einer großartigen Stimmung : als rasten wir die Milchstraße entlang und könnten jeden Augenblick ins Unendliche stürzen .
Du aber warst teilnahmlos ...
Was fehlte dir damals ? "
Der Kleine sah mit klugen , sinnenden Augen auf den Freund , und dann mit munteren auf Anna Boje und sagte : " Ich weiß auch eine Geschichte zum Wein , und für die Ohren eines schönen Mädchens ... Ihr wißt ... ich bin im Pastorat zu Hilligenlei geboren , das heute noch unverändert steht .
Mein Vater war ein etwas enger und starrer Mann und konnte sich wenig um uns Kinder bekümmern , da er viel Arbeit hatte .
Unsere Mutter ... davon mag ich vor anderen Leuten nicht reden ... ich weiß auch nicht , wie groß ihre Schuld war , und wie groß die des Vaters ... genug , sie ging fort ... und ist nun tot ...
Es war schlimm für uns Kinder : der Vater steif und hart , die Mutter mit bitterem Hohn auf den Lippen ; danach wir mit dem Vater allein .
Da kam es dahin , daß ich , der Pastorensohn , unter allen Konfirmanden am meisten über das spottete , was mein Vater von der Kanzel lehrte ...
In Hamburg , in der Lehre , blieb ich , was ich war : ein kalter Spötter und ein leerer Alleswisser .
Einige Jahre nach der Lehrzeit , als ein Zweiundzwanzigjähriger , ging ich nach Hongkong .
Als ich dort ein oder zwei Jahre gewesen war , wurde ich bei einem jungen Ehepaar eingeführt .
Er war ein Engländer ; sie eine Hamburger Kaufmannstochter .
Sie mochte damals so gegen dreißig sein , gesund , blühend , glückliche Frau und junge Mutter .
Sie merkte bald , wie aufgeblasen und verlogen es in mir war , und hatte Mitleid mit mir und fing an , mir zu helfen .
Wunderbar , wie sie es verstand .
Sie ließ mich spotten und höhnen und prahlen und gab mir fast recht darin ; nur daß sie jedes Stück , das ich also in den Schmutz geworfen hatte , wieder aufnahm und seitwärts an einen reinlichen Ort legte , so wie eine Mutter ein altmodisches , steifes Stück Zeug sorgfältig beiseite legt , weil es einst der Stolz der Großmutter gewesen .
Da stutzte ich und meine Härte ließ nach .
Sie war an der Seite ihres Mannes weit in der Welt umhergekommen , obgleich sie noch so jung war .
In Südamerika hatte sie starres , katholisches Christentum gesehen , in Japan hatte sie an dem Krankenbett eines heidnischen Gelehrten gestanden , in Hongkong verkehrte sie mit einem Katholiken , auf dessen Bücherbord nur lateinische Schriftsteller standen ; sie hatte auch viel gelesen :
Mark Aurel und Plato kannte sie , und vor allem Goethe .
In stillen , milden Gesprächen , nie angreifend , immer , immer zurückweichend , zeigte sie mir das , was der feste , heilige Grund ihrer Seele war : das demütige Verehren des Geheimnisses , das hinter der Welt und der Seele ist .
Da wurde meine Natur rein von all dem Falschen , das sich in ihr eingenistet hatte ; sie klärte sich , und ich wurde ein schlichter und stiller Mensch .
Es konnte nicht anders kommen , als daß ich mich heiß in sie verliebte .
Ich meinte , ich könnte fern von ihrer Schönheit , Klugheit und Güte nicht leben .
Eines Tages kam ich zur Erkenntnis , daß ich fort müßte , wenn ich nicht zugrunde gehen wollte ...
Da ging ich .
Das Gehen wurde mir dadurch ein wenig leichter , daß ich eine große , heimliche Hoffnung in mir trug .
Nämlich , wenn ich in ihrem Hause Gast war , hatte ich die Gewohnheit - die ich haben durfte - daß ich die Bilder , die da in der Stube hingen und lagen , betrachtete .
Da kam ich immer wieder zu dem Bilde der jüngern Schwester , die , einundzwanzig Jahr alt , bei den Eltern in Hamburg lebte , und ihr ungewöhnlich ähnlich war .
Da dachte ich : Du reist nach Hamburg und heiratest die Schwester , ihr Ebenbild .
Ich nahm also Urlaub und kam nach Hamburg und kam mit dem Gruß der fernen Tochter in ihr Elternhaus und sah die Schwester .
Sie war ganz wie die , welche ich so heiß liebte .
Körperlich ihr gleich und in ihren braunen Augen spielte derselbe freundliche Schelm .
Sie war auch klug wie jene und sie hatte auch Mark Aurel verstanden und Goethe ; sie war auch freundlich ...
Aber es fehlte ihr etwas ... eins ... es fehlte ihrer Seele die Tiefe , die stille , schwarzblaue Tiefe : die Ehrfurcht vor den ewigen Geheimnissen ...
Sie konnte über Religion lachen ... "
Er sah in Gedanken vor sich hin ...
" Ich konnte sie nicht heiraten , " sagte er .
" Ich dachte immer an jene andere , die in Hongkong im Glück saß ... und ich denke noch an sie ...
Jene zwei Hongkonger Jahre sind die glücklichsten in meinem Leben gewesen ... "
Er hob den Kopf und sah Anna Boje an und sagte freundlich :
" Sie sind schuld , daß ich die Geschichte erzählt habe .
Ihre ruhigen , klaren Augen sagen : Erzähle ' ein wenig Wahrheit .
Sie erinnern mich an jene Augen , obgleich die Ihren hell sind ...
Jene verlangte auch Wahrheit ... " und er hob sein Glas und grüßte sie und trank .
Als sie alle getrunken hatten , sahen sie in Gedanken vor sich hin .
Das rötliche Licht fiel von oben her auf sie ; leiser , blauer Dunst lag um sie ; das Haar Anna Bojes war hell und leuchtete .
Der Kellner sah mit stillem , blassem Gesicht auf die freundliche , kleine Tafelrunde , in der nun schon der zweite Graukopf mit so bedeutsamem Kopfnicken das Wort führte .
Der Fremde saß an derselben Stelle , das Glas vor sich , die Hände ineinander um das Glas , und sah mit runden , grauen Augen seelenlos stier auf die alten und jungen Kinder von Hilligenlei .
Die forderten neuen Wein und tranken fröhlich .
Und Kai Jans hob sein Glas und sah mit den schelmischen Augen seines Vaters auf Anna .
" Du , Anna Boje !
Auf unser Wohl !
Im Mai komme ich wieder ! "
Anna Boje sah ihn freundlich an und lachte auf .
Da sagte der Lange , der einst in Itzehoe im Garten zu den Füßen der Landmannstochter gesessen hatte , während sein Bruder zu ihren Häupten saß :
" Deine Geschichte , Wedderkop , hat auf der anderen Seite der Alster gespielt , gar nicht weit von hier ... ich kenne sie . "
" Ich glaube nicht , daß du sie kennst , " sagte Wedderkop , " aber ihr könnt sie gern erfahren ; sie ist kurz , und sie ist eine Geschichte beim Wein und für feine Mädchenohren ...
Als ich damals mit euch beiden über San Francisco nach Hause kam , fand ich einfacher Junge die Beachtung eines unserer ersten Kaufleute .
Ich lernte ihn im Kontor meines Chefs kennen und gefiel ihm und wurde in sein schönes Haus geladen , da jenseits der Alster .
Dort habe ich durch fünf Wochen schöne Stunden verlebt .
Er war ein tüchtiger Kaufmann ; er steht noch heute als kühler , vorsichtiger Geschäftsmann in gutem Ruf .
Aber bei aller Geschäftstüchtigkeit und Geschäftsklugheit vergaß er nie den inneren , idealen Sinn des kaufmännischen Berufs .
Er sprach mit starker Bitterkeit über die Kaufleute , welche meinen , ihr Lebenszweck wäre , Geld über Geld zu verdienen ; und sprach mit klugen und köstlichen Worten von dem wahren Königstum des anderen Kaufmanns , welcher sorgt , daß auf der Erde kein Gut verkommt , sondern daß die Güter der Erde zu allgemeinem Nutzen über den ganzen Erdball hin- und hergeschoben und verteilt werden , daß sie an rechter Stelle den Menschen nützen , die Not abhalten und die Lebensfreude erhöhen .
Er ging manches Stündlein seiner freien Zeit mit mir durch seinen schönen Garten und weitete mir Herz und Auge mit solchen Gedanken .
Und seht !
Wenn wir so gingen : dann ging seine jüngste Tochter fast immer neben uns ...
Und wenn sie einmal nicht da war , rief er sie oft , daß sie mit uns ginge .
Ich weiß nicht , ob er uns mit einer heimlichen , guten Absicht zusammenführte .
Daß er mich sehr gern hatte , das weiß ich wohl .
Genug : Sie war jung und schön , und trug ihr feines , schlichtes Kleid wie eine junge Birke ihre Krone .
Und der Garten war voll von edlen Blumen und Bäumen ; und das Haus war voll von altem Reichtum und voll von Güte .
Fünf Wochen vergingen so .
Da kam die Frau des Hauses heim , die die verheirateten Kinder besucht hatte .
Sie war ganz anders als der Mann und sein jüngstes Kind .
Sie durfte es vor den beiden nicht offen zeigen ; aber sie war inwendig hochmütig und herrschsüchtig .
Sie mochte mich nicht , und sorgte , daß ich nicht wieder kam .
Da ging ich wieder nach China und blieb fünfzehn Jahre dort ...
Warum ich ledig geblieben bin , weiß ich nicht ...
Weil ich an das schöne Kind dachte , in seinem feinen , schlichten Kleid , mit dem ich neben dem klugen , gütigen Mann durch den schönen Garten gegangen war ?
Ich wollte ja wohl nicht hinuntersteigen ...
Als ich fünfzehn Jahre drüben gewesen war , traf mich auf einem Weg ins innere Land eine koreanische Kugel .
Ich ging nach Hamburg zurück , brachte mein kleines Kapital bei einigen Freunden unter und zog nach Hilligenlei .
Und spinne nun die Gedanken weiter , die jener einst im schönen , sonnigen Garten mit mir beredet hat , die Gedanken vom klugen , königlichen Kaufmann ; und noch heute freut mich am meisten jede kleine Aufmerksamkeit und Anerkennung , die jener mir schickt ; er ist nun ein alter Mann ...
Von seinem Kind weiß ich nichts ... "
Er hob sein Glas und sah Anna Boje an , und grüßte sie und trank .
" Aber nun ! " sagte der Lange , " möchte ich wahrhaftig wissen , was die Jugend zu den drei Junggesellen sagt ! "
" Sage ' du , Piet ! " sagte Kassen Wedderkop , " was sagst du ? "
" Sie waren alle drei , wie wir Seeleute sind , " sagte Piet mit Lachen .
" Zur See oder in China :
das ist gleich .
Wären Sie hier in Hamburg gewesen , so hätten Sie alle drei geheiratet . "
Da zürnten die drei und stritten dagegen und sagten :
" Er will uns herunterreißen .
Das ist nicht wahr .
Wir wollen nicht mit ihm anstoßen . "
" Nun , sage du deinen Spruch , Anna !
Sage ihn frei heraus !
Sind wir um nichts und wieder nichts ledig geblieben ? "
" Mir scheint , " sagte Anna Boje gnädig , " Sie begehrten alle drei das Feinste , was Sie sahen .
Als Sie das nicht bekommen konnten , blieben Sie ledig .
Ein junges Mädchen kann das verstehen und muß es achten .
Sie sind alle drei ehrenwerte Junggesellen . "
Da freuten sich die drei und lachten laut und grüßten sie .
" Aber nun ! " sagte der Lange , " nun kommt der dritte !
Den habe ich schon immer mit Mißtrauen beobachtet ; aber man sieht nicht genug von seinen Augen ; sie liegen zu tief ...
Nun sage du deinen Spruch . "
" Ich denke wie Anna Boje , " sagte Kai Jans , und seine Augen strahlten von Leben und Güte :
" Sie haben etwas Reines , etwas Heiliges haben wollen .
Darum sind Sie nun ledig .
Und Sie haben recht getan ; denn nun sind Sie reine Leute geblieben . "
Da sahen die drei unsicher vor sich nieder in ihre Gläser ...
Aber dann hob der Lange sein Gesicht und sagte ernst :
" Ich mag nicht , daß die Jugend in einem so schweren Irrtum bleibt :
Wir haben einmal in unserer Jugend das Heilige gesehen ; aber das hat uns leider nicht abhalten können , nachher Sünder zu werden . "
Da erschrak Kai Jans und sein Gesicht veränderte sich .
Er starrte finster und blaß vor sich hin und wollte aufstehen .
Da erhob sich auch der Fremde , die dunklen leeren Augen auf ihn gerichtet .
Aber Kai Jans setzte sich wieder und starrte wieder dumpf auf den Tisch .
" Wir wollen nun gehen , " sagte Wedderkop bedrückt ...
" Wollt ihr noch ein wenig bleiben ? "
" Wir bleiben noch ein wenig , " sagte Piet ruhig .
Da gingen die drei .
Aber als sie noch nicht draußen waren , schlug Kai Jans mit der Hand schwer auf den Tisch und rief in hellem Hohn : " Seht ihr ? ...
So steht es !
... Hilligenlei ?
... " und lachte laut und bitter auf .
In dem Augenblick - er lachte noch - trat der Fremde an den Tisch und setzte sich ihm gegenüber und sagte mit träger Stimme und die Augen mühsam zu Kai Jans erhebend :
" Ich hörte die Geschichten der Alten , und wußte schon , wohin die Sache lief . "
Anna Boje sah mit raschem , scheuem Blick auf ihn , und sah , daß seine Augen ganz stockig und talgig waren .
Das Herz schlug ihr vor Bangigkeit bis an den Hals ; sie wollte sich zu Piet wenden , konnte es aber nicht .
Kai Jans lehnte sich schwerfällig nach vorn :
" Wissen Sie , " sagte er , " ich bin so ein Mensch ... ich habe von Kindheit an alles so furchtbar ernst genommen ... so ernst , wissen Sie ... ich glaube , ich sage richtiger ... heilig ... ich bin früher Mal ... um die ganze Welt gefahren ... dahinter her ... ich meinte immer , die Welt müßte heilig sein ...
In der letzten Zeit aber ist mir so ... , " er lachte wieder schwer ...
" Und nun kommen die Alten mit ihren Geschichten ... die Alten müssen es doch wissen ... Mir wird so wunderlich zu Mut ...
Ich glaube ... mir ist seit einiger Zeit der Gedanke gekommen ... daß alles ... ganz gleichgültig ist ... ganz gleichgültig .
Wer sind Sie denn ? "
Anna wandte sich ängstlich zu Piet und sagte :
" Wollen wir gehen ? "
" Ich möchte noch ein wenig warten , " sagte Piet rasch und sah sich um .
" Auf wen denn ? "
" Ich traf gestern Pe Ontjes , " sagte er kleinlaut " und erzählte ihm , daß du kämst ; da versprach er mir , daß er auf eine Stunde kommen wollte .
Viel Zeit hat er nicht .
Aber ich hätte doch gedacht , daß er gekommen wäre . "
Sie fuhr auf und sagte bitter :
" Das hätte ich dir vorher sagen können , daß er nicht kommt . "
In dem Augenblick sprang Kai Jans auf und schlug auf den Tisch und sagte laut : " Wißt ihr was ?
Ihr beide , ihr Bojes !
Sucht ihr Hilligenlei !
Ja !
... sucht ihr es !
Sagt es auch den anderen : dem großen Pe Ontjes Lau und der kleinen Heinke ... die wird noch schöner als du , Antje !
Sagt es auch Tjark Dusenschön , dem Narr gewordenen Königskind !
Was soll ich mich immer plagen ?
Sucht ihr Hilligenlei , hört ihr ?
Ich ... ich will mir ein anderes Land besehen . "
Anna stand mit blassem Gesicht auf :
" Komme , " sagte sie , " es ist schrecklich , er ist betrunken .
Die Leute sehen auf uns ... komme , Piet . "
Der Fremde stand neben Kai Jans .
" Gehen Sie ein Stück mit mir ? " sagte er .
Der Kellner kam und half Anna in die Jacke .
" Was ist das für ein Mensch ? " fragte Piet , und zeigte nach den beiden , die nach dem Gang zu gingen .
" Der Graue da ! "
" Wir wissen nicht , wer es ist , " sagte der Kellner ; " er sitzt hier zuweilen und trinkt eine Flasche Rotwein und bringt es immer fertig , daß er sich an eine Gesellschaft heranmacht ... besonders hat er es auf junge Leute abgesehen .
Und dann ist es jedesmal aus mit der Freude , " und er sah in ihre finsteren , verstörten Gesichter .
" Der Lump , " sagte Piet .
" Was ist er denn ? "
Anna schluchzte in Scham und heißer Angst auf : " Gehe hinter Kai Jans her ... O , wie schäme ich mich vor den Leuten . "
" Ich hinter ihm her ? " sagte Piet höhnisch .
" Laß ihn laufen , wohin er will !
Es ist ja gut , daß er endlich mit der Dummheit aufhört .
Hilligenlei suchen ?!
Verrückt ist der Mensch !
Wir sollten Hilligenlei suchen ?!
Wir ?! "
Er faßte ihre Hand und ging mit ihr hinaus .
An ihrem Gasthof nahm er Abschied von ihr .
Sie ging hinauf und entkleidete sich und legte sich hin und schlief ein und hatte bald einen wunderlichen Traum .
Sie hörte ganz klar und hellklingend ihren Namen rufen : " Anna Boje ?! "
Sie erkannte gleich an der Stimme , daß es Gott war , der sie anrief und sagte : " Ja , Herr ?
... "
" Kai Jans hat es aufgegeben , Hilligenlei zu suchen , " sagte Gott ; " nun müßt ihr es suchen .
Du weißt : einer aus eurer Stadt soll es suchen und finden ... "
" Ach , Herrgott ! " sagte sie .
" Wir Bojekinder finden es niemals , und Pe Ontjes Lau hat lange nicht genug gelernt ... "
" Was soll ich denn nun tun ? " sagte Gott ...
" Ach , Herr ! " sagte sie , " Kai Jans wird wieder anfangen , es zu suchen , darauf kannst du dich ganz gewiß verlassen .
Glaubst du , daß er auch nur ein Jahr lang mit dem gleichgültigen , glotzen Grauen geht ?
Der fängt bald wieder Feuer .
Das sitzt nun einmal in ihm .
Und wenn er wieder anfängt , es zu suchen :
so habe ich eine junge Schwester , die heißt Heinke , und ist schöner und heiliger als ich , die wird ihm helfen , daß er es findet . "
Da hob Gott den Finger und sagte : " Du sollst es auch suchen ... "
Da erschrak sie wieder :
" Herr ! " sagte sie .
" Ich kann es nicht .
Ich bin ein so unruhiges , unglückliches Menschenkind ! "
Da drohte ihr Gott ernst und verschwand .
Am anderen Morgen fuhr sie nach Hilligenlei zurück .
Ihre Seele war unruhig und verwirrt .
Dreizehntes Kapitel Und als Anna Boje also heimkam , da erzählte Heinke , daß die drei vom Heckenweg mit der kränklichen Mutter abgereist wären .
Die Mutter solle eine lange Kur durchmachen .
Wann die drei wiederkämen , das hänge vom Befinden der Kranken ab .
Ja , sagte Heinke , es wäre nicht unmöglich , daß sie alle ihren Wohnsitz hier aufgäben und der Mutter wegen nach Süddeutschland zögen , irgendwo an den Rhein .
Da preßte Anna die roten Lippen fest zusammen .
" So ! " ...
Nun war sie denn ganz allein .
Kein Mensch hatte sie lieb ; keiner fragte nach ihr ; keiner kümmerte sich um sie .
Sie würde nun so allmählich verblühen und verdorren .
Sie lachte in wildem , bitterem Schmerz .
So blieb sie in dumpfer Not acht Tage lang .
Aber da kam der neunte September .
Niemals in ihrem Leben vergißt Anna Boje den sonnigen , heißen neunten September .
Und wenn sie neunzig Jahre alt wird .
Und niemals wird sie glauben , daß da an dem Tag für sie oder einen anderen eine Sünde liegt .
So dachte sie :
Und liegt da Sünde , so ist sie mit schwerem Leid gesühnt .
Und liegt da Sünde : die Liebe deckt eine Menge Sünde zu .
Am neunten September , zu ganz ungewohnter Zeit , gleich nach Mittag , standen ihre drei Freunde am Heckenweg und klapperten nach ihrer Weise mit der Pforte .
Sie stand am Herd ; aber sie hörte es gleich , und kam herausgelaufen .
Sie machten alle drei lange Augen , daß sie Anna Boje glücklich wiedersahen .
" O , " sagten sie , " wie schön , daß wir uns wiedersehen ! "
Er selbst strahlte vor Freude .
Er sah frischer aus , als sonst , wenn er täglich hart arbeitete .
Sie wurde in ihrer übergroßen Freude zutraulich wie bisher nie .
Sie riß die Tür ihrer Seele auf .
" Ihr seid drei liebe , dumme Narren ! " sagte sie und legte sich in süßer Verwirrung in die Knie .
" Knack , " sagte das Knie .
Dann erklärten die drei : Sie müßten nach acht Wochen alle hinter der Mutter herziehen , nach dem Süden , weg von Hilligenlei .
Aber so lange sie noch hier wären , wollten sie Anna Boje jeden Tag sehen ... jeden Tag .
Ob sie wohl heute nachmittag mit ihnen ins Gehölz ginge ?
" Da ist ein Platz , " sagte die Kleine .
" Da ist ganz kurzes Gras .
Da wollen wir beide miteinander tanzen . "
" Du mußt ganz wenig anziehen , " sagte die Ältere ; " denn es ist furchtbar heiß und du sollst tanzen . "
Es war ein stiller , heißer Tag , der neunte September .
Sie fanden richtig den Platz mit dem kurzen Gras , am Waldrand .
Ein versteckter Platz , von zwanzigjährigen Tannen umstanden .
Und vor dem Eingang lag , wie vor einer halbdunklen Höhle , der helle Sonnenschein .
Und da tanzte sie auf dem kurzen Rasen , erst mit der Kleinen , dann mit der Größeren .
Dann bat er sie , daß sie allein tanzte .
Dann bat er sie , daß sie so , wie sie dastände , stehen bliebe .
Sie tat alles , was er wollte .
Er war so lieb und drollig mit seinen Kindern , und bat so freundlich , und seine Augen waren voll Freude und Güte .
Ihr wurde unter seinen Augen das Herz wirr und heiß .
Da kam er plötzlich auf sie zu , nach dem Eingang hin , und sagte mit mühsamer Stimme :
" Weißt du , daß ich durch dein Kleid deine Glieder sehe ? "
Sie sah ihn wirr und weh an :
" Es war so heiß , " sagte sie klagend , " und ich wollte tüchtig mit den Kindern tollen ... "
" Weißt du , daß du die Schönste bist im ganzen Land ? "
Sie trat zurück gegen die Tannen und sah ihn mit bangen , bittenden Augen an :
" Ich darf ja nicht ... ich darf ja nicht . "
Er hörte nicht darauf ; er wußte , daß sie ihn lieb hatte .
" Alle die Jahre von deiner Kindheit an hast du mich lieb gehabt ; ich habe es immer an deinen Augen gesehen . "
" Ich habe es nicht gewußt , " murmelte sie .
" Das habe ich nicht gewußt .
Bei Gott nicht .
Ich habe an dies nicht gedacht . "
Er warb nicht ; er redete nur von seiner übergroßen Freude ...
" Sieh , so bist du !
... so tapfer ... so klar !
... Du weißt :
du bist dreiundzwanzig und dir gehört dein Leib und deine Seele ... voll von Wundern bist du und weißt es nicht ... du schönes , liebes Weib . "
Er griff nach ihren Händen .
Sie ließ ihm beide Hände und sah ihn mit verwirrten , wehen Augen an :
" Ich , " sagte sie mit schwerem Atem ... " ich werde niemals einen Menschen so lieb haben wie dich . "
Sie gingen im schrägen , heißen Schein der Sonne durch den Wald ; die Kinder vor ihnen her ; sie mit gebeugtem Haupt ; er mit Augen und Worten an ihr hangend .
Als sie in das stille Haus kamen , gingen die Kinder mit dem Mädchen in den Garten .
Er legte den Arm um sie und führte sie in seine Stube .
" Du ... " sagte sie in großer Not ...
" Sage ' mir ... ich tu ' nichts Böses ...
Sage es mir !
.. .
Ich ... ich kann nicht anders ...
Ich habe es nicht gewußt ; aber jetzt ist es so :
ich habe dich schon lange über alles lieb gehabt ... O , daß du mich lieb hast !
Ich weiß es jetzt , daß ich es gehofft habe .
O ... ich war so schrecklich verlassen !
... Kein Mensch hat sich um mich gekümmert ... o wie lieb bist du ... "
Sieben Wochen dauerte die Herrlichkeit ; sieben Wochen wurde die Seele Anna Bojes hin- und hergerissen :
" Heilige Zeit ... nein : unheilige ... nein : heilige ... "
Sieben Wochen in Märchen und Wundern , in übergroßem Leid und übergroßer Lust .
Sieben Wochen war Anna Boje ein glückseliges , unglückliches Weib .
Sie bat ihn nicht : " Behalte ' mich und laß die andere gehen ; ich weiß nicht , wie ich leben soll , wenn du fort bist . "
Wenn sie ihn so gebeten hätte , er hätte es wohl getan ; denn er erlebte dieselben Wunder , die sie erlebte .
Sie bat ihn nicht .
Sie hätte es nicht einmal angenommen , wenn er es ihr angeboten hätte .
Sie hätte nicht über den Jammer der anderen weg in ihr Glück gehen können .
Sie wußte , es kommt ein Tag , und er kommt bald , ein schwarzer , schrecklicher :
da geht die ganze Herrlichkeit in Scherben : " die heilige ... nein ... die unheilige ... nein ... die heilige ... "
Zu der Zeit sagte die Mutter zu Heinke : " Weißt du , was mit Anna ist ?
Sie ist so freundlich mit uns und spricht mit uns , wie seit Jahren nicht ... "
" Ja , " sagte Heinke ... " ich habe es auch schon gemerkt ... ich weiß nicht , wovon es kommt . "
Und die Mädchen in der Stadt , mit denen sie dann und wann zusammenkam , sagten :
" Was ist mit Anna Boje ?
Wie freundlich und fröhlich ist sie !
Seht doch , wie schön ist sie ! "
Dann kam der Tag .
Der Arzt im Süden hatte entschieden , die Frau müßte da unten bleiben , in einem sonnigen Tal ; die Luft hier an der Nordsee wäre zu schwer und zu feucht , und zu kalt und zu salzig ...
" O , " sagte er und holte tief Atem und sah Anna Boje an :
" Die Luft ist hier so frisch und gesund ... und du ... du bist so lieb und schön ! "
" Du mußt fort , " sagte sie und Tränen schossen ihr in die Augen ... " mußt mich vergessen ... und ich muß sehen , was aus mir wird . "
Da konnte Anna Boje die Kinder noch fertig zur Reise machen und konnte noch einmal seine heiße , törichte Liebe schmecken und die Verzweiflung sehen , die in seinen Augen stand , und konnte die drei nach dem Zug bringen und konnte ihm die Hand schütteln und mit zusammengebissenen Zähnen sagen :
" Grüßt eure Mutter , " und konnte dann allein nach Hause gehen und zu ihrer Seele sagen : " Du siehst ihn niemals wieder . "
Als sie nach Hause kam , war da eine Karte von Kai Jans an sie angekommen .
Er berichtete kurz , wie es ihm ginge .
Seitwärts stand mit kleinen Buchstaben :
" Hast Du Hilligenlei gefunden ?
Ich habe so ' was ähnliches entdeckt ! "
Daneben hatte er ein Augenpaar gemalt , die Augensterne mit blauer Tinte .
" Du , " sagte Heinke , " wie merkwürdig , daß er an dich schreibt ; er hat bisher immer nur an mich geschrieben .
Und was bedeutet das da an der Seite ? "
" Er hat wohl eine Liebste , die blaue Augen hat , " sagte Anna .
Da wurde Heinke still und ging in den Garten zum Apfelbaum und weinte .
* Es kam eine trübe Zeit für das kleine Giebelhaus unter den Kastanien .
Piet trieb auf ferner See , nach Samoa , und hatte seine Hoffnungen und Pläne , die seine Schwester nicht kannte oder nicht teilte .
Hat kam nach Kiel in die Kaufmannslehre ; acht Wochen später schrieb er seinen ersten heimlichen Brief um Geld an Anna ; die schickte ihm von ihrem Ersparten dreißig Mark .
Er dankte ihr nicht einmal .
Sie dachte : » Das Los der älteren Schwester fängt schon an ; es fängt an zu werden , wie bei Professor Toner , dessen drei Töchter für die beiden Söhne weltfremd und dumm bleiben , und arm und fleißig sind . «
Helle Boje , die vor fünfundzwanzig Jahren bei Ringerang aus dem Schuh getanzt war , bekam in dieser Zeit graues Haar und wurde eine Matrone .
Sie grämte sich und verhärtete ihr Herz , daß sie ihre beiden Lieblinge nicht bei sich hatte .
Mit Anna , die nun wieder ganz verschlossen war , sprach sie wenig .
Heinke war ihr mit allem , was sie tat , unleidlich .
Sie schalt sie störrisch , träge , unfreundlich .
Das Kind , das weiter keine Fehler hatte , als den still verschlossenen Stolz der Mutter und den hohen Geist des Vaters , ertrug die Schelte schwer und weinte oft und heimlich .
Wenn sie die Tränen trocknete , besah sie die Ansichtskarten , die Kai Jans von Heidelberg und seiner Umgebung schickte .
Die lagen wohlgeordnet in ihrem Gesangbuch .
Zuweilen versuchte Anna sich aufzuraffen .
Sie versuchte für sich und ihre Schwester ein Kleid zu machen , wie sie es gelernt hatte ; aber die dumpfe , seßhafte Arbeit und die prickelige Kunst lag ihr nicht ; sie mußte es wieder auftrennen und der Schneiderin übergeben .
Abends in ihrer Kammer versuchte sie heimlich in ihres Vaters Büchern zu lesen .
Sie sah mit ruhigem Staunen die erhabenen Bilder , die da vor ihr aufstiegen , und ließ das Buch bald sinken und sah sich in der kleinen , bescheidenen Kammer um und in ihrem dürftigen , hoffnungslosen Leben , und legte das Buch weg und konnte den Weg zur Schönheit nicht finden .
Im Winter wurde sie einmal wieder zu einer Mädchengesellschaft geladen und sie zwang sich hinzugehen .
Es ging da munter genug her .
In einer Stube saßen die jüngsten , so bis achtzehn :
sie erzählten sich harmlose , törichte Geschichten und lachten dabei , daß einige unter den Tisch sanken .
Heinke war unter ihnen .
In der anderen Stube saßen die älteren , so bis achtundzwanzig : die kamen auf das Thema : heiraten .
Die über fünfundzwanzig führten das Wort ; die jüngeren hörten bedrückt zu .
" Ja , heiraten !
Einen ordentlichen Mann haben , das ist das beste . "
" Aber davon gibt es nicht viele . "
Und sie fingen an , die jungen heiratsfähigen Männer durchzusprechen .
Und sprachen bitter und verächtlich über sieben , acht , die nicht heirateten , weil sie feige oder bequem oder unfähig waren .
Eine sagte das harte Wort :
" Die jungen Männer werden immer mehr Krüppel .
Heiraten wird immer seltener . "
" Na ! " sagte eine ... " Frieda hat neulich geheiratet , und Gertrud . "
" Ja , Frieda hat zehntausend bar , und Gertrud ... nun , Gertrud war fünfundzwanzig . "
" Den einen trifft_es ; am anderen geht es vorüber . "
" Wenn ich keinen Mann bekomme , weil ich klein und häßlich bin , das kann ich ertragen .
Aber daß ich keinen bekomme , weil ich keine vergoldete Nase habe , das ist schändlich .
Frieda mit ihren zehntausend ?
Was hat er davon ?
Wer will bei einem solchen Gerippe schlafen ? "
" Höre ' du !
Sei nicht so stark ! "
" Ach was !
... Sagen nicht die Sozialdemokraten , daß die ganze verfluchte Geldwirtschaft ein Ende haben soll ?
Das wäre was :
wenn wir nach Stärke und Schönheit taxiert würden .
Was sagst du , Anna Boje ?
Dann bekämst du einen Prinzen und ich bekäme einen Baron .
Denn ihr könnt nicht leugnen , daß ich gerade und stark bin und eine feine Nase habe und daß mein Haar lang und schön ist . "
Und sie lachte und griff mit beiden Händen in ihr blondes Haar .
" Na , die meisten von uns heiraten doch !
Bei weitem die meisten !
Einige wollen auch nicht heiraten , haben keinen Sinn dafür . "
Da lachte eine :
" Kinder , ich kann euch eine kostbare Geschichte erzählen .
Ihr haltet den Mund , sonst sage ich euch kein Wort wieder ...
Ich und Lene Brühn waren vorige Woche nach Bindorf gefahren und verpaßten den Zug und wollten zu Fuß nach Hilligenlei zurück .
Unterwegs bekamen wir aber Angst und kehrten in der Wirtschaft von Söthbier ein ... ihr wißt , der Alte mit den beiden Töchtern . Na ... die beiden Deerns waren so freundlich und überließen uns ihre Stuben und legten sich anderswo schlafen .
Ich schlafe ein ; und Lene Brühn schläft auch ein .
So gegen Mitternacht klopft es an mein Fenster und klopft und klopft und fängt an zu schelten :
» Warum läßt du mich nicht ein , Deern ?
... Warum nicht ?
... Was ist dir in die Krone gefahren ?
... Deern , laß mich ein !
... Was ist das ?
Hast mich immer eingelassen , nun mit einemmal nicht ?
... « So geht es eine ganze Stunde lang .
Lene Brühn erlebte ganz dasselbe .
Am anderen Morgen gehen wir ganz früh in die Küche .
Da stehen die beiden am Herd und kochen Kaffee : » Na , « sagt Lene , » nun sagt mir ' Mal eins in aller Welt !
Wenn ihr euch ' Mal verheiraten könnt , tut ihr das ? «
Da sahen sie uns beide ganz verschämt an und sagten :
» Wir denken nicht an heiraten ... nein ... ich glaube , das tun wir nicht « ... Seht , so ist es !
... Heiraten ?
... Selbstverständlich will ich heiraten .
Das wollen wir alle . "
" Wißt ihr was , " sagte eine andere :
" Wenn ihr so gern heiraten wollt , müßt ihr es machen , wie die Tochter vom Sekretär in Tonndorf : sie war nicht hübsch ; sie hatte kein Vermögen ; aber sie war klug .
Sie dachte : » Wenn du Fräulein bleibst , bleibst du ledig . «
Da ging sie nach Hamburg und wurde in einem feinen Hause Stubenmädchen , und da gewann sie sich bald einen tüchtigen Gärtner .
Ihre Schwester machte es nachher ebenso und bekam einen Bäcker , und von dem Bäcker sechs Kinder , und sie leben von den Semmeln , die morgens übrig bleiben , und sind rund und gesund . "
" Nun lügst du wieder , " sagten sie .
" Zuletzt lügst du immer . "
" Ich weiß nicht , " sagte eine :
" Es muß ein guter , kluger Mensch sein , sonst kann ich es nicht . "
" Nein , sonst kann man es nicht . "
" Ach was ! " sagte eine bitter :
" Lieber unglücklich verheiratet , als gar nicht . "
Da gingen die anderen dagegen an :
" Nein , nein ... denke an die ... und die .
Tausendmal lieber ledig . "
" Aber sie hat doch die Kinder , die ihr gehören . "
" Ja ... die Kinder !
... "
" Eine alte Jungfer werden ?
Nichts zu lieben und nichts zu sorgen ? "
" Na ? ...
Seht Hannah Behrens an !
... Die ist eine glückliche , alte Jungfer !
... Nein , wirklich !
... Die verstellt sich nicht !
... Die ist mit ihren zweiunddreißig ledigen Jahren durch und durch glücklich . "
Sie hoben die Schultern : " Ja , " sagten sie ... " es gibt solche .
Die haben eben Buttermilch in den Adern und sollten überhaupt nicht heiraten .
Wir sind anders ... Ledig bleiben ?
Dann lieber tot ...
Was sagst du , Anna Boje ? "
" Anna Boje ist ruhig .
Königin , aber kalt . "
Da war eine Beamtentochter unter ihnen , eine kunstfertige , die ahnte , daß eine heiße Seele in Anna Boje war , und sah sie ernst an .
Diese Beamtentochter hatte von Kind an einen außergewöhnlichen Sinn für Linien und Farben und eine köstlich geschickte Hand .
Von einer flinken Mutter ermuntert , hatte sie in Kiel die Gewerbschule besucht , war dann ins Lichtbildnern geraten und war nun mit vierundzwanzig Jahren in einer großen Stadt im Reich wohlbestallte Mitbesitzerin einer Kunsthandlung .
Nun war sie zum Besuch in der Heimat , und saß mit stillen , klugen Augen unter den Freundinnen ihrer Kindheit und sah auf Anna Boje .
Anna Boje , welche sie immer gern gehabt hatte , weil sie schlicht und natürlich war , sah sie an und sagte :
" Wenn man ein Talent hätte , wie du hast . "
" Ja , " sagten einige :
" Wenn man irgendeinen selbständigen Beruf hätte , wie du . "
Die kleine Kunstfertige sah sie an und sagte : " Ja ... ja ... " und weiter nichts .
Eine , die achtundzwanzig Jahre alt war und ein kluges , ernstes Mädchen , und ihren kranken Vater pflegte , brachte die Unterhaltung zu Ende :
" Die , welche sagen , daß ihr Beruf ihr Leben ausfüllt , die lügen entweder oder sind von Geburt und Natur zur Ehe nicht geschaffen .
Wir anderen alle , was hilft uns ein Beruf ?
Wir wollen nicht für anderer Leute Kinder sorgen , anderer Leute Kinder lehren , anderer Leute Geschäfte betreiben , fremde Kranke pflegen ; sondern :
wir wollen lieben , besorgen und leiden , und meinetwegen sterben für das , was uns gehört .
Das ist für uns Hilligenlei .
Da habt ihr_es . "
So redeten sie geradeaus von ihrer Not .
Es war keine Häßliche unter ihnen .
Abgesehen von einer , die etwas wunderlich war , waren es lauter frische , starke und schmucke Mädchen .
Nun waren sie eine Weile still ...
Dann fingen sie Zwiegespräche an ; und wurden nachher wieder froh und lachten .
Als Anna Boje etwas früher als die anderen aufbrach , ging die kleine Kunstfertige mit ihr .
" Kannst du nicht noch Lehrerin werden ? " fragte sie zaghaft .
" Ich kann nicht , " sagte Anna Boje mühsam ... " ich werde immer gleich zornig .
Ich habe gar kein Talent , nicht ein einziges . "
" Du wirst heiraten , " tröstete die Kleine ... " du bist erst vierundzwanzig und bist groß und schön und klug und ordentlich .
Wenn du nicht heiratest , wer dann ? "
Anna Boje zuckte bitter die Schultern :
" Noch hat mich keiner gefragt , kein einziger . "
" Tilde Peters hat recht , " sagte die Kleine :
" Ein Beruf macht uns noch nicht glücklich .
Wohl , einige , die von Natur so ' was Blasses , Stilles und Schwächliches haben ; aber die anderen , die gesünderen , die sehnen sich nach Mann und Kindern .
Weise Leute sagen freilich , man könne das leicht unterdrücken . "
Da schrie Anna Boje im Zorn auf :
" Das unterdrücken ?
Dann soll ich wohl auch meine Augen eindrücken und meine Brust ... ? "
" Es ist eine große Not , " sagte die Kleine zutraulich und leise .
" Viele grämen sich so dahin und werden unter vielen Qualen still .
Viele stehlen sich das , was sie öffentlich und in Ehren nicht bekommen können , heimlich und in großer Angst .
Früher hatten Kirche und bürgerliche Sitte Gewalt und sagten :
Duck dich .
Aber was fragen sie jetzt in der großen Stadt nach der Kirche und nach bürgerlicher Sitte ?
Sie fragen : Wie kann man uns ausschließen von Herd und Kinderwiege ?
So nehmen sie sich ihr Teil .
Was lauter Herzensfreude sein sollte , das wird Unrecht und Jammer .
Es ist eine schwere Not für unzählig viele Bürgertöchter . "
Anna Boje sah mit scheuen Augen in das zierliche , dunkle Gesicht :
" Was sagen deine Eltern zu solchen Worten ? "
Die Kleine hob die Schultern :
" Mein Vater sitzt jeden Abend im Domklub und hört Anekdoten und erzählt selbst auch gut .
Meine Mutter hat mit achtzehn geheiratet und versteht mich nicht ...
Das ist vielleicht das Schlimmste in unserem Unglück , daß wir , die Kinder einer anderen Zeit , auch noch Waisen sind . "
Anna Boje brachte die Kleine bis an ihr Elternhaus und ging dann allein durch die dunklen Straßen , ganz verzweifelt .
" Zu Hause bin ich überflüssig ... Talent habe ich nicht ...
Muß ich nun in ein fremdes Haus gehen , Dienerin fremder Leute sein und ihr Glück ansehen ?
Oder irgendeine schwere , gleichgültige Arbeit tun , ohne eine Hoffnung ?
Ich muß jetzt gehen ... ich bin vierundzwanzig .
Ich kann nicht länger im Hause sein .
Heinke soll nicht gehen ; sie ist noch zu jung ... ich will gehen . "
Sie ging die Hafenstraße hinunter und kam in immer tiefere Not hinein und holte schwere , böse Gedanken herauf , die da in der dunklen Tiefe schliefen ; die in jeder Seele schlafen .
" Wenn ein Brief käme von ihm ... ein Brief mit schwarzem Rand ... sie wäre tot ...
Dann wäre ich selig .
Ich würde schreien vor übergroßer Seligkeit ...
Wie würde ich warten !
.. .
Nun ... nun ... dürften wir uns sehen ... ich hole sie ab vom Bahnhof ...
Wie will ich euch drei glücklich machen ... lachen sollt ihr mir ... ich will so gut und lieb mit euch sein ...
Ach , sie lebt und wird gesünder !
... Wenn sie doch stürbe !
... Sie hat zehn Jahre das süße Glück gehabt , zehn lange , süße Jahre ...
Nun gib mir zehn !
... gib mir drei !
... ach , gib mir ein Jahr !
Dann will ich gern sterben .
So gern !
Bloß ein Jahr lang Glück ohne Sünde und Angst !
... Wenn sie nun doch stürbe ... "
Sie ging bis zur Schleuse hinunter und blieb stehen und horchte auf das gurgelnde Wasser und auf ihre Gedanken .
" Ich bin schlecht ... so schlecht , daß es am besten wäre , ich ginge ins Wasser .
Ich bin ja auch ganz ohne Hoffnung ... wer klagte nach mir ?
Wer entbehrte mich ?
Meine Kinder schlafen in meinem Schoß .
Niemand weckt sie .
Lieben und sorgen , das ist , was ich kann und was ich will ; aber niemand ruft mich dazu ...
Ich will noch eine Weile warten ... ich will ... " sie sah nach dem langen Haus hinüber ; in Rieke Thomsens Stube war noch Licht ... " ich will wissen , ob ich noch irgendeine Hoffnung habe ...
Ich habe so gespottet ... früher ... Karten legen !?
... aber wenn einer in solche Not hineinkommt ... "
Sie sah wieder vor sich hin und horchte wieder auf den West , und sah wieder auf , und ging auf den Deich hinauf , horchte , ob die Frau allein wäre , und ging in die Diele und trat in die Stube .
Rieke Thomsen saß in ihrem großen Stuhl und hatte gerade den Kopf gewandt , um über die Bucht zu sehen , ob das Licht erschiene ; sie war völliger und größer geworden .
" Na ? Anna Boje ?
... " sagte sie scharf , und wischte über den Tisch :
" Was willst du denn bei mir ? "
Sie mochte , wie die meisten Leute , die Bojes nicht leiden , weil sie in ihrer Schönheit so hochfahrend aussahen .
" Nun sollen Sie mir die Karten legen ... " sagte Anna Boje munter .
" Ich habe immer zu Ihnen kommen wollen ; aber ich hatte niemals Zeit . "
" Wenn ihr kommt , " sagte Rieke Thomsen , " dann sagt ihr entweder :
» Rieke , wir wollen deinen Hokuspokus ' Mal sehen , « und lacht , oder ihr sagt : » Ich habe immer ' Mal kommen wollen , aber ich hatte niemals Zeit . «
In Wirklichkeit kommt ihr , wenn ihr in irgendeiner Not seid .
Alles , was jung ist und Not hat , das hat einmal einen Abend , wo es an meine Kunst glaubt .
Ich glaube , es ist kein Mädchen und keine Frau in den letzten dreißig Jahren in Hilligenlei , die nicht bei mir gewesen ist , demütige und hochmütige ...
Willst du mir die Karten hergeben ... da oben auf dem Bord ... nein ... weiter nach rechts ... auf der Bibel ...
Kannst mir die Bibel auch gleich hergeben ... ich muß noch den Abendsegen lesen . "
Sie mischte die Karten und legte sie gemächlich in vier Reihen übereinander und glitt mit dem Finger darüber ...
" Geld ist da nicht viel , " sagte sie langsam ... " aber gutes Brot ... da ist ein blonder Mensch , der denkt an dich ... aber er kann es dir nicht sagen ... da ist ein Hindernis ...
Es ist da aber auch noch ein dunkler Herr ... und eine Dame neben ihm ... "
Sie sah fragend auf und sah die reife , weiche Frauenschönheit ...
" Mehr ist da nicht , " sagte sie .
Mit bebender Stimme sagte Anna Boje : " Wir sind in Sorge um meinen Bruder , der weit weg auf der See ist ... weit weg ... ich ... ich wollte wissen :
da ist doch kein Todesfall ? "
Rieke Thomsen sah wieder auf und sah den scharfen Schein in den Augen und wußte alles ; und ihr gefiel diese schlimme Weibertapferkeit ; aber sie schüttelte den Kopf und sagte ehrlich :
" Ein Todesfall ist da nicht . "
Da stand Anna Boje auf und legte eine halbe Mark auf den Tisch und ging .
Sie ging nach Hause , schlief und stand auf und lebte so in trübem Sinnen dahin .
» Im Herbst gehe ich von Haus , « dachte sie .
» Ich will mir in Hamburg einen Platz in einer Familie suchen ; und will sehen , daß Hat auch nach Hamburg kommt , und will auf ihn passen .
Auch sehe ich Piet da zuweilen und will seine Freundin sein , bis er heiratet ; dann ist es aus . «
Der Frühling kam mit Macht , ein schöner , sonniger , bunter Frühling .
Pe Ontjes Lau kam nach Hilligenlei .
Seine Übersiedelung hatte sich verzögert , da er guten Verdienst , der sich bot , immer noch wieder mitnehmen wollte .
Er kam zu Mutter Boje , um Grüße von Piet zu bringen , der noch auf der Goodefroo war und nach Iquique in See gegangen war ; er berichtete , daß die Verbesserung , die Piet erfunden hatte , sich gut bewährt hätte , und meinte , daß Piet wohl noch ' Mal zum Schiffsbau überginge , wenn sich etwas böte .
Dann ging er und kam nicht wieder .
Er hatte genug zu tun , das gute , aber kleine Geschäft seines Vaters kennen zu lernen und zu sehen , ob sich etwas daraus machen ließ .
Solange er das nicht wußte , wollte er seine Augen von anderen Dingen fernhalten .
Anna Boje war nicht zu Hause gewesen .
Nachher sah sie ihn selten einmal auf der Straße .
Dann grüßte er höflich und ging ohne ein Wort vorüber .
Sie sah scheu auf und dachte :
» Er mag mich nicht .
Das ist ein Mann ...
Aber er mag mich nicht ...
Er wird eine Bauerntochter heiraten , die Geld hat . «
Der Sommer war wunderschön ; sie lebte so dumpf dahin .
Mutter Boje und Heinke sprachen wenig mit ihr .
» Im Oktober gehe ich nach Hamburg , « dachte sie .
» Dann will ich fünftes Rad an einer Staatskarosse werden ; oder ich werde Telephonistin oder so was ; denn zu anderen Dingen bin ich zu dumm . «
Anna Martens kam einmal mit ihrem Mann und ihrem ersten Kind , das schon gehen konnte ; sie war stattlich und sicher ; als ein ruhiges , schönes Herdfeuer leuchtete das Glück in ihren Augen .
Sie ging hinter Anna Boje her in die Küche und sagte : " Du , was sagst du zu dem großen Steuermann Lau ... das wäre noch ein Mann für dich ... ein stattlicher , ruhiger Mensch . "
" Ach , " sagte Anna Boje kalt und sah nach ihrer Hantierung , " rede keinen Unsinn . "
" Ich dachte es mir , " sagte Anna Martens ...
" Er ist dir nicht gut genug ... es soll ein Studierter sein ... "
" O ! " sagte Anna Boje und sah die Freundin erstaunt und bitter an :
" Wie du dich irrst , Anna Martens !
Wenn es ein gesunder und guter und tüchtiger Mensch ist , den ich lieb haben kann :
was frage ich da nach Geld oder nach Latein ! "
Es war zu der Zeit ein junger Mensch aus guter Familie , ein Bankbeamter , aus Berlin heimgekehrt , um durch die Pflege der Eltern die Gesundheit wiederzufinden , welche durch Nachtschwärmen - er sagte : durch Arbeit - zerrüttet war .
Er wurde nach wenig Tagen von Langeweile geplagt und suchte Abenteuer , und da er ein schmucker Junge und ein Weiberkenner war und von starker Leidenschaft , fand er sie .
Es wurde bald bekannt , daß mehrere junge Mädchen ihm mehr oder weniger zu Willen waren , obgleich sie wußten , daß an Heiraten nicht zu denken war .
Aber die anderen jungen Männer , die ehrenwerten , waren entweder träge oder vorsichtig ; so verfielen sie in ihrer Not diesem .
Eines Tages sah er Anna Boje auf der Straße , erkannte sie mit Staunen und redete sie gleich an und fragte nach Piet , und machte schon , während er mit ihr sprach , seinen Beschluß fertig :
" Ich will mir Anna Boje gewinnen ... wunderbar wird es : die zu lehren , was Liebe ist . "
Er ging so in der Dämmerung am Heckenweg entlang und lockte sie am dritten Tage hinaus .
Sie wollte nichts weiter , als daß ein Mensch ihr zeigte , daß sie begehrenswert wäre .
Sie traf ihn nicht , ging um die Häuser herum und kam unter die alten Linden des Stadtgartens .
Da stand er am Eingange des Baumganges an der Wegkreuzung und wartete auf sie .
Es war sehr dunkel .
" Anna Boje ? " sagte er , und warb mit einem Lachen um alles .
Da wandte sie sich und stieß ihm die Hände vor die Brust , daß er zurückwich , und ganz empört schalt , und dann stumm wegging .
Sie ging in ihrer Aufregung aus der Stadt hinaus und kam an die drei Stege .
Es war ein weicher , schöner Abend .
Schräg über den Höhen , auf den dunklen Häusern von Volkmersdorf , ging ruhevoll der Mond auf und gab der Nacht einen weichen Schein .
Sie ging langsam dahin , noch ein Zittern in allen Gliedern .
" So sehr ich mich danach sehne ... und wenn ich es gewollt hätte , ich hätte es nicht gekonnt .
Die anderen haben es fertig gebracht ; ich kann es nicht !
... Widerlich !
... wie faßte er mich an ! "
Schwere , rotbunte Kühe standen im vollen Gras und rissen im langsamen Takt das Gras ab .
Unterm zweiten Steg blinkte das Wasser ; unterm dritten floß es hörbar zu Tal .
Sie kam wieder auf den Gedanken , der sie immer beschäftigte :
" Warum muß ich einsam sein , ohne Liebe ?
Und soll ich immer einsam bleiben ? "
Sie fing an zu grübeln , daß die Schuld an ihr läge ; sie setzte sich in den Kopf , daß sie ein absonderlicher und unausstehlicher Charakter wäre , darum hätte sie auch keine Freunde .
Sie mißtraute , daß vielleicht in der Vergangenheit ihrer Eltern etwas läge , daß man sie heimlich verachtete .
Sie kam an den Fuß der Höhen und ging langsam hinauf .
Zur Linken und Rechten vom Steg , dicht bei ihr , lagen Roggengarben ; weiterhin war das Land schon aufgebrochen , neue Saat zu empfangen .
Die Luft war voll von Fruchtbarkeit .
Es kam eine solche Bitterkeit über sie , es wurde so finster in ihr , daß sie dachte :
» Wie eklig ist all dies Treiben und Blühen , all dies Früchtebringen ...
Wie widerlich ist das ...
Ich will nicht blühen und Früchte bringen ...
Sie sollen mich begraben , acht Fuß tief , daß ich nicht einmal im Tode nütze ...
Sonst könnte noch eine Blume oder ein Baum aus mir sprießen ... wie widerlich ist das . «
Sie kam bis an die Heide und ging ein wenig hinein ; sie schmiegte sich weich an ihre Füße .
Unter ihr lag das weite , ebene Land im blauen Schein der Julinacht .
Da ging sie ein wenig vom Steg ab und setzte sich müde am Wall hin und kostete das ruhige , weite , heilige Bild und wurde ein wenig stiller und milder .
Und ihre Gedanken liefen zu den Stunden jenes wunderbaren , bangen Glücks :
" Du warst doch einmal glücklich .
Ein guter , kluger , feiner Mann hat dich lieb gehabt .
Wie lieb !
Wie strahlten seine Augen , wie heiß und schön waren seine Worte .
Wie groß war sein Jammer in der Abschiedsstunde .
Nicht um alles in der Welt will ich das aus meinem Leben wegwischen . "
Und sie fing an , sich die vielen einzelnen Szenen auszumalen , wie es am Heckenweg anfing ... und sann und sann und kam in Träumerei hinein ins Unwirkliche , und kam in Halbschlaf .
Die Heide lag weit und dunkel , dahinter in der Tiefe lag das dunkelgraue Land bis an das Meer .
Da kam schräg aus der Heide , von der weiten , grenzenlosen Tiefe her , ein wunderliches Wesen .
Es war wie eine schwerfällige , ganz bunte Kuh ; die hatte große , wunderschön gewundene Hörner und die Ohren weit wie Tore und große , spiegelnde , feuchte Augen .
Die stand vor ihr und sah sie in dumpfem Sinnen an ...
Da träumte sie :
sie ginge am Heckenweg und verlor ihre Kleidung , Stück für Stück , und als sie alles verloren hatte und ganz nackend war und so weiter ging , standen ihre drei Freunde vom Heckenweg da und weinten um sie , daß sie da so auf dem Wege ginge ...
Da kam aus dem Seitenweg von der Stadt her der Bürgermeister , der ihr von Kind an zuwider war , weil er sie immer ansah , als wollte er sagen : Du armselige Lehrerwitwentochter ! und der , den sie geschlagen hatte , und sahen sie an und lachten über sie .
Dies Lachen erschreckte sie so , daß sie niederfiel und wie tot dalag .
Da kam aus einem anderen Seitenweg - es war nun mit einemmal nicht der Heckenweg mehr , sondern der Hoheweg , draußen vor der Stadt - von seiner Hütte her , der städtische Abdecker Jochen Wenig und wollte sie anfassen und nach seiner Hütte tragen .
Da schrie sie vor Entsetzen auf und erwachte .
Und sah sich entsetzt um und fing an , in wirrem Sinn Schulgebete und Bibelsprüche herzusagen und erhob sich schwer .
Da kam ein Mann vom Steige her auf sie zu , schwer atmend und stöhnend und sagte laut :
" Nun ... wer liegt hier ?
... wer ist das ?
... wer quält sich so ?
... Du ?
... Kind , du bist es ? "
" Ich bin es , Onkel Wedderkop , " sagte Anna .
" Kind , " sagte er mitleidig und plötzlich ganz leise :
" Was jammerst du so kläglich ?
Wer hat dir ' was getan ?
Komme ... komme ; wir gehen zusammen .
Weine man nicht so . "
" Ich bin so schrecklich einsam , " sagte sie heiß schluchzend ...
" So schrecklich verlassen ! "
Er ging eine Weile stumm neben ihr .
Dann sagte er : " Sieh ' , es ist die Sitte , unter der du leidest .
Die bürgerliche Sitte ist die große Mörderin , die mordet dir und vielen deiner Schwestern die Jugend ...
Sieh ' ... wenn wir in natürlichen Zuständen lebten , dann würdest du immer , von den Tagen deiner Kindheit an , von jungen Leuten des anderen Geschlechts umgeben gewesen sein .
Der eine hätte dir eine Freundlichkeit erwiesen ; der andere hätte dich aus der Ferne verehrt ; mit dem dritten hättest du fröhlich gespielt .
Hier auf der windigen , sonnigen Höhe wäre der Spielplatz der Jugend von Hilligenlei .
Seit deinem zwanzigsten Lebensjahre aber hätten drei oder vier oder mehr , die besten in der Landschaft , herzlich und heiß um dich geworben , weil du stark und schön und rein bist .
Und so wärst du mit Weinen , Zanken und Vertragen , und Spielen und Küssen allmählich ein Weib geworden .
" So ist es ja bei den Arbeitern und Handwerkerkindern noch .
Ein schönes , keusches , fleißiges Arbeiterkind hat Bewerber übergenug .
Aber beim Stand der sogenannten gebildeten Leute hat die Sitte die ganze schöne Natur verdreht und verzerrt .
Da sagt die Sitte zu dem jungen Mädchen :
» Du darfst nicht mit einem Mann allein gehen ... du darfst nicht " du " zu ihm sagen ... du darfst ihn nicht küssen , wenn du ihn nicht heiratest ... du mußt eine so und so große Aussteuer haben . «
Und zu dem jungen Mann sagt sie :
» Du darfst nicht ohne Geld heiraten ... Du verdienst nicht genug ... Du mußt deine beste Kraft zu verlorenen Mädchen bringen und später erst heiraten ...
Bleibe ledig , so hast du geringere Verantwortung ... «
Also , wo die bürgerliche Jugend geht und steht , da geht und steht als eine alte , jugendfeindliche Tante die Sitte und verdirbt euch armen Mädchen die beste Lebenszeit , und viele kommen nicht zum Heiraten , und viele kommen zu spät dazu .
Du bist nicht verachtet , kleine Deern .
Nicht verachtet bist du !
Das mußt du nicht glauben .
Du bist nur , wie viele tausend andere : ein Opfer der steifen , jugendfeindlichen Sitte .
" Aber wer soll helfen ?
Der einzelne kann da wenig tun .
Ihr Frauen müßt es selbst machen .
Das sage ich dir , Anna Boje , liebe Deern , vergiß das nicht :
wenn du einmal heiratest und sitzest im Glück in einer gemütlichen Häuslichkeit und hast zu lieben und zu sorgen :
dann vergiß deine lieben Schwestern nicht , die in Einsamkeit sitzen , wie du jetzt , die Herd und Liebe haben möchten , ein volles Weiberschicksal , mit Kinderangst und Kinderlachen , und haben es nicht .
Arbeite dann in irgendeiner Form für die Jungweibernot , die im Lande ist . "
Sie hatte getreulich zugehört und war über die freundliche Rede stiller geworden .
Der Mond stand ruhevoll über der stillen Welt .
" Ich habe vor Jahren etwas getan , " sagte sie leise , " was für eine schwere Sünde gilt ; aber ich war so schrecklich verlassen und ganz ohne Hoffnung , und ich hatte ihn über alles lieb .
Ich kann mit niemandem darüber sprechen . "
" Ist es nun vorbei ? "
" Es ist ganz aus und vorbei ; er ist weit weg . "
" War er gut mit dir ? "
" So gut !
... " sagte sie ... " aber er konnte mir und sich nicht helfen ... er konnte alte Treue nicht von sich stoßen , und ich konnte nicht über das Unglück einer anderen ins Glück hineingehen . "
" Die Natur ist gewaltiger als die Sitte , " sagte er , " Gott sei Dank ; und die Liebe ist stärker als der Tod ; dafür sei Gott auch Dank . "
" Gott ? " sagte sie traurig und leise ...
" Als ich ein Kind war , habe ich heiße Angst ausgestanden , daß ich beim Abendgebet eine Person der Dreieinigkeit vernachlässigte ... jetzt kann mir die ganze Dreieinigkeit im Mondschein begegnen .
Ich habe gar keinen Glauben ... und das ist traurig . "
" Ja , " sagte er nachdenklich ... " das ist traurig ...
Aber darin kann ich dir nicht helfen ; da mangelt es bei mir auch .
Ich habe auch kein Hilligenlei , kein heilig Land für meine Seele .
Den Kirchenglauben kann ich nicht mitmachen und einen anderen kann ich nicht finden . "
Sie atmete aber hoch auf und sagte : " Es hat doch gut getan , Onkel Wedderkop .
Ich habe mich so lange und so schrecklich gesehnt , ein freundliches und gutes Wort zu hören ... "
Und leise und zögernd sagte sie :
" Wenn ich aber nicht heirate , so weiß ich nicht , was ich mit meinem Leben mache . "
Da sah er sie ein wenig schelmisch von der Seite an und sagte : " Na ...
Antje !
... du bist jetzt vierundzwanzig ... hat der Spiegel dir nicht gesagt , wie du aussiehst ?
Es mag noch ein Jahr dauern oder zwei oder gar drei ... es kommt noch ein ernster und tüchtiger Mensch und begehrt dich . "
" Ich glaube , " sagte sie wieder mit hohem Atemholen , " es wagt sich keiner an mich heran . "
" Ein Feiger riskiert es nicht , " sagte er lächelnd .
" Es nützt ihm auch nichts .
Es wird ein ganzer Mann sein , und einer , der seinen Wert kennt .
Und daher kommt es , daß du so lange warten mußt . "
Die Straßen von Hilligenlei waren still .
Goldgrau lag in ihnen der Mondschein .
" Dann will ich noch eine Zeitlang Vertrauen haben , " sagte sie .
" Ja , " sagte er , " gib es nicht auf !
Hoffe auf dein Hilligenlei ! "
Vierzehntes Kapitel Als der Herbst kam , merkte Pe Ontjes Lau , daß es mit seinem Geschäft keine Not haben würde .
Er gab den Selbstbetrieb der Euer auf und mußte seinen Schuppen vergrößern und mußte auf das Dach dieses Schuppens ein Windrad bauen , das trotz allen Schmierens den ganzen Tag leise und unangenehm schrie .
Gerade als sie im Domklub wußten :
" Es geht schief !
Natürlich geht es schief !
So etwas kann in Hilligenlei nicht aufkommen , " da wußte Pe Ontjes Lau , daß er ein Geschäft hatte , das ihm Freude machte und das Frau und Kinder ernähren konnte .
Und da hob er den Kopf und suchte Anna Boje .
Er hatte nämlich seine Augen gemeistert , daß sie nach nichts sahen , als in Mais- und Gerstensäcke und in kluge Bauernaugen .
Aber er hob nun den Kopf und sah um sich .
Und wenn der weiland große und herrliche Steuermann der Goodefroo und jetzige Kornhändler Peter Ontjes Lau den Kopf hebt , so gibt es immer eine ruhige , klare Sache .
Er hob also den Kopf mit dem hellblonden kurzen Vollbart und sah sich um .
Wo ist Anna Boje ?
An einem nebligen Oktoberabend kam die Mutter nach der Küche und sagte : " Du , Steuermann Lau ging eben vorüber und klopfte ans Fenster und fragte , wo du wärst , er habe dich so lange nicht gesehen . "
Sie fuhr von ihrer Arbeit auf und sagte zornig :
" Was geht Lau mich an ? "
" Kind , was ist denn ? " sagte die Mutter bekümmert .
" Das ist doch nichts Unrechtes ? "
" Er hat sich bisher nicht um mich gekümmert .
Was will er von mir ? "
Als sie aber nach dem Abendbrot aufgewaschen hatte , trieb eine Neugier , ein heißer , seliger Wunsch , ein unruhiger Zorn sie in den dunkelnden Abend hinaus .
Sie ging aus der Küchentür nach dem Heckenweg und am langen Haus den Deich hinauf .
Da kam er hinter ihr her .
" Sieh da , Anna Boje ! " sagte er in seiner alten , ruhigen , sicheren Weise ...
" Das trifft sich ja gut .
Ich wollte bis nach der Bülk gehen , ob der Euer noch einkommt . "
Sie ging mit ihm , und er fragte nach Piet und Hat , und sie sagte , wie seine Mutter sich wohl freue , daß er nun in Hilligenlei wäre , und wie ihre Mutter wünschte , daß Piet auch einmal auf dem Lande fest werde .
Er fragte sie , was sie den Tag über triebe .
Da die Mutter den ganzen Tag an der Maschine säße , hätte sie wohl Arbeit genug .
Sie sagte , daß sie sich nach dem Fest nach einer Stellung umsehen wolle , am liebsten in Hamburg .
Bei solch vorsichtiger Unterhaltung waren sie bis an die Bülk gekommen und wieder umgekehrt .
Das Gespräch stockte .
" Wenn es dir recht ist , " sagte er - er versuchte , es leichthin zu sagen ; es gelang ihm aber nicht ganz ; seine Stimme hatte einen anderen Ton ...
" Wenn es dir recht ist , möchte ich einmal wieder so mit dir zusammen kommen .
Willst du ? "
Ihr schlug das Herz bis an den Hals ... dann sagte sie langsam und mit stockender Stimme :
" Warum hast du dich in all der Zeit gar nicht um mich gekümmert ?
Auch damals in Hamburg kamst du nicht . "
" Damals in Hamburg konnte ich nicht kommen , und nachher habe ich immer an mein Geschäft gedacht .
Ich bin ein Mensch , der guten Grund unter den Füßen haben muß , " sagte er stolz und ruhig , " ehe er andere Dinge betreibt . "
" Ja , " sagte sie zornig , " so bist du ... so bist du immer gewesen ... ein Aal oder ein Ankertau oder ein Maissack ist dir immer wichtiger gewesen als ein Menschenleben . "
" Das ist nicht so , " sagte er ein wenig zornig , " das kannst du nicht behaupten . "
" Sonst hättest du mir in all der Zeit ein freundliches Wort gegönnt . "
" Es ist schade , " sagte er , " daß du so empfindlich bist ... deine eigene Mutter klagt auch darüber . "
" Ich bin nicht empfindlich , " sagte sie zornig .
" Alle Menschen tun mir Unrecht damit .
Natürlich du auch !
Du zu allererst !
Schon als ich ein kleines Mädchen war , am Bollwerk ... warst du hart mit mir .
Du bist hochmütig .
Du - du bist es .
Du willst mich immer unterdrücken .
Du willst mir immer zeigen :
du bist was und hast was , und ich bin nichts und habe nichts und muß mich freuen , wenn der Herr kommt und ein Wort mit mir redet . "
Er lachte ärgerlich auf und wußte nicht gleich , was er sagen sollte .
Sie ging noch ein paar Schritte neben ihm ; dann ging sie rascher und verschwand im Dunklen .
Sie ging nach Haus und ging gleich in ihre Kammer und ging zu Bett und wühlte sich immer tiefer in Zorn und Verzweiflung hinein .
Der Westwind stieß leise gegen Tür und Fenster und sie lag und horchte .
Dann erhob sie sich wieder halb und löste mit fliegenden Händen ihre hellen Flechten und warf sich mit wilder Bewegung wieder hin und drückte den Kopf hinten über in die Wellen ihres Haares ...
" Käme er doch !
... daß er mich einmal so sähe ... und sich kränkte und quälte ...
Ich weiß , daß ich schön bin und ... ich weiß , daß ich einen Mann selig machen kann . "
Der Westwind stieß leise gegen die Tür .
Nun nicht der Westwind .
Der Riegel klirrte .
" Du ... Anna , " sagte er ruhig ... " ich wollte gern Freundschaft mit dir haben ... du , Anna ... sage ein gutes Wort . "
Sie lag unbeweglich und zog nur ein wenig die weißen Schultern ...
" Was soll ich sagen ?
Ich bin hochmütig , ganz sinnlos empfindlich .
Ich weiß nicht einmal , daß ich eine arme Lehrerstochter bin , was doch alle Leute wissen . "
" Du bist wirr , " sagte er und stand auf .
" Ich kann ja nicht mit dir reden . "
Er ging .
Am anderen Morgen kam die Mutter in die Küche und sah ihr verschlossenes und verstörtes Gesicht und sagte bekümmert :
" Kannst du dich nicht mit Pe Ontjes vertragen ?
Er ist ein so braver , ernster Mensch ...
Kind !
Kind !
Verhärte dein Herz nicht .
Nachher zerbricht es dir wie Glas und du jammerst vergebens . "
Sie riß sich aus finsteren Träumen in die Höhe und sagte : " Sei still !
Ich kann es nicht ertragen . "
Am Nachmittag , da die Mutter ganz allein an der Maschine saß , kam Pe Ontjes , setzte sich neben sie und sagte : " Du , Tante Boje !
Ich und Anna haben uns gern ... aber wir können uns durchaus nicht einig werden . "
" Pe Ontjes , " sagte sie , " du kannst mir glauben , wie gern ich wollte , daß ihr einig würdet .
Sei ihr nicht böse ... du hättest in der ganzen Zeit , daß du hier bist , wohl einmal nach ihr fragen können .
Sie hat dich immer lieb gehabt . "
" Ja ... " sagte er sinnend ... dann hob er den Kopf und sagte : " Ich habe gedacht - ich weiß keinen anderen Rat - wir beide müssen wie zwei störrische Kälber zusammengejocht werden , damit wir gezwungen sind , uns ordentlich auszusprechen , weißt du ... so sechs bis zehn Stunden .
Man kann sich doch nicht sechs bis zehn Stunden lang zanken ?
Da wird man doch ruhig und beredet die Sache in Ordentlichkeit . "
Helle Boje schüttelte den Kopf :
" Ich weiß nicht , " sagte sie , " wie du das anfangen willst . "
" Ich habe mir gedacht , ich könnte heute abend den alten Euer selbst nach Cuxhaven bringen , wohin ich ihn verkauft habe .
Da sollte sie mitfahren . "
Helle Boje schüttelte wieder traurig den Kopf .
" Ich glaube , sie tut es nicht , " sagte sie .
" Ja , dann will ich dir was sagen , " sagte er ...
" Dann schicke sie heute abend so um neun mit einem Wäschepaket für Hat oder irgend etwas für Piet - die Goodefroo kommt ja in diesen Tagen in Hamburg an - nach dem Bollwerk .
Willst du das ? "
" Ich will sehen , was ich tun kann , " sagte sie .
" Gehe man ... ich will sehen , was ich tu ' . "
Anna war zu ihrem Glück an diesem Tag in frästet bei Anna Martens gewesen , die immer ihre einzige Freundin war , und hatte ihr gebeichtet , was sie mit Steuermann Lau erlebt hatte .
Sie hatte wohl die heimliche Hoffnung , sich Schelte zu holen , und hatte sie auch bekommen .
Anna Martens hatte gesagt :
" Ich will dir dreierlei sagen , Anna .
Erstens : Wenn er dich zu seiner Frau machen will , so kann er nicht schlecht von deinem Charakter denken .
Zweitens : Du bist hochmütig und empfindlich , Anna Boje .
Drittens : Wenn du dich nicht mit ihm verträgst , wirst du zu Eis ; denn du hast ihn schrecklich lieb . "
Mit diesen klaren Bekenntnissen von Anna Martens in der Seele kam Anna Boje nach Abendbrot , so um acht , nach Haus .
Da sagte ihr die Mutter :
" Du , Pe Ontjes Lau war hier .
Er fährt heute abend nach neun mit einem Euer nach Cuxhaven ; er sagte , er wolle gern etwas mitnehmen , wenn ich für die Jungen etwas hätte ...
Da habe ich für Hat ein paar Kuchen eingepackt - er mag sie so gern - Pe Ontjes sagte :
er möchte gern , daß du das Paket selbst an Bord brächtest ...
Ich glaube , er nähme dich am liebsten mit nach Cuxhaven . "
Weiter sagte sie nichts und machte die Tür leise zu und dachte :
» So , nun mag sie tun , was sie will ; und Gott helfe ihr . «
Anna ging in ihre Kammer und setzte sich auf den Bettrand und atmete hoch auf .
" Ich will mit ihm fahren !
... Ich will mit ihm fahren !
Wie freue ich mich , daß er mir nicht böse ist !
Wie freue ich mich !
Ist er lieb mit mir , will ich mich schrecklich freuen ; ich will mich so freuen , daß er sich wundern soll .
Wenn ich aber sehe , daß es nichts mit uns werden kann , dann habe ich in der Welt nichts mehr zu suchen . "
Sie stand auf und sah sich um und dachte :
» Ich will mich waschen . «
Und sie holte die niedrige Holzbütte , die an der Hauswand lehnte , trug sie in ihre Kammer und goß drei Eimer Wasser hinein , schloß die Tür und verhängte die Fenster und legte alle Kleider ab und kniete vor der Bütte und fing mit ernstem , stillem Gesicht an , sich zu waschen .
Und wusch ihren Hals und die schönen Schultern und dachte :
» Da lag am Dänensand der Schlick , mit dem ich vor seinen Augen geworfen wurde ...
Damals war ich ein Kind .
Was ist aus meinen Schultern geworden und aus meiner Seele ?
Wird Steuermann Lau seinen Arm um euch legen ... der große , schreckliche Junge ?
... « Und sie wusch ihre vollen weißen Arme und sagte : " Mit wem wollt ihr am liebsten spielen : mit Wasserwellen oder mit Pe Ontjes Lau ?
.. .
Mit Pe Ontjes Lau ... sicher . "
Und als sie sich da hinein dachte , wie er wohl sein würde , ob er wohl so ruhig und kühl bleiben würde , so sicher , so von oben herab , zog ein leises , kluges Lächeln über ihr Gesicht .
So fährt über den hohen , dunklen Tannenwald eine lichte Wolke und wirft von oben her einen Schein in dunklen Raum , daß er ein wenig heller wird ...
Und sie wusch den starken , weichen Leib , der ohne Flecken und Zerrungen war ; denn sie hatte ihn niemals eingeschnürt ; und dachte trotzig :
» Den hat keiner gesehen , seit meine Mutter mich zum letztenmal gebadet hat .
Nachher badete ich an der Biegung der Au , immer ganz allein .
Keiner hat ihn seitdem gesehen ... nein , keiner ...
« Und fuhr in ihrer Seele auf im Zorn :
» Was geht es euch an ?
... was geht es Pe Ontjes Lau an ?
... wem bin ich Rechenschaft schuldig über das , was ich mit meinem Leib gemacht habe ?
... Ich , ein freier , gesunder , erwachsener Mensch ?
... Habe ich ihn erniedrigt ? Habe ich ihn schmutzig gemacht ? Habe ich etwas Unnatürliches oder Unreines getan ?
Die Menschen verlangten von mir Unnatürliches : daß ich einsam lebte und ohne Hoffnung .
Ich dachte : mein Lebelang .
Das wurde mir schwer ...
Da kam er ...
Ich bin darob guter Dinge ...
« Und sie wusch ihre starken , geraden Beine bis zu den Knien und sah sinnend auf eine blanke , weiße Narbe , welche eben oberhalb des Knies auf der Wölbung der Innenseite war .
Sie hatte einst , als sie so zwölf oder dreizehn Jahre war , eine kindliche Zuneigung zu einem schmucken , fröhlichen Knecht gehabt , der bei Nachbar Martens diente .
Wenn er mit dem Gespann auf dem Felde arbeitete , hatte sie den Jungen vom Pferd gejagt und sich darauf gesetzt , rittlings , nach Jungenweise .
Eines Tages , in der Weizenernte , hatte die vierjährige Stute , auf der sie saß , nicht anziehen wollen .
Er , in Eile und Zorn - es stand ein Gewitter überm Meer - hatte sie mit der Forke schlagen wollen .
In dem Augenblick sprang die Stute zur Seite und eine Zinke der Forke drang durch Kleid und Hose ins Bein des Kindes .
Da erschrak er sehr und besah die Stelle und sog das Blut mit dem Munde aus und holte Wasser aus dem Graben und schüttelte den Kopf und sagte : " Miene lüttje Deern ... Miene lüttje Deern . "
Als die Mutter am Sonnabendabend an der Hose das Blut entdeckte und nachfragte , da sagte sie , sie wäre auf einen Nagel gefallen und verriet ihn nicht .
Sie sah sinnend auf die Narbe und dachte mit alter Zuneigung an ihn und dachte :
» Keinem Menschen habe ich diese kleine köstliche Geschichte erzählt .
Wie ist das schön , wenn man mit einem guten Menschen traute Freundschaft hat . «
Ihr Gesicht wurde weicher und ihre Augen leuchteten von einem inneren Schein :
» Wie wird das lieb , wenn ich so vertraut mit ihm bin , liege bei ihm und zeige ihm die Narbe und er streichelt sie und lacht und neckt mich .
Wie wunderbar wird das ...
« Zuletzt wusch sie ihre Füße .
Fest bogen sie sich an schlanken Knöcheln und waren weder zu klein noch zu groß .
» Als ich Kind war , « dachte sie , » lieft ihr weit ins Watt hinaus ; und zuweilen besahen wir den Abdruck , den ihr machtet : jede Biegung am Fuß und an jedem Zeh war im weichen Wattboden genau und zierlich abgedrückt .
Damals lieft ihr zu allerlei törichter Kinderfreude ; damals lieft ihr weg von Pe Ontjes .
Jetzt lauft ihr wieder hin zu ihm .
Ihr armen Läufer , müßt tun , was ich will . «
Sie lachte leise und sagte zögernd und eine Welle von Blut schoß ihr ins Gesicht :
" Ihr sollt es nicht weiter erzählen ... ich laufe gern zu Pe Ontjes ... ich ... ich glaube , ich bin ein überglücklicher Mensch . "
Sie ging an die Kommode , kniete davor und fing an , ganz leise zu singen , falsch ; denn die Bojes können alle nicht singen ; aber es klang ihr selbst gut .
Und nahm erst das Unterhemd von leichter , weißer Wolle und zog es an .
Dann nahm sie das Leinenhemd heraus , das zu unterst lag .
Ihre Mutter hatte es ihr vor drei Jahren , als sie einundzwanzig wurde , aus feinem Leinen mit der Hand genäht , hatte auch eine ganz schmale , feine Spitze für den Halsausschnitt aus Zwirn gemacht und hatte kein Wort gesagt .
Als Anna Boje eines Tages ihre Kommode ordnete , fand sie das Hemd .
Sie hatte gleich gewußt , wozu die Mutter es gemacht hatte , und hatte es still hingelegt , ganz zu unterst und hatte kein Wort darüber gesagt .
Nun nahm sie es und zog es kniend an und knöpfte es über der linken Schulter zu und richtete sich auf und glättete es über der Brust ...
Dann gefiel es ihr , erst das Haar zu machen .
Sie löste es vom Kopf , öffnete die Flechten und ließ es fallen : es sah aus wie hellfarbenes Schilf ; und fing an , es zu kämmen und zu flechten .
Dabei sah sie immerfort scharf in den Spiegel , als freute sie sich des Spieles der Hände und beobachtete es , doch nicht ohne Mißtrauen .
So freut sich die Füchsin und beobachtet und beurteilt mit scharfen , ruhigen Augen das Spiel ihrer Kinder in der Morgenfrühe .
Nun wand sie die Flechten um den hinteren Kopf ; nun schob sie das Haar zu beiden Seiten über den Schläfen ein wenig nach vorn ; nun wiegte sie zweimal den Kopf : Fertig ...
Nun zog sie das Leibchen an von weißem Leinen ; es schmiegte sich genau um die Schultern und den Leib ; dann zog sie die Beinkleider an , zwei Paar , das erste von dünnem , weißem Leinen , das andere , dunkelblau , von leichtem , warmem Tuch - denn es war kaltes Novemberwetter - ; und knöpfte sie am Leibchen fest .
Darüber zog sie gleich das Kleid .
Es war das einzige , schöne Kleid , das sie besaß : blau war es , mit ein wenig Falten bis zur Höhe der Brust , sonst ganz schlicht , Ober- und Unterkleid am Gürtel vereinigt .
Das Kleid war aber so lose , daß , wenn sie die Schultern hob , das ganze Kleid samt den Unterkleidern am Körper in die Höhe ging .
Dann setzte sie den braunen Filzhut auf , von Mittelgröße , mit leicht gebogenem Rand , mit braunem Samtband schlicht geschmückt , und zog die graue , lose Jacke an ...
Dann nahm sie noch den großen Mantel , den Anna Martens in ihrer Kammer hatte hängen lassen ; ihr Mann trug ihn ; Anna Martens zog ihn zuweilen an , wenn sie in Nässe oder Kälte zu Wagen nach Hilligenlei kam .
Nun nahm Anna ihn , zog ihn an und sagte lächelnd :
" So , Anna Martens , wenn ich wiederkomme , kannst du dich vor deinen Rock hinstellen und kannst ihn fragen : » Erzähle ' mir , was hast du erlebt ? « "
Nun stand sie , schön und stark anzusehen , an der Tür , sah noch einmal zurück , ging hinaus , nahm das Paket , das auf dem Tische lag , und rief laut auf der Diele :
" Ich gehe ! " und ging hinaus ...
Als sie am Bollwerk ankam , stand da im Dunklen ein ziemlich langer Mensch in Seemannstracht , einen Ölrock im Arm und wartete .
Sie meinte , es wäre Pe Ontjes , und sagte schon von fern : " Ich komme mit dem Paket ! "
Da war es Kai Jans .
" Wo kommst du her ? " fragte sie .
" Von Berlin , " sagte er .
" Ich bin gestern angekommen ...
Ich will Mal mit Pe Ontjes , meinem alten Steuermann , nach Cuxhaven fahren .
Wie soll ich mir sonst die Zeit vertreiben ? "
" Komme , " sagte sie , " hier ist ein Paket für Hat , bringe es hinüber .
Der ist nun auch in Hamburg . "
Er hob und schob mit den Schultern und sagte wie ein verzogenes Kind :
" Das mag ich nicht ... das tue man selbst ... komme ... ich will dich an Bord bringen . "
" Du mußt mich gleich wieder zurückbringen . "
" Natürlich , " sagte er und griff nach den Riemen .
" Was denkst du , Kind ?
Ich bin doch kein Strandräuber wie Wieben Peters ... "
Da freute sie sich , daß die beiden großen Menschen so viel aus ihr machten und ihretwegen so munter logen , und sie sagte : " Du hast Heinke geschrieben , daß du nicht fleißig bist ... da in Berlin .
Auch seist du kein Student .
Was bist du denn ? "
" Ich ?
... ich bin ein Lebenfresser , " sagte er .
" Was ist das ? " fragte sie spöttisch .
" Ich habe seit drei Jahren alles Grübeln über die Schulter geschmissen , " sagte er , " und lebe und sehe ...
Was denkst du : das ist doch eine große Sache : von dem engen Schiff und von den Büchern in Hilligenlei weg , hinaus in die große , bunte Welt ?
Ich mache Augen wie Teetassen . "
" Na ? " sagte sie .
" Und die Arbeit ? "
" Du ! " sagte er ... " ich habe noch nicht viel getan ... aber , wenn ich mich dransetze , dann schafft es auch .
Ich will das Examen schon zur rechten Zeit machen ; da sei nicht bange ... Das tue ich allein schon wegen der Alten , " sagte er ernster .
" Ich weiß nicht , " sagte sie , " mir scheint , du bist zum Pastor nicht geeignet , du bist viel zu hellköpfig und zu munter dazu . "
" Das verstehst du nicht , Kind ... " sagte er .
" Es werden jetzt muntere Leute verlangt . "
" Von wem ? "
" Von Gott . "
" Ach ... was du redest . "
" So ... nun gib mir die Hand !
Der große , wilde Steuermann ist noch nicht da . "
Aber da kam er von der Back .
Da zog sie die Hand zurück , die sie Kai Jans gereicht hatte , und sagte mit ihrer klaren Stimme :
" Wollt ihr beide mir versprechen , daß ihr freundlich und höflich mit mir sein wollt ... so will ich mit euch nach Cuxhaven fahren . "
" Deern ! " sagte Pe Ontjes Lau ...
" komme rasch her !
... Bestmann :
das Großsegel hoch ... "
Kai Jans ging rasch nach vorn .
" Anna ! " sagte Pe Ontjes leise ... " das ist lieb von dir !
.. .
Nun zieh den Mantel gleich an ; es ist kühl genug und gibt noch Regen dazu .
Bist du warm angezogen ?
Ich habe Mutters Umschlagetücher mitgenommen ... "
Er schloß ihr den Mantel vorn und faßte sie an beiden Armen und drückte sie auf den Sitz neben dem Ruder .
" So ... da bleibst du sitzen und hältst einen Augenblick das Ruder . "
Er ging zu Kai Jans und dem Jungen und sie brachten die Segel glücklich hoch .
Das Boot ging langsam in den Strom .
Da kam er wieder zu ihr .
Kai Jans und der Junge blieben vorn .
" Die Goodefroo ist angemeldet , " sagte er und faßte die Pinne ...
" Sie kommt heute oder morgen in die Elbe . "
" O , wie schön , " sagte sie .
" Vielleicht kann ich ihn treffen und mit ihm nach Hause zurückfahren ... "
" Und mit mir , " sagte er .
" Ja , " sagte sie nicht unfreundlich , aber ihr Mund zitterte ... " wenn du mit so einem Menschen , wie ich bin , fahren magst ? "
Er legte seine Hand rasch auf ihre Hände , die im Schoß lagen und drückte sie und ließ sie wieder ...
" Ich habe Vater gesagt , daß er deiner Mutter heute abend noch Nachricht wegen der Goodefroo schickt . "
" Das ist freundlich von dir ... nein ... wirklich . "
" Sage Mal ... ist Heinke dir auch innerlich ähnlich ?
Äußerlich wird sie ja wie du ; bloß daß Haar und Augen ein klein wenig dunkler sind ...
Eine schmucke , schlanke Deern !
Sie schreibt sich mit Kai Jans .
Das fängt früh an ... "
" Es ist Spielerei , " sagte sie ...
" Kai Jans hat immer soviel Interesse an dem einzelnen Menschen .
Das ist es .
Sie ist eine kluge Deern .
Darum verkehrt er mit ihr ...
Ich glaube übrigens : dein Bestmann ist nicht recht fleißig ... "
" Ach , das hat keine Not ... Ihr habt ein wenig Sorge um Hat , nicht ? "
" Nein , " sagte sie kühl , " der macht sich gut . "
Sie hatten alle Sorge um Hat , die Mutter , Anna , Piet , Heinke auch ; aber sie waren viel zu stolz , es anderen Leuten zu gestehen und nun gar dem großen Pe Ontjes .
" So ! " sagte er rasch .
" Man kann es sich ja denken !
Wie sollte der Junge nicht ordentlich sein ?
Einer , der solche Eltern und Geschwister hat ?
Ihr seid alle großartige Kerle .
Aber die Schönste und Beste von den Bojekindern ist die Älteste . "
Sie schwieg .
" Wenn wir nun auf Pe Ontjes Lau kommen , " sagte er zögernd , " so hält er sich durchaus für einen ordentlichen und tüchtigen Menschen ; er ist aber der Meinung , daß er noch ordentlicher , tüchtiger und klüger würde , wenn du als seine Frau neben ihm lebtest .
So ist es . "
" Pe Ontjes ... " sagte sie mit fliegender Hast , " ich wollte nichts lieber auf der ganzen Welt , als daß du gut mit mir wärst . "
" Dann gib doch dein Herz her , " sagte er laut ... und griff nach ihren Händen , die seine Hand suchten .
" Ich habe dich so lieb , " sagte sie , " das kannst du glauben . "
" Gott sei Dank , " sagte er und hielt ihre Hand fest .
" Pe Ontjes ... wir sind aber so arm . "
" Ach , " sagte er ... " ja !
... ich heirate deine Tische und Stühle , was ? Menschenkind ... deine Kraft will ich und deine hellen Augen ...
Ich habe heute das Haus von Nachbar Reimer gekauft .
Groß ist es nicht , aber es ist fest und gemütlich :
da hausen wir zusammen .
Meine Mutter stiftet einen Tisch , und deine Mutter ein Bett .
Fertig .
Wird das ein Leben mit dir zusammen ! "
" Wenn ich jemanden lieb habe , " sagte sie leise , " habe ich ihn ganz schrecklich heiß lieb , und denke nur an ihn und seine Sachen , und kümmere mich um die ganze Welt nicht . "
Sie hob ihr Gesicht und sah ihn an ...
" Ich habe dich schon lange lieb , " sagte sie leise .
" Ich dich auch , Anna , " sagte er und legte den freien Arm um ihren Nacken .
" Du ...
Kai Jans sieht es . "
" Nein , der hat gesagt , daß er hinterm Großsegel sitzen will , bis ich ihn rufe ...
Kai , komme Mal her ! "
Kai Jans stapfte von der Back herunter .
" Du ... wir sind Brautleute , und die Hochzeit ist in spätestens sechs Wochen . "
" Na ! " sagte Kai Jans ... " das freut mich .
Nun gibt es eine gemütliche Fahrt . "
Er gab Anna die Hand :
" Wirklich , es freut mich sehr , das mußt du glauben ... "
Er dachte an den Maiabend vor drei Jahren .
" Vielen Dank , Kai . "
" Wir haben den Dänensand hinter uns ... , " er deutete mit dem Arm nach dem dunklen Streifen im Norden .
" Sieh da , Anna ... da nanntest du ihn den Aalfretter ... und nun ? ...
So ändert sich der Geschmack . "
" O Gott ! " sagte sie , " daran habe ich nicht gedacht !
... Nein ! " sagte sie leise und lachte :
" Ich kann dich niemals küssen ; " und griff übermütig nach seiner Hand und preßte sie .
Sie glitten am Feuerschiff vorüber ...
Ein kurzes Wort klang hin und her durch die Nacht .
Als der Schein seines Feuers hinter ihnen verschwunden war , sahen sie das Feuer von Helgoland vor sich .
In stolzen Bogen flog es über das weite Meer .
In schwerem Auf- und Niederwogen trieb Wind und Flut sie in die offene See .
" Nun fahren wir von heilig Land zu heilig Land , " sagte Kai Jans .
" Helgoland und Hilligenlei , das ist dasselbe Wort . "
Er wollte wieder nach vorne gehen .
" Bleibe bei uns , Kai ! " sagte sie .
" Kind , " sagte er bedenklich ... " ich störe ja nur . "
" Gar nicht !
... komme , setze dich hierher zu uns .
Bis Helgoland habt ihr gar keine Arbeit ... Komme , wenn du nicht schlafen willst , setze dich zu uns und schnack ein wenig . "
" Eine Weile , " sagte er und setzte sich neben Anna , zog den Ölrock hoch , breitete ihn aus , daß der Wind zwischen ihm und ihr nicht durchfahren konnte und schwieg .
" Nun ? " sagte Pe Ontjes .
" Ja ... " sagte Kai Jans , " ich weiß nicht ... ich kann immer nur über Dinge reden , die mir sehr wichtig sind . "
" Also redest du davon ! " sagte Anna .
" Von deinem Examen , wahrscheinlich . "
Er lachte .
" Nein , " sagte er , " von Wieben Peters . "
" Ist das eine wichtige Sache ? " sagte Pe Ontjes , " die Geschichte von Wieben Peters ? "
" Die Geschichte von Wieben Peters , " sagte Anna , " kennen wir alle .
Jedes Hilligenleier Kind kennt sie . "
" Nein , " sagte er nachdenklich , " keiner kennt sie .
Ihr glaubt nicht , wie ich darüber nachgedacht habe , bis ich die Wahrheit herausbekommen habe . "
" Nun , " sagte Pe Ontjes , " erzähle also die Geschichte von Wieben Peters . "
Fünfzehntes Kapitel Der Südsüdwest fuhr frisch und stetig in die Segel ; der Regen sprühte leicht schräg über Deck ; das Wasser rauschte und klatschte um das Schiff .
Das Helgoländer Feuer flog durch die graue sternenlose Nacht .
" Vor ungefähr vierhundert Jahren da fuhr also der Dithmarscher Wieben Peters diesen selben Weg ...
Er fuhr ihn aber nicht in Frieden wie wir drei , sondern in bitterem Zorn .
Er meinte , sein Volk hätte seine Rechtssache zur Unrechtssache gemacht .
Und so war es auch .
Aber die Grundursache seines Zwistes mit seinem Volk lag da : daß er eine Herrschernatur war , und der kleine Bauernstaat keinen Platz für ihn hatte .
Sie fühlten sich da alle gleich Herr , gleich hoch .
" Was hat er für einen herrischen Blick !
... Sieh , er hat einen Gang wie ein Graf von Rantzau !
... Was hat er für ein klares , klirrendes Wort !
... Sage : woher hat er den Schnitt von seinem Rock ?
... Seht seinen langen gelben Bart !
... Kommt , laßt uns ihn ärgern ! "
Da brüllte er zuletzt auf wie ein Stier .
Mit fünfzehn wilden , unruhigen Leuten an Bord fuhr er in die See .
Die Flammen von den brennenden Häusern seiner Widersacher leuchteten am Strand entlang .
Das Volk schrie wild her hinter dem Landesfeind .
Auf Helgoland wohnte derzeit ein kümmerliches Völklein , ein fauler , zurückgebliebener Bodensatz eines tapferen Volkes , das übers Meer nach England weiter gezogen war .
Sie lebten von einem bißchen Heringsfang , und daß sie in unruhigen Nächten ein gutes Feuerlein oben auf dem Turm anzündeten , damit etwa ein Schiff auf eine ihrer Klippen und Sande liefe .
Es glückte ihnen aber selten , obgleich der Pfaffe , den sie sich hielten und zu dessen Füßen sie allsonntäglich alle Mann saßen , so dringend betete , daß Gott ihren Strand mit Schiffstrümmern segnen möchte .
Als Wieben Peters mit einem frischen Südost in ihre Bucht und gegen ihren Strand lief , verkrochen sie sich in die Abstiege und Spalten am Unterland ; und Wieben Peters mit seinen fünfzehn Mann war Herr von Helgoland .
Er wohnte in dem alten , starken Turm , den das frühere tüchtige Volk gebaut hatte , und zog von da herunter und brandschatzte sein Heimatland .
Jedesmal , wenn er herunterstieg , wurde eine Dithmarscher Kufe , welche mit Stückgut von Hamburg kam , leer gemacht ; oder es flog über einen Dithmarscher Bauernhof der rote Hahn .
Wenn er dann heimkam , freute er sich .
Er lachte in sich hinein und spielte mit der Hand in seinem langen gelben Bart , machte Knoten darin und löste sie wieder .
So gab er seiner Seele wilden Haß zu essen und tat , als wenn sie satt und zufrieden davon wäre .
Aber sie quälte sich sehr ...
Da fuhr er eines Tages , mit sechs Mann an Bord , nach Norden , rein aus Freude am Fahren .
Und kam mit seiner Kufe bis auf die Höhe von Bergen und fuhr hinein , zu sehen , ob da ein Dithmarscher läge .
Er suchte und fragte die ganze deutsche Brücke hinunter , wo Schiff an Schiff lag .
Aber es war kein Dithmarscher darunter .
Da ging er mißmutig in eines der Kaufhäuser , um sich für die Heimfahrt einigen Proviant zu kaufen .
Nun wurden die deutschen Kaufleute in ihren Häusern an der deutschen Brücke , in dem fremden Land , scharf bewacht und gewaltig kurz gehalten , daß sie sich nicht allzu sehr Herren fühlten , sondern als gelittene Gäste .
So war es ihnen auch verboten , ihre Weiber bei sich zu haben .
Sie wußten sich aber zu helfen , indem sie auf der Hinterseite ihrer tief eingemachten Bettstellen kleine Türen schnitten , durch welche ihre Weiber , die in der Stadt ihre Hausung hatten , abends zu ihnen hineinschlüpften .
Als nun Wieben Peters in der Dämmerung in eine dieser Stuben trat , war der Hamburger nicht da .
Da ging er in seinen dunklen Gedanken so hin und her .
Und als er so ging , tat sich die kleine Luke hinter der Bettstatt auf , und das Weib des Hamburgers schlüpfte herein , und sah , in den Knien liegend , den fremden Mann ; und verfolgte ihn mit ihren Augen .
Er warf einen raschen Blick auf sie und kümmerte sich nicht weiter um sie .
Doch fing er an mit seinem Bart zu spielen .
Nun war da aber noch , obgleich der Tag vorgeschritten war , ein langer , heller Faden Sonnengold , der ging in Manneshöhe der Länge nach durch das tiefe , dunkle Gemach .
Wie er nun hin und wieder ging , traf das verspätete , ängstlich starre Licht zuweilen seinen Bart .
Der Bart war aber von so glänzendem Gelb , daß er einen Widerschein erzeugte , der zuweilen über das Gesicht des knienden Weibes lief , als liefen gleißende Geisterlein darüber hin , denen von der Glut ihrer Wangen und Augen die Füße heiß wurden .
Da sagte das Weib zuletzt mit langsamer , bedrückter Stimme :
" Wieviel Knoten kannst du in deinen Bart machen ? "
Er lockerte das Messer im Gurt und trat ans Bett und sagte :
" Wieviel kannst du machen ? "
Sie zuckte ein wenig in den Knien auf und griff mit beiden Händen in den Bart und spielte damit , und lachte beklommen und sah zu ihm auf .
Da sanken ihr die Hände , und sie sagte murmelnd :
" Du ... du bist ein Mann . "
" Wo ist der Hamburger ? " sagte er .
" Ach , der Schellfisch ! " sagte sie , und ließ ihre Hände zu seinen Hüften gleiten , und ließ die Hände nicht ab von ihm .
So lieb hatte sie ihn .
Da fuhr er wild auf und sagte mit schwerem Atem : " Komme heute Nacht ans Ende der Brücke ; ich warte . "
Da entlief sie dem Hamburger in derselben Nacht und sprang zu ihm ins Boot und fuhr mit ihm nach Helgoland .
Es wurde Winter .
Wilde Weststürme tobten und stürzten sich auf die Insel .
So machtvoll und wild warf sich die Liebe seines großen , heißen Herzens auf das Weib .
Es kam der Sommer und milde Winde legten sich weich und rund um den roten Stein .
So schmeichelte sein großes , starkes Herz um das schöne Weib .
Vier Jahre lebte er so , Sommer und Winter .
Dann und wann segelte er davon .
Dann sahen die Zurückbleibenden in der Nacht nach Osten , nach Dithmarschen hin , hellen Feuerschein .
Fürwahr seine Heimat mußte für ihre Sünden Buße tun !
Wenn er wieder kam , trat er an ihr Bett und sah auf sie nieder und freute sich , machte Knoten in seinen langen Bart und löste sie wieder .
So gab er seinem großen Herzen heiße Weibesliebe zu essen ; und tat , als wenn es satt und zufrieden wäre .
Aber oft stand er und sah mit finsteren Augen nach Dithmarschen hinüber und quälte sich sehr ...
Als er eines Tages mit seinen Gesellen von Dithmarschen zurück kam - sie hatten in Brunsbüttel eine Kufe erleichtert und zwei Bauerntruhen leer gemacht - da schlich zufällig der kleine Pfaff vorüber , der noch immer mit dem erbärmlichen Völklein unter dem Felsen hockte .
Einige Gesellen hoben an , dem kleinen dicken Mann , nach ihrer Gewohnheit , tote Fische an den Kopf zu werfen , denn sie hielten nichts von der Kirche und ihren Gaben .
Aber Wieben Peters verbot es ihnen kurz und hart .
Ein Priester wäre nicht zum Spott da , sagte er .
Da wunderten sie sich sehr und warfen sich erstaunte Augen zu .
Am nächsten Sonntag kletterte der kleine Priester atemlos aufs Oberland hinauf und hielt dem wilden Haufen einen Gottesdienst .
Wieben Peters und das Weib von Bergen und die Kinder , die er von ihr hatte , und die Gesellen und etliche Weiber , die sie hatten , saßen unter der Leeseite des Turmes und achteten scheu auf das , was Wieben Peters tat , falteten wie er die harten Hände , murmelten wie er die unverständlichen Gebete .
Als der Gottesdienst aus und vorbei war , traten die Gesellen zur Seite und sagten so zwischen den Zähnen , - so mit unbeweglichen Lippen und klangloser Stimme - : " Nun wird er heilig .
Nun geht_es bergab mit ihm ... "
Sie machten aber einige Züge mit ihm nach Dithmarschen hinüber , in alter Weise , und kamen mit guter Beute heim .
So ging es eine Weile .
Aber eines Tages nahm Wieben Peters den Pfaffen zur Seite , sah ihn an , als wenn er sehen wollte , was inwendig in seinem Kopf , hinter seinen Augen , wäre , und sagte : " Ich muß mehr tun , du mußt wissen , was . "
Da erschrak der Pfaff zuerst und besann sich , aber dann gab er den verfluchten Rat : " Gib die Hälfte von all dem Gold und Silber , das du geraubt hast , dem Dom in Hamburg .
Dann wirst du Frieden haben . "
Da geschah das .
Sie machten auch wieder einen Zug nach Dithmarschen hinüber und kamen mit guter Beute wieder .
Und so ging es eine Weile gut .
Aber er war doch nicht fröhlich ; er dachte nicht daran , mit seinem Bart zu knoten und zu spielen .
Und nach einigen Monden nahm er den Pfaffen wieder beiseite und sah ihn wieder so an und sagte wieder dasselbe .
Da ging der Pfaffe ins Unterland hinab und setzte sich unter das alte löcherige Boot , das seine Hausung war , und saß da einen halben Tag in Verwunderung .
Er konnte sich in einen solchen Menschen nicht hineindenken .
Dann ging er kopfschüttelnd und schrecklich stöhnend wieder hinauf und mußte ja nun die rechte Antwort geben .
" Du mußt allen Besitz weggeben und bei fleißiger Arbeit ein sündenloses , reines Leben führen , und mußt für das , was du doch versiehst , Gott um Vergebung bitten . "
Das sollte nun losgehen .
Alles Gut sollte heimlich nach Dithmarschen geschafft werden ; die Weiber sollten geheiratet werden oder weg mit ihnen ; keine harte Tat ; kein böses Wort ; kein Raubzug mehr übers Meer ; sondern den ganzen Tag rund um den Stein gefischt , alle Mann .
Und morgens und abends heißes Beten : Herr , erbarm dich , erbarm dich .
So war der Beschluß .
Da stiegen in der folgenden Nacht die besten Gesellen mit den besten Schätzen in die beste Kufe und wollten davonfahren .
Aber das Weib trat dazwischen und bat sie , treu zu ihm zu stehen .
Sie wollte sorgen , daß die Güter nicht gleich weggeschafft würden .
Da blieben sie .
Und einige , das muß man sagen , kamen wirklich an Gott heran .
Sie wurden Menschen mit einem schönen , ernsten Schein in ruhigen Augen , und mit heißem Helfersinn vom Morgen bis in die Nacht , und mit einem Lachen wie reines Kinderlachen .
Aber die meisten blieben finster und stumm , standen bald hier , bald da unter der Turmwand , und starrten dumpf übers Meer .
Und Wieben Peters ?
Nein ...
Wieben Peters kam nicht an Gott heran .
Nein ... er kam nicht an Gott heran .
Er ging finster einher , und starrte nach Osten , nach Dithmarschen hin .
In seine Augen kam kein tiefer , schöner Schein .
Er quälte sich sehr .
Da wußte das Weib , wie ihm allein noch zu helfen wäre .
Sie wußte es schon lange .
Das Weib liebte ihn noch ebenso heiß , wie an jenem Abend , da sie in der Bettstatt des Hamburgers kniete .
Sie liebte ihn mit solcher wilden , natürlichen Gewalt , daß sie immer nur an sein Heil dachte und das ihre ganz vergaß .
Also schickte sie heimlich einen treuen Mann nach Dithmarschen hinüber mit der Botschaft :
" Wieben Peters wird verrückt davon , daß ihr nicht kommt ...
Kommt doch ! "
Da taten sich dreißig Mann aus den besten Geschlechtern zusammen , taten Biertöpfe und Speckseiten genug in das Boot und segelten los , und kamen mit gutem Wind auf die Insel zu .
Wieben Peters stand , wie so oft , am Turm , und sah nach Ost ; sein Weib neben ihm .
Da sah er das Boot , und unter den beiden vollen Segeln die vielen Männer , und erkannte im Topp den Dithmarscher Reiter .
Da freute er sich .
Er freute sich so sehr , daß ihm die Freude aus den Augen sprang .
Und wie er dann allmählich die Leute erkannte und merkte , daß sie aus den besten Geschlechtern waren und manch alter Bekannter darunter , freute er sich immer mehr , und lachte , und fing an seinen Bart zu knoten .
Drei Knoten , sagt die Chronik , machte er in jeden Zipfel .
Dann schickte er das Weib und die Kinder und die anderen Weiber ans äußerste Ende des Felsens , wo er einen Versteck für sie gemacht hatte , und rüstete sich zur Verteidigung .
Er wollte den Dithmarschern den Aufstieg nach dem Oberland hindern .
Aber das duckerige Volk in der Tiefe zeigte ihnen einen heimlichen Weg .
Da zog er sich mit seinen Getreuen in den festen Turm zurück .
Drei oder vier von den anstürmenden Dithmarschern fielen ; die anderen schlugen die Tür ein und töteten einige und nahmen die anderen gefangen .
Wieben Peters selbst flüchtete allein die Treppe hinauf und schlug die Luke hinter sich zu .
Da schossen sie von unten mit großen Büchsen durch die Diele , bis es oben still wurde und Blut herunter tropfte .
Da stiegen sie die Treppe hinauf .
Es drängte aber keiner vor ; denn sie dachten : der erste , der den Kopf durch die Luke steckt , bekommt die letzte Tatze , daß er für alle Zeit genug hat .
Zuletzt wagte es der lange Watt vom Dreisprung - sein Geschlecht schreitet noch heute langbeinig durch die Landschaft - er öffnete die Luke .
Da lag Wieben Peters da in seiner ganzen Länge , auf dem Rücken , und atmete schwer und stoßweise , und sagte : " Kommt her , Leute ! "
Und er sah sie alle , so wie sie nun neugierig aus der Luke heraufstiegen , der Reihe nach mit sehnsüchtigen und bei aller Sterbensnot fröhlichen Augen an und flüsterte jedes Einzelnen Geschlecht und Namen .
Den ganzen Abend leisteten sie ihm Gesellschaft .
Die meisten saßen freilich unten um den großen Biertopf ; aber einige saßen immer oben bei ihm ; und erzählten ihm , was sich so in seinem eigenen Geschlecht und unter den anderen großen Geschlechtern ereignet hätte : von Geburt und Tod , und Trinken und Zanken , und Hochzeit ; und er hörte gierig zu , mit Augen , die nicht mehr blinkten .
So gierig waren sie , in diese Gesichter zu sehen .
Sie fragten aber auch ihn aus und wollten wissen , wie er diesen und jenen Beutezug ausgeführt hätte , und freuten sich , daß ihm alles so gut gelungen war , und sagten :
" Du hast uns mächtig geärgert .
Du bist ein großartiger Kerl . "
Da lachte es in seinen Augen .
" Sagt Mal , " sagte er leise ... " warum seid ihr nicht früher gekommen ?
Ich habe mich so danach gesehnt ... es war schändlich , daß ihr euch alles gefallen ließet .
Ihr seid doch rechte Mehlbeutel . "
" Mensch ! " sagten sie .
" Wir hatten ja abgemacht , du solltest erst tüchtig was zusammengeräubert haben , daß es der Mühe wert war , zu kommen . "
Da lachte es wieder in seinen Augen .
" Es ist zu dumm von dir , " sagten sie , " daß du so viel schönes Gut an die dicken Hamburger gegeben hast .
Du konntest doch denken , daß wir kommen würden und es wieder holen . "
Da lachte es wieder in seinen Augen .
Gegen Mitternacht schrien die von unten durch die Treppe herauf :
" Du , Wieben , wir haben einen Pfaffen gegriffen .
Willst du ihn ? "
Er schüttelte den Kopf .
" Es ist ja alles in bester Ordnung , " sagte er .
" Das scheint uns auch , " sagten sie .
So erzählten sie sich dies und das , und unterhielten sich und tranken .
Als er teilnahmlos wurde und das schwere , röchelnde Atmen anhob , gingen sie alle hinunter und tranken weiter .
Aber dann und wann kam einer hinauf und sah nach ihm .
Als nach Osten zu überm Meer , über seiner Heimat , der Morgen sich hob , erst grau und bläßlich wie ein neugeborenes greinendes Kind , dann aber allmählich heiter und lächelnd , da starb er .
Das Weib von Bergen , von Geburt eine Friesen , blieb auf der Insel , warf das duckerige Volk samt seinem Pfaffen ins Wasser und zog ihre Kinder groß .
Die wurden alle starke , tapfere und verschlagene Leute .
So wurde sie die Stammmutter eines neuen Geschlechts auf Helgoland .
Alles , was an Hunken und Haien und anderen unheimlichen Namen auf der Insel wohnt , ist von ihrem Blut .
Sie haben Gesichter , wie von einem etwas ungeschickten und von allen Widerwärtigkeiten des Lebens wild gewordenen Holzschnitzer gemacht , und tragen drei Büxen übereinander . "
Der Wind war härter geworden und der Regen dichter .
Das Feuer kam rechts hinterm Großsegel hervor , flog in die Höhe und warf sich weithin aufs dunkel rauschende Meer .
" Seht ! " sagte Kai Jans .
" Was der Pfaff da zuletzt riet :
Das war richtig .
Alles hingeben , alles dulden , ganz arm werden , dazu reines Leben .
So , als ein reines Kind vor Gott stehen .
So steht es klar und deutlich in der Bergpredigt .
Aber er konnte es nicht .
Und ich ... ich kann es auch nicht .
Und ich glaube fast , er , der Heiland , konnte es auch nicht ...
Warum nicht ?
Es ist etwas im Menschen , was dagegen streitet , und zwar etwas Gutes .
So ein sanftes Heiligenleben : das ist nichts ; es muß irgend etwas daran nicht in Ordnung sein . "
" Na , " sagte Anna ... " über diese Dinge grübelst du nun da in Berlin ?
Über Wieben Peters und so was ? "
" Mensch ! " sagte er .
" Glaube ' doch nicht , daß ich ein Grübler oder Kopfhänger bin !
Ich sage euch :
ich besehe mir das Leben da ! "
" Besonders die Mädchen , " sagte Anna .
" Ich leugne es nicht , " sagte er , " obgleich es fast gefährlich ist , es zu gestehen .
Denn wenn ich sage :
ich schätze einen guten Mehlbeutel über alles , oder es geht mir nichts über einen gut gesteiften Hemdkragen , dann sagen sie :
ich bin ein verständiger Mann .
Wenn ich aber sage :
es geht mir nichts über ein schönes , frisches Mädchen , dann bin ich ein bedenklicher Mensch .
Aber sind sie nicht von allem , was die Natur hervorgebracht hat , das Edelste und Schönste ?
Weißt du , Pe Ontjes , ich gehe ja zuweilen ins alte Museum und in die Nationalgalerie und ich habe nichts gegen diese Dinge :
aber ich sage dir :
wenn ich nun dort bin , und sehe da ein schlichtes , feines Mädchen vor irgendeinem Bilde stehen :
dann ist mir der ganze Kram , der da herumsteht und an den Wänden hängt , gleichgültig .
Siehst du :
das sage ich . "
" Damit bin ich ganz einverstanden , " sagte Pe Ontjes , " und Anna wird auch nichts dagegen haben ...
Was interessiert dich sonst noch in Berlin ? "
" Nun : die Straßen , der Verkehr , die Bauten , das Militär , das Theater ... aber am meisten ... am meisten ... der einzelne Mensch . "
" Wie das ? " sagte Pe Ontjes .
" Ja , siehst du ... ohne es zu wollen , beobachte ich sie : wie sie leben und was sie denken .
Ich kann stundenlang die Straßen entlang gehen - nicht allein unter den Linden ; sondern auch im Norden , wo ich wohne - und über die Menschen nachsinnen , die ich da sehe , und über ihre Vergangenheit , und ihr gegenwärtiges Leben , und wie ihnen wohl ums Herz ist .
Ich habe da unter den Arbeiterfamilien , unter denen ich Hause , eine ganze Menge Bekannte , besonders auch unter ihren Kindern und Frauen . "
" Na ... und damit beschäftigst du dich denn ! " sagte Anna .
" Mit dem Mädchen vor dem Bild , und mit den Leuten auf der Straße und den Arbeiterfamilien !
Eigentlich muß man sagen , daß du zu einem anderen Zweck nach Berlin gegangen bist .
Das muß man wirklich sagen , wenn man ehrlich sein will . "
" Du meinst , um Theologie zu studieren , " sagte Kai Jans und sah nachdenklich übers Meer .
" Ja ... ich studiere auch Theologie , und ich werde mein Examen rechtzeitig , also bald , und nicht schlecht bestehen .
Damit bist du nun schon befriedigt und beruhigt .
Ich will dir aber noch etwas besonderes sagen .
Höre genau zu , Anna .
Du weißt , daß unser Volk immer mehr von dem alten Kirchenglauben abfällt .
Die wissenschaftliche Forschung ist dabei , sowohl den katholischen wie den protestantischen Kirchenglauben auseinander zu brechen .
Es muß und wird etwas Neues kommen .
Ob ich nun nicht recht und klug tue , wenn ich mich so darauf vorbereite , daß ich das gegenwärtige Geschlecht der Menschen kennen lerne ?
Sieh , der Geheimrat hat keine Religion oder eine , die nichts wert ist ; der Bäckerjunge in ledernen Pantoffeln hat auch keine ; und die Arbeiterfrau erst recht keine .
Wenn ich mich in müßiger Langeweile und Trägheit in Berlin umtriebe , so könntest du mich wohl tadeln .
Aber ich stehe da am Menschenstrom und höre auf sein Rauschen und höre im Rauschen die alte Frage :
Woher und wohin , Menschenkinder ?
Diese Frage höre ich deutlicher und höre sie mehr aus der Tiefe , als andere Leute .
Und sie macht mir mehr Not als anderen Menschen . "
" So ! " sagte Anna .
" Darauf läuft das Ganze hinaus .
Vor dreieinhalb Jahren , im Kaiserhof , hast du es abgeschworen ... aber nun bist du doch wieder dabei , Hilligenlei zu suchen . "
" Und bin ich dabei , " sagte er , " was habt ihr dagegen ? "
" Nichts ! " sagten sie beide ernst , " gar nichts !
Suche es ! "
" Und nun , " sagte Pe Ontjes , " sollst du in die Koje gehen , Anna .
Komme , ich will dir deine Schlafgelegenheit zeigen ... Nachher müssen wir auch über Stag gehen , Kai . "
" Bleibe ' nicht so lange , " sagte Kai Jans ; " der Wind geht mehr nach West und die Dünung wird größer ; es kann uns noch schlecht genug gehen . "
Als sie in den engen , kleinen Raum eintraten , machte er Licht und setzte sich auf die Kiste und sagte : " Nun .
Ist nun vollständiger Friede zwischen uns ?
... Komme her !
... " und er zog sie zu sich auf seine Knie .
Sie spielte verlegen mit den Umschlägen seiner Jacke und sah ihn klar und gütig an und sagte mit einem rührenden Ton in der Stimme :
" Wie lieb ist das , wenn einem ein Mensch gehört ... "
Er wunderte sich , und freute sich über ihre Schönheit und Güte , und betrachtete sie stumm mit glücklichen Augen und hob die freie Hand und strich ihr langsam und zärtlich immer wieder über das blonde Haar .
Dabei zog er sie allmählich näher an sich heran :
" Wie fein dein Atem ist , " sagte er , " wie Morgenwind . "
" Du bist dumm , " sagte sie .
" Wenn man jung und reinlich ist ?
... "
" Deine Lippen schmecken nach Salz . "
" Deine auch ...
Das kommt vom Seewind , " sagte sie .
" Was haben deine Augen für einen schönen Glanz und was atmest du lieb ... Liebe , kleine Deern ... "
" Du bist so lieb mit mir ... " sagte sie mit schwerer Stimme .
" Daß du so heiß bist ... du ... das habe ich nicht gedacht , du ... "
" Es ist dir nicht recht , " sagte sie schwer und weh ... " ich kann nicht dafür ... ich bin nun einmal so ... "
" Du liebes , großes Menschenkind !
... weißt du was ?
Ich würde dich über Bord werfen , wenn du es nicht wärst . "
Er zog sie fester an sich und küßte sie .
" Nein , Pe Ontjes ! " sagte sie leise und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter , " daß du einen so gelben Bart hast .
Wie lieb mir das ist !
... Wenn du ein Schellfisch wärst , du , das wäre schlimm für mich ... O , du lieber Mensch ... "
Er lachte kurz auf und zog sie wieder an sich .
" Rede noch einmal vom Schellfisch ! " sagte er ...
" So ... nun muß ich hinauf und du mußt schlafen . "
" Ach , bleibe noch .
Du mußt mir zeigen , wie ich mich hier einrichten soll ...
Ich ziehe bloß das Kleid ab und dann hinein in die Koje ... "
Sie zog das Kleid ab und legte sich hin und lachte .
" So , " sagte sie .
" Es schaukelt stark ; aber ich glaube , ich werde doch schlafen ... Komme , bleibe noch ein wenig bei mir !
... Ach , was wird das morgen für ein schöner Tag !
... Du , Steuermann , ich bin dir nicht dankbar ; das mußt du dir nicht einbilden .
Denn ich bin ebensoviel wert wie du .
Aber ich bin glücklich durch dich , und ich denke , daß du glücklich durch mich bist ...
Wenn wir Piet morgen träfen ?
Und wie wird Mutter sich freuen !
Sie hat in den letzten Jahren nicht viel Freude gehabt .
Und deine Eltern !
Die freue 'n sich auch , das weiß ich ... obgleich ich kein Geld habe ...
Also im Reimärschen Haus werden wir wohnen . "
Nun fingen sie an , über das Haus zu sprechen und wurden nicht müde , alles zu bereden : wie sie es einrichten und wie sie da hausen wollten .
Dabei hielten sie sich an den Händen und sahen sich beim trüben Schein der Lampe unverwandt an .
" Aber nun muß ich hinauf , und du mußt schlafen , " sagte er .
Er nahm sie in den Arm und küßte sie .
Sie war selig in seinen Armen .
" Ich wundre mich so , " sagte sie leise , " daß du so lieb bist .
Ich habe immer darüber nachgedacht , ob du wohl lieb sein könntest .
Ich fürchtete , du könntest nur einen Maissack lieb haben oder die Goodefroo . "
" Ach du !
Ich bin nicht anders als andere Männer .
Wenn man die im Arm hat , welche man liebt , und sie kommt einem mit solch schöner Liebe entgegen , dann gerät man in Feuer . "
Und er küßte sie heiß .
" Ich möchte nicht wieder von dir gehen . "
Da umarmte sie ihn und sagte : " Du , Pe Ontjes , ich habe dich schrecklich lieb , und wenn ich einen Menschen lieb habe , dann gehe ich für ihn durchs Feuer ...
Aber ...
Pe Ontjes ... ich muß immer , immer stolz auf dich sein können . "
Sie hätten das Feuer , das vorhin brannte , wohl noch wieder angefacht , aber das Boot wurde plötzlich schwer und unruhig hin- und hergeworfen , daß er sie rasch ließ und hinaufging .
Als er sich oben umsah , arbeiteten Kai Jans und der Junge an den Segeln .
Das Feuer flog auf Steuerbordseite hoch vor ihnen in den Nachthimmel hinauf .
Der Wind war stärker und westlicher geworden .
Eine hohe Dünung warf das leichte Schiff eine Weile hin und her .
Dann bekamen sie es mit Pe Ontjes Hilfe glücklich vor den Wind .
" So , " sagte Kai Jans und setzte sich zu Pe Ontjes ans Steuer ... " nun treiben wir in fünf Stunden nach Cuxhaven ... was meinst du ? "
" Wir können von Glück reden , " sagte Pe Ontjes und sah nach Südwest .
" Das Wetter wird ruhig . "
Sie saßen nebeneinander und redeten wenig .
Der Wind fuhr hinter ihnen drein .
Es kamen Böen auf mit sprühendem Regen , die , je weiter es gegen Morgen ging , schwerer wurden .
Das Fall in der Hand , blieben sie wach , bis der Morgen graute .
Als sie wieder eine schwere Böe überstanden hatten - der Morgen graute eben - erschien Anna Boje in der Luke , rot und verschlafen , und sah sich ziemlich ängstlich um : " Nein ! " sagte sie , " ich habe so fest geschlafen !
Wie ist es möglich !
Aber nun erwachte ich von dem schweren Lärmen . "
Sie hatten nicht verstanden , was sie sagte , aber Kai Jans sprang auf und half ihr heraus , schloß die Luke und führte sie nach dem Steuer .
" Sie wird durchnaß , " sagte Pe Ontjes .
" Wenn ich bloß bei euch bin . "
Sie zogen ihr einen alten , nassen Ölrock an , und dann saß sie still und ein wenig zusammengeduckt da ; und sah mit klaren , ernsten Augen über den dämmernden Himmel und über das Wasser , das weithin in weißgrauen , schweren Hügelreihen dahinrauschte .
" Siehst du ? " sagte Pe Ontjes ... " dort das Feuer ?
Das ist Neuwerk ... und dort ist Cuxhaven . "
Als sie zwei Stunden später an der alten Liebe vorüberfuhren , stand am Lotsenhaus das Zeichen : Südweststurm , rechts drehend .
Das war um neun Uhr .
Drei Stunden später , gegen zwölf Uhr , donnerten die Kanonen von Grimmershörn über das wilde , tobende Wasser .
Der Sturm war nach Nordwesten übergegangen .
Es war ein dunkler , wilder Novembertag .
Sechzehntes Kapitel Das war jener graue , schreckliche Novembertag , da die schöne Bremer Dreimasterbark , mit Salpeter von Iquique , bei Texel den Kurs nicht halten konnte und in die Brecher trieb .
Sechs Stunden lag das Schiff umringt und umsprungen von den tollen weißen Wellenhunden .
Tausend sprangen bellend und brüllend hinauf und flogen zurück ; tausend bissen heulend in seine Seite ; tausend wühlten unten an seinem Bauch im Sande .
Und die in Lee im Sande wühlten , die brachten ihm den Tod .
Es sank schwer über , tiefer und tiefer .
Da versuchten sie das Schiff zu verlassen , zehn in dem einen Boot , zehn in dem anderen .
Das eine kam glücklich durch die Brandung .
Das andere wurde gleich vom hinreißenden Sug an die Wandung geworfen und zerdrückt .
Man sah nichts mehr vom Boot und nichts mehr von den Menschen .
Die weißen Hunde bellten die ganze Nacht .
Es war jener graue , schreckliche Tag , wo die zwölf Fischerboote von Finkenwärter von ihren Gründen südlich von Helgoland flohen .
Die Fahrgäste auf der Deutschland hatten sich morgens noch über sie gefreut : wie sie mit ihren schönen , braunen Segeln nordwärts auf dem dunkelgrauen Meer standen , hinter ihnen die blaugraue Himmelswand .
Und in dem Graublau , das die ganze Seite des Himmels erfüllte , standen blasse ungeheure Windsegel geradeaus von der Erde bis zur höchsten Höhe des Himmels , als wären sie aufgestellt die Welt zu fahren .
Und gegen zehn Uhr stieg unten auf dem Meer ein schweres Dunkel auf und kam rasch näher , und kam stier und geradeaus wie ein ungeheurer grauer Eulenkopf , darin helle , gelbe Fleck standen , wie das Weißgelbe in uralten , bösen Augen .
So schob es sich vorwärts ; der weiße Gischt spritzte an seinen Bauch .
Da sahen sie von ihrer Arbeit auf .
Und da beeilten sie sich sehr .
Hei , was flogen sie mit den schönen braunen Flügeln , kleine Strandvögel , dicht über Grau und Gischt .
Duckt euch , Vögelein , es kommt der große , uralte Vogel des Meeres .
Horch , nun rauschen seine mächtigen Flügel .
Er kommt .
Sie zogen die Flügel ein , sie duckten sich ; da hackte er dreimal nach unten , mit wildem Stoß .
Vier schöne braune Flügel trieben in den Wellen .
Es war ein schwerer , grauer Novembertag .
Gegen Mittag schwand die letzte Helle .
Das ganze Meer graugrünes aufgewühltes Wasser , darüber graue wildheulende Luft , quer hindurch eiskalter Regen und Schnee .
Immer dichter folgten die Böen .
Sechs Torpedoboote , schmale , schwarze , mit rundem stählernen Deck , warfen sich , und stampften und wühlten sich durch die wild rollende See der Elbmündung zu .
Sie wollen und müssen sie erreichen , ehe der schwere Ebbstrom ihnen entgegenkommt und harte Brandung schafft .
Auf dem ersten Boot steht der Kommandant , den Schornstein hinter sich , vor sich den niederen Turm , im triefenden gelben Ölrock , um den Hals das dicke englische Handtuch , auf dem Kopf eine alte Mütze , den Sturmriemen unterm Kinn .
Er achtet mit springenden Augen auf jede Bewegung der See .
Neben ihm , die Hand am Zeichengeber , der älteste Unteroffizier .
Sechs Mann stehen in Schwimmwesten zur Seite , die Hände an der Eisenstange ; zuweilen stehen sie alle bis über die Knie im weißen Gischt .
Um zehn Uhr , auf dem Nachbarboot , wollte ein Mann seinen Kameraden an sich vorüber gehen lassen , ließ das Geländer los , solange als flinke Augen brauchen aufzusehen , da sprang eine Welle , die noch flinker war , über ihn , und schluckte ihn hinunter .
Um elf Uhr - der Kommandant bückte sich gerade , dem Mann am Ruder einen Befehl zu geben - lief unter das erste Boot von achtern her , genau in der Richtung des Kurses , eine ungeheure See : sie hob das Heck und das ganze Boot , und , im Heben , warf sie es ein wenig dwars .
Und dann , als sie es auf der spitzen Schulter hatte : ein wilder Stoß ...
Koppseis geht es !
Wie ein toter Fisch treibt es ...
Fünf hingen in Lee an der Bordwand ; mit fünf trieben die Wellen ihr sinnloses Spiel .
Sie wurden alle zehn aufgefischt .
Das war ein eilig Fischen !
Aber sechs gehen mit dem umgestürzten Boot in die Tiefe .
Sie liegen unten auf dem Grund , im umgekehrten Boot , in schwarzer Finsternis , das Wasser bis an die Brust , und hin und her gestoßen .
Da gab der junge Kommandant getrost das Leben auf , und was so daranhängt : die Mutter und die Brüder , und den grünen Wald , und die Ehre unter den Menschen .
Er gab es ruhig und tapfer auf .
Er dachte : für die Heimat gestorben und damit gut .
" Kinder , " sagte er zu den anderen , " wir wollen noch beten : Vater , nimm unsere Seelen zu dir in den Himmel , und gib uns einen schnellen und gelinden Tod . "
So wie sie ihn fanden , in dem zerrissenen gelben Ölrock , an den Beinen die hohen Gummistiefel , liegt er im Dom zu Schwerin und schläft in Frieden .
Es war ein schwerer , grauer Tag , ein Morgen voll Kampf und Not .
Ist da kein Anblick auf der weiten grauen See , der das Herz erfreut ?
Seht , da !
Vor den niedrigen grauen Sturmsegeln ... wie sie stampft , und sich wieder hebt , beides mit ernstem Stolz ; wie die zerschlagene Welle auffliegt bis zur Galion !
Seht , wie sie dort in der Ferne durch Wolken und Regen und Hagel , durch das weite wilde Grau dahin jagt : die Goodefroo .
Sie hatten am Abend vorher , die Segel voll vom Südwestwind , den Kanal verlassen , und der zweite Steuermann , Piet Boje von Hilligenlei , dachte so um fünf Uhr morgens , als sie die Höhe von Texel hatten , Kurs nach Osten zu nehmen .
Aber da kam Jan decken an Deck , fing an , in die Luft zu schnuppern , ging nach unten und kam gleich darauf , wahrhaftig , mit der Wollmütze , wieder nach oben und blieb oben .
Sie sagten wieder alle :
" Ditmal lügt he !
Gott sei Dank !
He lügt . "
Er humpelte auf und ab , zwischen Reling und Rudersmann hin und her , die Hände in den Taschen , und sah dann und wann auf und spuckte aus .
Nach einer halben Stunde sagte er so im Gehen zu Piet Boje : " Steuermann .
Wie willst nördlich holen . "
Und er winkte so verloren nach Norden zu .
Piet Boje schüttelte heimlich den Kopf und tat , wie ihm befohlen .
Um zehn Uhr , als Steuermann Boje schon wußte , daß die schmale und dürre Nase des Alten wieder einmal ihre Schuldigkeit getan hatte - denn es stürmte nun hart aus Südwest und hatte Neigung , nach Norden um zu gehen , so daß es gut war , so fern als möglich von den verdammten friesischen Sanden zu sein - da deutete der Alte mit dem Daumen nordwärts nach einem Segler :
" Schon gesehen , Steuermann ?
Den Seiler da ?
Das ist der Goodemann . "
Der Goodemann war der Bruder von der Goodefroo und gehörte derselben Reederei .
" Sieh Mal :
Kapitän Winkel war früher Steuermann bei mir und denkt : » Fahre du mit dem Alten ! «
Sie hatten kein Vertrauen , Steuermann ! "
Und er sah Piet Boje schief von unten an .
" Ich habe es mehr mit dem Sehen als mit dem Glauben , " sagte Piet Boje .
" Das ist im allgemeinen auch richtig , " sagte der Alte .
Eine Stunde später war der Sturm nach Nordwesten gegangen , und die beiden stolzen Schiffe jagten nebeneinander her , keine Meile voneinander entfernt , mit Kurs auf Helgoland durch die wilde wühlende See .
Die Segel waren zum Bersten voll , im Tauwerk pfiff und heulte es .
Böen mit schwerem Hagel und Regen jagten hintereinander her und machten die Luft dick und unsichtig .
Als es nach einer Stunde ein wenig aufhellte , hatte der Goodemann noch mehr Backbordruder gegeben .
Die Leute waren alle an Deck .
Bald darauf erschien ein Lotsenschoner und beide Schiffe nahmen mit großer Mühe Lotsen an Bord , zuerst der Goodemann , dann die Goodefroo .
Dabei kam der Goodemann Backbord voraus .
Gleich darauf zog eine neue Bö heran und raste mit wildem Ungestüm über das Meer .
Schwerer Hagel fuhr rasselnd und schlagend über Deck .
Mittschiff liefen wirbelnde Seen über .
Die Leute krochen mühsam nach achtern .
Die Luft war von Hagel und stürmenden Wolken so dick und die Sonne war so verhüllt , daß sie nicht weiter als bis zum Logis sehen konnten , gegen das wirbelndes Wasser sprang .
Das dauerte so eine Stunde .
Da hellte es ein wenig auf und der Sturm ließ ein wenig nach und sie sahen um sich .
Da lag der Goodemann da , Backbord voraus , mit schwerer Schlagseite , und , wie es schien : das ganze Vorgeschirr heruntergebrochen .
Hinter dem havarierten Schiff zeigte sich im grauen Gewölk der Felsen von Helgoland .
Der Alte spuckte eilig aus und sah steif hinüber :
" Luvt ob ! " sagte er ...
" Da Süd das schlecht uut . "
Die Goodefroo kam langsam näher heran .
Sie hatten alle wache Augen .
Aber Piet Bojes Augen sprangen und stachen .
Der Alte gab ihm sein Glas :
" Sehen Sie Mal hin ! "
" Da ist kein Kaptein , " sagte Piet Boje , " und kein Steuermann ... Kaptein , da ' st Not an Mann. "
" Das es 'n Glück , " sagte der Alte trocken , " das wie ünner Helgoland driew . "
Nun flaute der Wind ab .
" Sieh da ! " sagte der Erste : " Die Haifische !
... "
Einige Helgoländer Boote erschienen mit kurzen Segeln links vom Goodemann .
Jan decken starrte hinüber und schimpfte so vor sich hin .
Die Goodefroo hielt luvwärts vom Goodemann entlang .
" Ist da Platz und Water , Lots ' ? "
Der Lotse sagte : " All riecht , Kaptein . "
Piet Boje warf einen raschen Blick nach dem nordischen Kahn auf der Großluk :
" Kaptein ? "
" Kann ich nicht verantworten ! " sagte Jan decken und schüttelte den Kopf .
" Ist unmöglich ! " sagte der Erste .
Auch der graubärtige Lotse schüttelte den Kopf .
Piet Bojes Augen flogen bald zum Goodemann , bald in Jan Deckens hageres Gesicht .
Auf dem Deck des Goodemann liegt es voll von Rahen , Splittern und wirrem Tauwerk .
" Kaptein !? " schrie Piet Boje .
Jan decken schüttelt den Kopf :
" Ist nix to maken . "
Piet Boje reißt sich Ölrock und Jacke vom Leibe .
" Kaptein , ich mutt ! "
Er schlug sich immer gegen die Brust .
" Warum ? " sagte der Alte und spuckte aus .
" Wiel ich mutt ! "
" Denn dohn Es , watt Se ni lassen könnt , " schrie der Alte giftig .
" Den Kahn klar !
... Wer geht mit ? "
Jan decken sah gar nicht hin :
" Großtopp back . "
Der Kahn fliegt über Bord .
Piet Boje mit zwei Mann hinter her .
Jan decken sieht gar nicht hin :
" Braßt vull , das wie klar kamt . "
Die Leute stehen dicht gedrängt an der Reling , ein Haufen naßblanker Ölröcke und Südwester , und starren nach dem hüpfenden , stürzenden Boot .
" Junge , Junge ! das geht ni gut ... Mensch , was ist vorn Kerl ! ...
Ein Wüterich !
Noch geht gut ...
Da sünd se !
Da kommt 'n Helgoländer umt Heck !
Dee kann Ehre helpen . "
" Koseist Sünde sie !
... Verdammt ! "
" Mensch , dee Helgoländer fiert dahl !
... Siehst du ? "
" He hat Ehre !
... Borgen ist watt ! "
" Ich löw : ein Mann !
Dee anderen beiden sind weg ... versapen . "
Jan decken hatte nicht hingesehen .
Als er hörte , was sie untereinander redeten , sagte er mit seiner trockenen Stimme :
" Ost ... Süd ... Ost " und sah nach Kurs und Segel .
Als Piet Boje nach einer Viertelstunde mit den zehn Helgoländern das Deck des Goodemann betrat , setzte eine neue Bö ein und hüllte das Schiff in wildes , fliegendes Wasser und Grau .
Der älteste Matrose sprang an Piet heran : " Der Kapitän ist schwer krank ; die Steuerleute und vier Mann zu Schaden gekommen . "
" Ruder in Ordnung ? "
" Ja . "
" Leck ? "
" Nein . "
" Peil dee Pump ' ! "
" Ladung ? "
" Holz : übergegangen . "
" Ich , der Steuermann von der Goodefroo , habe das Kommando . "
Der Matrose kam an Piet heran : " Zwei Fuß Wasser bei der Pumpe ! "
" Lotse ... nach der Elbe ! "
Da kam Hunke Hein oder Hein Hunke , oder wie er hieß , kniff die Lippen so schmal , daß nichts von ihnen zu sehen war :
" Steuermann !
Das geit ni !
Wie müht em opt Land fetten . "
Da lachte Piet Boje übers ganze Gesicht .
" Backbordwache und vier Helgoländer an die Pumpen !
... Steuerbordwache rein Deck ! "
Und schickte die anderen in die Ladung .
Da dachten sie :
» Hätten wir den verdammten Grünschnabel im Wasser gelassen ! «
Und gingen hin und taten stumm und tapfer ihre Pflicht .
Fünf Stunden lang standen sie auf dem hängenden Deck , auf das die Seen leckten , und arbeiteten mit Macht , mit ruhevollen Händen und wachen Augen .
Der Steuermann von der Goodefroo stand in triefender Kleidung , starr vor Kälte , mit dem Glas in der Hand , beim Rudersmann , und sah nach vorn , ob die Hilfe käme .
In der Höhe von Scharhörn erschienen zwei Schlepper , welche der Reeder ihnen entgegenschickte .
Das war abends im Halbdunkel .
Einige Stunden später kam Anna Boje angelaufen , denn sie hatte bei Bahlsen , wo sie wohnte , gehört , daß die Goodefroo angekommen wäre .
In dem schweren Mantel von Anna Martens , ein buntes Tuch um den Kopf , das die Wirtin ihr gegeben hatte , ging sie am Telegraphenhaus vorbei , gegen Sturm und peitschenden Regen an , nach dem Kai zu und sah das havarierte Schiff .
Da sah sie drei Männer in Ölröcken im Gespräch miteinander an einem Boote stehen und trat heran und fragte .
Da wandte sich der Jüngere , als er die Stimme hörte , rasch um ; und sie erkannten sich .
Er erschrak aber erst und sagte : " Du ?
... Ist unsere Mutter krank ? "
Da sah sie ihn mit lachenden Augen an :
" Nein , alle wohl . "
Er ging einige Schritte mit ihr und sagte : " Was hast du , Anna ?
Du bist so eigen ? "
Da erzählte sie ihm alles und er freute sich und fragte sie nach allem .
" Es ist schön , " sagte er , " daß du so gut und glatt in die Ehe kommst ; es ist immer so ein unsicheres Ding mit euch Mädchen . "
" Wie meinst du das ? "
" Nun , " sagte er , " die eine ist wild ; die andere quält sich mit einer hoffnungslosen Liebe ; die dritte bleibt ledig und wird wunderlich .
Aber du : gut und glatt in den Hafen .
Siehst du , das freut mich . "
" Was weißt du davon , Piet ? " sagte sie bedrückt , " ob es so gut und glatt gewesen ist , du bist immer in der Fremde gewesen ...
Und wenn du jeden Abend an meinem Bett gesessen hättest , Piet , du hättest es doch nicht gemerkt .
Was weiß ein Bruder von seiner Schwester ?
Sieh : wer kommt da ?
Dein lieber Schwager ! "
An diesem Abend , während draußen der Sturm weiter raste und Menschen in schwerer Arbeit sich gegen den bitteren Tod wehrten , sprach Piet Boje noch mit seinem Reeder , der aus Sorge um seine beiden schönen Schiffe nach Cuxhaven gekommen war .
" Ich will es gar nicht so hoch anschlagen , " sagte der ruhige , ältliche Mann , " daß Sie einige Verbesserungen vorgeschlagen haben , welche sich zu bewähren scheinen .
Ich will Ihnen auch Ihre heutige Tat nicht so hoch anrechnen , obgleich sie mir und Ihnen ein gutes Stück Geld gebracht hat .
Ein gut beanlagter , aber leichtfertiger Mensch hätte dasselbe fertig gebracht .
Es ist vielmehr dies :
ich habe das sichere Gefühl , daß Sie eine Sache , die Sie anfassen , mit Klugheit und Kraft und ständig wacher Aufmerksamkeit , aus Freude an der Sache , durchführen .
Solche Leute sind für den Chef eines großen Unternehmens von großem Wert , und sind selten .
Darum will ich Sie , wenn Sie einverstanden sind , vorläufig nach Gadeshead schicken , den Dreimaster zu überwachen , der da auf dem Helgen liegt .
Ich schicke einen Mann mit hellen Augen dahin ...
Ich möchte , daß es das letzte Schiff wäre , das ich drüben bauen lasse . "
An diesem Abend , während draußen der Sturm heulte und mehr als ein junges Weib zur Witwe machte , kam Anna Boje , die das stille , edle Gesicht hatte und die scheuen , reinen Augen , dazu das heiße Herz , zur guten Ruhe .
Nachdem sie in der Wirtsstube bei Bahlsen friedlich miteinander gegessen hatten , brachte er sie in ihr Zimmer hinauf und wollte Abschied nehmen .
" Gute Nacht , Goodefroo ! " sagte er und küßte sie .
" Gute Nacht , Goodemann ! " sagte sie und ließ sich küssen .
Aber sie konnten dann doch nicht auseinander finden .
Es flog wieder ein Feuer auf , an dessen schönem Schein sie nun aber in seliger Freude saßen , bis in die Nacht hinein .
Und als sie so saßen , dachte Anna Boje : » Kai Jans wäre kein Mann für mich gewesen .
Was grübelt er viel und macht sich Sorgen ?
Ich ... ich bin nun im heiligen Land ; « und sie lachte leise .
Am anderen Abend kamen die vier im Dunklen mit der Bahn in Hilligenlei an .
Pe Ontjes und Anna gingen voran ; Piet und Kai Jans hinterher .
Da , wo es von der Bahnhofstraße nach der Hafenstraße hinunterging , sagte Kai Jans nach langem Schweigen :
" Du ... sage Mal ... als du da gestern mittag über Bord sprangst : woran dachtest du da ?
Das möchte ich wohl wissen . "
" Wie meinst du ... ? " sagte Piet Boje in seiner raschen Weise .
" Woran ich dachte ?
An das Geld !
Ich habe mit dem Sprung wenigstens fünftausend Mark verdient .
An das Geld und an mein Vorwärtskommen . "
" So ! " sagte Kai Jans .
" An anderes dachtest du nicht ...
Ich meine : die Besatzung war doch in mächtiger Not . "
" Nein ... " sagte Piet Boje verwundert , " daran habe ich nicht gedacht .
Ich habe sie ja noch mehr in Not geführt , da ich mit dem lecken Kasten von Helgoland ging !
Ich dachte an den Wert von Schiff und Ladung ... das heißt :
ich dachte an mich . "
" Und die beiden , " sagte Kai Jans , " die ertrunken sind ?
Sie treiben nun in der See , Welle auf , Welle ab , zwei junge Menschen ! "
" Was geht mich das an ? " sagte er verwundert und zornig .
" Sie gingen doch freiwillig mit ! "
" Ja , weil sie dir vertrauten ! "
" Ach was !
Vertrauten !
Sie wollten Geld verdienen , Mensch ! "
" So ... " sagte Kai Jans und wollte gehen .
In dem Augenblick kam ein Mann vorüber , den weder Kai Jans noch Piet im Dunklen erkannten .
" Habt ihr schon gehört , " sagte der Mann , " wie der junge Mecklenburger gestorben ist ?
Der sechste Mann , der mit auf den Grund gegangen ist , hat es erzählt .
Er hat gesagt :
» Kinder , wir wollen noch beten , « und hat Gott die Seele befohlen und um gelinden Tod gebetet .
Ich habe hier in Hilligenlei soviel Tratsch gehört von Heiligland , Heiligland .
Auf der Kanzel hört man es im Ernst , und auf der Kegelbahn im Spaß .
Aber dies ... dies , scheint mir , war wirklich ein Sprung aus Schreck und Dunkel ins heilige Land ... "
Damit ging der Mann vorüber .
" Das war gut ! " rief Kai Jans laut , " Oh !
... das war gut ! " und man hörte an seiner Stimme , wie seine zugeschnürte Kehle sich plötzlich löste .
Ohne sich von Piet zu verabschieden , ging er die Hafenstraße hinunter .
Pe Ontjes und Anna waren weiter gegangen und fanden die Mutter an der Maschine .
" Da sind wir , " sagte Pe Ontjes .
" Wir haben Frieden gemacht , Mutter Boje , und in vier Wochen soll Hochzeit sein . "
Anna gab der Mutter die Hand , hielt sie fest und sagte in ruhig freundlichem Ton : " Wir würden gern bei dir bleiben , Mutter ... aber da ist noch jemand für dich ... draußen .
Einer , den du zwei Jahre lang nicht gesehen hast .
Darum wollen wir gleich zu Onkel Lau gehen . "
Damit gingen sie nach der Küchentür zu .
" Da ist noch jemand für mich ? " sagte Helle Boje , " und ihr habt ihn mitgebracht ?
... "
Und sie ging mit zitternden Knien die Diele entlang , und als da niemand war , öffnete sie die Haustür und sah in die Dunkelheit .
Von Mittelgröße war sie , schon etwas gebückt von der Sorge um die Kinder und von der Arbeit an der Maschine .
Die letzten Blätter der Kastanien lagen auf der regenfeuchten , windigen Straße .
" Piet ? " sagte sie .
Da kam er schräg über die Straße auf sie zu , und legte den Arm auf sie und ging mit ihr hinein und streichelte sie .
Sie weinte vor Freude .
" Mein Jung , " sagte sie , " daß ich dich wieder habe . "
" Ja , Mutter ! " sagte er , " und nun denke dir !
... "
Und er erzählte ihr von dem Glück , das er gehabt hatte .
Von dem Sprung von der Reling sagte er nichts .
Da freute sie sich !
... " O , " sagte sie , " nun bist du oft an Land ! "
" Alle halbe Jahr komme ich jetzt nach Hilligenlei , mindestens , " sagte er .
" Du sollst nun Freude von deinem Ältesten haben ! "
" Habe ich ja immer gehabt , Piet , " sagte sie .
" Immer , mein Junge ! "
" Nun ? " sagte er .
" Hast du den ganzen Tag an der Maschine gesessen ? "
" Nicht solange , " sagte sie .
" Doch , " sagte er ...
" Du bist müde und matt , und siehst gar nicht gut aus ...
Anna ist nun verheiratet ; für Hat Sorge ich .
Heinke ist ein tüchtiges Mädchen und findet auch ihr Brot ...
Weißt du was ?
Ihr habt wohl Platz auf dem Boden ?
... "
Und ehe sie wußte , was er wollte , faßte er im Zorn die ganze schwere Maschine , und hob sie auf , und trug sie aus der Stube , und die Treppe hinauf , und schrie dabei laut :
" Du hast ausgedient !
Ausgedient hast du ! "
Helle Boje wollte sich über ihn freuen und wollte lachen und weinte heiß auf .
Als er wieder herunter kam und eben mit seiner Mutter in die Küche trat , wurde die Haustür aufgerissen , und eine helle , silberne Stimme rief : " O , Mutter !
Kai Jans ist da von Berlin ... schon seit vorgestern !
Und ist mit Anna und Pe Ontjes nach Cuxhaven gefahren !
Und Anna ist mit Pe Ontjes Lau verlobt .
Und ich weiß von nichts .
Und da ist sonst noch was los !
...
Aber kein Mensch sagt es mir . "
Sie stand schon in der offenen , hell erleuchteten Stubentür , als er in dem Dunkel der schmalen Diele ihr entgegenkam .
Er sah , wie groß sie war , und wie sie sich noch mehr aufrichtete , und mit der Scheu und Unsicherheit der sechzehn Jahre ihre grauen Augen auf den fremden Mann richtete .
" Heinke ? " sagte er .
Da erkannte sie ihn und sprang mit einem Jubelschrei an seinen Hals , und drückte sich an ihn .
Er streichelte sie und zog sie in die Stube und machte die Tür zu .
Nun sah sie ihn und wurde verlegen und fuhr mit der Hand leise über seinen Ärmel :
" Wie anders siehst du aus !
Und du hast einen Bart ... O , ... die Maschine ist weg !? "
Da erzählte er ihr von seinem Glück , und die Mutter sollte nun nicht mehr an der Maschine arbeiten .
" Nein !
... Und der große Pe Ontjes Lau ist nun mein Schwager .
Denke Mal : Schwager ! " und sie lachte .
" Es ist man gut , daß wir uns immer » du « genannt haben , sonst wäre es peinlich , jetzt damit anzufangen .
Nein ... wann wollen sie heiraten ? "
" In vier Wochen . "
" In vier Wochen , " sagte sie und versank in Gedanken wie in einen tiefen Teich ...
" Du , " sagte sie , " Kai Jans macht ja nun bald Examen .
Er will ja nun doch Pastor werden ; und ich finde das auch richtig . "
" Ihr seid gute Freunde ? "
" Ja , " sagte sie ernst und weich , " er ist immer so merkwürdig freundlich mit mir gewesen .
Ich habe eine ganze Menge Briefe und Postkarten von ihm .
Es ist ganz wunderlich , wieviel Freude wir davon haben , wenn wir miteinander sprechen . "
" Ja , was sagst du aber davon , daß er immer ein Heiligtum sucht , oder was soll man sagen ?
ein heilig Land oder so was ? "
" Ja , " sagte sie und zog die feinen Augenbrauen zusammen und sah mit starren , nachdenklichen Augen auf die Erde :
" Was soll man dazu sagen ?
... Weißt du , was ich bloß dazu sage ?
Ich weiß , daß er ein guter und kluger Mensch ist .
Und mehr sage ich nicht . "
" Na , denn gehe man hin und sage ihm guten Tag . "
Da ging sie .
Er saß eine Weile allein in der Stube ; sah um sich und fand alles Alte an seinem alten Platz ; sah dann auf die Erde , und wurde von allem , was er in den letzten Tagen erlebt hatte , müde .
Und fing an , an das Schiff zu denken , dessen Bau er beaufsichtigen sollte .
Und sah das unfertige Schiff und sah sich darauf hin und her klettern , und fragte die Leute aus , und stieg in den Raum hinab .
Und wie er da so herumstand und sich die Arbeit ansah , ... da hörte er von oben her ein Klappern und Stoßen , und dachte :
» Was ist denn das ?
Was für eine neue Maschine arbeitet da an Deck ? «
Er richtete sich auf , und besann sich , wo er war , und öffnete die Stubentür , und schüttelte in Verwirrung den Kopf ...
Aber dann war er in drei Sätzen die Treppe hinauf .
Da stand die Mutter da im Schein der kleinen , trüben Küchenlampe an der Maschine , ganz in Gedanken versunken , und ließ die Maschine spielen , und sah nun verwirrt auf .
" Du hast sie so rasch weggenommen ... ich konnte mich gar nicht besinnen ...
Ich glaube ... ich kann nicht nachdenken , wenn ich nicht an der Maschine sitze ... ich habe immer beim Arbeiten an euren Vater und an euch gedacht . "
Sie wischte an dem blanken Steg der Maschine und schluchzte heiß auf .
" Nun , " sagte er , " sei ruhig , Mutter .
So ... sei still ...
Denn sollst du noch zwei , drei Stunden täglich daran sitzen , mehr aber nicht ...
Nun komme . "
Sie blieb aber sitzen und sagte : " Sieh , Piet ... ich habe mir immer so schrecklich schwere Sorgen gemacht um jeden von euch .
Jeden Tag habe ich mich gefürchtet , daß du so eine rasche Tat begingest wie dein Vater , und auch dabei umkämest .
Und wegen Anna :
sie hat schwere Zeit hinter sich , Piet ... und Heinke ist so still und verschlossen ... und , Piet ... ich habe den Mädchen das nie gestanden , aber du mußt es wissen , wenn ich vielleicht plötzlich sterbe :
Ich habe Hat so lieb ... er ist das letzte Kind , das ich von ihm bekommen habe ...
Und nun habe ich eine so grauenvolle Angst ... er ist nicht wahrhaftig , wie ihr seid . "
" Ich weiß , " sagte er mit finsteren Augen , " Anna hat mir darüber geschrieben .
Aber nun ich es weiß , ist es gut .
Ich bleibe nun in Hamburg und will auf ihn passen .
Der Bengel soll wohl geraten ; dafür laß mich sorgen ! ...
Er ist doch aus gutem Stamm ?
.. .
Nun , sei guter Dinge !
... Sieh , wieviel habe ich jetzt erreicht !
Und ich erreiche noch mehr !
Ich will mich mächtig zusammennehmen .
Immer weiter !
Immer vorwärts ! "
" Ja , Piet , " sagte sie bedenklich , " meinst du denn , daß du so zu einem Frieden kommst ? "
" Ach , Frieden ! " sagte er .
" Was ist Frieden ?
Komme mir doch nicht mit dem Gerede von Kai Jans !
.. .
Nun komme ! "
Siebzehntes Kapitel Mutter Boje hatte wirklich Freude an ihren Kindern .
Es wurde in dem kleinen , spitzgiebligen Haus unter den Kastanien viel heller .
Anna Boje war ein glückseliges Weib ; sie dachte an nichts weiter als an ihren Mann und ihre tägliche Hausarbeit .
Im zweiten Jahr fing sie an , sich sehr zu grämen , daß sie kein Kind bekam .
Sie hatte viel im Hausstand zu tun .
Aber zwei- oder dreimal in der Woche , so gegen Abend , ging sie nach der Kastanienallee , und saß auf ihrem alten Platz , ein wenig stattlicher nun , und mit einer schönen Ruhe in dem klaren , hellen Gesicht .
Die Mutter saß ihr mit einer Handarbeit gegenüber ; Heinke arbeitete in der Küche .
Da geschah es wohl , daß die Mutter mit kurzem , scheuem Wort nach diesem oder jenem fragte , und einen kurzen , fraulichen Rat gab .
Dann antwortete das junge Weib nichts und wehrte nur unwillig mit dem blonden Kopf ab , als wollte sie sagen :
Ich mag darüber nichts hören .
Die Mutter aber wußte wohl , daß die Tochter genau zuhörte .
Wenn sie dann nach Hause ging , reckte sie ihren hohen Körper und fühlte das Blut frisch und lebendig durch die Glieder strömen und schritt wie eine Löwin , wie Pe Ontjes sagte , und dachte :
» Wenn ich keine Kinder bekomme , wer bekommt sie dann ? «
Eines Abends - die Ehe dauerte bald zwei Jahre - fing die Mutter wieder davon an , indem sie fleißig weiter strickte :
" Sage ' Mal , Kind ... ich mache mir soviel Gedanken darüber ...
Ich will nachher auch weiter nichts darüber sagen .
Aber zu einer Ehe gehören Kinder ... Sage ' Mal : Ihr habt euch doch lieb ? "
" Ach , Mutter ! " sagte Anna Boje abweisend .
" Wie kommst du darauf ?
Natürlich haben wir uns lieb ! "
" Das ist ja schön , " sagte Helle Boje , " nun sieh ... man kann sich auch zu lieb haben ... "
Sie beugte sich über die Arbeit in ihrem Schoß :
" Dein Vater war ein rascher und lebendiger Mann , ganz wie Piet ; aber wenn er mich in die Arme nahm , war er ruhig wie ein König . "
Anna sagte nichts , und tat , als wenn sie nichts hörte .
Als sie aber am Abend mit ihrem Mann allein war und anfing , ihr langes , schlichtes Haar in aller Gemächlichkeit vor ihm zu lösen und auszubreiten , und die Arme hob und senkte , und er richtig an sie herantrat , und anfing , mit ihrem Haar zu spielen , sagte sie und sah ihn mit verstelltem Ernst an :
" Du , Wieben Peters ... Du meinst , wenn dein Bart gelb ist und dein Herz heiß , damit ist alles gut .
Wenn du deine Frau lieb hast , mußt du ruhevoll und herrlich sein , wie ein König . "
" So ! " sagte er .
" Ach ! Und wie mußt du sein ? "
Sie sah nach ihrer Weise scharf und mißtrauisch in den Spiegel , schüttelte die lange , blonde Mähne und sagte auflachend :
" Ich ?
Ich bin ja so ruhig ! "
So lebte Anna Boje .
Sie dachte an nichts als an ihren Liebsten und daß sie ein Kind von ihm haben möchte , und an ihren Hausstand .
Um anderes kümmerte sie sich nicht .
Nicht einmal um die Ihren .
Ihre Schwester Heinke wurde ihr fast fremd .
Heinke wurde achtzehn Jahre alt und besorgte den Hausstand .
Da das Haus nun leerer war und um mehr Arbeit zu haben , nahmen sie nun zwei Schüler der Domschule in ihre Obhut , natürlich Freestedter Jungen .
Die hausten nun da oben in der Giebelstube , wie im lieben Elternhaus .
Mutter Boje achtete mit mütterlichen Augen auf lose Knöpfe und zerrissene Hosenböden ; Heinke sorgte durch rasches Scheltwort und loses schwesterliches Handgelenk für Aufmunterung beim Lernen .
Dazu für gutes Essen .
Denn sie aß selbst gern und gut ; sie war hungrig und stark , und hatte , obgleich sie nicht so schlimm war wie die anderen Bojes , doch auch ein tüchtiges Stück Eigenliebe .
Ihre heimliche Freude aber in dieser Zeit war , daß Kai Jans nach wohlbestandenem Examen zur Vertretung des Pastors nach Hindorf kam , das nur zwei Stunden von Hilligenlei entfernt ist .
Kai Jans !
Vierzehn Tage lang half er dem kranken Pastor in seinem großen Amt : taufte und traute und besuchte Kranke , und sprach an Gräbern , und half hin und her in allerlei Lebensnöten .
Aber danach , am Sonntagnachmittag , kam er nach Hilligenlei .
Dann ging er zuerst zu seinen Eltern .
Die wohnten immer noch im langen Haus , und Thoms Jans ging bei seinen sechzig Jahren noch immer täglich und rüstig mit dem Spaten ins Watt , und Male Jans stand noch immer mit glattem Haar und sauberer Schürze in der Küche von Ringerang , wenn die großen Bauern ein Essen hatten , oder die Jungen tanzten .
Aber am Sonntag saß er gemächlich am Fenster , die Brille auf der Adlernase , und forschte in der Bibel und in der Arbeiterzeitung , und sie saß ihm gegenüber mit ihrem klugen , zarten Gesicht und las mit gemächlicher Ruhe , was die Itzehoer Nachrichten von Lady Alice und Lord Pankook erzählten .
Die Partei der Arbeiter , deren erster Veteran er war , war nun groß geworden , hielt ihre Versammlung in einem Saal und ließ sich zuweilen einen Redner aus Hamburg kommen .
Er ging immer hin und hörte zu ; aber er glaubte nicht alles .
Sie urteilten seiner schwerfällig nachdenklichen Natur nicht vorsichtig genug .
Daß sie auf die Pastoren schalten , und von der Kirche , so wie sie war , nichts wissen wollten , war ihm zwar recht ; denn die Kirche hatte , soviel er davon gesehen , immer auf Seite der Wohlhabenden gestanden .
Aber daß sie mit der Kirche alle Religion verwarfen , das konnte er nicht vertragen .
Er wußte aus seinem und vieler Menschen Leben , daß heilige , ewige Mächte in und um uns ihr heimlich Walten haben wollen .
Wenn Kai Jans nun kam , fragte die kleine Mutter nach Strümpfen und Hemden und nach der Mittagskost im Pastorat .
Der Vater aber legte die Brille auf den Tisch , fing so leise an , mit den Fingern auf die Fensterbank zu trommeln und sagte : " Ich mag die Brille nicht aufhaben , wenn ich Menschen ansehe ... " , und fragte nach dem , was in Hindorf geschehen war .
Und meist kannte er die Leute , die der Sohn nannte , und erzählte mit Bedacht und Vorsicht , immer nach dem Urgrund der Begebenheiten suchend , von dem Leben derer , die der Sohn jetzt zu Grabe brachte , und von den Vorfahren derer , die der Sohn taufte .
Und da Vater und Sohn einander sehr ähnlich waren , gingen des Vaters Erfahrungen in den Sohn über , und er sah mit den Augen eines Sechzigjährigen in Welt und Leben hinein .
Manche Stunde saß er so , und hörte seinem Vater zu , die nachdenklichen Augen bald an der Erde , bald in des Vaters klugen Augen , bald nach dem Hafenstrom hinaus übers Meer .
Er sagte wenig und urteilte selten .
Er hörte nur zu und sah .
In der Zeit , da andere auf den Tisch schlagen und sagen : " Fertig sind wir !
Hinter uns liegt Examen und Nachdenken ! " da fing Kai Jans an , sich und die Welt und das Leben als schwere Rätsel zu fühlen .
Zu der Zeit , da alle seine Freunde schon fertige Leute waren , da Pe Ontjes Lau - ach der große Pe Ontjes Lau !
Der war schon damals ein fertiger Mann , als er zehnjährig des Jütländers Wollmütze trug - da Anna Boje mit ihren sechsundzwanzig Jahren ein ganz eigener , sicherer Mensch war , da Piet Boje genau wußte , was er wollte , da Tjark Dusenschön schon lange breit und ruhig durch die Straßen Hamburgs ging : zu der Zeit fing Kai Jans an , - so wie die Eiche im Wald am spätesten zu grünen anfängt , weil sie das härteste Holz hat - die geistvollen , unruhigen Sprünge des jugendlich spielenden Geistes aufzugeben , und sinnend und ruhevoll , doch mit schweren Furchen in der Stirn , auf das Rauschen im großen Walde zu lauschen , in seinen Gründen und in seinen Kronen ...
Und sein bester Helfer in dieser Zeit , da er ein Mann wurde , war der alte Wattarbeiter Thoms Jans .
Der gab ihm das größte Erbe , das vererbt werden kann : nämlich alle Erfahrungen eines langen , klugen und ernsten Lebens .
Aber während der Vater , wenn auch mit eilig vorüber huschenden Worten , die tiefsten Heimlichkeiten der Seele doch berührte , schwieg Kai Jans darüber , scheu , und auch unsicher in seiner Jugend , noch ohne Selbstvertrauen , immer noch in Sorge , daß er vor dem Alter nicht bestehen könnte .
Wenn er aber dann das lange Haus verließ , kam er stracks , noch ganz in Gedanken , in das kleine , spitzgiebelige Haus unter den Kastanien .
Und da wurde Kai Jans munter .
Da saß er so recht bequem in dem Stuhl , der am Fenster stand , und redete mit Mutter Boje und mit Heinke , und sah auf die Straße , und machte sich über die Vorübergehenden lustig , und spottete über dies und das in Hilligenlei , und erzählte von Hindorf und von dem guten Pastor , und fragte nach den alten Freunden .
" Piet war vorige Woche hier , " sagte Heinke .
" Vormittags kam er und setzte sich in den Stuhl , in dem du sitzest , und sagte , es wäre hier großartig still und gemütlich , und er wolle drei Tage bleiben .
Er wollte dich auch in Hindorf besuchen ; und ich sollte mit .
Aber als er sah , daß hier alles gut stand , und nachdem er mit Pe Ontjes über die Kornpreise geredet hatte , sagte er so um drei Uhr nachmittags :
» Es wäre doch besser , Mutter , wenn ich morgen früh wieder zur Stelle wäre .
Wir haben da gerade eine wichtige Arbeit an einem neuen Gaffelschoner « ...
Na , da habe ich ihn um fünf Uhr zur Bahn gebracht ...
Und weißt du , wer es am weitesten bringt von euch allen ?
Tjark Dusenschön !
Piet sagt : er hat schon ein Vermögen .
Und ihr habt nichts . "
Und sie lachte ihn mit fröhlichem Spott an .
Da kamen Kai Jans und Mutter Boje auf die Kindertage zu sprechen , und sie wollte mitreden .
" Ach ! " sagte er , " sei du doch still !
Du warst so ein kleines Kind damals .
Du warst nicht größer als ein Stuhlbein . "
" Du lügst . "
" Ich lüge ?
Ich habe dich gesehen , wie du zwölf Tage alt warst . "
" Das ist nicht wahr .
Das prahlst du alles .
Du willst immer mit mir reden , als wenn ich dein Enkelkind bin .
Wir sind acht Jahr auseinander , mehr nicht . "
Er freute sich über ihren Zorn und lachte .
Sie aber versuchte , ernstlich böse zu sein .
Aber wenn sie dann einen raschen Blick in sein Gesicht warf , und sah , daß es voll Freude und Schelmerei war , lachte sie leicht auf und sagte glücklich :
" Du kannst mich gar nicht böse machen . "
" Du mich auch nicht ! " sagte er dann ernst und sah sie mit guten , tiefen Augen herzlich an .
Dann nickte sie ihm zu , mit verwirrten Augen , und beugte sich über ihre Arbeit .
Wenn er dann gehen wollte , sagte er :
" Gehst du mit zu Anna ? "
Und weil Sonntag war , hatte sie Zeit und ging mit , und freute sich über jeden , der des Wegs kam und sie neben ihm gehen sah ; denn sie meinte , alle Leute müßten ihn so hoch stellen , wie sie von ihren Kindertagen an getan hatte .
Wenn sie dann ein Stündchen oder mehr bei Anna oder Pe Ontjes gesessen hatten , begleitete sie ihn aus der Stadt über die drei Stege bis auf die Höhe .
Und hier , in der weichen , breiten Ruhe , die der Abend bringt , unterwegs nach seinem stillen Dorf , die junge , reine Seele an seiner Seite : traten die heimlichen Gedanken und Nöte frei und mit Macht aus der Tür seiner Seele .
" Du , ... ich habe sonst keinen , mit dem ich davon sprechen kann ... und du bist zu jung dazu ... aber wenn du auch nicht alles verstehst , du hörst doch immer so treulich zu und bist ein liebes , lebenskluges Menschenkind , viel lebensklüger als ich jemals werde ; ... ich weiß nicht , Heinke , wo ich noch bleibe ... ich fürchte , ihr behaltet noch recht mit dem , was ihr immer gesagt habt , daß ich zum Pastor nicht tauge .
Ich glaube , ich verlasse noch das Amt und die ganze Laufbahn . "
Sie schwieg eine Weile .
" So ! " sagte sie dann ...
" Glaubst du denn nicht , was du predigen mußt ? "
" Ja , Kind ... so einfach liegt es nicht .
Sieh Mal : den Kirchenglauben , den wir in der Schule und in der Kirche gelernt haben , an den glaube ich nicht .
Soviel ich mich erinnere , habe ich niemals an ihn geglaubt .
Man kann auch als wissenschaftlicher Mensch nicht an ihn glauben . "
" Ja , was predigst du denn ? "
" Ja , Kind ...
Ich habe anfangs eine schwere Not gehabt .
Ich meinte eine Zeitlang , daß ich , weil ich den Kirchenglauben nicht hatte , das ganze Christentum wegwerfen müßte .
Ich war ganz verzweifelt und dachte , es wäre alles nichts als Unsinn .
Aber da sollte ich , vor ungefähr einem Jahr , ein ganz kleines Kind beerdigen .
Kurz vorher hatte mir eine alte Frau im Dorf erzählt :
sie hätte einst ihre Eltern verloren , und dann ihren Mann , und hätte dann auch große Kinder zu Grabe gebracht ; aber das härteste wäre ihr gewesen , ein Kind zu verlieren , das noch an der Brust gelegen hätte .
Da sprach ich an dem offenen , kleinen Grabe zu der jungen Mutter , ohne Text und ohne an den alten , kalten Glauben , an Erbsünde , und Stellvertretung durch sein Blut , und dergleichen zu denken , und suchte einen Trost für sie , und ja ... und da fand ich ihn auch , in dem : erlöse uns von dem Übel und dein Reich komme ...
Und sieh : nun predige ich über das Kindliche , Freundliche , menschlich Verständliche im Christentum , meist nach Heilandsworten ; über Gottvertrauen und Mut und Nächstenliebe und ewige Hoffnung .
Darüber predige ich ...
Aber es ist nichts fest Gegründetes und auch nichts Einheitliches , und ich bin unsicher und unglücklich darin , und es ist mir der Gedanke schrecklich , daß ich da keine Klarheit habe . "
" So predigst du doch Reines und Hohes , " sagte sie .
" So sei doch zufrieden ! "
Da fing er an zu klagen .
" Ich bin es aber nicht ! " sagte er .
" Wenn ich doch wie die anderen Menschen wäre !
Die stehen ihrem Beruf und Amt vor , und haben irgendeine Liebhaberei , und spielen mit ihren Frauen und Kindern ; ich aber quäle mich um Dinge , die kein Mensch raten kann . "
Sie sah ihn mit ihren klaren , reinen Augen an :
" Du wirst doch noch etwas Sicheres und Gutes finden , " sagte sie .
" Du bist noch jung . "
Aber er war ganz mutlos :
" Ich und finden !
Nicht einmal zu einem Dorfpastor habe ich das Zeug .
Ich stehe wie der Ochs vorm Scheunentor ; ja , so stehe ich vor der Welt und wundere mich , und weiß nicht ein und aus .
Ich kann aus dem Leben und aus der Welt kein Lied heraushören , und wenn ich noch so sehr die Ohren spitze . "
" Soll ich dir sagen , was du tun müßtest ? " sagte sie .
" Du müßtest noch Mal wieder hinaus !
Du müßtest noch mehr sehen und lernen ; das , glaube ich , wäre gut für dich .
Wenn auch nur , damit die unruhigen Jahre besser vergingen . "
" So ! " sagte er .
" Ich habe einen Freund in Berlin , einen Staatswissenschaftler , reicher Leute Kind .
Dem und dir erzähle ich von meinen Sorgen , sonst keinem .
Der schreibt alle vierzehn Tage :
» Komme noch auf einige Jahre wieder hierher !
Damals vor drei Jahren waren wir noch zu jung und zu dumm , besonders Du !
Jetzt komme wieder und lerne ! « ...
Ich glaube zuweilen , es wäre das richtige .
Aber dann scheu ich mich wieder ; ich habe für die Wissenschaften einen zu einfachen Geist ... Kind , " sagte er , " ich mache dich traurig mit meinen traurigen Sachen ; wir wollen von anderen Dingen reden . "
Sie schüttelte den blonden Kopf und sagte mit ihrer weichen , klingenden Stimme : " Erzähle ' immer weiter , immer weiter !
Du glaubst nicht , wie gerne ich dir zuhöre .
Wenn ich dir bloß helfen könnte ! "
Oben auf der Höhe bei Volkmersdorf nahm sie Abschied von ihm und ging nach Haus .
Und ging wie durch lichten , glänzenden Nebel , selig darüber , daß der liebste und klügste Mensch mit ihr gegangen war , und ihr die Heimlichkeiten seiner Seele in die Hände gelegt hatte ...
Ihre Seele lag noch tief in Jugendträumen .
Achtzehntes Kapitel So verging wieder ein Jahr .
Da kam ein schöner , sonniger Oktobertag mit frischem Westwind .
Da gelüstete es Anna , am Nachmittag , nach ihrer Gewohnheit , zu ihrer Mutter zu gehen .
Als sie unter dem Fenster vorüber ging , hörte die Mutter den Schritt , und sah auf , und erkannte die Tochter , und sah mit den scharfen Mutteraugen , daß die Haltung ihres Kindes ein wenig anders wäre .
Sie sagte aber nichts dergleichen , als nun der schöne Besuch herein kam , sondern redete dies und das : daß Piet geschrieben , und daß Hat Wäsche geschickt , und daß Heinke bei einer Freundin wäre .
Anna Lau hörte zu und sah zuweilen hinaus , und zuweilen nach der Mutter , und in ihren Augen spielte ein leichter Schelm .
Da dachte die Mutter : Spielst du mit mir , spiele ich mit dir , stand auf und ging nach der Kommode , die rechts von der Tür stand , kniete davor , und kam mit einem kleinen Stapel Wäsche wieder , setzte sich wieder hin und fing an , den Knopf anzunähen , der an dem Hemdchen noch fehlte .
Anna saß ihr gegenüber , sah zuweilen mit spiegelnden Augen auf die Hände der Mutter und dann wieder in Gedanken auf die Straße , auf der es voll großer gelber und roter Blätter lag ; dazwischen lagen in geborstener dicker Hülle blanke , braune Früchte .
So saß sie ruhevoll und sagte kein Wort .
Da kam Heinke vom Spaziergang zurück , nickte mit dem feinen blonden Kopf und sagte so in Gedanken :
" Du da , Anna ? " und trat an den Nähtisch der Mutter und suchte da etwas .
Da sah sie die Arbeit , welche die Mutter in Händen hatte , und bückte ihre hohe Gestalt und ging hinaus .
Als Anna bald darauf auf die Diele trat , nach Hause zu gehen , kam Heinke aus der Kammer und hatte ein Buch in der Hand .
Anna nahm es ihr ab und sah hinein und sah , daß es ein Band Goethe war und sagte in bedrücktem Sinnen :
" Das ist mir zu hoch .
Pe Ontjes hat auch gar kein Interesse für so was ...
Es ist schön , daß du Kai Jans zum Freunde hast ; der kann dir vorwärts helfen . "
Und sie legte das Buch auf den Tisch .
Heinke ließ es da liegen und sagte : " Ich bringe dich nach Haus , " und legte draußen mit einer scheuen und gütigen Bewegung ihren Arm in den der Schwester , was sie sonst nie tat .
Da faßte Anna die Hand , die in ihrem Arm lag .
So gingen sie schweigend durch den Herbsttag , zwei hohe , schöne Frauen .
Und im Gehen stießen sie mit den Fußspitzen gegen die reifen Kastanien , die da lagen , und Anna , die wohl zeigen wollte , wie gewandt sie wäre , bückte sich , ohne den Arm der Schwester loszulassen , und nahm eine Kastanie auf , die war geborsten , und die blanke , braune Frucht sah heraus ; und ließ sie in Gedanken in Heinkes Hand gleiten .
Einige große , rote Blätter fielen zu beiden Seiten .
Der Tag war hoch und hell .
Da wurden Annas Gedanken schwer und sie fing leise an zu weinen :
" Heinke , " sagte sie .
" Ich habe dir nie gezeigt , daß ich dich lieb habe .
Ich habe dich so herzlich lieb ... du mußt deine Seele in beide Hände nehmen ... es ist so schrecklich , wenn man sich ganz in eine Liebe hineinwühlt und muß sie nachher , wenn sie ganz tief drin sitzt , selbst aus der Seele reißen .
Nimm dich in acht , daß du Kai Jans nicht so lieb gewinnst . "
Heinke ließ den blonden Kopf tief sinken und sagte leise :
" Ich weiß , daß er mich gern hat ... und ich freue mich darüber ; aber weitere Gedanken habe ich mir nicht gemacht .
Ich bin erst neunzehn , Antje . "
" Dann hätte ich nicht davon reden sollen , " sagte Anna .
" Das kannst du gern , " sagte Heinke .
" So kann ich mich ja in acht nehmen . "
" Du bist mir äußerlich ähnlich , " sagte Anna , " bloß deine Augen sind weicher und dein Haar ist ein wenig dunkler :
so wird deine Natur wohl auch sein , wie die meine .
Und bei solchen Menschen kann es eine Not werden , die Gott im Himmel erbarmen mag . "
Ihre Stimme schlug wieder um und sie weinte .
Da merkte Heinke , daß ihre Schwester von erlebter Not redete , drückte ihr die Hand und sagte verwirrt :
" Fürchte dich nicht meinetwegen .
Ich freue mich über meine alte Freundschaft mit ihm und will mich nun noch mehr zusammennehmen als bisher .
Ach , was habe ich für Pläne , die ich noch ausführen will ! "
Sie lachte leicht auf .
" Was weiß ich von solch schrecklich großen Dingen als Lieben und Heiraten !
Ich fühle mich noch sehr wohl in meiner Haut . "
Da beruhigte sich Anna .
Heinke aber wurde von dieser Stunde an zutraulicher zu ihrer Schwester und kam oft zu ihr gelaufen und half ihr , die schwerfälliger wurde , in ihrem Hausstand , und wurde in diesem Jahr weiblicher und reifer .
Sie stand in banger , scheuer Heiligkeit , wie eine junge Birke allein in der weiten Heide steht .
Es rührt sie keine Menschenhand ; es rührt sie nichts als Wind und Regen .
Kai Jans ...
Kai Jans rührte sie nicht an .
Wenn er sie angerührt hätte , wäre sie nach einem kurzen Augenblick seliger Verwirrung seine überglückliche Braut geworden ; sie hätte gejubelt und gesagt :
" Ich habe dich über alles lieb , schon lange Jahre . "
Aber er dachte an so etwas nicht .
Er stand vor anderen Dingen .
In stiller Dorfeinsamkeit , unter vielen klugen und ernsten Büchern , in dem ernsten Amt , das ihn mitten ins Auf und Ab des Menschendaseins stellte , ging er , unter mühseligem , wirrem Kampf , ins Mannesalter hinüber .
Von Kind an mit dem Sinn für das Natürliche , Schlichte , Wahre begabt , mit Adams Augen , und darum verwundert stehend in einer verschrobenen Welt , nun immer mehr mit dem Ernst des Mannes auf die Dinge sehend , erschien ihm alles , was er um sich sah , furchtbarer und unerträglicher .
Der wirre Weg des einzelnen Menschen , die Kleinlichkeiten und Verlogenheiten der menschlichen Gesellschaft , die mühselige Existenz des Staates , der hölzerne , stumpfe Glaube der Kirchen , der langsame und blutige Weg der Menschheit :
das alles stand mit dumpfen Augen vor ihm , und wenn er es ansprach , hatte es weder Rede noch Antwort .
Er ging in seiner Not über die Heide und in die Waldstriche , die seine Heimat begrenzen , und ging zur Bibel und zu anderen klugen Büchern .
Aber er fand keine Antwort .
Wortkarg , mit versonnenen Augen , in denen die Seele ihre leuchtenden Notzeichen aufgestellt hatte , kam er nach Hilligenlei .
Er saß seinem Vater gegenüber und hörte zu , was der von Lebensläufen erzählte , und wurde nicht fröhlicher ; denn wunderlich war ja dies alles und wirr .
Dann kam er zu Heinke Boje .
Er verlangte nicht von ihr , daß sie ihn ganz verstand .
Er kam zu ihr , wie ein großer , von der Welt und seinem Gewissen geängstigter Junge zu einem lieben , reinen Freunde kommt .
Und sie , so ganz und gar ungelehrt , aber von schlichter und feiner Natürlichkeit , fand immer das Rechte .
" Fürchte ' dich noch nicht ! " sagte sie .
" Tu , was dein Freund dich bittet :
Nimm seine Hilfe an und lerne noch ein paar Jahr in Berlin !
Gehe doch , Kai !
Wir wollen es deinen Eltern schon deutlich machen , daß es richtig ist .
Die werden es auch verstehen ; sie sind ja kluge Leute . "
" Ja , " sagte er , " ich glaube , daß es richtig wäre , wenn ich ginge .
Ich fürchte , daß die Kirche mich sonst in ihre Enge gefangen nimmt .
Ich möchte mit freien forschenden Augen den Zustand meines Volkes kennen lernen , in dieser großen unruhigen Zeit , und sehen , was man tut und tun kann , ihm hindurch zu helfen . "
Einmal , als sie so mit ihm nach den Höhen hinauf ging , und er merkte , daß sie bedrückt war , fragte er sie .
Sie wollte es erst leugnen .
Dann aber sagte sie , daß die Mutter sie wieder einmal gescholten hätte .
" Ich kann mich mit Mutter nicht vertragen , " sagte sie ; " sie tadelt immer an meinem Charakter . "
Sie schüttelte den Kopf , während ihr die Tränen in die Augen schossen .
" Und als ich neulich in der Kirche war , " sagte sie , " predigte der Pastor über ewige Verdammnis und über die Hölle .
Nachher war ich ganz verzweifelt .
Ich weiß nicht , was ich von mir denken soll , " und sie ließ den Kopf hängen und weinte .
Da freute er sich fast , bei all seiner eigenen Not , daß er ihr auch einmal eine Hilfe bringen konnte , und redete eifrig auf sie ein und stärkte sie : " Sieh Mal , " sagte er , " du mußt nicht unbesehen hinnehmen , was die Kirche , oder die Eltern , oder sonst irgendein Mensch sagt :
» Dies ist Sünde , und das ist Verkehrtheit ! « und :
» Du bist ein häßlicher und ganz verkehrter und wunderlicher Mensch . «
Ich sage dir : viele junge Menschen gehen trübe Wege , ja nicht wenige Selbstmorde junger Menschen haben darin ihren Grund : daß Eltern und Geschwister und Kirche und Gesellschaft und Vorgesetzte durch hartes und unverständiges Urteilen die Jugend , und besonders gerade das edelste Blut , gegen seine eigene Natur mißtrauisch machen , so daß sie einen verzweifelten Zorn auf sich selbst bekommen , ihr Dasein und Leben für verfehlt halten , und falsch oder bitter oder sauer werden , oder wohl gar aus der Welt stürzen .
Kopf hoch , Heinke Boje ; laß die Eulen über dich schreien , du lieber , sonniger Tagvogel !
Bist du nicht aus edlem Blut ?
Ist nicht dein Vater aus dem alten Geschlecht der Tödien ; und deine Mutter aus dem großen , langbeinigen Volk der Vogdemannen ?
Ach !
Heinke Boje !
sei stolz auf deine Erscheinung und deine Natur ; sei sicher darin und bilde sie aus !
Glaube , daß viel Gutes und Edles in dir sei !
Dieser Glaube ist hundertmal besser als der , den die Kirche lehrt , daß wir allzumal zur Hölle verdammt seien .
Liebe Heinke Boje :
Erbsünde gibt es nicht .
Erbübel gibt es und Erbgut .
Erbübel hast du :
du bist ein wenig leicht empfindlich und zornig und auch ein wenig bequem , und deine Nase ist ein wenig zu spitz ; aber Erbgüter hast du mehr , eine schwere , schwere Menge : von deinem langen blonden Haar , bis auf deine feinen Knöchel , von deiner lieben Seele und von deinem klaren Geist ganz zu schweigen !
Also : tu mir den Gefallen und habe Zutrauen zu dir !
Denke dir , daß der gute Heiland zu deinen jungen Jahren sagt :
Laß sie so weiter gehen : sie ist nicht fern vom Reiche Gottes ! "
Da ging ein wonnig lachender , heller Schein über das zarte Gesicht von Heinke Boje , und Gott gab der träumenden Jugend das rechte Wort zur rechten Zeit - Heinke Boje :
wie schön warst du in diesem Augenblick - " du " , sagte sie mit lachenden Augen :
" Wenn es so um mich steht , daß ich aus gutem , altem Geschlecht bin und meines Charakters froh sein soll : so laß du auch dein Zögern und deine Mutlosigkeiten .
Vertraue auch du dir , Feigling ! "
Da sah er sie verwundert an und sagte : " Das sagst du mir gut . "
" Gehe , " sagte sie , " wohin dein Wille dich treibt , und glaube , daß es zum guten Ende geht . "
Damit gingen sie auseinander .
Und dann kam er richtig eines Tages , als Neujahr vorüber war , durch Regen und nassen Schnee , von seinen Eltern her zu Mutter Boje und Heinke , und sagte , daß er nun nach Berlin ginge .
Und nahm Abschied .
Und als Kai Jans die Stube im Hindorfer Pastorat geräumt hatte , da zog Heinke Boje da hinein .
Er hatte die Pastorsleute darum gebeten .
Unsicher wie eine Schwalbe , die zum erstenmal auf eine fremde Diele fliegt , kam sie unter das lange Strohdach .
Das erste war , daß sie den Spiegel zerbrach , der links von der Haustür hing , als sie ihn mit zitternder Hand abreiben wollte ; das zweite war , daß sie des Pastors Predigt mit Tinte beschüttete .
Als sie aber merkte , daß die Pastorsleute eines anderen Menschen Natur und Charakter respektierten , ja , an anderer Art ihre Freude hatten , wurde sie zutraulich .
Und als sie Zutrauen gefaßt hatte , wagte sie es allmählich , ihre Natur zu zeigen und sich ihrer zu freuen , wie Kai Jans sie ermahnt hatte .
Und sie wurde sinnig und still fröhlich in sich , und wagte zuweilen vorsichtig ein kluges Wort und war zuweilen ein Schelm .
Und wunderte sich über sich selbst und verspottete sich :
" Nein , Heinke Boje !
Was bist du für ein kluges und gutes Menschenkind ...
Heinke Boje !
Du fährst jetzt mit deinen eigenen jungen Pferden ; fahre vorsichtig ! "
In der kleinen Stube , die nach Südosten liegt , von der man weit , weit hinein sieht in die Marsch , las sie die Briefe , die Kai Jans ihr schrieb , und schrieb ihm wieder , und las weiter in den schönen , starken Büchern , die einst ihres Vaters Freude gewesen waren , und verstand sie wohl .
Und der Pastor half ihr .
* Im Anfang Mai gebar Anna Boje in dem Hause , das Pe Ontjes Lau von Reimers gekauft hatte , in der Südwester Stube , die nach dem Deich sieht , nachdem sie noch den Tag über den ganzen Hausstand besorgt hatte , gegen Mitternacht ihr erstes Kind .
Es stand niemand an ihrem Bett als ihre Mutter , die ihr mit Ruhe und Umsicht half .
Von Rieke Thomsen wollte sie nichts wissen .
Mitten in der schweren Stunde , als ihre Augen im Zimmer umher suchten , blieben sie an dem Schiff haften , das über der Kommode an der Decke hing , und sie sagte zur Mutter :
" Wenn es gut geht , soll Pe Ontjes die Nachricht an Torril Torrelsen schicken , daß er sich mit uns freut . "
Als zehn Tage um waren , und sie ihr Kind mit unendlicher Freude zum erstenmal selbst besorgt hatte , kam gegen Abend Heinke zu Fuß von Hindorf herüber , das Kind zu besehen .
Und als sie es eben mit stillem scheuem Staunen besehen und sich gesetzt hatte , kam Kassen Wedderkop .
Wedderkop nahm auf die Umstände Rücksicht und dämpfte seine Stimme , vergaß es aber zuweilen , und rief dann um so lauter , und fiel dann plötzlich wieder in einen tiefen Flüsterton , so wie ein Junge von oben herab in einen tiefen , losen Strohhaufen fällt .
Pe Ontjes war trotz seiner jungen Vaterschaft ärgerlich , weil wieder einmal ein Euer , der ihm Gerste bringen sollte , am Dänensand fest saß .
" Ich wollte , " sagte er giftig , " ich könnte den Bürgermeister und die beiden fetten Ratmänner diese Nacht hindurch rund um den Euer an Tauen aufhängen und im Wasser baumeln lassen . "
" Denn will ich dir was sagen ! " sagte Wedderkop , " denn hänge noch einige mehr dazu .
Der Bürgermeister ist ja ein schlimmer Geselle , ein Narr in einer Art von fürstlicher Aufmachung ; er ist so eitel , daß er es nicht fertig bringt , eine Sache an und für sich zu beurteilen , sondern er denkt immer gleich an seine Person , welche Rolle sie dabei spielt .
Aber die eigentlichen Herren von Hilligenlei sind er und die Ratmänner nicht .
Das sind vielmehr Leute wie Heine Wulk und der Wirt Birnbaum .
Die machen die Meinung und sind die Lehrer der Stadt .
Heine Wulk mit seiner wirren Zeitung , und Birnbaum , der seinen vielen Gästen nicht allein Bier verschenkt , sondern auch seine gemeine und erbärmliche Ansicht über Gott und Welt und über alles Gute und Hohe beibringt : die sind die Herrscher über Hilligenlei . "
" Kommst du zuweilen in den Domklub ? " sagte Pe Ontjes giftig .
" Ich war neulich da , " sagte Wedderkop .
" Sie redeten gerade über Hausmäuse .
Jeder Anwesende erzählte eine Mausgeschichte , die sein Eigentum ist , und auf die er stolz ist .
Die anderen saßen vornüber gebeugt und starrten den Erzähler an , nicht aus Interesse an der Geschichte : die kennen sie schon lange ; sondern aus brennender Begier , nun ihre eigene Mausgeschichte erzählen zu können .
Plötzlich , bevor der Erzählende seine Maus in Sicherheit bringen konnte , sprang die des anderen auf die Bühne und bis der vorigen den Schwanz ab .
So ging es reihum .
Nachher kamen sie auf Politik . "
" Was haben sie denn da für Meinung ? "
" Weißt du : Sie haben so den Standpunkt von Anno fünfundsiebzig , und fassen alles zusammen unter die Worte : die drei großen Dummheiten Bismarcks ...
Und dann haben sie so ein Wort , so einen Witz , den sie immer anbringen .
Sie sagen : » Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser ?
Paßt man auf !
Sie liegt bald im Wasser ! «
Dieser Witz ist aber , im Unterschied von der Mausgeschichte , nicht Eigentum eines einzelnen Mitglieds , sondern er ist gemeinsames Klubeigentum .
Wenn ein Neuling oder ein Fremdling den Klub betritt , so bringt irgendeiner von ihnen diesen Witz an den Mann und dann sieht er sich mit stolzen , blanken Augen nach allen anderen Mitgliedern um und sieht in lauter blanke , stolze Augen .
" Nachher kamen sie auf allerlei Anekdoten .
Es waren fast lauter Zoten .
Dies Anekdotenerzählen , Pe Ontjes , ist eine gemeine Seuche , die stark umgeht ; die Geschichten treiben den Ernst aus dem Tagwerk und die Ehrfurcht aus dem Leben .
Da im Domklub sitzen die alten Familienväter und die jungen , ledigen Männer beieinander , und lachen über die Gemeinheiten , und richten ihre eigenen Charaktere und die der anderen zugrunde . "
" Nun , " sagte Heinke verständig , " aber die Handwerker ... die sind solide . "
" Ach , die Handwerker ! " sagte Kassen Wedderkop ... " Entschuldige , Anna , die verdammten Koreaner ...
Sieh Mal , " sagte er flüsternd : " ich habe heute meinen Tischler beobachtet , wie er im Garten bei seinem Erbsenbeet stand und versuchte , eine tote Krähe an die Stange zu binden , die Vögel abzuschrecken .
Mit dieser Unternehmung hat er sich den halben Vormittag beschäftigt .
Wenn du etwas bei ihm bestellst , so bekommst du im besten Fall nach einigen Monaten etwas anderes , als was du gewollt hast .
Es ist nichts mit den Handwerkern ; es sitzt kein Vorwärtswollen in ihnen .
Wenn ihnen einmal die ganze Kläglichkeit ihres jämmerlichen Lebens dumpf dämmert , dann berufen sie eine Sitzung der Schweinegilde oder der Totenzunft , und fahren da wild gegeneinander an und beleidigen sich ; und der Vorsitzende , der Sattler Jenkner , muß abends mit Bedeckung nach Hause gebracht werden .
Sie starren zu dem Narren von Bürgermeister und zu manchem faulen Akademiker hinauf als zu hohen Respektspersonen ; sie sollten wissen , daß schlichte Tatkraft es weiter bringen kann , als träge Gelehrtheit . "
" Na , " sagte Heinke ; " denn ist ja in Hilligenlei nichts Gutes . "
" Ja , was läßt sich von den Arbeitern sagen , Heinke ?
Die könnten am ehesten stolze , wache Menschen sein ; denn sie haben ein hohes , ideales Ziel , man mag im einzelnen darüber denken wie man will .
Aber sie halten sich nicht dazu .
Sie meiden und hetzen einander .
In keinem Stand ist mehr Neid als unter den Arbeitern ... Sieh , das ist die Bürgerschaft von Hilligenlei !
Eine Herde von Narren und gutmütigen Schlafmützen .
Donnerwetter , Pe Ontjes ... entschuldige , Anna , die Koreaner ... als ich ein junger Mann von siebzehn Jahren war - ich war doch nur eines kleinen Geestbauern Sohn :
was habe ich gesucht , ob ich einen Weg fände zum Vorwärtskommen !
Wie habe ich mit wachen Augen mein Talentlein gesucht und es gefunden und es verwertet .
Und du , Pe Ontjes , und Piet , wie habt ihr die Hälse gereckt !
Weißt du was , Pe Ontjes ?
Wenn Daniel Peters ' Regierungszeit in sechs Jahren abläuft , mußt du Bürgermeister von Hilligenlei werden . "
" Was ? " sagte Pe Ontjes Lau entsetzt .
" Ich , Bürgermeister von Hilligenlei ?
Ich Gänsehirte ?
Fuchs will ich sein ! "
" Ach ! " sagte Anna spöttisch .
" Du und Fuchs !
Sage meinetwegen :
Löwe ! "
Er hörte zuweilen diesen Ton in ihrer Kehle und sagte ärgerlich :
" Bin ich zum Fuchs zu dumm ? "
" Ach , " sagte sie ... " sei nicht gleich böse . "
In dem Augenblick kam Heinke aus der Nebenstube , wo sie wieder am Kinderwagen gestanden hatte , und sah den Briefträger auf das Haus zukommen und sagte es Anna .
Da ging die hinaus und kam mit einem schon aufgebrochenen Brief wieder und lächelte im Lesen .
" Von Piet , " sagte sie ... " er schenkt dem Kleinen das Taufkleid ... und ... nein !
Hört doch ...
Tjark Dusenschön kommt ... hierher nach Hilligenlei ... er hat das Haus und den großen Schuppen von Dittmar gekauft ... nein ... er will hier eine Fabrik anlegen ; Piet meint : eine große , mächtige Wurstfabrik . "
" Nanu ?! " sagte Wedderkop .
" Eine große Fabrik ? " sagte Heinke .
" Das brauchst du nicht zu bemerken , " sagte Pe Ontjes ruhig .
" Das versteht sich bei Tjark Dusenschön von selbst ... So !
Also Tjark Dusenschön wird Bürger von Hilligenlei und Fabrikant ! "
Er lehnte sich nachdenklich in den Stuhl zurück .
Anna sagte spöttisch :
" Mich soll verlangen , was das für ein Schwindel wird . "
" Schwindel ? " sagte Kassen Wedderkop .
" Warum so ohne weiteres Schwindel ? "
" Anna Boje ist mit dem Urteil gleich fertig , " sagte Pe Ontjes ...
" Hört ihr ?
.. .
Es geht schon los ... "
Man hörte ein schweres Trampen , wie von einem trabenden Elefanten ; mit dumpfem Poltern und Schlagen kam es näher .
Anna konnte noch mit rascher Hand den guten Stuhl zur Seite schieben und einen geringeren hinstellen und die weiße Decke zurückschlagen :
da stand Jan Friech Buhmann in der Tür , groß und furchtbar und rußig wie immer .
" Tjark Dusenschön ist da ! " sagte er , und atmete mit Mühe und warf seine schwarze Mütze auf die Erde .
" Weiter sage ich nichts .
Er ist Millionär ...
Es geht alles in Erfüllung . "
" Was ? " schrie Wedderkop und sah erstaunt auf das Wunderbild .
" Alles , was Rieke Thomsen immer gesagt hat : daß Tjark Dusenschön Hilligenlei groß machen wird .
Steuerfreiheit , Hafenregulierung , das Geldschiff im Dänensand , alles geht in Erfüllung .
Er ist verkleidet hier gewesen und hat das Gewese von Dittmar gekauft und wohnt bei Ringerang und hat seine Großmutter besucht .
Ich sage dir , die alte Stiena wogt und tanzt !
Als er aus ihrer Wohnung heraus kam und schon die halbe Hafenstraße hinauf war , kam sie aus der Tür geglitten und rief : » Tjark ...
Tjark ... komme noch einmal zu deiner Oma . «
Da horchte ich auf , und da habe ich mit ihm gesprochen .
Es geht alles in Erfüllung , alles , was Hole Biederwand einst gesagt hat . "
" So ... " sagte Pe Ontjes Lau und stand auf .
" Und nun meinst du :
wenn er kommt , der Herr Fabrikant , der Herr Dusenschön , dann soll ich ... ?
Ich sage dir :
ich schmeiß ihn hinaus !
Der Mensch hat mir in meiner Jugend Not genug gemacht . "
Und damit ging Pe Ontjes Lau , der Gewaltige , an seine Arbeit .
Neunzehntes Kapitel Es waren freilich einige Leute in Hilligenlei , die , leise und spöttisch lächelnd , alte Bilder auffrischten : Ist das nicht Tjark Dusenschön , der uneheliche Enkel von der alten verdrehten Stiena , die im langen Haus für andere Leute Strümpfe stopft ?
Ist das nicht Tjark Dusenschön , der im Hemd und englischledernen Büxen den Krautfischern entgegenlief , sich ein Abendbrot zu betteln ?
Ist das nicht Tjark Dusenschön , das lange Rekel , das für eine Mark Tagelohn bei Daniel Peters Schreiberdienste tat und so komisch steif den Fuß schleppte ?
Aber solch Reden dauerte nur so lange , als man Tjark Dusenschön nicht gesehen hatte .
Sah man ihn , so waren einem solche Gedanken aus dem Kopf geschüttelt .
Plötzlich .
Man sah sich vergebens nach ihnen um .
Man hatte sie nicht mehr ; und bekam sie auch nicht wieder .
Einen so machtvoll würdigen Eindruck machte Herr Dusenschön .
Man soll diesen ruhigen , ernsten Mann wohl seiner Wege gehen lassen !
Diesen Mann mit dem immer gleichen dunkelgrauen soliden Rockanzug , ehrbare , breite Taschenklappen seitwärts auf den Schößen , diesen Mann mit dem bartlosen , nachdenklichen Gesicht und dem ruhigen Gang der etwas gebogenen Beine .
Tjark Dusenschön hatte früher ganz gerade Beine gehabt .
Jetzt waren sie etwas gebogen .
Gebogene Beine geben dem Mann etwas Bodenständiges und Solides .
Wer soll Tjark Dusenschön mißtrauen ?
Daniel Peters ?
Zu Daniel Peters ging er gleich am ersten Tag , nachdem er den großen , leeren Schuppen von Dittmar gekauft hatte , und traf zugleich die beiden alten , fetten Ratmänner .
Er sprach mit einer schönen , weichen Stimme , und mit Augen , in denen es zuweilen von kommenden Tränen blitzte , von seiner harten Jugend ; glitt leicht und glatt über die drei Jahre hin , die er in diesem Hause unter Daniel Peters gearbeitet hatte , erzählte , wie er sich in Hamburg mühselig hinaufgearbeitet und zuletzt mit bescheidenen Mitteln in Grundstücken spekuliert hätte und , mit Gott und Glück , zu einigem Vermögen gekommen wäre .
Nun , gewissermaßen auf der Höhe seines Lebens angekommen , habe er auf seine armen Anfänge zurückgeschaut und habe den Gedanken gefaßt , seiner Heimat , wenn es möglich wäre , Gutes zu tun .
Er hege diesen Gedanken mit um so fröhlicherem Herzen , als an der Spitze von Hilligenlei Männer ständen , welche wüßten , was einer kleinen Stadt in diesen schwierigen Zeiten Not täte .
Danach fing Tjark Dusenschön an , die Idee seiner Wurstfabrik zu entwickeln .
Daniel Peters hatte alles würdevoll angehört bis zu der Stelle , wo er sein Lob vernahm .
Von da an hörte er nicht weiter zu , sondern fing an , seinen schönen Schnurrbart zu streichen und sich die Rede auszuarbeiten , die er halten wollte , wenn die Stadt ihm und Dusenschön , als ihren Wohltätern , einen Fackelzug brächte .
Die Fackeln lohten ; und er stand auf der Treppe des Rathauses .
" Meine Herren ... es war eine glückliche und große Stunde für diese alte gute Stadt , als Herr Dusenschön ihr Weichbild betrat ; und es war wiederum eine glückliche und große Stunde , da derselbige Mann in meine Amtsstube trat und ich , das Glück und die Größe der Stunde mit schnellem Geiste erkennend ... " Dabei , immerfort an seiner Rede arbeitend , nickte er würdevoll zu dem , was Tjark Dusenschön über Brandkassenwert , und erste und zweite Hypothek , und Konservenlieferung an die Marine und dergleichen vorbrachte .
Wer soll Tjark Dusenschön mißtrauen ?
Die Handwerker ?
Er gab ihnen viel Arbeit .
Und wenn er seine schlichte , schwarze Geldtasche hervorzog , um Notizen zu machen , wurde es ihnen blau vor den Augen .
Sie waren begeistert von ihm .
Wenn er zu Maurer Bimstein sagte :
" Meister , bringen Sie morgen Ihre Rechnung mit , " oder zu Tischler Sagebock : " Na , Meister , werde ich Ihre Rechnung auch bezahlen können ? " dann lachten die beiden von Herzen .
" Hat keine Eile , Herr Dusenschön !
Das Geld steht nirgends sicherer als bei Ihnen . "
Der Leibriemen saß ihnen lose genug , und die Frau sagte : " Du solltest dir von Dusenschön die Rechnung bezahlen lassen ; ich muß vom Kaufmann auf Borg holen . "
Aber die Meister wollten sich nicht lumpen lassen .
Wer soll Tjark Dusenschön mißtrauen ?
Die Wohlhabenden ?
Er wurde nach einem viertel Jahr einstimmig in den Domklub aufgenommen .
Es war das erstemal , daß es geschah .
Andere Leute hatten immer einige Gegner ; aber Tjark Dusenschön hatte keine Gegner .
Er kam jeden Abend in den Klub , zu ganz bestimmter Zeit , sagte nicht viel und trank noch weniger .
Als der neue Benzinmotor im Schuppen aufgestellt war , gab er ein kleines Sektfrühstück , wobei er sein mildes , ruhevolles Lächeln bewahrte und selbst am wenigsten trank .
Er benahm sich so vorsichtig , so taktvoll , daß er nicht einmal den Amtsrichter Dunker beleidigte , der doch im Laufe des Jahres jedes Klubmitglied einmal hart anfuhr , weil er sich den ganzen Tag , von Morgen bis Abend , ja selbst in der Unterhose , gegenwärtig hielt , daß er Reserveoffizier war .
Dazu war er ein Mann von milder , konservativer Gesinnung .
Er stellte diese seine Gesinnung gern mit nachdenklichen Worten dar , nickte ernst mit dem Kopfe und sagte : " Wer , wie ich , so viele Jahre hindurch mühselig hat ringen müssen , bis er sich ein bescheidenes Vermögen und die Achtung der Menschen erworben hat : der ist nicht fürs Vorwärtsstürmen . "
Es gingen von Haus zu Haus wilde Gerüchte über Tjark Dusenschöns Vergangenheit .
Einige sagten , er hätte eine halbe Million in der Lotterie gewonnen .
Andere , er hätte seinem Rechtsanwalt in Hamburg gezeigt , wie er einen ungeheuer großen Prozeß gewinnen könnte ; andere :
es stecke die Königsfamilie dahinter , von der Tjark Dusenschön abstamme ; andere : die Tochter eines Admirals sei in Tjark Dusenschön verliebt und habe ihren Vater beredet , daß die Marine die Hauptabnehmerin würde .
Dies letzte Gerücht gewann in verschiedenen Fassungen immer mehr Gehör , und stärkte die Stellung Tjark Dusenschöns gewaltig .
Es war überhaupt großartig !
Für wie manchen in Hilligenlei ist es der größte Augenblick seines Lebens gewesen , wenn Tjark Dusenschön ihm den Benzinmotor zeigte , oder den Speckschneider , oder den Knochenzertrümmerer , oder wenn Tjark Dusenschön ihn in den großen vollen Wurstkessel hineinsehen ließ .
Viele Leute hatten gute Tage .
Die Rentner in der Faulstraße lagen in diesem Sommer den ganzen Vormittag über ihren Gartenpforten , die halblangen Pfeifen im Mund , und erzählten sich von einer Pforte zur anderen von Tjark Dusenschön .
Wenn es ganz etwas besonderes gab :
wenn er eine neue Maschine angeschafft , oder statt zehn zwanzig Schweine verarbeitet hatte , trennten sie sich schwer atmend und mühselig von ihren Pforten , und kamen zueinander , was sie sonst nie taten ...
Die Wirtschaften waren von nachmittags fünf Uhr an voll besetzt , und hallten von lauten Reden über die große Gegenwart und die mögliche Zukunft von Hilligenlei .
Schlosser Nagel und Tischler Sagebock , welche beide für gewöhnlich von ihren Frauen nicht aus dem Hause gelassen wurden , heuchelten mit ungeheurer Geistesanstrengung wichtige Arbeitswege , und gingen in Schurzfell , mit dem Handwerkszeug in der Hand , unterwegs , und standen , da sie über Wirtshausgeld nicht verfügten , an jeder Straßenecke und schwatzten .
Bei Rieke Thomsen im langen Haus saß zur Teezeit , das heißt vormittags von acht Uhr an , und zur Kaffeezeit , das heißt nachmittags von ein Uhr an , ein dicker Haufen von älteren Weibern , und Stiena Dusenschön saß in der Mitte und tanzte im Sitzen einen wunderschönen Walzer , daß die Haubenbänder wogten , und Rieke Thomsen saß in ihrem großen Stuhl , sah bald in die Hafenstraße hinein , bald zur Seite über die Bucht und sagte : " Als er ein kleiner Botel war - das ist ein jähriger Hammel - da habe ich schon oft gesagt , daß etwas besonderes aus ihm würde .
Die anderen Jungs , der Lau und der Jans und die Bojes , und was hier sonst herumkroch , das war nichts . "
Die lebendigsten Leute aber in ganz Hilligenlei waren Jan Friech Buhmann und Heine Wulk .
Diese beiden hatten überhaupt , aber besonders in diesem Jahr , von allen Hilligenleiern die allertiefsten und auch die allerhöchsten Gedanken .
Nicht allein , daß Jan Friech einen Plan der großen Chicagoer Schlachtereien auftrieb und auf Grund dieses Tjark Dusenschön oben auf dem Deich über Vergrößerung seines Betriebes bis halb um die Bucht herum einen Vortrag hielt , wobei er mit der großen rostroten Kneifzange nach allen Himmelsrichtungen deutete , sondern er brachte auch die Idee auf , daß Tjark Dusenschön mit seinen Arbeitsmitteln und seinem Gelde dem langsamen Abbröckeln des Dänensandes ein wenig nachhelfen müßte und würde .
" Er muß da zehntausend Mark hineinschmeißen ; er bekommt vierzig wieder . "
Er legte auch diesen Plan Tjark Dusenschön vor , ein wenig verlegen , wie er immer war , wenn er mit seinem früheren Freunde sprach ; Tjark Dusenschön hörte lächelnd zu .
Heine Wulk aber schrieb heimlich an den Verleger des landläufigen Schulgeographiebuchs einen langen , schwungvollen Brief :
er müßte in der nächsten Auflage bei Hilligenlei drucken : berühmt durch seine große Wurstfabrik ; und brachte in einem tönenden Leitartikel die Rede auf jene alte Geschichte , daß ein Sohn Hilligenleis diese gute Stadt zu einem wirklichen Hilligenlei machen würde .
Es ist ja begreiflich , daß es schwer ist , einem Mann , der sich wie Tjark Dusenschön kleidet und benimmt , zu widerstehn .
Aber einer ist da : der wird ihm widerstehn !
Einer kennt ihn von seiner Kindheit an .
Einer hat einst vergebens versucht , einen ehrlichen Menschen aus ihm zu machen .
Dieser eine wird ihm widerstehn ...
Als Tjark Dusenschön am zweiten Tag in der Tür des Kornhändlers Pe Ontjes Lau erschien , sah der ihn groß und fragend an , sah die großen , soliden Seitentaschen mit den Überklappen , sah dies ruhige , ernste , bartlose Gesicht , und stand langsam auf und sagte : " Setze ' dich , Tjark Dusenschön !
Mich freut , daß es dir gut geht . "
Und verlegen scherzend sagte er :
" Nun mußt du mir helfen , daß der Hafeneingang vertieft wird . "
Da flammte ein leises Leuchten in Tjark Dusenschöns Augen auf und er sagte :
" Gerade darüber wollte ich mit dir reden . "
Seitdem kam er einmal in jeder Woche , in der Dämmerstunde , in Pe Ontjes Kontor und redete gemächlich über dies und das , und sagte vertraulich , daß der Betrieb noch nicht sehr günstig arbeitete , da die ganze Anlage zu provisorisch und zu klein wäre .
" Ich kann aber einstweilen nicht mehr in die Sache hineinstecken , " sagte er , " weil der größere Teil meines Vermögens in einer Dachpappenfabrik bei Berlin steckt , wo es mir gute Zinsen bringt . "
Anna ließ sich nie sehen , wenn Tjark Dusenschön da war .
Wenn sie zufällig im Kontor oder auf dem Kornboden war und Tjark Dusenschön kam , ging sie mit stummem Kopfnicken hinaus .
Sie sagte in ihrer klaren und kühlen Weise :
" Du und Kai Jans habt mir mehr als einmal erzählt , was er für ein Junge gewesen ist .
Es kommt nicht vor , daß ein Mensch anders wird . "
Dann sah Pe Ontjes sie ein wenig spöttisch an und sagte : " Was sagt die Bojemutter von ihren eigenen Kindern ?
Daß sie hochmütig sind .
Tjark Dusenschön ist in seiner Kindheit barfuß gegangen ; das kann Anna Boje ihm nicht vergessen . "
" So ? " sagte sie und nahm den Kopf sehr hoch und sah ihn sehr klar an .
" Wie stehen denn die Bojekinder zu Kai Jans ? "
" O ! " sagte er , " der hat studiert ! "
" Ach , " sagte sie spöttisch .
" Du ! " und drehte sich um und ging nach der Wohnstube und spielte mit ihrem Kind .
Einige Wochen später kam Pe Ontjes in die Wohnstube , wo sie mit ihrem Kind saß , und sagte eifrig :
" Du , es ist klar , daß die Hafenrinne bald vertieft wird .
Tjark Dusenschön setzt es durch .
Es ist klar - er spricht allerdings wenig davon - , daß die Regierung in irgendeiner Art hinter ihm steht .
Sie will offenbar unserer Stadt , die doch eine ungünstige Lage hat , aufhelfen und hat ihn veranlaßt , die Wurstfabrik hier anzulegen , und wird ihm Konservenlieferungen für die Armee geben .
Überhaupt : das muß ich sagen - ich beobachte ihn genau - es ist von früher her nichts mehr in ihm ; die letzten fünfzehn Jahre haben einen ernsten Mann aus ihm gemacht . "
Sie machte ihr kühles Gesicht und sagte : " Ich habe noch niemals gesehen , daß ein Mensch sich bekehrt hat .
Obgleich du es in der Kirche jeden Sonntag hören kannst : wer sich nicht bekehrt , kommt in die Hölle ; ich habe noch niemals einen bekehrten Menschen gesehen .
Es sind vielleicht einige , was man so sagt : fromm geworden und Kirchgänger ; aber sie nahmen alle ihre Bosheiten mit hinein in ihre Frömmigkeit .
Ich habe gesehen , daß einige Menschen ihre Röcke änderten ; aber ich habe niemals gesehen , daß ein Mensch seine Natur änderte . "
" Was für eine Rede ! " sagte Pe Ontjes .
" Wie alt bist du ?
Siebenundzwanzig !
Aber ihr Bojes wißt und könnt alles . "
Ihre schönen Augen wurden dunkel vor Zorn ; die Bojes konnten es nicht vertragen , wenn man an ihrer Familie oder an ihrem Charakter mäkelte .
" Du bist so groß , " sagte sie , " und so tüchtig ; aber du bist gleich verwirrt , wenn ein Mensch mit rascherem Geist auf dich los geht .
Von Anfang an habe ich das an dir gesehen und habe mich davor gefürchtet . "
Und sie machte die Tür hinter sich zu und blieb den Tag über in der Schlafstube und Küche .
So stand und arbeitete nun Tjark Dusenschön mitten in Hilligenlei als ein Herzog .
Und die Städte , so wie sie da in Reih und Glied am flachen , grünen Strand liegen , von Dänemark bis nach Hamburg hinunter , alle miteinander : Tondern und Husum , Tönning und Meldorf , Wilster , Krempe und Glückstadt , und wie sie alle heißen : als sie von dem Glück hörten , das Hilligenlei widerfahren , wollten sie erst wieder spotten .
Denn sie spotteten immer gern über Hilligenlei , weil es da so träge herlag , und sagten , es müsse zum Abbruch verkauft werden .
Jetzt sagten sie :
" Nun ... wohlan ... Hilligenlei , das heilige Land , kommt in die Wurst . "
Als sie aber Tjark Dusenschön kennen lernten , und als die Hilligenleier erzählten , wie die Regierung hinter Tjark Dusenschön stände , da gaben sie den Spott auf und wurden von gelbem Neid gepackt ...
Und die Hilligenleier , wenn sie in diesem Jahr in eine jener Städte kamen , gingen noch mehr als bisher mit steifen Beinen und hohen Schultern , und sprachen noch mehr mit verengter Kehle , und lächelten noch viel klüger zu jedem Wort , das die anderen sagten .
Das fiel sogar den Hamburgern auf , die doch selbst protzig genug sind .
Als die Hilligenleier Krämer in diesem Herbst dorthin kamen , um ihre Lager zu vervollständigen , hundert Pfund Rosinen und tausend Pfund Stabeisen und was sie sonst brauchten , einzuhandeln , war nicht mit ihnen umzugehen , und wenn sie nachher vorm Alsterpavillon saßen , um eine Tasse Kaffee zu trinken , streckten sie die Beine über den halben Bürgersteig .
Also gelangte Hilligenlei nun endlich nach jahrhundertelangem Schimmeln und Spaken zu einer neuen Blüte .
Das alte , ehrwürdige Gerede von Hilligenlei , dem heiligen Land , schien in der Gestalt von Tjark Dusenschöns Wurstfabrik allmählich in Erscheinung zu treten .
* Auf den Spielplätzen in Hilligenlei am Burggraben und am Hafen und oben auf den Hügeln spielten und lärmten in diesem Herbst die Kinder , genau wie ihre Natur sie lockte .
Und unter den alten Linden neben der Domschule sprangen die kleinen Jungen an die großen heran und nannten die Namen der Mädchen , für welche die großen schwärmten , und ärgerten sie auf jede andere Weise .
Da drehten die Großen sich um und hetzten die Kleinen , und wenn sie einen fingen , steckten sie ihn kopfüber in den großen Haufen dürrer Lindenblätter , die an der Planke lagen .
Da hob auch , so allmählich , in dem kleinen , verwitterten Hause unter den Kastanien ein Spiel an : das alte , heilige Spiel , das man zu Zwei spielt .
Kommt ein Dritter , ist er ein Spielverderber .
Heinke Boje hatte ihr Jahr abgedient und war wieder nach Haus gekommen .
Sie stand am Herd , sorgte für die beiden Schülerlein in der Giebelstube und saß mit Strick- oder Flickwerk am Fenster .
Sie war nun groß und voll geworden , ein schönes , weiches , ganz klares und stilles Frauenbild .
Und es fehlte ihr die Weite und Breite des Pfarrhauses und die kluge Unterhaltung mit dem guten , wunderlichen Pastor ; und sie sah in Sinnen auf die Straße und auf das dunkle Wasser des Burggrabens , und empfing die freundlichen , langen Briefe von Kai Jans und schrieb an ihn , und stand in Sinnen auf und kam zu ihrer Schwester und sagte : " Ich will ein wenig mit dem Kleinen spielen . "
Dann ging sie mit dem Kind in die Wohnstube , kniete auf dem Fußboden und sah das Kind an , als sähe sie es zum erstenmal , und drückte es gegen ihre Brust und herzte es auf die lieblichste Art , und konnte sich nicht satt daran sehen und gab das Kind wieder an Anna und ging nach Haus .
Unterwegs und nachher bei der Arbeit war sie wieder still und ruhig .
Und wenn einer sie gefragt hätte , so hätte sie noch wie vor zwei Jahren gesagt :
» Ich fühle mich noch ganz wohl in meiner Haut . «
Das machte , daß Kai Jans ihr Freund war und ihre unbewußte , süße Hoffnung .
Also saß sie jeden Nachmittag so um vier am Fenster und beugte den Kopf unter dem hellblonden Haar , ganz wie Anna getan hatte .
Und die Primaner gingen vorüber und sahen rasch zur Seite ins Fenster hinein .
Aber darauf achtete sie nicht .
Da kam ein nebliger Oktobertag und sie saß am Fenster , ganz in Gedanken , und hörte viele Knabenfüße und sah auf ; denn sie sah gern die frischen Jungengesichter .
Als sie aber nun aufsah , waren da allerdings die , welche sie erwartet hatte ; aber mitten in ihrem Haufen ging , mit einem kleinen Bücherstapel unterm Arm , ein junger , fremder Mann vorüber .
Als nun die Jungen nach ihrer Gewohnheit ins Fenster sahen und ihr zunickten , da sah auch der junge Lehrer auf , und sah das stolze Gesicht unter dem schweren , hellen Schein und wurde ganz ernst und grüßte .
Einige Tage später ging sie zu ihrer Schwester hinüber , so wie sie ging und stand , ohne Hut und in der Schürze ; da kam der junge Lehrer ihr entgegen und sah in Gedanken zur Erde , wie es sich für einen Gelehrten ziemt .
Sie sah ihn und freute sich unbewußt an seiner Erscheinung .
Es war so etwas natürlich Gemütvolles in seinem Gang und seiner Haltung .
Er war nicht größer als sie .
Als er hörte , daß jemand ihm entgegenkam , hob er die Augen und erkannte sie wieder und erschrak vor ihrer süßen und schlichten Schönheit .
Er faßte sich aber rasch wieder und grüßte sie ruhig , mit tiefem , ehrerbietigem Ernst .
Sie sah in ihrer natürlichen Art ruhig und klar in sein Gesicht und dachte : » Ei , was für schmucke , kluge Jungenaugen , und wie merkwürdig ernst . «
Und sie freute sich .
Als sie mit Annas Kind gespielt hatte und wieder nach Hause ging , kam ein Quintanerlein des Wegs , mit dem sie eine ihrer etwas streitsüchtigen Freundschaften unterhielt .
Sie faßte ihn beim Henkel seiner Jacke , der herausstake , und fragte ihn , wie es ihm ginge , und dann , ob er auch bei dem neuen Lehrer Unterricht hätte .
" Wen meinst du ? " sagte er .
" Da sind zwei neue , ein dünner und ein dicker , ein schwarzer und ein heller . "
" Das ist mir einerlei , Mensch , " sagte sie .
" Ich frage deinetwegen , nicht wegen der Lehrer . "
" Sie sind beide gut , " sagte er .
" Die jungen Lehrer sind fast alle gut .
Der Helle ... "
" Hell ist er ja gar nicht , Jung . "
" Dunkel doch auch nicht . "
" Blond ist er . "
" Das ist Doktor Volquardsen .
Wir sagen Peter zu ihm , weil er ganz gemütlich ist , ich glaube , er heißt auch wirklich Peter .
Er gibt bloß Deutsch , Geschichte und Englisch .
Er hat neulich drei Sekundaner auf seine Stube genommen und hat ihnen Bilder gezeigt .
Er ist so 'n Bildernarr .
Der andere , der Schwarze ... "
" Ach , Jung ! " sagte sie .
" Was gehen mich deine Lehrer an !
Mache , daß du wegkommst ! "
Darauf vergingen einige Wochen , daß er im Vorübergehen nichts weiter von ihr sah als die hellen , glänzenden Flechten , die so sauber , schlicht und voll auf dem jungen Haupte lagen .
Sie aber sah nichts anderes als zuweilen die dünne , silberne Uhrkette und die Hand , die über den kleinen Bücherstapel griff , und seinen ruhigen , ein wenig losen Gang und dachte :
» Er ist noch ein rechter Junge ... Heiraten könnte man so einen nicht , das ist unmöglich !
Kai Jans dagegen !
Der ist ein fester , starker Mann ! "
So verging der Winter , und es kam leise und früh , auf vorsichtigen Sohlen , ein erster Frühlingstag .
Da hatte sie schon den ganzen Vormittag eine Unruhe in den Gliedern , sang und hatte wunderliche Gedanken : als wenn sie zu Tanz möchte , oder in den grünen , lichten Wald springen , oder als wenn sie , Annas Kind auf dem Arm , gegen den frischen , sonnigen Wind angehen möchte , und das Kind hüpfte in ihrem Arm .
Am Nachmittag , nachdem sie aufgeräumt hatte , zog sie ihr blaues Wollkleid an und die lose , schwarze Sommerjacke und ging nach den Hügeln hinauf , und bewahrte sich in dem schönen Sonnenschein , der vom Himmel herunterbrach , und in der großen , weiten Landschaft ihre Stimmung voll wunderbarer Freudigkeit .
Als sie die Höhe erreicht hatte , zog ein Leichenzug von Volkmersdorf den hohen Weg entlang nach Hilligenlei zu .
Voran , auf einem schweren Kornwagen , der Sarg , dahinter die sieben oder acht leichten Wagen , die Volkmersdorf aufbringen konnte .
Hinter der Wagenreihe in der Ferne lagen die stillen , dunklen Wälder von Holstein .
Sie stand und sah hinüber und dachte es sich schön , so in einem stillen Dorf aufzuwachsen , niemals anderswo zu wohnen , ein reines und fleißiges Dasein zu führen und dann zu sterben , und an solch erstem Frühlingstag im Schatten des alten Doms begraben zu werden .
Und sie wurde über diesen Gedanken noch fröhlicher .
Zuletzt , auf dem Heimweg , kurz vor der Stadt , half sie noch einem kleinen Mädchen , das sein Schwesterlein im Wagen gefahren hatte .
Der Wagen war umgefallen und Wagen , Kind und Bettzeug lagen nebeneinander .
Lachend half sie den Wirrwarr ordnen .
In der Stadt begegnete ihr kein Mensch und sie blieb so in heiligem , schönem Sinnen und war ganz allein auf der Welt ; nur die ewige Macht sah ihr zu .
Und ihre Augen leuchteten von dem inneren Glanz .
Als sie in den Burggarten einbog , begegnete ihr die kleine zehnjährige Dete Greve und lachte sie an und sagte : " Du gehst wie Ruth , als sie morgens zum Ährenlesen ging . "
" Kind , " sagte sie , " wie kommst du darauf ? "
" Wir haben ein Bild von ihr in der Schule , " sagte sie .
Da bückte sich Heinke und legte beide Hände an ihre Schultern und sagte : " Ich weiß nicht mehr , was es mit der Ruth war .
Einerlei : da hast du einen Kuß . "
Sie hatte das Kind gern , weil es immer freundlich war und ganz ohne Ziererei .
Als sie unter die Kastanien kam und nicht mehr fern von ihrer Haustür war , kam der junge Lehrer ihr entgegen .
Er ging wieder so in Gedanken und sah sie nicht .
Als er , nicht mehr weit von ihr , an ihrem Hause vorüberging , drehte er vorsichtig den Kopf , ob er wohl hinterm Fenster die hellen Flechten sähe , sah sie aber nicht , und machte ein komisch ärgerliches Gesicht , und wie ein Jäger , der auf unglücklichem Anstand steht - laut sprechen darf er nicht - :
" Schiet ! " sagte er leise und sah auf .
Da kam sie , dicht vor ihm , auf ihn zu und sah ihm lachend gerade ins Gesicht ; und die Schönheit der Gefühle , die sie in dieser Stunde in der Seele trug , funkelte um ihre Augen und um ihre ganze Erscheinung .
" O ! " sagte er verblüfft , " da sind Sie ! " und bis sich auf die Lippen und lachte leise verlegen auf und ging vorüber .
Nun sah sie im Lauf ihres täglichen Tageswerkes oft im Geist sein drolliges Gesicht , und wie es gleich darauf so ernst und rot wurde .
Sie kannte nun nicht allein seine Erscheinung , sondern auch ein gut Stück seiner Seele , daß nämlich neben dem sinnigen Ernst ein freundlich drolliger Schelm in ihm war .
Er aber sah im Geist immer ihre lachende , gütige Schönheit .
Da begab es sich nach acht Tagen :
Da nahm im Gang der Domschule der Mathematiklehrer , der ein sehr genauer aber nicht unfreundlicher Mann war , den jungen Kollegen zur Seite .
" Sie sollen mir versprechen , " sagte er , " daß Sie über das , was ich nun sagen will , lachen wollen . "
Das versprach er , wenn auch mit bangem Herzen .
Da sagte der :
" Ich weiß , daß Sie aus einem guten und sehr ordentlichen Hause sind ; Ihre Mutter hat die Kleidung ihres Sohnes immer selber nachgesehen und alles wohl ausgebessert ; aber jetzt haben Sie es fremden Leuten übertragen müssen .
Man sieht nun seit siebzehn Tagen , hier unten an der rechten Seite der Joppe , den schwarzen Futterstoff herausragen . "
Da machte er erst ein steifes Gesicht und sagte :
er werde seinen Sekundanten schicken , weiter hätte er ihm nichts zu sagen .
Dann wurde er zornig und schalt auf seine Wirtin .
Dann lachte er .
Dann fragte er , ob er , der Mathematiklehrer , ein gutes Quartier für ihn wüßte .
Der schickte ihn zum Direktor .
Der nannte diesen und jenen Namen .
Unter ihnen die Lehrerwitwe Boje in dem kleinen , verwitterten Hause am Burggraben .
" Da ist im Herbst die Giebelstube frei geworden .
Es ist eine stille , saubere Frau . "
Da ging er am selben Abend eine Stunde lang im Dunklen spazieren ; zuletzt ging er noch dreimal in schweren Gedanken den ganzen Kastanienweg auf und nieder .
Denn er fühlte , daß er einen Schritt tun würde , der wahrscheinlich über sein ganzes Leben entschied .
Dann gab er sich einen Ruck und ging hinein .
Und erschrak vor der Klingel , und sah mit ernstem Gesicht in die Diele .
Die Stubentür ging auf und Heinke stand da in dem Licht , das mit heraus kam , und dachte :
» So !
Nun macht er einen dummen Jungenstreich ! «
Und sagte ein wenig verwirrt , aber doch ruhig , er möchte hinein kommen .
" Mutter ist nicht da , " sagte sie .
Er kam herein und setzte sich auf den bequemen Stuhl der Mutter .
Und erzählte , nun schon wieder guter Dinge , mit fröhlichen Augen , was er mit seiner Joppe für ein Unglück gehabt hätte .
Sie hörte mit großen Augen und zuckendem Mund zu und dachte :
» Was ist das für ein wunderlicher Mensch !
Er sitzt da und redet mit mir , als wenn er von Kindsbeinen mit mir aus einem Napf gegessen hätte .
Aber man kann ihm unmöglich böse sein : es ist alles so schlicht und natürlich . «
Und sie lachte ihn an .
Und nun wollte er Frau Boje bitten , ob sie ihm die Giebelstube überlassen und ihn rund umher besehen wollte .
Weiter würde er ihr nichts zu schaffen machen .
Er esse im Wirtshaus , und die Wäsche schicke die Mutter .
Sie dachte : » Natürlich soll er die Giebelstube haben !
Der liebe , wunderliche Mensch .
Und der will ein Doktor sein und Lehrer ! «
" Wir haben bisher nur kleine Schüler gehabt , " sagte sie , " noch niemals einen Lehrer .
Wir sind so einfache Leute . "
" Das paßt mir ja gerade , " sagte er und drehte den Kopf nach allen Seiten und stand auf und nahm Piets Bild , das auf der Kommode stand , und sah sie lange ruhig an und sagte : " Die Ähnlichkeit ist groß .
Dies ist Ihr Bruder Piet .
Ich habe mich nach der ganzen Familie erkundigt . "
Und sah sich wieder um und sagte : " So ungefähr sieht es auch bei meinen Eltern aus , bloß daß die Stube dreimal so groß ist .
Wir haben einen Hof bei Lübeck .
Ich mag dies Haus so gern :
Der Giebel hat eine schmucke Form ; und vormittags spielen die Schatten der großen Kastanienblätter auf seiner Wand . "
" Aber die Menschen ! " sagte Heinke .
" O ! " sagte er .
" Mit Ihrer Mutter werde ich leicht fertig werden ; ich habe sie einmal am Fenster gesehen .
Das wird eine Kleinigkeit .
Sie glauben nicht , wie leicht ich mit meiner Mutter fertig werde .
Und Sie ?
Mit Ihnen kann ich überhaupt keinen Streit bekommen . "
" Woher wissen Sie denn das ? "
" Nun , als ich neulich hier vorm Fenster die Grimasse machte , da wäre ein anderes Mädchen entsetzt gewesen , ein anderes beleidigt , ein anderes verwirrt ; Sie aber taten , aus ihrer gesunden Natur heraus , das einzig Richtige : Sie lachten über mich .
Sie sind immer bei der Natur und haben große Freude daran . "
" Ja , " sagte sie , " besonders an dem Kleinsten und Dümmsten drin . "
" Sehen Sie ! " sagte er , und lachte sie an , und freute sich über ihren Spott .
Sie waren noch im besten Zug , da kam Mutter Boje , und Heinke ging hinaus , das Abendbrot zu besorgen .
Bald darauf hörte sie , daß er mit fröhlichem Abschiedsgruß fortging .
Am anderen Tag kam er mit seiner Bücherkiste und mit der unseligen Jacke und bezog die Giebelstube , und behing die Wände mit seinen geliebten Bildern , und legte auch einige graue Mappen , die voll davon waren , auf den Tisch .
Aber am dritten Tag gestand er ehrlich und ernst : wenn sie , Heinke Boje , nachmittags mit dem Kaffeegeschirr in der Hand in der Tür stände , dann wäre sie viel , viel schöner als alle Bilder , die er hätte .
Da merkte sie , daß er nicht einer von jenen Kunstliebhabern wäre , die über einer alten Türeinfassung das Kindlein vergessen , das auf der Schwelle sitzt und mit Armen und Beinen wippt ; und er stieg in ihrer Achtung .
Die Mutter sagte : " Er käme gewiß ebenso gerne zu uns herunter und tränke den Kaffee bei uns . "
" Nein , " sagte sie lebhaft und bestimmt .
" Er ist ein ganz wunderlicher und verdrehter Mensch ; er sagt , er kann nur zwischen seinen Bildern Kaffee trinken . "
" Ach , " sagte die Mutter , " das ist ja Unsinn . "
" Ja , " sagte sie , " das ist es leider .
Er redet immer Unsinn , aber man kann ihm nicht böse werden . "
Er trank den Kaffee rasch aus im Stehen ; indes stand sie vor irgendeinem der kleinen , schlichten Bilder , billigen guten Wiedergaben von alten und neuen Werken .
Dann kam er zu ihr , und zeigte ihr mit klugen , ernsten Worten die Schönheit und Bedeutung des Bildes und erzählte , welche davon er in den Galerien gesehen hätte , und prahlte mit einer Reise , die er vor zwei Jahren als Student bis nach Palermo hinunter gemacht hätte .
Sie empfand und verstand alles , was er von den Bildern sagte , und hatte eine köstliche , ganz neue Freude daran ; und widersprach ihm zuweilen .
Den Bismarckkopf von Lenbach und den Ritter mit Tod und Teufel von Dürer und das Selbstbildnis von Böcklin : wie er gerade anfangen will zu malen , da steht der Tod hinter ihm und fiedelt sein Lied vom Sterben : die gefielen ihr .
Aber eine italienische Prinzessin , die er so sehr bewunderte , liebte sie nicht .
" Sie hat sich mit Stirnband und Kinnkette gezäumt , " sagte sie , " und tut ganz fromm ; aber bald fängt sie an zu beißen . "
" Nun , " sagte er , " und Sie ?
Wenn man Sie ansieht , wird einem auch bange .
Man denkt : nun muß es kommen . "
" Was muß kommen ? " sagte sie .
" Es ist etwas in Ihnen , was ich noch nicht kenne ...
Ich weiß nicht , " sagte er sinnend .
Er sah sie so ernst und forschend an , wie er seine Bilder ansah .
Sie sah ihn mit denselben Augen an , ernst und unverwirrt .
Sie wunderten sich sehr übereinander .
Nach einiger Zeit hatte er schon , wenn sie kam , eine Mappe auf den Tisch gelegt und sie beugten sich beide über den Tisch und besahen sie .
Er kümmerte sich gar nicht darum , ob die Figuren nackend oder durch Gewand verhüllt waren ; so war auch sie ganz harmlos .
Mit köstlichem , sinnigem Ernst deutete er ihr , was seine schönheitsfrohen , geübten Augen sahen .
Ihre Seele weitete sich und ihre Wangen wurden leicht rot , und sie atmete hoch auf und sagte : " Das Leben ist noch einmal so schön und so groß , wenn man an diesen Dingen Freude hat . "
" Ja , " sagte er , " und nun erst die Natur !
Was für Freuden hat sie für den , der ihre lieben Schönheiten sieht .
Wir wollen einmal zusammen einen langen , einsamen Spaziergang machen , dann will ich dir zeigen , was ich sehe . "
Sie nickte sinnend mit dem Kopf :
" Das wäre schön ! "
" Das werden großartige Stunden , " sagte er , " so ganz allein mit dir . "
" Nun sind Sie glücklich beim » du « angekommen , " sagte sie .
" Ach , " sagte er , " laß uns doch » du « sagen , wenn wir hier oben allein sind ; die ganze Siesagerei ist ja ein Unsinn .
Es ist ein Spaß , " und seine Augen freuten sich , " daß ich mit dem Schönsten in aller Natur auf du und du stehe . "
" Was ist das Schönste ? " sagte sie lachend .
" Heinke Boje . "
" Das dachte ich mir . "
Dann beugten sie sich wieder über die Mappe ; und er fuhr mit dem Finger über das Bild und zeigte ihr alles .
Und er nannte sie » du « und » Heinke « , und sie nannte ihn Peter oder Beterlein ; aber sie mußte jedesmal lachen , wenn sie es sagte .
Zuweilen , wenn sie so nebeneinander saßen , schob er den einen Arm in den ihren und faßte sie am Handgelenk .
Sie dachte wohl zuweilen :
» Es ist doch ein starkes Stück ; er tut alles , was er will . «
Aber sie beruhigte sich gleich wieder und sagte sich , daß ein natürliches und reines Herz ihn so handeln ließe .
Er vergab sich nie etwas .
Immer blieb er wie ein guter , schelmischer Bruder , der mit seiner schönen Schwester Scherz und Ernst redet .
Also ging sie harmlos und natürlich mit ihm um und tat ihre Seele auf , in dem Gefühl : die ist auch etwas wert , und setzte ihn immerfort in allerlei Verwunderung und widerstand ihm oft , und es half ihm nichts , daß er große Augen machte und zornig wurde und sie am Handgelenk schüttelte .
Sie blieb genau eine halbe Stunde ; dann stand sie auf und ging .
So verlebte sie die zehn Wochen , bis es gegen Pfingsten kam , und dachte :
» Mein Leben ist nun fast reich und bunt geworden .
Es ist zu lieb , mit ihm umzugehen .
Wenn man bei ihm ist , ist immer Sonntag . «
Und leise dachte sie :
» Wie merkwürdig , daß er mich nicht küssen will !
Aber darin ist er eben ein Junge .
Er ist noch ein Junge .
Solche Gedanken muß ich auch nicht haben .
Wenn es Kai Jans wäre !
O ha !
Der würde anders mit Heinke Boje umgehen ! «
Zwanzigstes Kapitel Gegen Pfingsten kam eine ungesunde Luft übers Land und viele Leute erkrankten und bald lagen in der kleinen Stadt Hilligenlei zehn tot auf der Bahre .
Und die eine Bahre stand in der blau gekalkten Kammer im langen Haus , in der Kai Jans als Domschüler gehaust hatte ; und darauf lag seine Mutter .
Sie hatte nicht viel über Schmerzen geklagt ; aber sie wurde matter und matter , und am sechsten Tag , nachdem sie sich hingelegt hatte , merkte sie , daß sie sterben würde .
Als Thoms Jans noch einmal in die Apotheke lief , ein Tröpflein zu holen , ob es helfen würde , trug sie Heinke auf , sie solle Thoms Jans sagen , daß er die Kinder grüße .
Sie wollte ihrem Mann noch nicht zeigen , daß es mit ihr zu Ende ginge , und wußte nicht , ob sie nachher noch die Macht haben würde , das nötige zu sagen .
Dann gab sie Heinke auch noch den Auftrag , daß die alte Sielemannsche , eine alte , saubere Frau , sie waschen solle , und es solle niemand dabei zugegen sein , auch ihr Mann nicht .
Und wenn das kleine Kind von Hans Köster , der im langen Haus als neuer Mieter wohnte , in ihrer Sterbestunde etwa schliefe , so müsse es geweckt werden , damit es keinen Schaden bekäme .
Als sie um Mitternacht sehr schwach wurde , sagte sie noch leise zu ihrem Mann :
" Ich habe immer ein störrisches Wesen gehabt , darunter habt ihr gelitten ; ich konnte aber nicht dagegen an .
Nun weiß ich nicht , ob der liebe Gott mich brauchen kann . "
Da erst merkte Thoms Jans , daß seine Frau von ihm gehen wollte , und fing bitterlich an zu weinen .
Als allmählich das Sinken und Fallen anfing und das zur Seite weggetragen werden an einen stillen Ort : da sprach sie noch mit langsamer , schwerer Stimme von ihrem Sohn :
" Er hat kein Glück auf der Welt .
Aber nicht traurig sein darüber , Vater .
Es ist besser als viel Lachen ...
Ich wollte nur , er wäre bald fertig damit , wie ich jetzt . "
Das war das letzte , womit sich ihre Seele befaßte .
Gleich darauf nahm der Gottesbote sie auf seine breiten Flügel .
Am zweiten Tag holte Heinke Boje Kai Jans vom Bahnhof ab und erzählte ihm , wie seine Mutter gestorben war .
Er ging schweigend neben ihr und sie sah ihn scheu an .
Er war stattlicher in seiner Erscheinung geworden und ruhiger in der Art seines Gehens , und seine Augen waren tief und ernst .
Sie fühlte deutlich , daß er nun ein ganzer Mann geworden war ; sie fühlte aber auch , daß seine Gedanken nicht hier waren .
Sie hatte ihn anderthalb Jahr lang nicht gesehen .
Als er vom offenen Sarg weg ans Fenster trat - sein Vater war in die Küche gegangen , ein wenig Abendbrot zurecht zu machen - trat sie schüchtern zu ihm und sagte : " Quält es dich sehr , daß du deine Mutter verloren hast ? "
Er schüttelte den Kopf :
" Nein , " sagte er mit ruhiger , tonloser Stimme .
" Sie ist gegen siebzig Jahr alt geworden , hat viel Unruhe und Arbeit gehabt , aber auch viele gute Freude , und zuletzt einen guten Tod .
Wie soll ich traurig sein ?
Sie hat alles gut überstanden ; wer weiß , ob uns das gelingt , Heinke ?
Als sie noch lebte , habe ich oft gedacht , daß ein Unglück sie noch treffen könnte , nun ist sie geborgen .
Wenn ich dennoch ein wenig traurig bin , so ist es , weil sie nicht erlebt hat , daß aus ihrem Sohn noch etwas Tüchtiges geworden ist . "
" Wir verstanden nicht alles , was sie zuletzt sprach , " sagte Heinke , " aber wir merkten wohl , daß sie ein gutes Zutrauen zu dir hatte .
Und das haben wir alle , Kai , die dich kennen .
Sieh , du gehst nicht wie andere einen Weg , der gebahnt ist ; sondern du gehst durch Dickicht und über weglose Dünen .
Aber zuletzt findest du , oder machst du dir einen schönen , hohen Weg . "
" Ach du ! " sagte er und streichelte ihre Hand .
" Du liebe Predigerin !
Du hast immer eine Hilfe und einen Trost für mich . "
Er blieb drei Tage , bis er die Mutter begraben hatte , und dann noch einen Tag , und wohnte die letzten beiden Tage - es waren die Tage vor dem Pfingstfest - unter den Kastanien in der Giebelstube .
Peter Volquardsen war zu seinen Eltern nach Ost-Holstein gefahren .
Als er vom Grabe zurückkam , ging er in die Stube hinauf und bald kam sie und brachte ihm den Kaffee .
Er war so in Gedanken , daß er nicht hörte , wie sie eintrat .
Als sie aber leise seinen Namen nannte , riß er sich heraus und kehrte sich um und sah sie an und sagte : " Du trägst dich jetzt noch stolzer als früher ...
Ich habe mich immer sehr über deine Briefe gefreut , Heinke ; besonders über die vom letzten Vierteljahr .
Sie sind klug und weit und farbig .
Aus dem Kinderspielplatz ist allmählich ein breites Land geworden . "
Eine rote , schöne Welle der Freude zog über ihre Wangen .
" Daß du mir sagtest , daß ich zu meiner Natur Vertrauen haben sollte : das hat mir viel geholfen ; und dann , daß ich bei den lieben Menschen in Hindorf war .
Das habe ich alles dir zu danken . "
Ein heißes Gefühl der Liebe stieg ihr in die Augen , daß sie feucht und dunkel wurden .
Sie wollte ihm noch mehr sagen .
Da sah sie , daß er schon wieder in andere Gedanken versunken war .
Nach einer Weile sah er sich in der Stube um und sagte : " Es scheint ein feiner Mensch zu sein , der hier wohnt ? "
Sie erzählte ihm , daß es ein guter Junge wäre , dazu schmuck und fein , und wie sie sich täglich mit ihm unterhielte , und was sie trieben ...
Er besah einige der Bilder und sagte : " Ich sehe wohl auch gern allerlei Kunst ; aber viel mehr bedeutet mir Menschenschicksal . "
" Ja , " sagte sie .
" So bist du ...
Ich bin anders , " sagte sie sinnend .
" Mir sind fremde Menschen ziemlich gleichgültig ; aber Natur und Kunst machen mir Freude . "
Er sah sie nachdenklich an :
" Und wir sind doch so gute Freunde . "
" Ich denke , " sagte sie ; " gerade weil wir so ganz verschieden sind , Kai .
Der Mensch sucht sein Gegenstück . "
Er hörte nicht hin und sagte in Gedanken :
" Ich bin von Natur und durch meine mühselige Jugend ein schwerfälliger Mensch .
Das ist es . "
Nach einer Weile fing sie wieder an und fragte ihn :
" Wie alt bist du jetzt ? "
" Einunddreißig , " sagte er .
" Einunddreißig , " sagte sie langsam .
Und dann zögernd ... " ich werde zweiundzwanzig . "
" Ja , " sagte er .
" Du könntest nun heiraten . "
Sie sah ihn klar und ruhig an , mit dem Blick , der ihr und ihrer Schwester eigen war , als dachte sie :
» Paßt auf , meine Augen !
Jetzt tut ein Mensch seine Seele auf . «
Aber er sagte weiter nichts .
Da senkte sich eine leise Trauer auf ihre Seele : So !
.. .
Nun weiß ich , daß ich niemals seine Frau werde ...
Was nun ?
.. .
" Alle deine Gedanken sind in Berlin , " sagte sie leise .
Das war wie ein Weckruf .
Er wurde lebendig .
" Du solltest sehen , " sagte er mit wacher , voller Stimme , " was für ein Gewühl und für ein Gewirr es ist in dieser Zeit , nicht allein in Berlin , sondern im ganzen Land .
" Diese gewaltige wirtschaftliche Wandlung in diesen letzten dreißig Jahren !
Ostelbien zieht nach Berlin , Hamburg und Westfalen .
Hunderttausende ziehen mit ihren Frauen und lieben Kindern von der Heimat fort , wo der Himmel weit ist und der Wind übers grüne Land weht , darum , weil sie in elender Landlosigkeit und Unterdrückung gehalten werden .
Und nun solltest du sehen , wie diese Leute da in Berlin hausen !
Wenn sie aus ihren Häusern heraussehen , sehen sie nicht gegen grüne Kastanien und blankes Wasser , sondern gegen elende graue Mauern und dummglotzende Fenster .
Sie selbst spielten einst in ihrer Kindheit am Rain und schrien am Waldrand ; ihre Kinder spielen im sonnenlosen , tiefen Häuserschacht .
Da kannst du dir denken , wie dunkel und wirr es in ihren Köpfen aussieht : mit welchen Gefühlen sie an den Gutsbesitzer denken , dem weit und breit draußen in der Heimat Wald und Feld gehören , darauf ihr Schweiß liegt ; und an die Kirche , welche sie wandern ließ , ohne eine Tat und ohne ein Wort zu ihren Gunsten zu sagen ; und mit welchen Augen sie auf den Reichtum sehen , der einige Straßen von ihnen entfernt sein eitles Pfauengefieder breitet .
" Zu dieser großen wirtschaftlichen Veränderung kommt der schwerste religiöse Wirrwarr .
Die wissenschaftliche Forschung hat die beiden Kirchenlehren ganz und gar durchlöchert .
Es sind nur noch hohle Gestelle , durch allerlei Drapierungen und Klugheiten aufrecht gehalten , als lebten sie noch .
Aber der größte Teil des Volkes weiß , daß sie tot sind , und kümmert sich nicht mehr um sie .
Und nun sind die Menschen ohne Religion , und darum mißmutig und verbittert , irre und wirr , ohne Friede und Freude , ohne Weg und Ziel .
" Und was für ein Wirren und Suchen in allen anderen Stücken des Volkslebens , im ganzen Bereich der Sitte : in Kunst , in Erziehung , in Rechtsprechung , im geselligen Verkehr .
" Es geht , wie alle hundert Jahr , eine Zeit der Unruhe durchs Volk , ein Fieber , aber ein Fieber zur Genesung .
Altes und Faules wird im fiebernden Blut verzehrt und ausgeschieden .
Neues und Starkes und Frisches will werden .
Es geht wieder ein Sehnen durch unser Volk , die drei gewaltigen Mächte , die es aus sich selbst erzeugt , die Obrigkeit , die Religion und die Sitte , zu verjüngen .
Es geht ein Wille und Wunsch durchs Volk , zur Natur zu kommen : zu einer schlichten , schönen Religion , zur sozialen Gerechtigkeit , zu einem einfachen , edlen , germanischen Menschentum .
" Und sieh , Heinke : die Verjüngung und Erneuerung hat schon mit Macht angesetzt .
Hier und da arbeiten und jubeln schon neue Kräfte .
Viele Tausende sagen , sie sehen schon heiliges Land .
Wie wird in der Bibel geforscht !
Wie tapfer rührt sich die Regierung !
Wie wehen die Fahnen der Arbeiter !
Welch ein Leben in Kunst und Erziehung !
Aber es ist doch noch ein schweres Wühlen und Wirren .
Und es packt einen zuweilen eine Angst , daß wir doch den neuen Weg und das neue , schöne Land der Zukunft nicht finden , und das Suchen wieder aufgeben , und in den alten , starren Formen bleiben .
Und wenn das geschähe , wäre es mit uns und unserer Zukunft vorbei .
" Und nun sieh :
ich habe von meiner Kindheit an ein sonderbares Wundern gehabt , ein Nichtbegreifenkönnen dessen , was ich um mich sah .
Freilich Wind und Wasser und Feld und Wald konnte ich verstehen ; aber in dem , was die Menschen eingerichtet haben und wie sie miteinander leben , war mir vieles unbegreiflich .
Ich sah in meiner Seele immer eine andere Welt ; ich sah eine Menschheit , die heilig und rein war .
Darum war ich ein stiller und verschlossener Junge .
Nur zuweilen , wenn ich mich vergaß , riß ich die Tür meiner Seele auf , und schrie meine Verwunderung hinaus .
Dann lachten die Leute .
Ich habe viel in höhnische Gesichter sehen müssen , Heinke , von meiner Kindheit an bis jetzt .
Nur zwei oder drei , Pe Ontjes und Anna , und dann du , und dann mein guter Freund in Berlin :
ihr lachtet nicht , und habt mir dadurch in meiner Verlassenheit und Einsamkeit großes Gutes getan .
" Und nun sieh :
in diesen letzten beiden Jahren ist mir zuweilen , als wenn ich mich hindurcharbeitete aus dem dunklen Gewusel heraus zu einem hellen Ort .
Es entsteht leise und schwach ein wenig Selbstvertrauen : daß vielleicht ich , über den die Menschen so oft gelacht haben , im Rechte bin , daß die ewige Macht mir keine unfruchtbare Wunderlichkeit gegeben hat , sondern eine Gabe , welche gute Frucht bringen kann : die Dinge der Welt mit Kinderaugen zu sehen und also natürlicher und klarer als andere Menschen .
Und sieh ... da bin ich nun , auf dem Weg dieses Selbstvertrauens , weiter in die Dinge hineingegangen , habe über all das Wirren und Sehnen nachgesonnen und habe vor , meinem Volke zu zeigen , wie ich , mit meinen Augen , die vom Deich und von der weiten See kommen , das Leben meines Volkes ansehe :
was unnatürlich und widersinnig und veraltet und tot ist und darum böse ; und wie ich meine , daß es zum Heiligen und Gesunden kommen könnte .
Ich wollte ein Buch schreiben von deutscher Wiedergeburt . "
" Tu das ! " sagte sie lebhaft .
" Dann wirst du fröhlich .
Du grübelst und grübelst alles in dich hinein .
Erzähle , schreibe , daß dein übervolles Herz frei und selig wird . "
Sie sah ihn an und wunderte sich : so leuchteten seine Augen und so schön war sein liebes , ernstes Gesicht .
Aber rasch verflog ihm der Mut .
" Ja , " sagte er , " wenn ich aber daran gehen will , und sehe die Menge der Dinge und das Gewirr darin , und weiß nicht , wo ich es anfassen soll , und finde nicht die Quelle aller Übel :
dann kommt wieder der alte Zweifel !
Was willst du eine so große Sache übernehmen !?
Die Menschen werden erschrecken vor der Härte deines Urteils und vor der Gründlichkeit deiner Neuerungen .
Sind da nicht große Gelehrte und Männer auf hohen Posten , von wo man weiter sieht , als vom Deich von Hilligenlei ?
Laß die das Neue bringen !
Ich fürchte mich auch , daß mein Name in vieler Leute Mund sein wird .
Wie schwer ist es , anderen seine Seele zu zeigen und nachher dabei zu stehen , wenn sie ihren Spott damit treiben . "
So sagte er , und war wieder mutlos und bange , und war wie ein Mensch , der weiß , daß er , wider seinen Willen , tun wird , was ihm Schweres bringen wird .
Am Pfingstabend fuhr er wieder davon .
Er bat sie , dann und wann nach seinem Vater zu sehen und die Freunde zu grüßen .
" Von Piet , " sagte sie , " hören und sehen wir fast gar nichts .
Er geht ganz in seiner Arbeit auf und hat keine Zeit für uns .
Er hat weiter keinen Gedanken als vorwärts zu kommen und bald erster Inspektor zu werden ...
Ich weiß nicht , " sagte sie in Gedanken , " ob nun solch ein Leben richtig ist , ob man auf diese Weise das Beste vom Leben zu sehen und zu fassen bekommt ? "
Aber er antwortete nicht .
Als sie auf dem Weg zum Bahnhof über den Immenhof kamen , wo man den Kippelgang hinunter sieht , machte sie ihn auf Tjark Dusenschön aufmerksam , der breit und ruhevoll nach seinem Schuppen hinunterging .
" Der macht sich nicht soviel Gedanken wie du , " sagte sie .
Aber er sagte nur traurig :
" Ich habe gar keine Gedanken für alte Bekannte gehabt , kaum für die Mutter .
Ich habe immer an das andere gedacht . "
Auf dem Bahnhof drückte er ihr fest die Hand .
" Nun , Heinke , " sagte er , " es bleibt bei der alten Freundschaft .
Bist du in irgendeiner Not , so rufst du mich .
Ich mache es ebenso .
Nun wünsche mir eine gute Reise und ein gutes Jahr .
Mögen wir ein Stück von Hilligenlei finden , Heinke ! "
Das war sein Abschiedswort .
Einundzwanzigstes Kapitel Als Heinke Boje an diesem Pfingstabend in den Kastaniengang zurückkam und , noch ganz in Sinnen , die Diele betrat und ihre Jacke auszog , hörte sie von der Giebelstube herunter einen bekannten Schritt .
Die Jacke noch halb an , horchte sie erstaunt .
Da ging auch schon die Tür .
" Ich bin da ! " rief er fröhlich von oben herunter .
" Was wollen Sie denn schon ?! " sagte sie ganz verblüfft .
" Ach , " sagte er und setzte sich oben auf die Treppe ; " ich habe mich mit meinen Alten erzürnt .
Sie sagten zuletzt :
» Mache , daß du wieder nach Hilligenlei kommst . « "
Sie stand da , die Jacke noch immer halb an , merkte , daß er log , und verlangte eine Antwort " auf Ehre und Gewissen " .
Aber er blieb dabei , seine Eltern hätten ihn weggeschickt .
" Ich war so kopfhängerisch und trübselig .
Da sagten sie :
» Wir danken für solchen Pfingstgast ; gehe hin , woher du gekommen bist . «
Da bin ich so gefahren , daß ich hier gerade zur Kaffeezeit ankam . "
Sie lachte .
" Nun lassen Sie man Ihr Reden , " sagte sie .
" Es ist ja alles Unsinn .
Ich komme mit dem Kaffee . "
Sie zog die Jacke aus , bereitete unter leisem Singen - obwohl sie gar nicht singen konnte - den Kaffee und kam dann zu ihm in die Stube .
Als sie dann wieder neben ihm über seinen Bildern lag , da kam das köstliche , feiertägige Behagen wieder über sie , und sie dachte : » Kai Jans ist ein lieber , stolzer Mann , ein Held , und der Beste auf der Welt ; aber sein Blut ist so schwer und seine Grübeleien so todernst .
Ich glaube , ich würde mich fürchten , und mich nach Erlösung sehnen , wenn ich mit ihm zusammen hausen sollte .
Ich würde nie heiter lachen können ; ich würde denken :
was entsteht nun heute in seinem Kopf ?
Und ich glaube , ich würde unsere Kinder ängstlich ansehen , ob sie viel von ihm hätten ...
Aber dieser ist lieb und ernst zugleich , klug und heiter in einem Atem ; er ist wie ein frischer , windiger Frühlingstag und paßt zu mir ernstem , steifem Menschenkind . «
Und sie fing an , sich mit ihm zu streiten und zu lachen , und sie fingen an , sich wieder " du " zu nennen ; und sie sagte :
" Wenn du dich nicht besser benimmst , wirst du auch hier hinaus geworfen . "
Dann machten sie ab , daß sie am anderen Morgen , als am ersten Pfingsttag , in aller Frühe zusammen einen Spaziergang machen wollten .
" Gegen zehn Uhr muß ich wieder hier sein , " sagte sie , " und Essen kochen . "
" Wie weit wir gehen und wohin , ist gleichgültig .
Wir bleiben , wo es uns gefällt , und sind um zehn wieder zu Haus . "
Als er im Eifer des Plänemachens in seiner gewohnten Weise seinen Arm in den ihren schob und seine Hand auf die ihre legte , kehrte sie , in ihrer Freude an seiner köstlichen Freundlichkeit , ihre Hand um , daß er sie ordentlich anfassen konnte und sagte : " Ich freue ' mich , daß du wieder da bist , Beterlein . "
Da griff er rasch ihre Hand und schüttelte sie und sagte , wie zur Besiegelung der guten Freundschaft :
" Es ist zu gemütlich , mit dir zusammen zu sein . "
Da verwirrten sich ihre Augen :
" Du bist gut mit mir , " sagte sie und nahm ein Bild auf .
Aber sie legte es gleich wieder hin , sah nicht auf und sagte : " Ich habe nun den ganzen Abend im Hausstand zu tun , damit Mutter morgen früh keine Mühe hat , wenn ich fort bin .
Darum muß ich nun gehen . "
Da ging sie am Abend , nachdem sie tüchtig gearbeitet hatte , zu Bett , und lag eine Zeitlang und kam mit ihren Gedanken zu Kai Jans .
» Nein , « dachte sie , » so lieb ich ihn habe , ich möchte ihn doch nicht zum Manne .
Er ist mir zu ernst , zu unruhig , und zu unheimlich . «
Aber als sie dann dachte , daß der andere sie vielleicht morgen küssen würde , und daß es dann aus und vorbei wäre mit der alten , lieben , heimlichen Hoffnung , daß sie jemals die Frau von Kai Jans würde , warf sie sich plötzlich mit Gewalt auf die Seite und weinte im großen Jammer .
" Ich habe ihn so schrecklich lieb ; ich habe ihn so lieb . "
So war sie eine Stunde lang in großer Not und weinte und grübelte und dachte an den anderen , daß er ein lieber , feiner Junge wäre , und sie ihn sehr , sehr lieb hätte , aber er wäre noch kein rechter Mann .
Und glaubte , daß sie niemals glücklich würde .
Vor Morgengrauen stand sie schon auf , kleidete sich flink und flüchtig an , und ging leise die Treppe hinauf , ihn zu wecken .
Aber als sie klopfte , machte er die Tür schon auf und sagte : " Bleibe einen Augenblick , du !
Ich komme gleich . "
Und kümmerte sich gar nicht darum , daß er in Hemdsärmeln war .
Da saß sie solange auf der Tischkante und sah leise lachend zu , wie er den Basten spielte , unruhig in der Stube hin und her fuhr , und dies und das suchte , während er sonst immer von einer gleichmäßigen , wachen Ruhe war .
Dann schlichen sie die Treppe hinunter , die Mutter nicht zu wecken .
Und dann hinaus .
Es war noch ganz dunkel und lichtlos ; die Luft war noch ganz still .
Die Häuser am Burggraben standen stumm und verschlafen in Reih und Glied ; davor , in ihren grünen Mänteln , mit ihren hellen Kerzen in den Händen , die hohen Kastanien .
Sie standen lautlos still und ließen die beiden jungen Menschen an sich vorübergehen .
Die gingen schweigend nebeneinander , mit gesenkten Köpfen , der Mann leicht und ruhig , als wie in einen schönen Tag und in ein tätiges , munteres Leben hinein ; das Mädchen ein wenig schwerer nach Frauenweise .
Hinter ihnen rührten sich alle Kastanien im ersten Morgenwind .
Als sie die Stadt hinter sich hatten und im schwarzgrauen Schatten der Dornhecke gingen , die an der Straße entlang lief , faßte er sie an der Hand und schlenkerte die Hand hin und her und pfiff dazu .
Bald aber wurde ihm das zu eintönig , er zog seinen Arm durch den ihren und ging so wie ein jüngerer Bruder neben seiner Schwester .
" Wie lange sind wir jetzt bekannt miteinander ? " fragte er .
" Mir ist , als kennte ich dich sieben Jahre . "
" Länger schon ! " sagte sie .
" Komme , wir wollen diesen schmalen Feldweg hinauf gehen .
Es ist einerlei , wo wir gehen . "
" Ganz einerlei . "
Sie gingen in lautlosem Schweigen den schmalen , dunklen Weg .
Vor ihnen fing ein kleiner Vogel an , leise zu singen , zwei , drei schüchterne Töne ; nun schwieg er wieder .
" Du , Heinke , " sagte er beklommen , " sage ' etwas . "
" Was soll ich sagen ? "
" Etwas Liebes ; ich habe dir soviel Liebes gesagt ... Du , ... Heinke . "
" Du bist neunmal klüger als ich , Beterlein .
Das hast du oft behauptet .
Wenn du etwas weißt , sage du etwas . "
" Ich wollte wohl etwas sagen ; aber ich weiß nicht , wie ich es anfangen soll , und ich weiß auch nicht , ob du es hören magst . "
Da gingen sie wieder in Schweigen nebeneinander , beide in bangen , unruhigen , beklommenen Wünschen .
Der Morgenwind kam ihnen von der freien Höhe herab entgegen .
Da lag auf der Höhe , nicht weit vom Weg , auf dämmergrauem , hohem Feld , ein mächtiges Hünengrab .
" Sieh , " sagte er , " da oben , von dem Grab aus könnten wir das ganze Land , nach Morgen hin , übersehen .
Was meinst du : wollen wir da auf die Sonne warten ?
Sieh , über Volkmersdorf liegt schon ein heller Schein . "
" Ich möchte lieber so weiter gehen , " sagte sie , " immerzu . "
" Nein , " sagte er .
" Komme ; wir wollen dahin gehen und auf die Sonne warten ...
Weißt du was ... Du sollst die Herrlichkeit ganz plötzlich sehen ...
Ach bitte ...
Ich binde dir die Augen zu ... "
Sie wollte nicht und riß ihm das Taschentuch aus der Hand und war traurig , weil sie meinte , dies ganze köstliche Zusammensein ginge auf eine Schelmerei und Narretei hinaus .
Er aber fürchtete nur ihre klaren , ruhigen Augen .
Er bat sie aber mit solchem Ernst und mit solch freundlicher Anmut , daß sie es verwirrt zugab .
Er verband ihr die Augen und sie ging an seiner Hand .
" Meine Füße werden ganz naß , " sagte sie ; " so lang und feucht ist das Gras . "
" Ach , " sagte er leise , " rede doch nicht davon . "
" Was hast du für eine merkwürdige Stimme , Beterlein ? "
" Es ist auch keine Kleinigkeit , " sagte er .
" Was ist keine Kleinigkeit ? " sagte sie leise .
" Du solltest sehen , was ich sehe : Wir sind zu früh hierher gekommen ; dies Feld gehört noch ganz und gar der dunklen Nacht . "
" So ... nun sind meine Füße durchnaß . "
" Ach , Heinke Boje , " sagte er leise , " rede nicht von deinen Füßen !
Sieh lieber zu , daß du deine Seele nicht erkältest . "
" Was hast du für eine merkwürdige Stimme , Beterlein ? "
" Du solltest sehen , was ich sehe .
Links und rechts von dem alten Heidegrab stehen viele starke Männer in altbraunem , kurzem Gewebe , die Füße in rauhem Fellwerk . "
" Gehe nur ruhig weiter , " sagte sie leise lachend ; " ich bin nicht bange .
Es sind gewiß meine Vorfahren .
Ich bin aus altem hiesigem Geschlecht . "
" Da kommt einer näher , " sagte er leise .
" Ein schmucker , junger Mensch .
Ich glaube ... du , Heinke ... ich glaube , der will dich küssen ... Heinke . "
Sie stand still und sagte schwerer atmend :
" Wenn er jung und schmuck ist , laß ihn . "
Da fühlte sie eine Hand in ihrem Haar und frische Lippen auf ihrem Mund .
" Wir hätten warten müssen , bis es heller Tag war ; ich mache mir Vorwürfe , Heinke .
Nun hat ein fremder Mann dich geküßt . "
Sie gingen schweigend weiter .
Als sie die Höhe erstiegen hatten , legte er den Arm um ihre Hüfte .
" Nun kommt da wieder einer , " sagte er leise .
" Was soll ich tun , Heinke ?
Soll ich ihn niederschlagen oder soll er dich küssen ? "
" Ist er schmuck gebaut ? " sagte sie leise lachend .
" Ein bißchen fein , " sagte er ; " aber kräftig . "
" Noch ein wenig jungenhaft ? " sagte sie .
" O bewahre !
Ein ganzer Mann ! "
" Was hat er für ein Gesicht ?
Noch ein wenig jungenhaft ? "
" O bewahre , fein und männlich . "
" Denn kann er mich küssen . "
Da fühlte sie wieder rasche , scheue Lippen auf ihrem Mund .
" Schmeckt es gut ? " sagte er leise ; seine Stimme war sehr beklommen .
" Es tut mir leid , Beterlein , " sagte sie leise und traurig , " daß du duldest , daß fremde Männer mich küssen . "
Da umfaßte er sie und drückte seinen Kopf gegen ihre Schultern und sagte : " Heinke ... Heinke !
... ich habe dich so lieb . "
Da nahm sie sich die Binde ab .
Und sie lösten sich voneinander und sahen schweigend über das Feld nach der fernen , schmalen Waldlinie , über der eine breite , dunkelblaue Wolkenbank stand .
Und die Sonne , noch nicht sichtbar , hob ihre Hände und legte ihre Waffen auf die Bank : ein langes , blitzendes Schwert und einen Speer , noch einmal so lang .
Überweltlich feierlich lagen die schimmernden Waffen auf der dunkelblauen Bank .
Nun kletterte sie höher ; nun erschien der Rand ihres goldenen Schildes .
Machtvoll stand er über dem Wald .
Licht schoß von ihm aus , goldrot durch blaues Gewölk , bis zur Himmelshöhe .
Darunter lag still und weit das Land im Gottesfrieden .
Sie standen und sahen hinüber .
Dann gingen sie in Schweigen nach dem stillen Weg zurück und verließen auf ihm die Höhen und kamen in ein ebenes , grünes Feld , das in der Morgensonne lag .
In Sinnen , die Augen hier und da , nur nicht in des anderen Augen , gingen sie dahin , sie schweigend , er leise vor sich hinsummend .
So gelangten sie nach einer guten Viertelstunde auf eine kleine Erhöhung , die in das niedrige grüne Feld vorsprang .
Auf dieser Erhöhung hatte vor Jahrhunderten , als das niedrige grüne Feld noch eine sumpfige Meerbucht gewesen war , ein fürstliches Blockhaus gestanden , die Bauern zu zwingen .
Die hatten es im wilden Kampf erstürmt und verbrannt .
Nun war von der ganzen Festung nichts mehr da , als die grüne , sanfte Höhe , von jungen Eichen bestanden .
Am grünen Abhang , wo eine leichte Mulde im Boden den Festungsgraben bezeichnete , standen Frühlingsblumen .
Da setzten sie sich am Abhang in die Sonne ins bunte Gras .
Und Heinke Boje legte die Hand um das eine Knie und sah unbeweglich mit ruhevollen Augen über die grüne Ebene zu den sanften Höhen , von denen sie gekommen waren , und nach dem dicken Turm von Hilligenlei , der eben darüber wegragte .
Peter Volquardsen aber pflückte die Blumen , soweit er sie im Sitzen ergreifen konnte , und warf sie ihr in den Schoß und sah jedesmal , wenn er eine Blume hineinwarf , fragend nach ihrem Gesicht .
Sie aber rührte sich nicht .
Das dauerte eine ziemliche Weile .
Da meinte sie , das Schweigen hätte lange genug gewährt , und nahm wie in Gedanken eine von den Blumen und drückte sie gegen ihren Mund und sah in den weiten Himmel hinein und sagte : " Ist mein Mund gelb geworden ? "
" Ganz gelb , " sagte er .
" Macht nichts , " sagte sie und warf sich längelang ins Gras und schloß die Augen .
Da nahm er sich ein Herz und kam herangekrochen und küßte sie .
Sie dachte erst : » So will ich lange liegen bleiben . «
Aber dann schlug die Liebe über sie zusammen und sie machte die Augen auf und legte mit einer rührenden Gebärde beide Hände um seinen Kopf .
Nun sahen sie sich in die ernsten Augen .
" Wie bist du schön , " sagte er erschüttert .
" Ich kann mich nicht satt sehen , " sagte sie .
" Liege ganz still und sage nichts . "
" Du lieber Mensch !
Wie lieb bist du . "
So lagen sie lange , und staunten sich an und küßten sich zuweilen vorsichtig und fast feierlich .
Dann standen sie auf und gingen Hand in Hand auf den Heimweg , meistens stumm ; aber sie sahen sich nun an beim Gehen , schweigend , mit klaren Augen ; und hatten sich an den Händen .
Als sie wieder in dem engen Heckenweg waren , umfaßte er sie und küßte sie .
Ihre Wangen waren rot und ihre dunkelgrauen Augen leuchteten .
" Du bist doch ein Mann , " sagte sie glücklich lächelnd .
" Sei nicht böse ; ich habe es ja immer gewußt .
- So , nun laß mich los .
Du meinst , die Welt gehört heute morgen dir ganz allein ; es kommen leicht andere Leute auf die Höhen . "
Da machten sie im Weitergehen ab , daß sie es ganz geheim halten wollten bis zum Herbst , damit sie wie bisher ungestört beieinander wohnen bleiben könnten .
Nur der Mutter und seinen Eltern wollten sie es ganz heimlich sagen .
Als sie im Hause ankamen , brachte sie ihn bis zur Treppe .
Als er ihr da die Hand reichte - er stand schon auf der Stufe - fragte sie ihn mit einem schweren Ernst in Wort und Gebärde : " Hast du mich nun lieb ? "
Er sagte nichts weiter als " Ja ... du !
... " aber er sah sie mit so heißer und treuer Liebe an , daß sie wie mit Segen und Glück überschüttet zurücktrat .
Ihre Hände trennten sich schwer .
Dann ging sie in die Küche und bereitete das Mittagessen und dachte bei der Arbeit :
» Wenn ich es nun bloß erst gesagt hätte ! « und hoffte , daß die Mutter einmal herauskäme , da es in der Küche so schön dunkel war .
Aber die kam nicht .
» Na , « dachte sie , » er sitzt da oben auch in Not .
Nun schreibt er an seine Eltern . «
Da mußte sie zuletzt mit dem Tischzeug in die Stube gehen und decken .
Die Mutter saß und strickte Winterstrümpfe für Hat und sah nicht auf .
Wenn sie doch wenigstens fragen wollte , wie der Spaziergang verlaufen war ...
Da fing sie an mit mehr Geräusch zu decken .
Nun sah die Mutter auf .
" Was machst du denn , Kind ?
Du deckst ja für drei ?
Wer ist denn da ? "
" Ja ... " sagte sie , " er hat so gebettelt :
er will heute gern mit uns essen . "
" So ?
Hast du denn was Rechtes ? "
" Er wird sich schon nichts merken lassen ... er ... er will immer mit mir essen . "
" Kind ... "
" Ja , Mutter , wir ... er hat es mir gesagt ...
Was weinst du nun , Mutter ? "
" Ach , Kind ... laß mich weinen ... ich weiß nicht . "
" Wir wollen aber mit der Hochzeit noch warten .
Wenigstens noch zwei Jahre ...
Das ist mir auch recht . "
" Wissen denn seine Eltern es ? "
" Sie wissen es nicht ; aber sie ahnen es .
Sie haben nichts dagegen . "
" Geht es denn , daß er bei uns bleibt ? "
" Bis zum Herbst wenigstens ...
Und das bitte ich dich , Mutter , daß kein Mensch es erfährt , nicht einmal Anna , und daß du nichts dagegen hast , daß ich in alter Weise zu ihm hinaufgehe , jeden Tag die halbe Stunde .
Wir sind beide verständige Menschen und wissen selbst , was wir tun und lassen wollen .
Sonst kann ich es nicht aushalten ... "
So brachte sie ihm nun in alter Weise den Kaffee hinauf .
Aber es war nun doch eine andere Sache .
Eine ganz andere Sache .
Der Kaffee blieb ungetrunken und die Bilder unbesehen .
Sie hatten das schönste Bild einer am anderen .
Er saß vor seinem Arbeitstisch und beugte sich zu ihr nieder , die vor ihm kniete , und strich ihr das Haar und küßte sie , und sagte ihr wieder und wieder , wie lieb er sie hätte ; und sie sah aufmerksam mit ihren klaren Augen zu ihm auf und hörte zu .
Dann zog er sie zu sich empor und sie saß auf seinem Schoß .
Und wenn sie da saß , wehrte sie ihm nicht , wenn er sich an ihren jungen Gliedern freute .
Sie wehrte ihm nicht .
Sie bat nur leise : " Du mußt verständig sein . "
Da freute er sich , daß er sich ein so schönes und auch sinnliches Weib gewonnen , und neckte sie :
" Deine Schwester und du ... Ihr seid wahrhaftig großartige , hochmütige Mädchen .
Es wagte sich keiner an euch heran .
Als der gewaltige Lau um deine Schwester warb , zitterte er an allen Gliedern ... Wahrhaftig ... das hat er mir selbst erzählt !
Aber ich ... ich ... ach ... spielend !!
Und ich bin ein Junge ... , Beterlein , du bist ein Junge ! "
Da warf sie sich gegen ihn :
" Du bist kein Junge ; du bist mein lieber Mann . "
Sie kümmerte sich in diesem Sommer um nichts .
Tjark Dusenschön war im höchsten Flor .
Er kaufte das Grundstück neben dem Schuppen und ließ zu einem großen , massiven Fabrikgebäude Riß und Kostenanschlag machen .
Anna klagte ihr , daß Pe Ontjes immer mehr in das Fahrwasser von Dusenschön käme , der behaupte , die Gradlegung des Hafenstroms werde in spätestens drei Jahren in Angriff genommen ; das wisse er .
Anna sah still und fast vergrämt vor sich hin .
" Pe Ontjes läßt sich beschwatzen , " sagte sie ; " das ist schlimm für unsere und unseres Kindes Zukunft ; aber am schlimmsten ist es für mich . "
" Wie meinst du das ? "
Da sah Anna Boje mit großen , starren Augen vor sich hin :
" Weil ich ihn nicht mehr achten kann . "
Kai Jans schrieb aus Berlin , daß er zwar angefangen hätte , an seinem Buch zu arbeiten .
Aber die viele Einzelnot , die er täglich so dicht bei sich und rund um sich sähe , hielte ihn zurück , daß er fröhlich und frei ins Weite sehen und denken könnte .
Es würde nie etwas aus ihm ; er wüßte nicht , wo es mit ihm hinausliefe .
Zuweilen habe er Neigung , mit seinem Freunde eine Studienreise zu machen , die nach Südafrika gehen sollte .
Vielleicht daß er in dem weiten , sonnigen , fremden Land , auf dieser jahrelangen , mühseligen Reise ein Reifer und Ruhiger werde .
Sie brachte den Brief in die Giebelstube hinauf und zeigte ihn , wie sie auch all die anderen Briefe gezeigt hatte .
" Der arme , liebe Mensch , " sagte sie , und ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen .
" Er ist immer so gut mit mir gewesen , von meiner Kindheit an ; ich habe ihm soviel zu danken .
Daß er doch gar keine Freude am Leben hat , und daß ich ihm gar nicht helfen kann . "
" Hast du ihm geschrieben , daß du verlobt bist ? "
Sie schüttelte den Kopf .
" Nein ... ich will es ihm lieber sagen ...
Ich weiß nicht , wie er es aufnehmen wird . Früher ... ach , ich glaube , von meiner Kindheit an , habe ich oft heimlich gedacht , daß ich einmal seine Frau würde ...
Der liebe , gute Mensch !
Wenn er doch eine Liebe fände ; vielleicht würde das ihm helfen !
Aber was muß das für ein feines , kluges , schönes und starkes Menschenkind sein ! "
" Nun ... sei nicht traurig ... es wird wohl noch alles gut werden ... komme her , Heinke Boje ... Sei lieb . "
Im Juli wurde Annas Kleiner ein wenig krank und Mutter Boje blieb einige Abende dort und saß bei dem Kind .
Da aßen die beiden heimlich oben in der Giebelstube .
Sie saßen an einem viereckigen Tisch einander gegenüber und er sagte :
" Meine Frau , " und tat , als wenn an den beiden anderen Seiten des Tisches je ein Kind saß .
Sie schalt und lachte , und saß dann wieder auf seinem Schoß und wehrte ihm nicht .
An einem solchen Abend war es , daß er ihr Haar losgemacht hatte und sie lange in süßer Bewunderung ansah .
Da faßte er sie fest an beiden Armen und hatte heiße , ernste Augen und sagte mit gepreßter Stimme :
" Es ist nicht gut für uns beide , Heinke ... , daß wir noch jahrelang mit der Hochzeit warten . "
Sie sah ihn aus dunklen Augen an .
" Ich glaube auch , Beterlein ... es ist nicht gut . "
" Wenn du ganz sparsam sein willst , und ganz einfach und still mit mir leben willst , dann könnten wir wohl im Frühjahr Hochzeit machen . "
Sie spielte mit seiner Uhrkette und sah nieder .
" Schrecklich gern wollte ich das ...
Sieh ... du !
... Alt genug bin ich ja .
Ich bin zweiundzwanzig ... Du bist an allem schuld , Beterlein .
Ich war ein so ruhiges , kluges Mädchen . "
Da machten sie ab , daß sie um Frühjahrsanfang Hochzeit machen wollten .
Da wurden sie ein wenig ruhiger , sprachen viel von der kleinen Aussteuer und wie sie sich einrichten wollten ; und wurden auch einig , wie die ersten beiden Kinder heißen sollten .
So wurde Heinke Boje in diesen drei Sommermonaten ein Weib und vergaß Kai Jans .
Zweiundzwanzigstes Kapitel In dieser Zeit kam der große Pe Ontjes Lau eines Tages zu seiner Frau , die ihr wieder gesund gewordenes Kind aus dem Bett nahm , und sagte : " Du , ich glaube , ich muß mich an Dusenschöns Neubau beteiligen .
Es wird eine schöne , glänzende Sache . "
Sie ließ von dem Kind und sah ihn erschrocken an :
" Pe Ontjes , " sagte sie , " tu es nicht !
Ich bin mit allem einverstanden , was du für dich allein unternimmst und wenn es mir als das Waghalsigste schiene ; aber mit diesem Menschen mache keine Geschäfte . "
" Unsere Geschäfte greifen aber ineinander ! " sagte Pe Ontjes , schon unwillig über ihren starren Widerstand .
" Unsere Kunden sind dieselben Leute : erst kommen sie zu mir ; dann zu ihm .
Wächst sein Geschäft , dann wächst meins . "
Sie schüttelte halsstarrig und finster den Kopf :
" Wenn du es tust , so ist es aus mit uns . "
" Mit uns ? " sagte er , " was willst du damit sagen ?
Mit unserem Brot ? "
" Ja , " sagte sie , " und ... "
" Nun ... und ? " sagte er .
Sie schloß die Lippen und ihre Augen waren dunkel von ihren finsteren Gedanken :
" Es ist auch vorbei mit meinem Vertrauen zu dir .
Dusenschön ist ein schlechter Mensch . "
" Du bist die einzige in ganz Hilligenlei , die das sagt . "
" Das ist nicht wahr .
Der alte Thoms Jans traut ihm nicht , und der Maler Tor Straten und der Zimmermann Klausen .
Und da sind noch einige verständige Leute mehr .
Und wenn ich die einzige bin , so bin ich die einzige .
Ich ... ich laufe nicht hinter dem großen Haufen her . "
" Ihr Bojes habt alle miteinander einen Herzfehler , " sagte er .
" Ihr leidet an Herzerkältung . "
Sie schlug die Hände zusammen und sagte in großer Not : " Pe Ontjes !
Ich kalt !
Gegen fremde Menschen !
Aber gegen dich und mein Kind ?
Ich kalt ! "
Und sie riß ihr Kind an sich und bedeckte seine Brust mit heißen Küssen und weinte .
Da ging er in seine Schreibstube .
Nach einer Weile kam sie herein und sagte mit verhaltener Stimme :
" Du , Pe Ontjes , du bist ein Löwe ; du darfst nicht mit dem Fuchs unterwegs gehen .
Das ist eine alte Weisheit . "
Aber er war nun ganz widerwillig .
" Was ist dabei zu wagen ?
Er und ich können jeden Tag wieder auseinandergehen . "
Da fuhr ihr Zorn wieder hoch : " Ich will nicht , daß du in Dusenschöns Schlepptau bist ; und du kommst da hinein .
Du bist schon drin . "
Er lachte spöttisch .
" Wenn ich einen so großen Mann habe , so will ich , daß er stark und selbständig ist , sonst schäm ich mich .
Ich schäme mich schon lange und ich will mich nicht schämen . "
Sie stampfte mit dem Fuß auf und weinte :
" Ich will mich nicht schämen .
Ich kann nicht leben , wenn ich mich schämen muß . "
" Denn gehe nur , " sagte er trocken , " und schäme dich . "
Da wurde sie im ganzen Gesicht bleich und sagte : " Oh ! Ist das Hilligenlei ! " und wandte sich ab .
Auf der Schwelle wandte sie sich um und sagte mit unheimlicher , wilder Bändigung :
" An dem Tag , wo du mit Dusenschön Kompanie machst , gehe ich mit meinem Kind zu meiner Mutter und setze mich an die Strickmaschine .
Ich habe dich lieb , daß mir die Sinne vergehen ; dafür will ich , daß du mich in Ehren hältst . "
Damit ging sie .
Nun kamen und gingen drei schlimme Wochen .
Sie sprachen kein Wort miteinander .
Sie hauste in der Schlafstube und saß stundenlang auf ihrem Bettrand vor dem Kinderwagen und quälte sich mit ihrer Not .
Er war tags in der Schreibstube und im Schuppen , und lag nachts im schmalen Bett in der Kammer , die unter dem Dach ist , und konnte wegen unruhigen Gewissens nicht einschlafen ; und grübelte darüber , daß sie in ihrem Urteil über Dusenschön doch recht haben könnte , daß er aber jetzt nicht wieder zurück könnte , da er sich sonst vor ihr blamieren würde .
Zuweilen stöhnte er in Angst auf , daß er in einen gefährlichen Irrweg hineinginge ; zuweilen sehnte er sich heiß nach ihrer Nähe .
» Gott bewahre , « dachte er , » wie prächtig sah sie aus , als sie mir die Freundschaft kündigte ; und wie rührend , als sie aufweinte . «
So quälte er sich und dachte :
» Was soll ich tun ?
Ich kann dies nicht und kann das nicht . «
Und er wurde bitter und argwöhnisch gegen alle Menschen , und seine große , ruhige Seele lag mißmutig und krank wie in einer dunklen Höhle .
In der zweiten Woche reiste Tjark Dusenschön nach Berlin und nahm den Bürgermeister und den dicken Ratmann Suhlsen mit , um ihnen die Dachpappenfabrik zu zeigen .
Nach einigen Tagen kamen der Bürgermeister und Suhlsen mit weinroten Gesichtern zurück und erzählten im Klub von den bedeutenden Gebäuden und dem stattlichen Betrieb , den sie gesehen hatten .
Tjark Dusenschön war noch einige Tage in Berlin geblieben , wo eine Ausstellung von Lebensmitteln stattfand ; und speiste dort eine Kompanie Soldaten mit seinem Fabrikat : Schinken und Erbswurst .
Am Freitag meldete Heine Wulk in der Zeitung :
" Unser ehrlicher Mitbürger Herr Dusenschön bekam nach einer Depesche , die wir soeben erhielten , für seine ausgezeichneten Fabrikate eine hohe Anerkennung in Gestalt eines Lorbeerkranzes .
Nach diesem Erfolg wird Herr Dusenschön die geplante mächtige Erweiterung seines hiesigen Betriebes sicher vornehmen ; die Stadt aber wird nicht zögern , ihm entgegen zu kommen .
Wir dürfen übrigens wohl verraten , daß Herr Dusenschön am Sonnabend mit dem Abendzug wieder in Hilligenlei eintrifft . "
Am Sonnabend kam Tjark Dusenschön richtig an .
Der Bürgermeister , Ratmann Suhlsen und einige Mitglieder des Klubs waren am Bahnhof .
Heine Wulk und Jan Friech Buhmann standen mit seligen Gefühlen im Dunklen und sahen auf Tjark Dusenschön , der richtig den Lorbeerkranz im Arme hatte .
Draußen , als er die Stufen hinunterging , empfing ihn ein Teil der Handwerker-Liedertafel , welche der Wirt Birnbaum zusammengeholt hatte , mit dem Lied : " Kennst du das Land ? "
Dies Lied und " Heil dir im Siegerkranz " , waren die einzigen , in denen von Lorbeerkränzen die Rede war ; da hatten sie sich für das erste entschieden .
Einige hundert Leute , die da im Dunklen unter den Bäumen standen , riefen ein schwaches Hurra .
Die Hilligenleier waren in öffentlichen Huldigungen noch etwas unerfahren .
Tjark Dusenschön ging mit ernster , sorgenvoller Miene durch die Menge , und die Leute sagten : " Ja , der hat was durchzudenken ... jetzt ... das ist keine Kleinigkeit ! "
Die verbitterte Stimmung , in welcher der große Pe Ontjes steckte , richtete sich auch gegen Tjark Dusenschön .
Er fand den Lorbeerkranz unter allen Umständen , aber besonders für einen Wurstfabrikanten , sehr lächerlich .
Am Sonntag morgen stand er in dieser Stimmung vor seiner Tür , da kam zufällig der alte Suhlsen des Wegs , blieb breit stehen , und redete in großen , dicken Worten von Dusenschöns Reise .
Da fragte Pe Ontjes , nur um der Rede ein Ende zu machen :
" Was bedeutet es , daß Heine Wulk schreibt :
» Die Stadt müsse Dusenschön entgegenkommen ? « "
Da trat der alte , bierdumme Wichtigtuer näher an ihn heran und sagte , die Sache wäre diese :
Herr Dusenschön besitze zwar genügend eigenes Vermögen , um den Neubau und auch die Maschinen zu bezahlen ; er könne dies Vermögen aber erst nach Jahr und Tag flüssig machen .
Nun wolle der Magistrat den Vorschlag machen , daß die städtische Sparkasse zweihunderttausend Mark vorschösse , wofür Aktien der Dachpappenfabrik in gleicher Höhe bürgen sollten .
" Wir , der Bürgermeister und ich , haben uns ja die Fabrik genau angesehen und kennen den Betrieb .
Es ist ein gewaltiges zweistöckiges Gebäude mit einem mächtigen Schornstein und mit drei Arbeiter-Wohnhäusern , alles in bestem Stand und vollem Betrieb .
Das Papier ist freilich bei der Börse nicht notiert ; der Wert ist uns aber durch den vortrefflichen Stand der Fabrik und außerdem von einem angesehenen Berliner Geschäftsmann garantiert ; im übrigen meine ich : die Persönlichkeit des Herrn Dusenschön , seine Tatkraft und sein Genie deckt jede Summe . "
Diesen letzten Satz hatte der Bürgermeister erfunden ; er wurde seit drei Monaten im Domklub gehandhabt und jedem Fremden unter die Nase gehalten .
Aber Pe Ontjes , in seiner dunklen Höhle , konnte den Glanz des Satzes nicht sehen .
" Es ist gegen die Statuten der Sparkasse , " sagte er .
" Dem Buchstaben nach ! " sagte Suhlsen .
" Aber gesetzt den Fall , Herr Lau , wir weigerten uns .
Was dann ?
Sie wissen , daß hinter Herrn Dusenschön die Regierung steht ; und es ist bekannt , daß eine Nachbarstadt ihm ein sehr günstiges Anerbieten gemacht hat . "
Der Alte ging , und Pe Ontjes trat in sein Kontor , setzte sich auf die Kannte des Schreibtisches und versank in Sinnen .
" Gestern der Lorbeerkranz , und nun zweihunderttausend Mark ... "
Es war ihm so wunderlich zumute , so als hörte er , im fremden Land , ganz plötzlich den Klang einer alt vertrauten Stimme .
Und als er auf den Klang lauschte ... er wußte nicht , wie es geschah ... da ging er mit Tjark Dusenschön in die Schule ... die Pantoffeln klapperten , und der Schwamm an der Schiefertafel pendelte im Gehen , und die Schultür öffnete sich und sie saßen da in Reih und Glied , und Tjark Dusenschön war der letzte auf der ersten Bank und Mars Wiebers sagte ... was sagte er doch ?
.. .
" Die Augen von Tjark Dusenschön sind gut und seine Worte auch ; aber sein Tun ist jedesmal eine Überraschung , und zwar eine unangenehme . "
Und dann saßen sie in der Halbdunkeln Schmiede und Jan Friech brachte mit vollem Mund seine Weisheit an den Tag ; und Scheinhold stand am Blasebalg und wartete auf eine gute Gelegenheit , ein kurzes Wort zu sagen , und Kai Jans saß mit großen Augen , die Hände zwischen den Knien ; und Tjark Dusenschön ...
Tjark Dusenschöns Augen und Worte waren nichts als Lorbeerkränze ... nichts als Lorbeerkränze ... und dann , ja dann : " Ihr könntet mir einige Groschen geben ; Großmutter und ich haben heute abend nichts zu essen , " und dann irgendeine Überraschung , eine unangenehme :
Tjark Dusenschön erschien in einem neuen blauen Schlips oder einer alten roten Primanermütze oder so was .
Ja ... so war es gewesen .
Immer so ...
Als Pe Ontjes noch so saß , unter dem schweren Nachdenken ordentlich zusammengesunken , mit allen Sinnen in der Kinderzeit , da ging die Tür , und Tjark Dusenschön stand da .
Da sah Pe Ontjes auf , ganz in jenen Gedanken , ganz mit den Augen , die er als Junge machte :
" Du Lump , was hast du mit dem Geld gemacht ?
... "
Tjark Dusenschön sah den Blick , und wußte , wie es um ihn stand , und seine Augen wurden unsicher .
" Nun ... wie ist es ? "
" Mit dem Kompaniegeschäft ist es nichts ! " sagte Pe Ontjes , und seine flache Hand fiel schwer auf den Tisch .
Da sagte Dusenschön einige gleichgültige Worte und ging hinaus .
Der große Steuermann Lau von der Goodefroo setzte sich schwerfällig auf seinen Stuhl und fing wieder an , zu grübeln .
Verschwunden und versunken war die Kinderzeit .
Er saß und horchte .
Es war ihm , als wenn nun ein anderes kommen müßte , nämlich der helle Klang einer weichen Frauenstimme .
Aber der kam nicht .
Die Wohnstubentür wurde geöffnet und sie ging mit ihrem weichen , festen Gang über die Diele und summte .
Er nickte mit dem Kopf : " Aha ... sie hat gemerkt , daß Tjark Dusenschön abgeblitzt ist und singt schon das Siegeslied , und bildet sich ein , daß sie viel klüger ist als ihr Mann , und viel tatkräftiger , und Gott weiß was alles .
Und man muß größer sein als Anna Boje , sonst kann man nicht neben ihr existieren ! "
Und da er das dachte und sie in all ihrer wunderbaren Herrlichkeit vor seiner Seele sah , wallte die heiße Liebe so wild in ihm auf , daß er stöhnte .
Er sprang auf und fing an , schwer nachzudenken , ob er denn wirklich kein ganzer Mann wäre , ein Mann , der ganz und gar auf sich selbst steht , ganz und gar : ein Mann eigenen Blickes , eigenen Urteils , eigenen Tuns .
Und er fing an , sich in langem Sinnen und in schwerem Grübeln von Hilligenlei zu trennen und von allem , was darum und dran war , vom Bürgermeister und dem Domklub und dem ganzen Bürgerstand , und stand ganz allein auf dem Deich und sah die alte Stadt , und als ihren König Tjark Dusenschön , und als ihre Häupter jene verschlafenen oder eitlen Menschen , und er fühlte zum erstenmal etwas wie Liebe für sie und fürchtete für sie .
" Hilligenlei , " sagte er langsam und leise ...
" Wenn Tjark Dusenschön nun ein Betrüger ist und blamiert Hilligenlei vor dem ganzen Land ... ich will sehen , wie es mit Tjark Dusenschön ist ...
Ich will es heute noch wissen ...
Und dann ... wenn ich das weiß ... dann ... dann soll das Weib auf ihren lieben Knien , und mit Lachen und Küssen , Abbitte tun . "
Als er noch dabei war , sich in der neuen Klarheit , die in ihm und um ihn entstand , zurechtzufinden , kam der alte Thoms Jans vorüber , in seinem grauen Arbeitszeug , lehmbespritzt , den Spaten auf der Schulter , und in der Hand die blecherne Kaffeekanne , und sah mit seinen tiefversteckten Augen durch das Fenster .
Pe Ontjes öffnete und der Alte erzählte , er hätte einen Brief von Kai bekommen , der ihm nicht gefallen hätte .
" Da habe ich mir die Sache durch den Kopf gehen lassen ... ich schrape wohl soviel Geld zusammen ... ich wollte die Reise nach Berlin riskieren !
Er hat mich schon immer eingeladen .
Nun sage mir Mal : weißt du Mittel und Wege , wie ich dahinkomme ? "
" Das will ich dir kurz sagen , " sagte Pe Ontjes .
" Die Uhr ist sechs .
Punkt acht stehst du in deinem Sonntagsanzug , in der blauen Mütze und mit der kurzen Pfeife auf dem Bahnhof .
Ich bringe dich ganz hin ...
Wenn die Leute fragen , sollst du sagen , daß ich nur bis Hamburg mit dir fahre . "
" Bist nicht recht klug ? " sagte der Alte ganz beleidigt .
" Meinst du , daß ich mich in zwei Stunden zu so was entschließen und mich auch noch fertig machen kann ?
Vor morgen mittag ist nicht daran zu denken . "
" Du stehst Punkt acht auf dem Bahnhof !
Nun mache , daß du wegkommst . "
Der Alte stakte davon und schüttelte im Gehen immerfort den Kopf .
Ein wenig weiter verfiel er in einen kleinen Trab .
Pe Ontjes ging nach seinem Schuppen und ordnete noch einiges im Kontor ; dann , als es Zeit wurde , ging er in die obere Kammer , zog sein Seemannszeug an , und kam in die Wohnstube .
Da saßen Anna und Heinke da , und das Kind stand zu ihren Füßen .
Anna sah rasch und neugierig zu ihm auf , mit erwartenden Augen .
Aber er tat , als merkte er es nicht .
" Ich reise heute abend nach Berlin , " sagte er .
" Oh ! " sagte Heinke und fuhr auf .
" Nach Berlin ?
Dann gehe doch zu Kai !
Er hat mir einen so trübseligen Brief geschrieben .
Die Not , die er dort sieht , frißt ihm wohl noch das Herz ab . "
" Was willst du in Berlin ? " fragte Anna .
" Wegen Tjark Dusenschön ? "
" Ihr sollt sagen , daß ich nach Hamburg gefahren bin ...
Nun haltet gut Haus . "
Und er ging hinaus .
Da sprang Anna auf und kam ihm nach , als er eben die Haustür hinter sich zumachen wollte , und trat dicht an ihn heran und ihre Augen brannten .
" Hast du kein Wort für mich ? "
" Nein , " sagte er und schaute sie groß und kalt an , " kein einziges . "
Da trat sie zurück und ging stumm in die Stube .
* Am anderen Mittag stiegen die beiden wohlbehalten in Berlin aus dem Zug .
Der Alte , von den Jahren zusammengeschrumpft , saß tief in der blauen Sonntagsmütze ; gleich unter dem Tuchschirm funkelten die Augen .
Er bedankte sich erst bei dem Schaffner , daß er gut herübergekommen war , und lief dann im kurzen , steifen Trab , gewaltig rauchend , hinter Pe Ontjes her .
Als sie sich im Gasthof ein wenig besonnen hatten , gingen sie gemeinsam in die Friedrichstraße .
Von da wollte Pe Ontjes den Alten zu Kai nach der Brunnenstraße schicken ; aber der sah bedenklich auf all die Menschen und die Fuhrwerke und die himmelhohen Häuser und sagte : " Ich riskier es nicht ; ich will bei dir bleiben . "
Da gingen sie zusammen die Friedrichstraße hinunter , der große Pe Ontjes voran , hinterher der kleine Alte , immer in halbem Trab , stillstehend und wieder voreilend .
" Du , " sagte er , " es ist hier etwas lebendiger als weiland auf dem Feuerschiff in der Bucht von Hilligenlei .
Aber meine Frau hat offenbar einen ganz verkehrten Begriff von Berlin gehabt ; sie meinte , es wäre alles Samt und Seide ; aber ich sehe hier Hosen und Stiefel , ich sage dir : so heruntergekommen geht in Hilligenlei kein Mensch . "
Auf dem Potsdamer Bahnhof fanden sie richtig den Zug , der sie aus den Menschenwogen und aus den hohen Mauern heraus auf freies , mageres Feld brachte und nach einer kleinen Stunde in der Nähe eines kleinen Sanddorfes absetzte .
Sie gingen auf den Vorsteher los und fragten nach der Dachpappenfabrik .
" Dachpappenfabrik ? " sagte der .
" Ich weiß nicht .
Ich bin noch nicht lange hier . "
Und er rief einen Wärter .
" Ah !
... " sagte der ... " Jawohl !
.. .
Da ... hinter dem Wald , " und er sagte noch etwas ; aber sie verstanden ihn nicht , weil er ein Ostpreuße war .
Sie stiefelten los , immer tief in dem weißlichen Sand .
Pe Ontjes voran reckte den Hals und suchte den Schlot und die lange , zweistöckige Fensterreihe .
Sein Gang war stark .
Der Alte ging rauchend hinterher , ganz gemütlich , die Augen überall .
Sie erreichten die Höhe , aber sie fanden nichts als einen jungen , dürren Kiefern- und Tannenwald .
" Ich muß mich erst Mal hinsetzen , " sagte der Alte und setzte sich gemächlich auf eine Art von Wall , der am Weg entlang lief , holte Streichhölzer hervor und fing an , seine Pfeife wieder anzuzünden .
Pe Ontjes stieg auf den Wall , reckte den Hals und witterte wie ein Jagdhund .
" Kannst was sehen ? " sagte der Alte gemütlich .
" Steck den Wall man nicht an ! " sagte Pe Ontjes ärgerlich .
Der Alte saß und rauchte , wie wenn ein kleiner Landbäcker bäckt .
Und fragte nach einiger Zeit wieder : " Kannst was sehen ? "
Indem machte Pe Ontjes , der noch oben auf dem Wall stand , eine seiner mächtigen Bewegungen , daß der Wall auseinander ging und er hinunter rutschte .
Er sah verwundert auf seine Füße und sah , daß der vermeintliche Wall so was wie eine vermorschte Mauer war ; es lag da Lehm und Steingebrock durcheinander .
" Na nun ? " sagte er .
" Sieh Mal ! " sagte der Alte und deutete mit seiner Pfeife nach dem Verlauf des Walles .
" Sieh Mal !
Der geht ja merkwürdig viereckig durch die Kiefern ...
Na , ich weiß Bescheid ... "
" Ach ! " sagte Pe Ontjes verächtlich .
Der Alte schwieg wieder und rauchte :
" Weißt du , " sagte er dann , " weißt du ...
Wenn da ein Arbeiter in Hilligenlei ist , der da vierzig Jahre gewohnt hat , und will für die Ausbildung seines Kindes , oder für einen anderen guten Zweck , hundert Mark leihen , dann kann er von Pontius zu Pilatus laufen , und bekommt es nicht .
Aber es kommt der erste beste Lump und Windbeutel und sagt , er hätte irgendwo hinter Berlin im Sand eine halbe Million liegen , dem schenkt ihr ganz Hilligenlei und seine Ehre dazu . "
Pe Ontjes stand und pfiff , und hielt in Gedanken Ansprachen an verschiedene Leute , an Tjark Dusenschön , an den Bürgermeister , an Anna Boje und auch an Pe Ontjes Lau .
" Wollen wir hier noch lange sitzen ? " sagte der Alte .
Pe Ontjes sah einen Mann durch den Wald kommen und hob seine Stimme :
" Sagen Sie , war hier früher eine Dachpappenfabrik ?
Was ? "
" Nein ! " sagte der Mann ...
" Aber es sollte vielleicht eine werden . "
" Sagen Sie Mal , " sagte Pe Ontjes , " kennen Sie Tjark Dusenschön ?
Er ist an Leib und Beinen wie ein Gardist , aber der Kopf ist wie eine rundgeschälte Steckrübe und schmeckt auch danach . "
" Nein , " sagte der Mann verwundert ; " so was habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen . "
Da gingen sie nach dem Bahnhof zurück , und saßen da drei Stunden in Sonne und Wind auf einem Wall , der aber ein wirklicher Wall war .
Der Alte rauchte und brachte allerlei anzügliche Vergleiche hervor : vom Riesen Goliath , der etwas schwer von Verstand gewesen , und vom alten Bürgermeister Eli und vom langen Absalom , der an den Haaren hängen blieb .
Pe Ontjes hörte zu .
Zuweilen lachte er sogar auf .
Er dachte an den glorreichen Frieden , den er mit Anna Boje machen wollte .
Es war schon spät am Nachmittag , als sie wieder mitten in der großen Stadt waren und Pe Ontjes vor einem mächtigen Gebäude stehen blieb .
" Hier wart ein bißchen , " sagte er zu dem Alten .
" Dies ist das Ministerium für Bauten .
Ich will einmal fragen , was sich mit der Hafenrinne und mit ganz Hilligenlei machen läßt . "
Er wurde in ein Zimmer geführt , wo er zu seiner großen Verwunderung einen freundlichen grauköpfigen Landsmann fand , der ihn tüchtig ausfragte und zuletzt mit bedächtigem Kopfnicken entließ .
Als er wieder herauskam , stand der Alte unbeweglich auf derselben Stelle , dicht an der Mauer , die kaltgewordene Pfeife ganz fest in der Hand , als wäre sie seine einzige Bekannte unter all diesen fremden Erscheinungen .
So sah er mit tiefen Augen auf den Strom der Menschen .
Als sie aus der Friedrichstraße abbogen und in die öden , geraden Straßen des Nordostens kamen , wurden sie bedrückt .
" Nun sieh doch ! " sagte der Alte .
" Wenn du auf dem Deich von Hilligenlei stehst , was siehst du da ?
Du siehst Land und Sand , und das Meer bis England , und darüber den Himmel so weit , daß dir bange wird .
Aber drehe dich hier um :
was siehst du ?
Es muß einer einen schweren Stumpfsinn im Kopfe haben , oder eine eiserne Peitsche im Nacken , um in diesen tiefen Steinbrüchen zu hausen . "
Als sie in die Straße einbogen , in der Kai Jans wohnte , standen da auf dem Bürgersteig und an den Hauseingängen kleinere und größere Haufen von Männern , die lebhaft miteinander sprachen .
Jüngere , halbwüchsige Leute zogen in lauter Unterhaltung in Reihen nach den Wirtschaften am Ende der Straße ; Frauen lehnten hier und da aus den Fenstern ; blasse Kinder an den Haustürstufen sahen mit ernsten , altklugen Augen zu der Unterhaltung der Großen auf .
Die Helme einiger Schutzleute blinkten in der Ferne .
Der Alte hielt einen jüngeren Arbeiter an , der , die Augen an der Erde , seines Weges ging , und fragte , was das bedeutete , daß alle diese Leute nicht bei der Arbeit wären .
Der verstand die plattdeutsche Rede nicht und sah Pe Ontjes an .
Der wiederholte die Frage .
Da erzählte der Arbeiter in fremdartigem Deutsch , daß alle diese Leute und er selbst zu der Arbeiterschaft einer großen Kesselschmiede gehörten und jetzt streikten .
" Warum streikt ihr denn ? "
" Kurz zu sagen : der Mann will uns verbieten , daß wir einen eigenen Glauben haben ; er will nicht , daß wir alle offen gestehen , daß wir zur Arbeiterpartei gehören . "
" So ! " sagte der Alte und zwinkerte mit den Augen .
" Der meint denn , daß er mit seinem kleinen Wort die große Zeit aufhalten will , die durchaus und immer vorwärts will . "
Und er hob den Zeigefinger und zwinkerte wieder mit den Augen und sagte launig :
" Es wechselt der Gottheit lebendiges Kleid . "
Der Arbeiter lächelte :
" Das ist von Goethe . "
" Na , " sagte Pe Ontjes , " nun müssen wir aber weiter . "
Sie fanden die richtige Hausnummer und erstiegen drei schmale , dunkle , unreine Treppen .
" Müssen wir noch höher hinauf ? " sagte der Alte .
" Hörst du ?
Was ist das für ein Gemurmel und Gelärm ? "
" Da ist irgend etwas nicht in Ordnung , " sagte Pe Ontjes und stieg langsam weiter .
Oben standen links und rechts die Wohnungstüren offen .
Aus der Wohnung zur Linken kam Jammern und Reden von Frauenstimmen .
Vor der anderen Tür stand ein Arbeiter in mittleren Jahren ; er hielt seine Frau am Arm zurück und sagte : " Was willst du dir das Elend ansehen ?
Du kannst drei Nächte lang nicht schlafen . "
" Was ist hier ? " fragte Pe Ontjes .
" Ach ... " sagte der Mann , " hier wohnt eine alte Großmutter , deren Sohn war ein schlechter Mensch und ist im Zuchthaus gestorben .
Sie erzog seine beiden Kinder , ihre Enkel , die jetzt so fünfzehn bis siebzehn Jahr alt sind .
Nun sah die Alte , die eine sehr rechtliche und ordentliche Frau ist , daß die beiden Jungen durchaus den Weg des Vaters gehen wollten .
Sie arbeiteten als Lehrlinge in unserer Schmiede .
Da haben sie nun in diesen Tagen nichts zu tun gehabt und haben getrunken und haben mit einem kleinen Mädchen Unfug gemacht und haben damit vor der Alten geprahlt .
Das hat die alte Seele nicht ertragen können .
Sie ist eine rechtliche , ordentliche Frau und vom Lande , wo man so was nicht kennt .
Sie ist erst vor acht oder zehn Jahren vom Lande hierhergekommen .
Genug : als die beiden Jungen heute nachmittag von ihrem Rausch aufwachen und Kaffee verlangen , hat sie ihnen eine tüchtige Portion Rattengift hineingetan .
Nun liegen sie beide tot .
Die Polizei wird wohl bald kommen . "
Er ging in die gegenüberliegende Tür und sagte zu den Frauen , die sich im schmalen , dunklen Gange drängten : " Macht Platz ! " und sie sahen in die Stube .
Da lagen da in der ärmlichen , Halbdunkeln Stube auf dem Fußboden , neben dem Tisch , die beiden Knaben , in verlotterter Kleidung , vom letzten Schmerz gekrümmt , mit blaßblauen Gesichtern und Schaum vor dem Mund ; und am Fenster saß die alte , hagere , von ländlicher Feldarbeit gebeugte Großmutter in sauberer Kleidung , und strich mit den mageren Händen die Schürze glatt und sagte mit wunderlich ruhiger , eintöniger Stimme , so wie ein Gerichtsschreiber ein gleichlautendes Protokoll zum zehntenmal vorliest :
" Ihr Vater ist vierzig Jahr alt geworden und hat fünfzehn davon hinter eisernen Stangen gesessen .
Er hat mit schlechten Taten siebzig Menschen unglücklich gemacht und mit schlechten Worten siebentausend .
Das wollten diese beiden auch ...
Kommt die Polizei nicht ?
Ich bin eine alte , gottesfürchtige Frau , und muß wissen , was ich tu ' . "
Sie hob den Kopf wieder und sah die zehn oder zwölf Menschen , die sich am Eingang drängten , und sagte wie zu sich selbst :
" Ich fürchte mich vor keinem Menschen ... bloß vor Kai Jans . "
Pe Ontjes Lau wandte sich um und fragte den Mann , der neben ihm stand : " Was hat Jans damit zu schaffen ? "
Der Mann ging mit den beiden nach seiner Wohnungstür zu und sagte : " Ein gewisser Kai Jans hat früher schon zwei Jahre lang bei uns gewohnt und wohnt nun wieder seit über einem Jahr bei uns .
Er ist zwischen diesen Zeiten einige Jahre in seiner Heimat Pastor gewesen , hat aber keine Ruhe finden können .
Er ist so ein Mensch , wissen Sie ... es ist immer Weihnachtsabend in ihm , und die Menschen und die Dinge verderben ihm immer den Weihnachtsabend .
Er meint , es müsse viel mehr Glück in der Welt geben , und die Welt wäre nicht in Ordnung .
Und nun ist er hier , ob er den rechten Sinn der Welt finden kann .
Aber er kann ihn nicht finden .
Als er das erstemal hier war , als Student , da saß er abends bei uns , half meinen Kinder bei den Schularbeiten , stritt sich mit uns über Politik und Religion , und war frisch und gemütlich .
Er war noch ein rechter Junge damals , und hatte Augen , als wenn er alles zum erstenmal sähe .
Aber seit er zum zweitenmal wieder hier ist , redet er wenig , er sitzt da und fragt uns aus und grübelt .
Er fragt unsere Kinder aus , was sie denken und meinen ; er fragt uns Erwachsene nach unserem Glauben und unserer Politik ; er fragt die Alten , die meistens vom Dorfe sind , wie die Gutsbesitzer gegen sie gewesen sind und was sie damals geglaubt haben und was sie von der Kirche halten und wie ihnen jetzt zumute ist und so was .
Ich habe noch niemals einen Menschen gesehen , der mit so wenig Worten die Menschen zum Reden bringen kann .
Er ist meistens traurig und grüblerisch .
Bloß wenn er mit den Kindern spricht , wird er zuweilen munter ; aber es schlägt immer wieder und ganz plötzlich in Ernst um .
Neulich abends hatte er fünf oder sechs Kinder in seiner Stube und die Tür stand offen .
Da erzählte er ihnen lang und breit : wie ein Dorfjunge morgens in der Dämmerung aufsteht und mit seinem Vater eine Kuh wegbringt , und sie kommen über die Heide , und die Sonne geht auf über dem Wald ; und sie kommen durch Dörfer und durch eine kleine Stadt und sehen dies und das , und dann kommen sie beide auf einem anderen Weg zurück .
Dann geht der Junge einige Stunden in die Schule , wo sie alle durcheinander sitzen , Knaben und Mädchen , groß und klein ; und geht dann am Nachmittag mit seinen Kameraden an den Strand , und sie sehen weit übers Meer die fernen Segel , und knien und suchen Krebse und Quallen ; und abends sitzen sie vor den Haustüren ; und ehe sie zu Bett gehen , zieht noch ein Gewitter mit schwerem Wagenrollen übers Dorf .
Das alles erzählte er den Kindern und wir hörten von der Küche aus zu ; und zuletzt fragte er :
» Was sagt ihr nun dazu ?
War das nicht ein schöner Tag ? «
Da lachten die Kinder und sagten :
» Mensch ... meinst du , daß wir das glauben , was du uns erzählt hast ?
Das ist ja ein Märchen ! «
Da kam er aus der Stube zu uns in die Küche , ganz traurig und verzweifelt und sagte : » Seht , was ein Dorfkind alle Tage erlebt , das nennen eure Kinder ein Märchen ; in solchem Jammer sitzen sie ! «
Seine Stimme ging uns durch und durch ; ich sehe ihn noch , wie er das sagte ...
Sagen Sie , Sie sind bekannt mit ihm ?
... O ! " sagte der Mann plötzlich , " ich sehe es Ihnen an !
... Sieh doch , Mutter , dies ist der Vater von Kai Jans !
... Na : Nun kommen Sie aber hierher in seine Stube !
... "
Unterwegs sagte er :
" Sehen Sie , nun kennt er die beiden Jungen , die Toten drüben , seit sechs Jahren , und hat immer zu der Alten gesagt :
» Großmutter , verliere den Mut nicht , es wird doch noch was aus den Jungen . «
Aber sie hat den Mut doch verloren , und ich glaube ... mit Recht .
Es wird ein großer Jammer werden , wenn er kommt ...
Aber nun kommen Sie ; hier ist seine Stube . "
Er führte die beiden an seiner weinenden Frau und an den Kindern , die verschüchtert an der Küchentür standen , vorüber in die Stube .
Sie standen eine Weile still und bedrückt , und sahen sich in dem sauberen , kleinen Gemach um , das nach dem tiefen , trübseligen Hof hinausging , und wollten sich gerade , müde , ein wenig setzen :
da kamen mehrere Menschen die Treppe heraufgelaufen .
Heftige schreckhafte Worte erklangen .
Da sprang Pe Ontjes an die Tür : " Kai Jans ! " rief er .
" Hierher ! "
Aber der hörte nicht .
Als sie hinüberkamen , stand er da schon in der Tür und schrie :
" Großmutter !
Was hast du getan !
Alte , gute Großmutter !
.. .
Nun bist du eine Mörderin ! "
Die alte Frau saß noch immer in derselben ruhigen Haltung auf dem Stuhl am Fenster und strich die Schürze ; sie sagte auch jetzt ganz ruhig : " Nun ist es fertig , Kai Jans !
Dies ist viel sicherer als dein ewiges : Großmutter , paß auf , es wird noch alles gut ...
Sie wären nun ins Loch gekommen , und dann wieder heraus , und so immer weiter ; und ich hätte es nicht mehr hindern können .
Dies war der letzte Tag . "
Er lag vor den Kindern auf den Knien und streichelte sie :
" Die Menschen haben die Schuld ; sie wollten eurem Großvater und Vater kein Land geben ; sonst wäret ihr ernste Bauern geworden .
Sie gönnen euch nicht einmal eine Stelle zum Stehen ; von Mutter Erde heben sie euch weg , drei , vier Stockwerk hoch , da dulden sie euch .
Der Mensch aber , der nicht in der Erde wächst , der Mensch ohne Land , ist verwirrt und verweht . "
Er weinte laut auf .
" Wir haben nichts ... nichts ... keine Einigkeit , kein Vertrauen , keine Heimat , keinen Glauben , keine Liebe , keine Hoffnung .
Wir werden geschüttelt wie Korn im Siebe ...
Was ist es mit der Welt ?
Ich weiß nicht ein noch aus ... "
Da faßte ihn eine starke Hand an der Schulter :
" Du , " sagte Pe Ontjes laut , " du sollst mit uns . "
Kai Jans stolperte auf , als wenn ihn ein Engel Gottes riefe , und langte mit der rechten Hand aus , die von der Nacht bei Kap Horn noch gekrümmt war .
" Pe Ontjes ! " schrie er .
" Lieber Pe Ontjes , ...
Oh , da bist du , Vater !
Seht ... so ... so geht es mir . "
Da zogen sie ihn fort auf den Gang hinaus .
Da trat im Gang ein Mann an ihn heran , klein , schmal und dunkel , den Kopf ein wenig schwächlich zur Seite geneigt , und nahm ihn ein wenig beiseite .
" Gestatten Sie , " sagte der Mann sehr freundlich , " ich bin ein Verwandter Ihres Freundes ... "
" Ja , ich kenne Sie , " sagte Kai Jans , und riß sich auf und nahm sich zusammen .
" Wir haben uns einmal bei meinem Freunde getroffen .
Wir haben über Religion gesprochen .
Ganz richtig !
Sie sind katholisch . "
" So ist es ! " sagte der Mann .
" Ich soll Ihnen vorreden , daß Sie auf einige Jahre mit ihm unterwegs gehen .
Er geht nun wirklich im Herbst nach Südafrika ... "
Und er sagte in kurzen Worten Zweck und Dauer der Reise .
Dann wurde er ein wenig verlegen .
" Ich sehe , " sagte er , " daß Sie sehr bedrückt sind : darf ich noch etwas sagen ?
... Ich nehme an , daß Sie von unserem gemeinsamen Freunde wissen , daß ich aus einem kirchlich orthodoxen Hause bin .
Meine Mutter ist aus einem orthodox-protestantischen Adelshaus , mein Vater war katholisch-orthodox , wie ich auch bin . "
" Ja , " sagte Kai Jans ...
" Was wollen Sie mir sagen ? "
" Nun hat mein Vetter , Ihr Freund , oft mit mir über Sie und Ihr Grübeln gesprochen und gestern hat er mir Ihre letzten Briefe gezeigt .
Und da : zumal ich nun den Auftrag bekam , Sie hier aufzusuchen ... und da ich Sie in dieser Verfassung finde , spüre ich den Wunsch , den heißen Wunsch , Ihnen zu sagen :
» Lassen Sie das Grübeln !
Lassen Sie es !
Wir kommen doch nicht damit zum Ziel . « " Kai Jans fuhr unwillig auf .
" Ich bitte Sie ! " sagte der Fremde , indem er ängstlich und mit freundlicher Bewegung nach Kai Jans' Armen griff : " Ich habe als junger Mensch - ich bin jetzt bald fünfzig - auch eine Zeit des Zweifelns und Grübelns gehabt ; aber ich habe es aufgegeben .
Es nützt nichts .
Ich habe es mit beiden Händen von mir geschoben .
Ich habe zu meiner Seele gesagt :
Ich will nicht grübeln , ich will nicht erkennen !
Ich will glauben , was die alte , ehrwürdige Mutter Kirche glaubt und lehrt .
Und sehen Sie " - seine Stimme war weich und zitterte leise - " seitdem ich diesen Entschluß gefaßt habe , bin ich ein Mensch , der zu jeder Zeit aus all der Rauheit und Kälte und Sünde des Lebens hineintritt in den stillen , schönen , heiligen Dom aller Gnaden Gottes und der Heiligen . "
" Und nun ? " sagte Kai Jans .
" Ich bitte Sie herzlichst , " sagte der Fremde , " glauben Sie mir , daß ich nicht danach giere , einen Katholiken aus Ihnen zu machen !
Meine Mutter , die orthodoxe Protestantin , war glücklich in ihrem Glauben .
Ich will Sie nur bitten : so wie ein Küchlein unter die Henne , so tauchen Sie in dem alten Glauben Ihrer Kirche unter .
Glauben Sie an die Erlösung durch sein Blut .
Weicher und friedebringender ist allerdings der Mutterschoß meiner Kirche . "
Kai Jans schüttelte abwehrend den Kopf und sagte mit zugeschnürter Kehle :
" Sie haben recht : es ist ganz dasselbe , die katholische oder die protestantische Kirchenlehre : es ist ein Wust von veralteten Menschenmeinungen .
Wer sich ihnen unterwirft , mag wohl glücklich werden ; aber glücklich wie ein König , der seine Krone verschenkt hat und in der Nachtmütze fröhlich ist ; oder wie ein Soldat , der ohne Kokarde im pflicht- und rechtlosen Haufen sich wohl fühlt .
Ich ... ich für meine Person ... will dies Glück nicht .
Ich will den ewigen Mächten und all ihrem Grauen ins Gesicht sehen , und wenn es mir die Sinne verwirrt .
Es nützt nichts , daß wir miteinander reden . "
Da ging der traurig und still davon .
Da trat der Arbeiter in die Stube , der ihnen vorher auf der Straße die Auskunft gegeben hatte , faßte Kai Jans an die Brust und sagte : " Nun hast du unseren Jammer bis auf den Grund gesehen .
Nun räche doch die Toten !
Und die Kinder , die in den dunklen Höfen sitzen und nicht spielen !
Was war das für ein frommer Schleicher ?
Kai Jans , komme zu uns herüber . "
Kai Jans schüttelte verzweifelt den Kopf :
" Wie gerne ! " sagte er , " wenn ich es könnte !
Ich kann ja nicht !
Ihr habt ebensoviel Engherzigkeit und Ungerechtigkeit als alle anderen Parteien .
Ein Mensch , mit weiter , freier Seele , kann nicht Parteimann sein . "
Der junge Arbeiter sah ihn zornig an :
" Ohne Partei kannst du nichts erreichen .
Das weißt du . "
" Das ist nicht wahr , " sagte Kai Jans heiß .
" Die am tiefsten gewirkt haben , die haben zu keiner Partei gehört ; ihr gerechter Sinn ließ es nicht zu . "
" Komme zu uns , so hast du einen Grund , auf dem du stehst , und ein gutes Feld zur Arbeit ; und dein Vater würde sich freuen . "
" Nein , nein !
So will ich keinen Grund gewinnen und kein Arbeitsfeld ; das wäre kein heilig Land .
Ich kann keine Orthodoxie annehmen , weder eine politische , noch eine religiöse ...
Ich kann nicht ...
Sei nicht böse . "
" Mache ein Ende , " sagte Pe Ontjes stolz und steif , " komme mit uns . "
" Denn gehe ! " sagte der Arbeiter gutmütig und gab ihm die Hand .
" Was das Herz nicht will , muß man nicht tun .
Aber vergiß uns nicht . "
Da ging der auch .
Da packte Kai Jans zusammen , was er mitnehmen wollte , gab den Wirten ihr Geld und ging mit den beiden fort .
Die Wirte standen bedrückt an der Tür .
Es war nach Feierabend , als sie den Nordosten verließen und die Invalidenstraße entlang gingen .
Tausende von Arbeitern , Frauen , Kindern und Wagen füllten die Straße .
Zuweilen erschien es wie ein unordentliches , aufgelöstes Heer , das sich ordnen wollte ; dann wirrte es wieder hin und her , ziel- und zwecklos ; zu beiden Seiten standen die hohen , steilen Mauern und engten und quetschten den Zug .
Im Westen , in der hohen Ferne , leuchtete am weiten , freien Himmel die heilige Abendglut .
Kai Jans sah , wie sein Vater stillstand und staunend auf das mächtige Bild Menschenleben sah , und sagte traurig :
" Von diesen Tausenden sind nicht Hundert , die wissen , was der rechte Lebensinhalt ist .
Sieh , das Rot am Himmel !
Wie fern sind wir von Gott und von der Natur , und darum vom Glück . "
Sie gingen wieder die Friedrichstraße hinunter , aßen ein wenig im Stadtbahnbogen und saßen da lange und bedrückt .
Als sie heraustraten , war es Nacht .
Eine halbe Stunde später fuhren sie in die Nacht hinaus nach Hamburg zu .
Der Alte saß in der Ecke , als hätte ihn jemand hineingedrückt , und rauchte ; aber allmählich sank die Hand , welche die Pfeife hielt , auf die Knie , und der Kopf sank schlafmüde auf die Brust .
Pe Ontjes lag langausgestreckt auf der Bank und stritt sich im Schlaf mit Tjark Dusenschön und mit der Stadtvertretung von Hilligenlei und kümmerte sich in seinem Zorn gar nicht darum , daß Anna Boje ihn mit lachenden Augen immerfort schüttelte , daß sein Körper hin- und herfuhr .
Kai Jans saß und starrte vor sich hin und quälte sich mit den Ereignissen der letzten Wochen , die ihn so schwer erschüttert hatten , und mit all seinem vergeblichen Grübeln und Suchen von seinen Kindertagen an und dachte in seiner Seele :
Es ist alles aus und vorbei , sinnlos , zwecklos .
Was willst du denn nun tun !
Aus der Welt gehen , oder stumpf und dumpf weiter leben ?
Aber du kannst ja weder das eine noch das andere .
Ja , was denn also ?
Es gibt noch ein drittes !
Man kann irrsinnig werden !
Werde irrsinnig !
Werde irrsinnig !
Mensch , werde irrsinnig !
Steige in Hamburg aus dem Zug und sage zu den Leuten auf dem Bahnhof und in den Straßen :
" Menschenkinder , was lauft ihr so unruhig und so rasch ?
Was macht ihr für sorgenvolle Gesichter ?
Was sind eure Kinder so blaß und ernst , warum gehen sie nicht hin und spielen im Wald ?
Warum müht sich eure Jugend und hat keine Blumen im Haar ?
Was wohnen so viele von euch in schrecklich dunklen Höfen ?
Was habt ihr für große Gefängnisse und Irrenhäuser ?
Was ist mit euch ?
Seid ihr verrückt ?
Wißt ihr denn nicht , daß die ganze Welt rund um Hamburg heilig und selig ist ?
Seht doch um euch , macht doch die Augen auf !
Seht ihr nicht :
Rund um euch ...
Alles heiliges Land ?
... "
Aber als seine Seele so wohl eine Stunde lang dem furchtbar tiefen Abgrund entlang ging , vom schweren Trank der Not trunken und irre , erbarmte sich die Natur und ließ ihn in einen tiefen Schlaf verfallen .
Und im Schlaf sah er ein lichtes , freundliches Bild .
Es kam ein Vogel geflogen , groß und hell , und lang wie ein Reiher , mit mächtigem , aber sanftem Flügelschlag , der sagte zu ihm : " Setze ' dich auf mich ; ich will dir etwas Schönes zeigen , daß du fröhlich wirst . "
Und sogleich , wie er sich auf ihn gesetzt hatte , war ein Gefühl von Freiheit und fröhlicher Erwartung in ihm , und bald , indem sie über Länder und Meere flogen , als wären es Felder und Teiche , kamen sie zu einer bewaldeten , hohen Bergkette und ließen sich auf der Höhe nieder .
Und sein Begleiter sagte : " Siehst du es ? "
Und als er aufsah , sah er ein weites Land , waldreich , mit sanften Hügeln , und eine frische Luft zog hindurch wie Odem Gottes und breite , sonnige Häuser lagen an den Rändern der Wälder zerstreut in Gartenland und es gingen Menschen in den Gärten , stark , mit blitzenden reinen Augen und auf den Stirnen hohe friedvolle Gedanken .
Als er noch so hinuntersah , in fröhlichem schönem Sinnen , hörte er eine Stimme neben sich und sah überrascht auf und erkannte den alten wunderlichen Matrosen , mit dem er einst vor sechzehn Jahren von Vancouver aus drei Tage ins Land gefahren war ; und nun sah er auch , daß das Land , das er hier sah , dasselbe war :
" Sieh ! " sagte der Alte :
" Du solltest das heilige Land einmal sehen , weil du so herzlich darum gegrübelt hast . "
Damit verschwand das ganze Bild .
Er hat es auch nie wieder gesehen , weder im Wachen noch im Traume .
Es war ihm aber für die kurzen Jahre , die er noch lebte , eine heimliche Quelle der Stärkung .
Dreiundzwanzigstes Kapitel Als die drei im Abenddunkel - der Mond stieg gerade hoch - auf dem Bahnhof von Hilligenlei anlangten , kamen der Bauunternehmer Klausen und der Maler Tor Straten und zwei andere jüngere Geschäftsleute , welche frische Männer waren und sich von den Älteren und dem ganzen Klubtreiben ferngehalten hatten , auf Pe Ontjes zu und fragten ihn heimlich , woher er käme .
Sie hatten sich bisher , ganz wie Pe Ontjes , um die Stadt und ihre Verwaltung gar nicht gekümmert , sondern nur an ihre Geschäfte und Familien gedacht ; aber seit gestern waren auch sie mißtrauisch geworden .
Da sagte ihnen Pe Ontjes alles .
" Da haben wir_es ! " sagten sie .
" Und er hat geahnt , daß du ihm auf der Spur bist , und hat sich die Zweihunderttausend heute schon auszahlen lassen . "
" Wo ist er ? " sagte Pe Ontjes .
" Er sitzt im Klub , wenn er nicht schon über alle Berge ist . "
" Ich gehe in den Klub , " sagte Pe Ontjes rasch .
" Sucht ihr ihn anderswo . "
Er sah sich auf der Straße um .
" Wir müssen mehr Leute haben , ihn zu suchen .
Wo sind Leute ? "
Einige Leute , auch Frauen und Kinder , liefen im Trab vorüber , die Straße hinauf nach dem Hafen zu .
" Was haben die Leute ? " sagte Kai Jans .
" Ja , " sagten die anderen , " was mag los sein ?
Wir sahen schon vorhin , wie einige Leute heimlich und wie unsinnig nach dem Hafen zu liefen . "
Da rannte der Schlosser Nagel vorüber und sie riefen ihn an :
" Hierher , Meister !
Wohin , Meister ? "
Er wandte sich im Lauf und rief : " Wißt ihr es noch nicht ? "
Und sagte etwas von Dusenschön , was sie nicht verstanden , und lief weiter .
Gleich darauf kam ein großer Junge , der , die Pantoffeln in der Hand , auf Strumpfsocken an ihnen vorüber stieben wollte .
Pe Ontjes ergriff ihn im Nacken :
" Jung , was ist los ? "
Er entriß sich ihm mit einem Ruck und rief : " Dusenschön hat das Goldschiff ausgraben lassen ... im Dänensand ...
Eine Million ist schon gefunden . "
" Hört ihr ? " sagte Pe Ontjes .
" Ach du liebe Zeit ! "
Aus der Wirtsstube des dicken Bütt kam lautes Johlen und Schreien .
Man hörte die Namen : Bürgermeister und Dusenschön .
Laute Hochrufe wurden ausgebracht . Hin und her aus den kleinen , spitzgiebligen Häusern eilten Menschen hervor , Haustüren schmetterten , Frauen riefen und liefen hinterher .
Der lahme Schuster Hagel kam auf seinem Tretwagen vorüber :
" Eine Million ! " schrie er , und warf sich mit Macht in die Speichen .
Die Alte von Tiden , deren Kinder alle verkommen sind , kam aus ihrer Haustür und band sich im Gehen die große , blaupunktierte Schürze um .
" O , wenn doch meine Kinder hier wären !
Nun werden wir alle reich ! "
Als sie ans Ende der Hafenstraße kamen , stand Stiena Dusenschön unter dem Fenster von Rieke Thomsen und drehte sich und wedelte und zierte sich und lächelte .
Sie war nun über siebzig alt .
" Die arme Mutter ! " sagte Kai Jans .
" Habt ihr schon gehört ? " rief sie mit hoher , singender Stimme .
Rieke Thomsen streckte den großen , dicken Kopf heraus und erkannte die beiden .
" Nun ? " sagte sie höhnisch .
" Pe Ontjes ?
Kai Jans ?
Glaubt ihr jetzt , daß Tjark Dusenschön heilig Land zustande bringt ?
Ich habe es immer gesagt . "
" Du hast immer recht gehabt ! " rief Pe Ontjes ...
" Wo ist Tjark Dusenschön ?
Wir haben noch einen Lorbeerkranz für ihn . "
" Der höhnt uns noch ! " sagte sie in hellem Zorn .
" Aus euch beiden wird nie was !
Nichts !
Gar nichts ! "
In der Seilerstraße und auf dem Burgplatz brachen die Leute aus den Wirtschaften heraus und beredeten mit angetrunkenen Stimmen , ob sie nach dem Dänensand hinaus wollten .
Einige beschlossen , nach dem Klub zu gehen und Dusenschön zu feiern .
" Komme , " sagte Pe Ontjes .
" Ach , " sagte Kai Jans , " laß mich jetzt nach Hause gehen .
Ich möchte nicht mit nach dem Klub .
Ich habe von Kindheit an zu all diesen Leuten hinauf gesehen und ich tue es fast noch .
Es ist nicht schön , Könige im Schmutz zu sehen . "
" Bier- und Kartenkönige , " sagte Pe Ontjes .
" Es tut dir gut ; komme mit . "
Als sie dem Klubhaus näher kamen , hörten sie schon von ferne lautes Brüllen .
Sie gingen hinein und öffneten die Tür und sahen in dem dichten Tabaksgewölk die fünfzehn oder zwanzig Mitglieder an der Tafel sitzen ; vor ihnen standen die großen , vollen Gläser .
Auf dem Tisch , und auf den Borden rings umher , lagen und standen allerlei kindische Stiftungen : Becher , Sammelbüchsen , ausgestopfte Vögel , billige bemalte Statuetten , alles ohne Sinn und Verstand durcheinander , häßlich und verrückt wirkend .
Mitten auf dem langen Tisch stand ein großes Schwein von Holz mit einem Wurstkranz um den Hals .
Der Klub hatte es sich in geheimer und außerordentlicher Sitzung zu seiner und Dusenschöns Ehre aus der gemeinsamen Kasse gestiftet .
Über dem Stuhl Tjark Dusenschöns hing der Lorbeerkranz , den er von Berlin mitgebracht hatte .
Er selbst war nicht mehr da .
Daniel Peters stand auf seinem Stuhl , trotz seiner sechzig Jahre in schneidiger Haltung , von oben bis unten nichts als Eitelkeit , und war in seiner Rede gerade unterbrochen worden und konnte nicht durch den Lärm dringen .
Doktor Winsing drang mit seinem lachenden Bierbaß durch :
" Nun sage Mal , Bürgermeister :
ihr könnt es jetzt ja gerne gestehen :
du und Suhlsen , seid ihr wirklich und wahrhaftig bis Berlin gekommen ? "
" Sage Mal , Suhlsen , wieviel Stockwerk hat die Fabrik ? "
Alle lachten und schrien durcheinander :
" Suhlsen sagt zwei , der Bürgermeister sagt drei . "
" Sie sind am Donnerstag abend in Hamburg bei Pforte gesehen worden ...
Wann sind sie denn in Berlin gewesen ? "
" Wo bleibt denn Dusenschön ? "
Daniel Peters strich den langen , schönen Schnurrbart :
" Meine Herren ... "
" Weiter ! "
" Wir wußten ja , was wir von Herrn Dusenschön zu halten hatten , so daß die Reise nach Berlin allerdings höchst unnötig war .
Aber ich und unser allverehrter Ratmann sind doch nach Berlin gefahren , in treuer Pflichterfüllung , und haben alles genau besehen . "
Er strich wieder gedankenvoll den Schnurrbart und sagte sehr ernst :
" Meine Herren ... ich weiß wohl , daß dieser Raum nicht der offizielle Mittelpunkt der Stadt Hilligenlei ist , und daß man hier nicht die offiziellen Ehren verteilt ... meine Herren , die werden im Sitzungssaal unseres altehrwürdigen Rathauses vergeben ; aber - und hiermit sage ich eine allbekannte Wahrheit - dieser Raum umschließt oft , und in dieser Stunde wieder , die Intelligenzen der alten Stadt Hilligenlei .
Darum sollen die Ehren , die in diesem Raum verliehen werden , nicht gering geachtet werden . "
" Sehr gut ...
Weiter ! "
" Ich habe Sie , meine verehrten Herren und Freunde , mit der Tatsache bekannt zu machen , daß der Domklub in Hilligenlei , am 30. März 1848 gegründet , dessen Vorsitzender zu sein ich zurzeit die Ehre habe : den Herrn Dusenschön , Inhaber der Wurstfabrik - im Vertrauen gesagt : im nächsten Jahr die größte in ganz Deutschland - , einstimmig - ich muß es wiederholen , um den Geist dieser Versammlung zu kennzeichnen - zum Ehrenmitglied ernannt hat . "
Es gab ein gewaltiges Jubeln , ein lautes Durcheinanderrufen .
" Das finde ich nun allerdings großartig . "
" Das macht dem Klub nun wieder Ehre .
Das muß man sagen . "
" Das ist echt Hilligenlei .
Kein einziger Nörgler . "
Sie schüttelten sich gegenseitig mit ernst-frohen Mienen die Hände .
Der Kornhändler Lau kam wirklich zur unrechten Zeit .
Er drang hitzig durch den Rauch und die erhobenen Biergläser an den Tisch und sagte :
" Wo ist Dusenschön mit dem Geld ?
Wo ist er mit dem Geld ?
Ich bin in Berlin gewesen ...
Es ist alles Schwindel . "
Sie verstanden ihn nicht .
Der erste Amtsrichter , der sich jeden Tag Volltrank und sein schönes und hohes Amt verlotterte , legte seine beiden Hände fest um seinen Stammkrug , stand auf und sagte mit stumpfen , blöden Augen und würdiger Mine :
" Herr Lau ... unsere Statuten verbieten , daß Leute ohne Einführung ... "
" Was ist ?
Was will er hier ? "
" Ich bin in Berlin gewesen , " sagte Pe Ontjes wütend .
" Es ist alles Schwindel .
Verstehen Sie das Wort oder nicht ?
Es gibt gar keine Dachpappenfabrik .
Es ist alles Betrug und Schwindel .
Verstehen Sie das ? "
Der alte schwere Suhlsen stand auf und starrte mit entsetzten Augen auf Pe Ontjes und sank gleich in sich zusammen auf seinen Stuhl und sein Kopf fiel schwer auf den Tisch .
Das rote Gesicht des Bürgermeisters wurde leichenblaß .
" Bürgermeister ... du ... "
Sie schrien alle durcheinander .
" Was ist das nun ?
... Suhlsen !
... Bürgermeister ... Ihr seid doch da gewesen . "
" Verdammt noch Mal ... so rede doch , Mensch !
Hast du die Fabrik gesehen oder nicht ?
Bist du in Berlin gewesen ? "
" Nur nach Hamburg , " sagte Daniel Peters .
" Bis Pforte ... " und drehte sich um und stand unschlüssig an seinem Stuhl , die Augen an der Erde .
Jene jüngeren Bürger , die Pe Ontjes auf dem Bahnhof empfangen hatten , und einige andere drängten in die offene Tür ; Wirt und Kellner und Leute von der Straße drängten nach .
Einer von ihnen sprang an den Bürgermeister heran und stieß ihn vor die Brust und schrie ihn an wie einen Schlafenden :
" Wo ist der Schuft ?
Blamiert sind wir vor dem ganzen Land . "
Doktor Winsing , der seit seinem Examen niemals wieder in ein Buch seines Faches hineingesehen hatte , ein ganz unbegabter , geistloser Mensch , aber mit einem sicheren Maul , rief breit dazwischen :
" Wir verbitten uns solche Sprache gegen ein Mitglied unseres Klubs , solange die Dinge nicht klar sind . "
" Verbitten ? " sagte Pe Ontjes .
" Was seid ihr denn ?
... Wir haben zu euch hinaufgesehen .
Zu dem Magistrat und den Studierten , und der eine der Herren Pastoren ist ja auch hier .
Aber was sind Sie ?
... "
Er wußte nicht , wie er es sagen sollte .
Kai Jans sagte : " Die ganze Stadt sieht auf euch , Männer und Frauen und Kinder , weil ihr in Amt und Ehren steht ; sie meinen alle , ihr seid inwendig etwas .
Aber ihr zieht euren Gehalt und erfüllt notdürftig und ohne Geist euren Beruf .
Ihr solltet stolze und wache Leute sein , Licht und Segen für die Stadt .
Heiliges , reines Land sollt ihr daraus machen .
Ja , das sollt ihr ! "
Der alte Suhlsen wurde hinausgetragen .
Dann und wann trat ein Handwerker an den Bürgermeister heran und schalt ihn .
Zuletzt faßte der Wirt ihn an und zog ihn in die Nebenstube und schlug die Tür hinter ihm zu .
Dort saß er lange zusammengedrückt in der Ecke , und wenn einer an ihn herantrat , sah er stumpf auf und sagte : " Schneide mir den Bart ab ... schneide mir den Bart ab ... "
Er hatte wohl das Gefühl , daß er an seinem Bart , als an seiner Eitelkeit , zugrunde gegangen war .
Pe Ontjes und Kai Jans gingen , Tjark Dusenschön zu suchen .
Im Burggarten wollte Kai Jans weggehen .
" Laß mich nun nach Hause gehen , " sagte er , " ich habe nun gestern und heute Not genug gesehen . "
" Du kommst mit , " sagte Pe Ontjes zornig .
" Wir wollen an Tjark Dusenschön heran . "
" Ich mag nichts mehr sehen , " sagte Kai Jans mutlos , " ich habe alles gesehen , was es in der Welt Trauriges und Schreckliches gibt .
Was soll ich noch das Gesicht von Tjark Dusenschön sehen ? "
" Komme mit , es tut dir gut nach all deinem Grübeln . "
Als sie in die Seilerstraße einbiegen wollten , kam ihnen ein kleiner , altmodischer Wagen entgegen .
Im Schein des Mondes sahen sie , daß der Fahrer sein hageres Bauerngesicht auf sie wandte und sie scharf ansah .
Als sie die Straße schon ziemlich weit hinuntergegangen waren , sagte Pe Ontjes plötzlich :
" Du , der Bauer kam mir verdächtig vor ...
Horch ... wo fährt er hin ? "
Sie standen still und horchten und hörten den Wagen die Hafenstraße hinunterrollen .
" Hörst du ?
Er fährt nach der Fabrik hinunter .
Komme , wir wollen sehen , wo er bleibt . "
Sie eilten nach der Fabrik hinunter und sahen , daß sie wie gewöhnlich erleuchtet war , und man hörte arbeiten und das Schreien von Schweinen .
Sie sahen sich verwundert um .
Irgendwo mußte der Wagen doch sein .
Da entdeckte Kai Jans ihn .
Auf dem Deichweg hielt er .
Die dunkle Maße des Deiches erhob sich hinter ihm und verdeckte ihn .
Sie gingen an den Wagen heran und Pe Ontjes sah scharf hinauf und sagte leise : " Bahne Voß von Krautsiel ?
Auf wen wartest du ? "
" Das geht niemanden etwas an , " sagte Bahne Voß und lächelte harmlos .
" Du bleibst hier ruhig halten und sagst keinen Ton , " sagte Pe Ontjes leise , " sonst fällt dir meine Faust aufs Maul .
Du Kai : Gehe in die Fabrik und sieh , ob er da ist .
Vielleicht jagst du ihn mir in die Hände . "
Kai Jans ging nach dem Schuppen hinüber und suchte in den Halbdunkeln Räumen vergebens das Kontor .
Da ging er hinter dem Schweinegeschrei her und kam in einen langen Gang , der an den Ställen hinlief .
Da sah er da im Schein des Mondes einen ungeheuer langen Menschen , der gebückt , polternd und stolpernd , hinter einem Schwein her lief .
Und er erkannte Jan Friech Buhmann .
" Was machst du hier ? " sagte er .
" Was machst du hier ...
Rennst mit dem Schwein hin und her , und kneifst es in den Schwanz und haust gegen die Verschalung ? "
" Ach ! " sagte Jan Friech und wischte sich den Schweiß von der Stirn ...
" Ach ... du bist es , Kai ! "
" Was bedeutet dies ?
Sage es mir doch !
Wo ist Tjark Dusenschön ? "
" Ach , " sagte er jämmerlich und atemlos .
" Kai ! Ich weiß nicht ein noch aus .
Ich laufe hier seit drei Tagen und laufe mir die Lunge aus dem Hals .
Meine Frau meint , ich sitze bei Krautsand und fange Aale .
Er hat keine Schweine mehr und kein Geld mehr , glaube ich , der arme Mensch , und steht und wühlt mit seinen Leuten im Dänensand , Geld zu schaffen . "
" Mensch , " sagte Kai Jans , " es ist ja alles nicht wahr .
Es ist ja alles Schwindel . "
Jan Friech setzte sich schwer hin :
" So , " sagte er , " alles Schwindel ?
... Alles Schwindel ...
Wo ist er denn ? "
" Wir wissen es nicht .
Wahrscheinlich flüchtig . "
" Du , Kai ... er ist doch ein großartiger Mensch .
Ein großartiger Mensch !
Er ist dir und Pe Ontjes weit überlegen , weit ...
So !
... Alles Schwindel !
... Alle Achtung , Kai ! "
" Sage ' bloß , wo er ist ? "
" Vor einer Stunde war er im Kontor .
Wo er jetzt ist , weiß ich nicht .
Es kamen Leute vorbei , die schrien von Dänensand und von Totschlag .
Da hat er sich denn nun wohl irgendwo versteckt ...
Ich habe doch immer viel von ihm gehalten .
Ich muß sagen , er hat mir von allen Menschen am meisten Freude gemacht . "
" Komme mit zu Pe Ontjes . "
Pe Ontjes stand am Wagen und wartete vergebens .
Da kamen einige Leute vorüber , erkannten die Stimme von Pe Ontjes und riefen :
" Wir haben ihn !
In der Brandtwiete haben wir ihn gestellt und nach dem Rathaus gebracht .
Und ihm das Geld abgenommen !
Es liegt schon wieder in der Stadtkasse .
Ihn selbst haben wir laufen lassen . "
" Wie war ihm denn zumute ? " fragte Kai Jans .
" Er war ziemlich ärgerlich , das könnt ihr glauben ; aber im übrigen unverfroren .
Er fürchtet bloß , daß er Prügel bekommt , und ist wahrscheinlich zu Fuß unterwegs nach der nächsten Bahnstation . "
Da ging Pe Ontjes mit Kai Jans und Jan Friech nach dem langen Haus zu .
" Ich muß sagen , " sagte Pe Ontjes , " mir tut leid , daß ich ihn nicht zu sehen bekomme . "
Er ging nach dem langen Haus hinauf und fand die Tür von Stiena Dusenschön offen , ging hinauf und kam gleich wieder heraus :
" Die Wohnung ist leer . "
Sie gingen wieder auf die Straße hinunter und redeten darüber miteinander , wo er wohl sein könnte .
Da sah Jan Friech von ungefähr nach seiner Schmiede hinüber , und sah , daß die Tür , die einen Spalt hatte , vorsichtig und sachte angezogen wurde ...
" Ach Gott ! " sagte er leise , " ich weiß , wo er ist ! "
Und ging auf die Tür zu .
Da saßen im Mondenschein , der in die westlichen Fenster klar hineinschien , ganz deutlich zu sehen , auf dem alten , verfallenen Wagenkasten von Vollmacht Nissen , den sie einmal verlost hatten , Tjark Dusenschön , und neben ihm seine Großmutter , die alte Stiena .
Und Daniel Peters , der Bürgermeister , saß ihnen gegenüber auf einer umgestülpten Schiebkarre .
Und Tjark Dusenschön redete vor ihnen , mit seinen blanken , treuen Augen .
Kai Jans fuhr heiß auf ihn los : " Was willst du nun ?
Sage mir ... was denkst du nun ?
So elend gehst du wieder in die Welt hinaus . "
" Elend ? " sagte Tjark Dusenschön erstaunt , und griff mit den Händen in die großen , ehrbaren Klappentaschen ...
" Ach , Mensch ... du bist zu dumm . "
" Schlag ihn ins Gesicht ! " sagte Pe Ontjes .
" Das ist ganz verkehrt , Pe Ontjes , " sagte Jan Friech und setzte sich auf den Amboß .
" Er kann nichts dafür .
Sein ganzes Unglück ist , daß er Brutto und Netto verwechselt .
Das tat er schon als Junge . "
" Vergeßt nicht , " sagte Tjark Dusenschön gleichmütig und ruhig , " daß ich Ehrenmitglied des Domklubs bin . "
" Was hast du nun von einem solchen Leben ? " sagte Kai Jans in großer Not .
" Was denkst du ?
Wozu bist du auf der Welt ? "
" Was meinst du ? " sagte Tjark Dusenschön ...
" Nimm es mir nicht übel , Kai Jans , du bist ein Narr ...
Man muß Geld nehmen , wo man es kriegen kann , das ist doch klar . "
Pe Ontjes fürchtete , daß der Mensch wieder anfing ihm zu imponieren und sagte :
" Komme , Kai , wir wollen gehen ! "
" Aber was bist du denn ? " rief Kai Jans mit heißem Drängen .
" Was treibt dich um , und was willst du in der Welt ?
Tjark , sage mir doch !
... Du bist doch ein ernster Mensch . "
Tjark Dusenschön sah mit mildem Lächeln und leisem Kopfschütteln zu ihm auf : " Armer Kerl ! " sagte er .
" Du bist ja förmlich in Not um mich !
Was weiß ich von mir selbst ?
Es macht mir Spaß so ! "
Er horchte hinaus ...
" Es ist still jetzt ... ich will gehen .
Ich wollte dem Pack nicht in die Hände fallen . "
Als sie wieder in den hellen Mondschein hinausgingen , sagte Kai Jans müde und ganz bedrückt :
" Nun laß mich , Pe Ontjes !
Ich habe genug von dem Jammer . "
" Nein , " sagte Pe Ontjes verbissen , " komme mit !
Wir wollen sehen , wie es in der Stadt aussieht .
Wir müssen es durchfechten , Kai .
Immer auf die Wahrheit und Wirklichkeit los ; immer dicht heran ; und wenn sie ein Gesicht hat , wie des Teufels Großmutter . "
Als sie den Burggarten wieder erreicht hatten , kamen viele in Scharen die Westerstraße herauf , vom Dänensand zurück .
Sie hatten erfahren , daß alles Schwindel war , tobten und schrien und lachten durcheinander .
Von allen Seiten , aus allen Häusern und Straßen kam Türgeklingel , wirre Rufe und eilende Menschen .
Der große Pe Ontjes lachte .
" Lache nicht , " sagte Kai Jans .
" Wie kannst du lachen , wenn deine ganze Heimat sich in solcher Erniedrigung zeigt ? "
" Was geht mich Hilligenlei an ? " sagte Pe Ontjes wild .
" Frau und Kinder !
Das andere ist mir alles gleichgültig . "
" Sage ' nicht so ! " sagte Kai Jans .
" Sage ' nicht so !
Sie sind unsere Brüder und Schwestern .
Wenn wir das nicht denken , wüten wir gegeneinander wie wilde Tiere . "
" Ach , Brüder und Schwestern ! "
Da sahen sie einen Mann vom Kastaniengang herkommen und erkannten im Mondschein Piet Boje .
Er war von Hamburg herübergekommen , um einen halben Tag bei seiner Mutter zu sein .
Nun hatte er Heinke zu Anna gebracht , damit die an diesem wirren Abend nicht allein wäre , und wollte nun nach dem Bahnhof und mit dem Nachtzug nach Hamburg zurück .
Er wußte alles , was geschehen war , und sagte : " Man wird nun in Zukunft nicht mehr sagen dürfen , daß man von Hilligenlei ist " ; und ging in Gedanken neben ihnen her nach dem Bahnhof zu .
" Wenn es das wäre ! " sagte Kai Jans .
" Aber höre und sieh : all diese Menschen ! "
Es liefen wohl hundert oder zweihundert Menschen von allen Seiten auf die Bahnhofstraße zu .
Man hörte das Getrabe der Schritte und häßliche Scheltworte ; dazwischen klang rohes , trunkenes Lachen .
" Höre , " sagte Kai Jans , " wie sie lachen !
Sie ahnen nicht , daß sie Wahnsinnige des Lebens sind ! "
Piet Boje hob die Schultern und sagte gleichgültig kalt :
" Das sind wir ja alle , Kai .
Sollen wir überhaupt etwas anderes sein ? "
" Du bist doch immer ein glücklicher , sicherer und klarer Mensch gewesen , " sagte Kai Jans .
Da lachte Piet Boje rasch auf .
" Ach ! " sagte er , " Jung und frisch bin ich gewesen !
Ich habe Freude am Klettern gehabt !
Aber seit ich oben bin ...
Dies Getriebe auf unserer Werft , Tag für Tag ; heute eine Verbesserung versuchen , morgen eine verwerfen ; mehr leisten als andere Werften , als andere Völker ; dazu die unzufriedenen Arbeiter ; und die Schleicher und Streber !
So Tag für Tag .
Das ist ja alles zwecklos . "
Sie waren in der Nähe des Bahnhofes angekommen .
Im Schatten der schwarzen Steinkohlenschuppen standen große Haufen Menschen und lauerten lautlos , daß Tjark Dusenschön oder der Bürgermeister den Weg zum Bahnhof kämen , um über sie herzufallen .
" Weißt du , " sagte Piet Boje , " es gibt glückliche Menschen . "
" Wo ? " sagte Kai Jans rasch und sah ihn an .
" Menschen mit einer fixen Idee !
Du mußt ein Mensch werden mit einer fixen Idee , dann kannst du glücklich sein .
In den Irrenhäusern , die Menschen mit glücklichen , fixen Ideen , die sind glücklich !
Und die sich zu irgendeiner besonderen Sekte halten !
Ich habe das in unseren Werkstätten beobachtet , und in London .
Zum Beispiel die Leute von der Heilsarmee : die sind glücklich .
Siehst du : schaffe dir eine fixe Idee an , so bist du glücklich . "
" Ja , " sagte Kai Jans , heiße Not in den Augen .
" Du hast recht ... wir sind ja auch noch nicht fern von der Zeit , da die Menschen wie dumpfe Tiere waren .
So leben wir nun noch nicht von Erkenntnis , sondern von Einbildungen und fixen Ideen .
Ich ...
Piet !
... Ich wollte , ich hätte eine solche fixe Idee , eine fixe Idee für alle Menschen , eine große und weite und herrliche ... eine , die uns näher zum Lichte brächte , zur Erkenntnis . "
" Gute Nacht ! " sagte Piet Boje und lachte laut auf und gab ihnen die Hand und ging .
" Nun sieh , " sagte Pe Ontjes .
" Nun sieh ! "
Ein großer Haufen betrunkener Bürger hatte das hölzerne Schwein vom Tisch des Domklubs weggenommen und an einer Stange befestigt und trugen es durch den klaren , schweigenden Mondschein , und gröhlten .
Es waren Männer darunter mit grauen Köpfen , auch einige vom Domklub .
Die im Schatten des Schuppens standen , kamen hervorgebrochen und vereinigten sich mit ihnen zu einem großen , lärmenden Haufen , der den ganzen Platz erfüllte .
" Sieh ! " sagte Pe Ontjes und warf seine Hand nach dem Haufen hin :
" Das ist dein Hilligenlei !
... Das ist das ganze Volk und die ganze Menschheit .
Da hast du sie ! "
" Du , " sagte Kai Jans mit fremder Stimme und faßte nach seinem Arm , als sollte er fallen .
" Du , lieber Pe Ontjes ! du bist ein einfacher Mensch ; aber du stehst von deiner Kindheit an ... so sicher im Leben ... "
" Mein Junge ! " sagte der Kornhändler Lau verlegen :
" Ich ... sicher ?
... Anna Boje und ich werden hin- und hergerissen von Zorn und Liebe ...
Es fehlt uns , wie allen Menschen : Steuerruder und Kompaß . "
Da ließ Kai Jans seinen Arm los , und sagte mutlos , und man merkte , wie ein Grausen durch seine Seele ging : " Kein Mensch weiß etwas !
Kein heilig Land !
Kein Gott !
Alles wirr !
Wirr ! "
Vierundzwanzigstes Kapitel Am anderen Vormittag lief Pe Ontjes zu Heinke und erzählte ihr , daß Kai Jans da wäre ; versprach ihr ein altes , goldenes Schmuckstück , das seiner Mutter gehörte , und sagte : " Du bist ein kluges und schönes Mädchen , und bist seine Freundin .
Ich bin nicht klug genug für ihn , und Anna wird gleich ungerecht .
Gehe hin und tröste ihn . "
Da dachte sie :
» Das trifft sich gut , daß der andere vier Wochen Ferien hat und über alle Berge ist : so kann ich mich mit dem lieben , armen Menschen abgeben .
Es ist mir ja leicht , zu trösten ; denn ich sitze im Glück .
O , das liebe Beterlein ! «
Und sie ging zu Mutter Lau , und erreichte , daß sie das Schmuckstück sofort ausgeliefert bekam , pflückte im Garten noch eine rote Nelke und steckte sie in den Gürtel .
Und ging nach dem langen Haus .
Er saß in der Wohnstube an dem runden Tisch , an dem alle Janskinder getauft waren und an dem sie alle gegessen und ihre Schularbeiten gemacht hatten , und starrte in stummem Brüten auf das Meer hinaus .
" Komme , " sagte sie , " wir wollen auf den Deich hinaus . "
Er stand auf und schüttelte ihr die Hand .
" Ich bin ein schlechter Begleiter für dich , Kind . "
" Sei still , " sagte sie ; " Pe Ontjes hat mir alles erzählt .
Komme mit ! "
Auf der Höhe des langen Seedeichs , der gerade ins Meer hineinläuft , legte sie mit einer lieblichen , zutraulichen Gebärde ihren Arm in den seinen und ging so mit ihm .
Der Westwind wehte ihnen entgegen .
Er wehte ihr Kleid zurück .
Die Sonne schien zur Linken .
" Du ... als du Primaner warst , hast du mir einmal erzählt , daß deine Vorfahren aus dem Geschlecht der Markmannen wären .
Da oben , auf den Windbergen , hätten sie gewohnt und wären von da in die weite Marsch hinabgezogen und wären Bauern gewesen . "
" Zuletzt wurden sie Arbeiter in Hilligenlei , " sagte er , " und der Letzte wurde ein Grübler und Nichtsnutz und hat in der Heimat kein Land , kein Recht und keine Stadt . "
Sie ließ seinen Arm fahren , riß mit sprühenden Augen ihre Jacke auf und sah ihn an :
" Du hast keine Stelle in der Heimat ?
Hat deine Heimat etwas Schöneres als ein schönes Mädchen ?
Hier hast du eine Stelle !
Meinst du , daß es leicht ist , durchzusetzen , daß jemand hier wohnt ?
Oder wäre es dir wertvoller , wenn zehn alte Bauern sich vor dir verbeugten , dazu der dicke Turm von Hilligenlei ? "
Er sah sie verwundert mit glänzenden Augen an :
" Wie anders bist du geworden ...
So lieb und so weich . "
» Ja , « dachte sie , » das Beterlein ! «
Die Sonne schien und der Wind wehte .
Sie gingen weiter in das graufunkelnde Meer hinein und sie drückte in ihrer Güte seinen Arm gegen ihre weiche Brust .
" Das beste von meinen drei Kleidern habe ich angezogen .
Hast du schon gesehen ?
Und hast du schon die Blume gesehen ?
Und das Schmuckstück ?
Alles nur um dich fröhlich zu machen . "
Er sah sie wieder mit großen Augen an .
" Dein Mund war früher ein wenig klein , " sagte er , " aber jetzt ist er stark und breit geworden ; und deine Augen sind dunkler und milder geworden .
Deine Augen waren früher wie zwei zehnjährige , helle Mädchen , die im Winde Ball spielen ; jetzt ... jetzt sitzt da eine junge Mutter und spielt mit ihrem Kind . "
» Das hat das Beterlein getan , « dachte sie , » mit seiner süßen Liebe !
... Sei still , meine Seele ...
« " Was redest du ? " sagte sie ...
" Ich bin zweiundzwanzig , das ist es . "
" Weißt du , " sagte er , und lächelte bitter über sich selbst :
" Als ich ein junger Student war und du noch ein Kind , da hatte ich eine Zeitlang den heimlichen Gedanken , daß du einmal meine Frau werden solltest .
Gott sei Dank , daß ich den Plan nachher fallen ließ , und daß es bei der Freundschaft geblieben ist .
Was für ein langer Brautstand wäre das gewesen !
Was für ein schwerblütiger Bräutigam !
Und zuletzt hätte er gesagt :
» Ich bedauere , Heinke Boje , ich habe kein Brot und keine Gedanken für dich ! « "
" Sei nicht traurig , " sagte sie .
" Über dreißig Jahre alt , " sagte er , " und noch immer unwissend , ob irgendwo in der Welt ein Platz ist , wo ich zu brauchen bin ...
Die anderen nimmt Gott an die Hand und führt sie auf irgendein Feld , und sei es noch so klein und sagt : » Da Bau du dir ein Häuslein , und baue deinen Kohl . «
Mich aber hält er zum Narren .
Er hat kein Feld für mich , sondern will , daß ich ein Jäger bin , daß ich im Gestrüpp und Moor suchen muß , ein wirrer Jäger , nach einem edlen , fabelhaften Wild . "
Da wurde sie mutlos und schwieg und kehrte wieder um und dachte : » Heute habe ich verspielt . «
An der Schleuse , die schwer durch das Wasser rauschte , gab sie ihm die Hand und sagte mit zuckendem Mund :
" Du bist mir lieber als Mutter und Geschwister .
Wenn du nicht fröhlich bist , kann ich nicht glücklich sein , und schenkte man mir , ich weiß nicht was .
Ich komme morgen und immer wieder , bis du lachen kannst . "
Tränen standen plötzlich in ihren Augen ; sie wandte sich rasch und ging fort .
Am anderen Morgen kam sie wieder , in demselben blauen Kleid , und mit der roten Nelke und ging wieder mit ihm auf dem Deiche , dem Meer zu .
Und das Meer lag in weitem , graugrünem Mantel , und ein schimmernder Gürtel ging ihm quer über die Brust .
Und in der Marsch dehnte sich Feld an Feld : schwergrünes Gras und helle Kornfelder und in der Ferne baumdunkle Höfe und Dörfer .
Ins Land hinein aber streckten sich weit und sanft die Höhen und trugen auf ihrem Rücken Felder und Wälder und Dörfer .
" Sieh doch , " sagte sie und sah rund um sich , " wie schön deine Heimat ist !
Kann es dich nicht fröhlich machen , daß du ein Kind dieses Landes bist , in dem seit Jahrtausenden so viele tapfere Menschentaten geschehen sind ?
Und du bist jung und klug und gesund dazu .
Deine Heimat und deine Jugend müssen dir predigen , daß du tapfer ausschaust , wie du etwas Gutes vollbringst . "
" Vor zwei Jahren , " sagte er in Sinnen , " habe ich mit dir darüber gesprochen , daß ich eine Arbeit angefangen hätte .
Ich wollte in einem Buch zeigen , wie in diesen unseren Tagen , in allen großen Volkssachen ein anderer Wind aufkommt , wie ein Morgenwind .
Überall ein Vorwärtswollen , ein frisches Ändern , ein mutiges Besseren , ein Weiserwerden , ein Gerechtseinwollen .
Ich wollte dann weiter forschen , woher dieser Wind wehe und welche Segel wir , die Wachen im Land , aufziehen müßten und wohin wir steuern müßten .
Also wollte ich ein Lied von deutscher Wiedergeburt singen .
Ich war auch schon fleißig bei der Arbeit und hatte Freude daran und hoffte auf Frieden .
" Aber dann kam der Streik .
Ich hatte viel zu laufen und zu reden und zu helfen .
All das Mißverstehn , all das Hassen , all die unsinnigen Gedanken in den Menschenköpfen standen wie dunkle , wirre Gewalten um mich und bedrängten mich .
Und dann der grauenvolle Tod der beiden Knaben , und gestern meine Heimat ein Narrenhaus .
" Heinke ... ich weiß jetzt :
All unser bißchen Ändern und Besseren und Vorwärtswollen ist wirr , ist kleinlich , ist nichts und wird nichts ; darum : weil der Untergrund unseres Lebens falsch ist ; darum :
weil wir kein rechtes Weltgefühl , keine rechte Religion haben .
Uns fehlt ein guter , reiner Glaube , Heinke .
Ein Glaube , der vor uns herzieht wie eine lichte Heroldserscheinung , ein Glaube , dem alle klugen und tapferen Menschen zustimmen .
Sieh , wenn wir einen solchen Glauben hätten , dann würde uns all das andere von selbst zufallen .
Da , am Grund des Menschenlebens , am Glauben :
da muß unsere Wiedergeburt anfangen .
" Aber wo soll man diesen neuen Glauben finden ?
Keiner kann sagen , wo er ist .
Und die ewige Macht gibt ihn uns nicht .
Es ist schrecklich , wenn man Gott bittet :
Zeige mir ihn , schenke mir ihn !
Sieh , ich brauche ihn und mein Volk , sonst bleibt das Herz zerrissen : und er ... er sieht einen an mit seinen stummen , ruhevollen Augen , immerzu mit seinen ruhevollen Augen ...
Ich kann nur mit dir darüber reden .
Du bist mir wie alles Reine und Liebe in der Welt . "
Sie sah ihn an mit Augen , die voll von Tränen waren .
» Ach , « dachte sie , » wie gerne küßte ich ihm Hände und Augen . «
" Wein nicht , " sagte er .
" Freue dich doch , daß du nichts mit mir zu schaffen hast . "
Sie kehrte um und ging stumm neben ihm .
Sie wußte bei ihrer Jugend nicht , was sie ihm antworten sollte .
Als sie Abschied nahm , sagte sie :
" Weißt du noch , wie du mir aus der Südsee die Früchte mitbrachtest ?
Das ist das wichtigste Ereignis in meiner ganzen Jugend .
Und wie du mir bei meinen Aufsätzen halfst ?
Immer warst du lieb mit mir .
Darum stehst du mir viel näher als Mutter und Geschwister , und ich Ruhe nicht eher , als bis du fröhlich wirst . "
In dieser Nacht grübelte und betete sie heiß bis Mitternacht um Hilfe .
Es war aber ein gewaltiges Beten ; denn dies Geschlecht betet selten und stark .
Am Morgen , als die Frühe noch heilig war , kam sie wieder .
Er kam ihr schon aus der Tür entgegen und ging mit ihr .
Der Wind wehte stark und stoßweise .
Die Frühsonne stand klar über dem fernen Waldrand , schräg überm Wodansberg .
Und auf dem Wodansberg , der den Vätern schon als ein heiliger Berg erschien , auf der Kuppe zwischen den niedrigen Eichen und den Hünengräbern saß in der frischen Morgenfrühe ein Bote dessen , den man nicht fassen und nennen kann .
Die glänzenden Füße im Heidekraut , vornübergebeugt , sah er mit seinen leuchtenden Augen auf die beiden Menschen , die da auf dem Deich gingen , klar sichtbar vor dem hellen Schein des Meeres .
Es waren aber seine Augen so scharf , daß sie zwei fliegenden Pfeilen glichen , die im Fliegen glühn .
Sie gingen stumm nebeneinander ; der Wind warf ihr Kleid zurück und bog jedes Glied ihres Körpers .
Und es kam ein Schwalbenpaar von den Hügeln hergeflogen und flog dicht an ihren Knien vorüber .
Sie griff danach und stieß den leisen Ruf aus und sagte in einem Atem , wie Vorwärtsgestoßene :
" Du sagtest gestern , es fehlte unserem Volk und unserer Zeit ein heilig Land , darauf zu stehen ; und darum eine innere , sichere Freudigkeit des Lebens und des Willens .
Sage mir : Hat es wohl jemals in der Welt einen Menschen gegeben , der auf solch heiligem Lande stand und darauf fröhlich war und Schönes erntete ? "
Er blieb stehen und sah sie groß an .
" Ja , " sagte er , " ich denke , der Heiland stand darauf . "
" Ja , " sagte sie , " ich denke , er stand da nicht als schlichter Mensch , sondern in göttlicher Kraft ? "
" Ja , Kind , " sagte er traurig , " wer weiß das ?
Sein wirklich Bild ist bald nach seinem Tode und dann immer mehr , übermalt und übergoldet worden .
Nun sind ja freilich viele fleißige Gelehrte , seit hundert Jahren schon , an der Arbeit , aus der dicken Übermalung sein wirklich Bild herauszubringen .
Und sie haben besonders in den letzten zwanzig Jahren viel erreicht .
Ich kenne den größten Teil dieser Forschung .
Aber zur Klarheit sind sie , soviel ich sehe , nicht gekommen . "
Er sah grübelnd vor sich hin und sagte dann zögernd und sinnend :
" Als ich Pastor war , freute ich mich an seiner köstlichen Weisheit und Güte und predigte darüber ; und dachte , es wäre gleichgültig , ob er ein wenig Wunderwesen war oder ein schlichter Mensch .
Das ist ja auch gleichgültig ... nein ... es ist nicht gleichgültig ... nein . "
Das Schwalbenpaar flog rasch , mit kurzem , süßem Laut dicht an Heinke Bojes Knie .
Sie griff danach und rief und hob den hellen Kopf und sagte rasch : " Das sollte gleichgültig sein ?
Das ?
Es ist nichts Notwendigeres auf der ganzen Welt , als daß in dieser Sache Klarheit ist .
Solange da keine Klarheit ist , ist das heilige Land ein unsicherer und schwankender Besitz , die Gemüter der Menschen fahren unruhig von einer Meinung zur anderen , und allerlei Kirchenglaube und Priesterwille hat falsche Gewalt über die Menschen .
Es gibt nichts Notwendigeres in der ganzen Welt , als daß über das Wesen des Heilands Klarheit ist . "
Er hatte unruhig zugehört und sagte langsam und unsicher und wie suchend :
" Ja ... da hast du wohl recht !
Wenn es möglich wäre , " sagte er langsam , in schweren , arbeitenden Gedanken , " unter der Goldvermalung sein wirkliches Leben zu finden , und es ergäbe und erwiese sich , daß er ein Mensch war , ein schlichter Mensch , und man könnte das Tiefste seiner Seele zeigen , das heilige Land , auf dem er stand und auf dem er seine herrlichen Ernten gewann ... ja ... und man könnte dann also sagen :
Nun kommt , alle Menschen : seht hier , hier stand ein Mensch , ein Mensch wie wir , auf heiligem Land und war glücklich und fröhlich , kommt her , alle Menschen kommt :
wir wollen uns auf dies heilige Land stellen und wollen bauen an der Wiedergeburt unseres Volkes !
... Aber sieh ... es geht nicht ...
Die Urkunden sind zu dürftig .
Ich glaube nicht , daß man seine Seele und sein Leben noch findet .
Nein , ich glaube nicht ...
Und also werden die Kirchen immer , immer herrschen , und damit der Irrtum . "
Da flogen die Schwalben mit hellem Ruf dicht an ihre Knie .
Sie bückte sich und griff und rief sie und die Schwalben strichen scheu an ihrer Hand vorüber und sie redete wie Vorwärtsgestoßene , es leuchtete voll und schwer in ihren grauen Augen .
" Du sagst , es haben viele vorgearbeitet und bedeutende Tatsachen stehen jetzt fest , jetzt ?
Kai Jans !
Wage du es doch !
Mit deinen Kinderaugen und mit deinem heißen , wilden Herzen : durchsuch die Forschungen !
Mal du ein Bild vom Heiland ! "
Er schlug entsetzt gegen seine Brust :
" Ich ? " sagte er , " ich ?
ich armer , ungelehrter Mensch ? "
" So einer , wie du , muß es tun , " sagte sie .
" Ein armer , ungelehrter Mensch ...
Du ... hast du nicht in armer , harter Jugend mit eigenen und mit deines Vaters Augen in viel Menschennot hineingesehen ?
Du hast sonderliche Augen von Gott bekommen ; von deiner Kindheit an sagen sie von dir , daß du die Menschen und die Dinge nackend siehst .
Oder hast du Furcht vor dem , was die Menschen sagen werden ? "
Er schüttelte rasch den Kopf .
" Ich habe schon lange verlernt , " sagte er , " nach Menschenmeinung zu fragen .
Aber ich sage dir , es ist eine schreckliche und schwere Arbeit .
Mache das ferne , fremde , wunderbare Dasein wieder lebendig !
Gott bewahre mich :
Wie soll ich das tun ! "
Sie faßte seinen Arm und sah ihm mit ihren schönen , ernsten Augen ins Gesicht : " Wage es !
Fange morgen an !
Es mag dir gelingen oder nicht .
Sei du einer von den vielen , die an ihrem Teil bereit stehen , der Menschheit zu helfen , bis ein Besserer mit mächtigerer Hand in die Speichen greift .
Fange morgen an , Kai !
Such Hilligenlei ! "
Sie hatte ihn zum Stehen gebracht und schüttelte seine Arme .
" Hilf , Kai Jans !
Ein Stück zur Wiedergeburt deines Volkes tu du , und fürchte dich nicht . "
" Ich fürchte mich nicht , " sagte er ...
" Glaube ' doch das nicht .
Versuchen will ich es .
Du hast eine süße , wunderliche Gewalt über mich , als wenn ein Engel Gottes mich bezwingt . "
Da ließ sie seine Hände los und rief die Schwalben und ging mit ihnen nach Hilligenlei zurück .
" Sieh ! " sagte sie ... " siehst du die weiße Wolke dort am Wodansberg ?
Wunderbar , wie sie weggleitet .
Als wenn sie lebendig ist . "
Er kehrte sich rundum und sah die weite , breite Welt , und sah das Mädchen an .
Sie ging ruhevoll und sicher und sah mit schönen , ruhigen Augen über die Hügel hin .
" Du bist die Herrin von dem allen , " sagte er .
" Natürlich ! " sagte sie .
" Meer und Wind , und Heide und Hügel können nicht das tun , was ich eben getan habe . "
Sie kehrte sich um :
" Wo sind nun meine Schwalben ? "
" Sie haben dir wacker geholfen , " sagte er .
" Sie sind nun fortgeflogen ...
Ein Narr bist du . "
" Gehe nach Haus und sei fleißig , " sagte sie und nickte .
" Ich muß jetzt auch an meine Arbeit gehen . "
Fünfundzwanzigstes Kapitel So begann nun Kai Jans , in der blau gekalkten Kammer im langen Haus , mit Zittern und Bangen , in den Evangelien zu suchen , wo Hilligenlei wäre .
An jedem Nachmittag kam sie in ihrem fußfreien , dunkelblauen Wollkleid und klopfte ans Fenster .
Dann sah er verwirrt von den Büchern auf mit einem Gesicht , als wenn da ein unglaubliches Wesen aus dem Hafenpriel gekrochen wäre und die Stirn gegen das Fenster drückte .
Dann ging er mit ihr und war schweigsam .
Selbst wenn er neben ihr ging , war er bei der Arbeit .
Wenn sie ihn fragte , wie es vorwärts ginge , schüttelte er den Kopf und sagte :
" Mein Freund hat mir alle wichtigen Bücher geschickt , die über den Gegenstand erschienen sind ; es sind fast lauter Bücher von deutschen Universitätslehrern .
Die meisten kenne ich schon ...
Es ist ein buntes und schweres Unternehmen ; ich kann mir nicht denken , daß etwas Sicheres herauskommt .
Aber ich bin dir doch dankbar , daß du mich zu dieser Arbeit gebracht hast .
Wenn ich die alte , heilige Königsquelle auch nicht wieder zum frischen Sprudeln bringe - sie ist zu tief versunken und verschüttet - so ist es schon eine Freude , in dem heiligen Hain zu arbeiten , der im Laufe der Zeit rund um sie gewachsen ist . "
" Siehst du ? " sagte sie .
" Ja , Heinke Boje ! "
Und sie nahm seinen Arm und erzählte ihm von ihrer Kindheit , als sie ihm Blumen hatte bringen wollen und hatte es nicht gewagt .
" Nun habe ich dir ein feines Blümlein gebracht . "
Und dann erzählte sie von ihrem Tun und Treiben .
Aber sie sagte kein Wort davon , daß sie den ganzen Sommer hindurch an jedem Abend auf eines Mannes Schoß gesessen hatte , und daß sie an jedem zweiten Morgen , nach der Weise der Bojekinder auf dem Rand ihres Bettes sitzend , einen Brief von diesem Mann mit heißen Wangen und strahlenden Augen las .
Davon sagte sie nichts .
So ging es durch drei Wochen .
Als sie im Anfang der vierten Woche an einem schönen , hellen Septembertag den Deich hinauf kam und ans Fenster klopfen wollte , fand sie ihn nicht wie sonst in den Büchern vergraben , sondern er stand und sah mit sonderbar ruhigen Augen ins Meer hinaus .
Er kam gleich heraus mit frischeren Bewegungen , und sagte mit einem Ausdruck von Erregung , indem er ihren Arm umfaßte :
" Du ...
Es wird deutlich ...
Es ist kein Zweifel .
Ich kann dir nicht sagen , wie wunderlich mir zumute ist .
Es wird immer klarer :
es ist ein wunderbar tiefes , reines und tapferes Menschenleben .
Es ist rührend vom Anfang bis zum Ende : in seinem Glauben , in seiner Güte , in seinem stolzen Siegwollen und nicht Siegkönnen , in seinem Irren und in seinem Untergang .
Ich glaube , er geht in keinem Punkt über Menschenmaß hinaus .
Es ist ein Drama , und Engel erleben kein Drama .
Komme , wir gehen bis ans Meer .
Ich will versuchen , ob ich dir etwas davon erzählen kann .
Du mußt mich fragen , wenn dich etwas verwundert :
so wird mir alles klarer .
Ach du , Heinke Boje !
Sieh , ich habe ja keinen Menschen , mit dem ich hierüber reden kann . "
Da fing er an und sie hörte genau zu .
Oft stockte er und merkte , daß da noch eine Lücke war .
Oft machten ihre einfachen , natürlichen Fragen ihn stutzig und zeigten ihm , daß er über eine Stelle zu rasch hinweggeurteilt hatte .
So trieben sie es tagelang .
Ihr war alles neu und verwunderlich , was er erzählte , und sie staunte sehr und war froh .
" Ich will noch nichts hinschreiben , " sagte er , " ich will es noch immer wieder , und ganz nüchtern und ruhig , überlegen .
Ich will ihn ganz schlicht nach den Urkunden darstellen , und da , wo diese versagen , will ich vorsichtig nur die notwendigsten und kürzesten Verbindungslinien ziehen .
Es soll kein Wort da stehen , das nicht dreimal überlegt wäre . "
Im Anfang September versuchte er , mit der schriftlichen Aufzeichnung zu beginnen ; aber es zeigten sich überall Schwierigkeiten .
Er mußte gleich wieder tagelang in den Urkunden und in den Büchern der Forscher suchen .
So ging es wieder durch Wochen .
Er schrieb noch immer nichts nieder .
Das Wetter wurde regnerisch und er machte die Gänge auf dem Deich allein .
Sie kam abends , und fand ihn still und gedankenvoll .
Während sie noch da war , kam sein Vater von der Arbeit , aß nach seiner Gewohnheit in der Küche , auf dem Herd sitzend , und kam dann herein , zündete die kleine Pfeife an und setzte sich zu ihnen .
Dann saß Kai Jans da , noch in Gedanken versunken und hörte nur halb , was der Vater von Menschen und Menschenschicksal erzählte , und sah dabei auf das schöne , ernste Frauenantlitz .
So sitzt der Mann nach heißer Tagesarbeit am stillen , ruhigen Waldsee und freut sich seines schönen , tiefen Spiegels und hört über sich die alte , hohe Eiche im Winde reden von allem , was sie gesehen hat .
Das junge Weib aber sah ihn an und dachte in stillem Sinnen :
» Was für ein ernster , ruhiger Mensch ist er jetzt !
Er wird mir nun immer lieber .
Wenn ich den anderen nicht so lieb hätte , wäre ich in schrecklicher Not , daß dieser mich nicht verlangt .
Über die Maßen schön muß es sein , von ihm geliebt zu werden .
Aber nun ist es so , daß er mein Freund ist , und ich bin glücklich . «
Je weiter er in das wunderbare Menschenleben eindrang , desto schwerer wurden die Entschlüsse und desto schwerer seine Seele .
Tagelanges , trübes Regenwetter kam hinzu .
Es quälten ihn schwere Sorgen : wie er mit seiner Arbeit viele gute Menschen vor den Kopf stoßen würde , und wie vielleicht von Natur Rohe , die bisher vor dem ewigen Gottessohn eine heimliche Furcht gehabt hatten , nun ohne Furcht ganz ins Böse geraten würden .
Zuweilen , besonders in der Nacht , wenn die mühselige , unsichere Arbeit und ihre Sorgen ihn weckten ...
Regen und Wind schlugen schwer gegen das Fenster ... packte ihn wildes Mißtrauen und heiße Angst :
" Du irrst , du irrst !
Er war doch ein ewiges himmlisches Wunderwesen .
Weh dir , du machst dich ewiger Sünde schuldig . "
Und mitten in der Nacht hieß es :
" Komme , stehe auf !
Die beiden Größten deines Volkes stehen vor der Tür und wollen mit dir reden ... Siehst du , was macht Vater Luther für ein zorniges Gesicht :
» Gehst du in deinem Glauben über mich hinweg wie über eine Treppenstufe ? «
. . .
" Ja , das tu ich ! " ...
" Sieh , wer steht da hinter Martin Luther ?
Der Alte von Weimar ist da !
Er spottet über dich : » Ach , gib dir keine Mühe !
Du schmilzt nicht zusammen , was nicht zusammenpaßt : Christentum und deutsches Wesen . « " ...
" Das tu ich doch ! "
Dann , wenn der graue sonnenlose Morgen kam , fürchtete er sich vor seiner Arbeit , warf die Feder weg und ging hinaus .
Und auf dem Deich , über den der trübe Wind schwerfällig ging und der Regen in schrägen Schwaden flog , stritt er den Streit weiter , und redete mit Gott :
" Du weißt , daß ich dich und das heilige Land gesucht habe von meiner Kindheit an , und daß du mir damit Not gemacht hast über alle Maßen .
Wo ist die Fröhlichkeit der Jugend gewesen ?
... Du weißt , wie es mich alle Jahre gequält hat , daß die Kirche die Helden , die Dichter und Forscher meines Volkes seit zweihundert Jahren beschimpft :
sie glaubten nicht an den Heiland und wären keine Christen , und wären von dir verworfen .
Soll ich das ertragen ?
... Du weißt , wie es mich alle Jahre gequält hat , daß alle Vorwärtsstrebenden in meinem Volk : die Arbeiter , die Seeleute , die Kaufleute , die Gelehrten , die Künstler , alles , was sich den Wind um die Ohren wehen läßt , was frisch und stark ist , mit dem Kirchenglauben zerfallen ist , und ohne Glauben , das heißt ohne fröhliche Gewißheit , dasteht im harten Menschendasein .
Soll ich das ertragen ?
... Du weißt : daß ich dich ebenso lieb habe wie die , welche den alten Glauben noch haben , und daß ich nicht niederreißen will und daran keine Lust habe , sondern ich habe Lust am Bauen ; und will bauen , so gut ich Armer kann , auf dem alten , heiligen Grund , ein neues Haus des Glaubens , und wäre es auch nur eine Blockhütte zuerst , daß die schlichten und ernsten und kindlichen Menschen in meinem Volk darin wohnen und fröhlich sind .
Darum wage ich , was ich wage .
Und redest du dagegen , so höre ich nicht . "
Wenn er danach heimkam , hatte er wieder Mut bekommen , daß er weitere Aufzeichnungen machte , Schritt für Schritt , vorsichtig , dem Lebensweg des heiligen Helden nachgehend .
Abends aber saß er an der Eiche und am schönen , tiefen Waldsee und sagte nichts von dem , was allein eine Sache zwischen Gott und seiner Seele war .
Und endlich kam ein heller , sonniger Septembermorgen , ein Freitag , ein Tag , an dem man rings im Land die Sichel blinken sah und der schöne Weizen gebunden und aufgestellt wurde :
da hatte er die Aufzeichnungen zu Ende geführt , sah auch einen Weg , einen hellen und hohen , hinein in die Zukunft der Menschheit .
Nun konnte er anfangen , das Ganze als etwas Lebendiges niederzuschreiben .
Da atmete er hoch auf .
* Und als sie kam , reckte er sich und lachte und sagte : " Wie ist mir leicht , und wie bin ich fröhlich !
Alle Gespenster sind weg ! "
Sie sah ihn mit glücklichen Augen an :
" Du siehst aus wie ein junger Bauer , der in dieser Zeit in aller Frühe vor seine Tür tritt und nach dem Kornfeld hinübersieht , das er schlagen will . "
" Und du ? " sagte er , und seine Augen strahlten .
" Was ist aus dir geworden ?
Jetzt ... jetzt habe ich wieder Augen , zu sehen wie einst in meinen Berliner Studententagen . "
Da erschrak sie und schwieg .
" Komme , " sagte er , " wir wollen einen langen , langen Weg zusammen machen .
Ganz allein ...
Was erschrickst du , Kind ?
Es kann dich nicht wundern , da ich dich so ansehe ...
Sieh : mir ist das Leben jetzt hell geworden . "
" Du darfst mich so nicht ansehen , " sagte sie .
Er nahm ihren Arm und ging dicht neben ihr und lachte fröhlich .
" Warum darf ich nicht ?
Du bist nun nicht mehr im Traum zwischen Kind und Weib .
Du bist ein ganzes Weib geworden in diesem Jahr .
Und was für eins ! "
Sie legte ihre beiden Hände um seine Hände und bat ihn mit verhaltener Angst :
" Lieber guter Junge ... bitte , bitte , rede nicht so mit mir ! "
Aber er sah die Angst nicht .
Er sah nur die Freundlichkeit und die Liebe , die in ihren schönen Augen stand , und küßte ihr die haltenden Hände und lachte übermütig und besah die Hand , und küßte sie und redete aus überseligem Herzen :
" Ich habe sieben Jahre lang im Sorgenberg gesessen und gegrübelt ; da kam das schönste Mädchen im Land und schlug mit klingender Stimme gegen den Berg .
Da sprang ich auf und ich sah die Welt und die Sonne und Gottes Reich . "
Er faßte ihre beiden Schultern und sah ihr ins Gesicht und sagte : " Sieh mich an ...
Sieh mich an !
... Wie schön bist du ! "
Sie schrie auf in Not : " Kai , lieber Junge !
... Rede nicht so !
... Ich kann es dir nicht sagen ! "
Aber seine ganze Seele klang so überlaut von fröhlichem Jubel .
Er hörte nicht die Angst in ihrer Stimme .
" Komme , wir wollen auf den stillen Feldwegen nach den Höhen hinaufgehen .
Heute nichts als Heil und Freude !
Und morgen will ich anfangen , ein Lied vom Heiland zu singen , wie es noch keiner sang . "
" Du lieber Mensch ... Komme , laß uns umkehren ... ich ... ich will dir etwas erzählen . "
" Du hast bisher immer erzählt , und ich war stumm ...
Ein stummer , langweiliger Liebster war ich .
Du hast nichts von mir gehabt , du armes , armes Menschenkind . Habe ich dir jemals gesagt , wie schön dein Gang ist ?
Du gehst wie eine junge Königin , die gesegnet ist . Habe ich dir jemals gesagt , wie schön du deine Schultern trägst ?
Als säße auf jeder Schulter eine Taube , die du im Gehen wiegen müßtest . Habe ich dir jemals gesagt , wie schön dein Haar ist ?
Ich habe es niemals lose gesehen .
Wunderbar muß es sein , wenn es über deine weißen Schultern fällt .
Du ... du wirst einen Liebsten haben , der sich deiner freut und kein Träumer ist . "
Alle Härte und alle Verschlossenheit war aus seinem Gesicht gewichen und aller Kummer .
So wie in einem schönen Garten ein lang verschlossenes , stilles Haus die gereinigten Fenster öffnet und aus der weit geöffneten Tür springt ein Haufen schöner Kinder lachend in den schönen Garten , so blitzte aus den lieben , vertrauten Augen Klugheit und Schönheit ; Liebe und Güte stürmten auf sie ein , daß sie ihre Augen nicht abwenden konnte .
" Du bist ganz anders , " murmelte sie erschüttert .
" Rede nicht so mit mir !
Kai !
Bitte , bitte !
Nicht so ! "
" Ich bin ja derselbe , Heinke , der ich immer gewesen bin , " sagte er mit weicher , mitleidiger Stimme und streichelte ihre Hände :
" Ich bin nur lange krank und mühselig gewesen und du hast mit mir leiden müssen .
Aber nun bin ich gesund geworden .
Erschrick nicht , Liebe du , wenn es so stürmisch hervorbricht . "
" Du lieber Mensch , " sagte sie , " du lieber Mensch ! "
Und sie legte ihre Hände vors Gesicht und jammerte in ihrer Seele :
» Ich kann es ihm nicht sagen ... ich kann es nicht !
Dies ist der erste glückliche Tag in seinem Leben ! «
" Lache mich an , du !
Ist dies nicht ein Märchen ?
Ich armer , kleiner Arbeiterjunge gehe am Deich und das schönste Mädchen im Land geht neben mir .
Wohin ?
Wohin ?
... Sieh , wir gehen den grünen Weg , und in einer halben Stunde sind wir auf den Höhen .
Menschen sind hier nicht .
Wir wollen stundenlang beieinander sein .
Ich will eine Stelle am Wald suchen , und will vor dir knien und will dich ansehen , weiter nichts , bloß immer dich ansehen , stundenlang .
Eine größere Freude gibt es nicht .
Was hast du für ein feines , weißes Gesicht !
O , du feines , weißes holsteinisches Mädchen ! "
Sie wollte ihn bitten : » Kai , ich kann nicht ... ich kann nicht !
Ich bin eines anderen Braut .
Ich habe einen anderen über alles lieb . «
Aber sie sagte es nicht .
Sie konnte es nicht sagen .
Seine Augen strahlten so selig und seine Stimme bebte von dem Pochen seines Herzens ...
» So laß ihn den einen Tag glücklich sein ... der arme Mensch !
... Wie köstlich ist er in seiner Freude und wie heiß in seiner Liebe .
Die Hände soll er haben ... beide Hände ... mehr nicht ... das andere will ich wehren .
Die Hände soll er haben , beide Hände ! «
So ging sie mit erschrecktem , unruhigem Herzen , auf grünen Graswegen , neben ihm durch die fruchtbare , weite , einsame Marsch .
Die Sonne schien heiß und stach sehr .
Er war glücklich wie ein Junge .
Er lachte , und spielte mit ihren Händen , und ließ sie los und pflückte Blumen , die am Grabenrand standen , und befestigte sie in ihrem Haar und an ihrer Brust und steckte ihr weiße Marinblümchen rund in den Gürtel .
Sie ließ es sich gefallen und stand vor ihm und dachte bald in Angst :
» Was für ein Jammer , « und dachte bald in süßer Freude :
» Was für ein lieber Mensch .
Die Hände soll er haben , beide Hände . «
Und sie schmiegte ihre beiden Hände in die seinen und dachte : » Mehr nicht . «
Eine Stunde später waren sie in tiefster Einsamkeit des Waldes .
Sie saß am Rande eines alten , verfallenen Walles , noch mit all ihren Blumen geschmückt , und er kniete vor ihr und hatte seine Arme um ihren Leib gelegt und sah in überschwenglichem Glück zu ihr auf und bat wieder und wieder :
" Gib den Mund her . "
Und sie beugte sich wieder und wieder und küßte ihn und er redete wie von Sinnen .
Allzu plötzlich wurde vor seinen armen Augen alle Herrlichkeit der Welt ausgebreitet , eine Klarheit und strahlende Hoffnung für sich und alle Menschen , und ein schönes , reines Weib .
Über den Wald von Osten her kamen Wolken gezogen .
Durch die schwüle Luft fielen die ersten Tropfen schwer und hörbar auf das Laub der Waldbäume .
" Ich kann mich nicht satt an dir sehen .
Ich stehe nicht wieder auf .
Ich bin so ruhig und so glücklich ; zum erstenmal bin ich ganz voll Glück und Frieden ...
Was kannst du küssen !
Das ist dir angeboren ; ich aber muß es von dir lernen . "
" Nun nicht mehr , Kai , nicht mehr !
Du lieber Mensch , heute nicht mehr ! Morgen ...
Ach , morgen !
... "
" Heute und morgen und alle Tage !
Ich bin der seligste Mann im Land .
Ich habe oft darüber nachgedacht , warum wohl alle anderen so fröhlich wären und so ruhevoll und so harmlos , und ich allein hatte immer Not : Geldnot , Familiennot , Grübelnot .
Aber nun ist es mir recht so : so bin ich nun um so seliger und dankbarer , nun ich ins Glück hineinkomme ...
Ich war immer fromm , du , das kannst du glauben , von meiner Kindheit an .
Ich verehrte immer demütig , was geheimnisvoll über der Welt waltet : aber ich war niemals so fromm wie heute , da ich den Geheimnisvollen im Schönsten seiner Natur erkenne ... Sieh :
Nun kann ich das Leben des Heilands erzählen !
Aus der Erde wuchs er !
Und wurde der Schönste unter den Menschenkindern .
Schöner als du . "
Sie saß und hielt seine beiden Hände , die in ihrem Schoß lagen , und sah ihn an .
Wie über das gestrandete , schräg liegende Schiff Welle auf Welle braust , bis es ganz zerrissen und versunken ist :
so brach seine süße Liebe her über sie .
» Er hat ja alte Rechte .
Er war mein Freund von meiner Kindheit an .
Ich habe mich geirrt .
Ich habe gemeint , er wäre ein Träumer und hätte mich nicht lieb .
Ich habe nicht gewußt , wie lieb ich ihn heimlich hatte .
Niemals hat er dies neue , wunderschöne Wesen gezeigt .
Wie schön ist sein hartes Gesicht und wie schön sind seine klugen Augen ...
Weh mir ... was fang ich an ?
Was tue ich ? «
" Laß mich , Kai ...
Laß mich ...
Kai !
Küsse mich nicht mehr . "
" Gib her den Mund .
Ich kann diese Nacht nicht schlafen , wenn ich es ein einziges Mal versäumt habe . "
" Es fängt an zu regnen , Kai ...
Wir müssen nach Haus . "
" Laß es regnen , Heinke !
Laß es regnen .
Lauter Segen auf dein liebes , blondes Haar . "
Da beugte sie sich mit heißer Gebärde zu ihm herab und küßte und küßte ihn und zermarterte sich das Herz .
» O , wenn der andere dies Schreckliche wüßte und sähe .
All seine liebe , reine Jugend hat er mir in die Hände gegeben , und ich sitze hier so bei einem anderen ... O , ich unseliges Menschenkind ...
Ich ... ich muß jenen lassen und zu diesem übergehen .
Ich habe nicht gewußt , daß ich ihn so lieb habe ...
Nein !
Nein !
Ich kann den anderen nicht lassen ; er würde mich verachten und hassen und daran würde ich zugrunde gehen .
Ich unseliger Mensch , wie lieb sind seine Augen .
Die sind schuld daran .
Ich will nicht mehr hineinsehen . «
Sie warf die Hände vor die Augen und stöhnte heiß auf .
" Küße mich nicht mehr ...
Es regnet so schwer .
Komme ... lieber Kai , ich darf nicht mehr ... "
Er sprang auf und setzte sich neben sie und legte die Arme fest um sie .
" Laß es regnen , gib her deinen Mund .
Warum ist er so rot und küßt so heiß ?
Wunderbar ist dein Mund und unsagbar süß sind deine Augen .
Merkwürdig , daß deine Wangen nicht glühn . "
" Du mußt sie küssen , Kai ; dann glühen sie auch .
Komme , Mensch du ; du Lieber ! "
Und sie wandte sich ganz zu ihm und küßte ihn immerzu , auf die Wangen und den Mund ; und sie machte ihr Haar , das heruntergesunken war , ganz los , und streichelte ihn mit den weichen Wellen , in welche die schweren Regentropfen fielen .
Ihr Atem ging schwer und ihr Leib zitterte .
» Ich muß tun , was ich tue , « dachte sie .
» Gott sei mir gnädig .
Morgen will ich es ihm sagen .
Dies ist ein Tag voll Lachen und Weinen , Küssen und Zähneknirschen .
Meine Mutter hat recht , als sie sagte : Ihr Bojekinder müßt alle durch schweres Leid , weil ihr so heiße und stolze Herzen habt . «
" Komme her , Kai , heute sollst du satt werden , komme her ...
So ...
Nun küsse immerzu .
Liebe und rein sind deine Küsse . "
Ein schwerer , weicher Sommerregen fiel hernieder und durchnäßte das leichte Kleid , daß es sich an Schultern und Brust und Leib legte .
Er strich mit leiser Hand darüber hin , und rühmte in heißen , scheuen Worten die stolze Schönheit ihrer Glieder und küßte das nasse Kleid .
So saßen sie beieinander , unter jungen Buchen , am Waldrand .
Er ein glücklicher Mann , sie mit zerrissenem Gewissen , bis die Dämmerung kam .
Da standen sie auf und gingen den Weg hinab , der von den Hügeln und Waldhöhen schräg in die Niederung führt .
Dann mündet er in die Straße , welche nach Hilligenlei führt .
Es ist ein uralter Weg .
Was ist da alles schon entlang gezogen !
Nun wanderten ihn diese beiden Menschen .
Er redete von dem anderen Tag , wie selig er werden würde ; sie schwieg von dem anderen Tag , wie jammervoll er werden würde .
Sie kam nach Haus und in ihre Kammer und zog sich mit fliegenden Händen um und rang dabei ihre Hände ; und warf sich über ihr Bett und starrte ins Dunkle .
Ihre Mutter kam herein und sagte , daß sie zu Anna hinüberginge und den Abend dort bleiben würde .
Sie antwortete nicht .
Sie sagte laut , wieder und wieder , und wußte nicht , daß sie es sagte : » Was soll ich nun tun ? «
Einmal meinte sie eine Weile , es wäre klar :
Kai Jans hätte das ältere Anrecht .
Aber dann sah sie den anderen , allein und traurig , lebenslang im Herzen das bittere Gefühl :
» Was dir das Heiligste war , hat dich betrogen ...
« Dann dachte sie sich wieder aus , daß sie an Kai Jans schriebe :
» Ich kann nicht ; ich bin eines anderen Braut ; « dann hörte sie seinen Jammer wie einen Schrei herausbrechen .
Sie wußte sich keinen Rat und fing an , im Hause umherzugehen , als suchte sie irgendwo einen Raum , wo die schwere Not jenseits der Schwelle bliebe , und kam zuletzt , sie wußte nicht wie , in die Giebelstube .
Da fiel sie plötzlich , wie von einer starken Macht niedergedrückt , am Tisch in die Knie , an der Stelle , wo sie immer beieinander gewesen waren , zuerst über den Bildern , dann sie auf seinem Schoß .
Da kamen endlich die Tränen .
Sie weinte laut auf und streichelte die Decke des Tisches und die Lehne des Stuhles und küßte sie und redete auf ihn ein :
" Du mein lieber Vertrauter ... Du Lieber , Guter , höre doch ...
Ich kann ja nicht leben , wenn ich dich traurig und allein weiß .
Du lieber Junge , wie rasch und fest ergriffst du mich .
Wieviel Vertrauen hattest du !
Wieviel Güte !
Du fragtest nicht , wie steht es um Leib und Seele ?
Du trautest mir nur Gutes zu .
Deine ganze reine Jugend legtest du mir vor die Füße ...
Du ... O komme doch ... ich möchte dir so gern zeigen , wie lieb ich dich habe . "
So weinte und streichelte sie und wurde ruhiger .
Und das Weinen wurde stiller und sie wurde ganz klar inwendig , und machte Licht und ging nach seinem Schreibtisch und schrieb einen kurzen Brief an Kai Jans .
Sie erzählte ihm , wie sie sich verlobt hätte , und wie sie ihm es nicht hätte sagen können .
Nun aber müsse sie es sagen , und zugleich , daß sie ihren Verlobten nicht lassen könnte ; er würde an Bitterkeit zugrunde gehen , sie selbst an schlechtem Gewissen .
" Ich kann nicht , Kai !
... Ich bin allein im Hause ; ich bitte Dich , komme zu mir , daß ich Dich tröste .
Sei stark !
Sei stark !
Ich kann Deine Verzweiflung nicht ansehn . "
Eine halbe Stunde später , als sie mit klopfendem Herzen in der unteren Stube am Tisch stand und auf jeden Schritt horchte , der draußen auf der Straße ging , kam er .
" Kai ! " sagte sie und streckte flehend die Hand nach ihm aus ...
" Ich konnte nicht anders sein , als ich war ... heute .
Du warst so glücklich und so stürmisch ; deine Liebe kam so plötzlich und war so süß .
Vergib mir , Kai !
O , sei stark ... ich kann und kann ihn nicht verlassen . "
Er war bleich wie der Tod und konnte kein Wort sagen .
Da sank sie auf den Stuhl und lehnte die Arme auf den Tisch und weinte bitterlich .
" Armer , lieber Junge .
Ich kann nicht .
Ich kann nicht .
Sieh mich nicht so verzweifelt an .
Was ist das für ein Jammer ! "
Er setzte sich ihr gegenüber und fragte sie mit mutloser Stimme : wie sie den anderen näher kennen gelernt hätte , wie lange sie miteinander verkehrt hätten , wie vertraut sie miteinander wären , und dergleichen mehr .
Beide Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet , die Arme gerade , mit überströmenden Augen zu ihm hinübersehend , beantwortete sie kurz , wie vor einem Richter , jede seiner Fragen .
Zuletzt sagte sie unter heißen Tränen :
" Es ist unmöglich , daß ich von ihm lasse :
ich würde ihn auf einen finsteren Weg bringen , und dadurch würde auch ich ganz unglücklich .
Sein ganzes Herz hängt an mir und meins an seinem .
Ich habe dich auch sehr lieb , sehr ; schrecklich lieb habe ich dich ... ich habe es nicht gewußt ... so nicht ...
Das muß ich unterdrücken . "
" Dann bin ich nun fertig , " sagte er .
" Es ist mein Schicksal .
Da kann man nicht dagegen angehen .
Es kommt bloß darauf an , " sagte er , " was ich nun noch aus mir mache . "
Da schrie sie auf , entsetzt von seinem trostlosen Jammer .
Sie sank am Stuhl nieder und streckte die Hände nach ihm aus :
" Ich bettle dich an : sei stark .
Ich habe dich so lieb .
Sei mein lieber Freund .
Kai !
Vielleicht kommt einmal eine schwere Not über mich oder über meine Kinder ... wer soll mir dann helfen ?
Du Lieber ... du wendest dich nicht im Zorn von mir ; ... das kann ich nicht ertragen . "
Er beugte sich zu ihr und streichelte ihr Haar : " Ich bin dir nicht böse , gar nicht .
Wir haben uns nicht vergangen , du nicht und ich nicht .
Es ist unser Schicksal .
Sei nicht bange .
Ich bin ein Mann .
Ich will wohl sehen , daß ich den Kopf oben behalte , ich habe ja noch einen alten Vater und habe deine liebe Freundschaft ...
So ... so ... weine nicht so ...
Nun laß mich gehen . "
Sie hielt seine Hände und weinte sehr .
" Ich will diese ganze Nacht denken , was ich dir Liebes tun will .
All mein Lebtag will ich immer denken , wie ich dir eine Freude mache .
Ich wäre ja so gern deine Frau geworden , so gern .
Er weiß , wie gut und lieb du bist ; ich habe ihm viel von dir erzählt ; ich will es auch meinen Kindern erzählen ... Hab Mitleid mit mir , Kai , und sei stark , und vernichte nicht mein und sein Leben . "
Er sah auf sie nieder und streichelte ihr wortlos das schöne , helle Haar , immer wieder , mit einem Ausdruck in den Augen , als wollte er sagen : » Wie fremd und heilig ist das . «
Dann ging er .
Er ging nach Hause in die kleine blaugekalkte Kammer , die man von der Küche aus erreicht , in der er von Kind an geschlafen hatte , und legte sich aufs Bett und lag lange unbeweglich und ohne Bewußtsein .
Er erwachte davon , daß eine gute , ernste Stimme laut und deutlich , wie in Verwunderung , sagte : " Dachtest du , du könntest das Leben des Heilands lachend erzählen ? "
Da schlug er die Hände vors Gesicht und weinte .
* Am anderen Tage bat er sie in einem kurzen Brief , daß sie vorläufig nicht zu ihm kommen möge , da er ihren Anblick nicht ertragen könnte .
Er würde die Arbeit vollenden und dann fortgehen .
Sein alter Freund hätte ihm geschrieben , daß er Ende nächsten Monats nach Kapstadt ginge .
Wahrscheinlich ginge er mit hinaus .
Es würde ihn aber freuen , wenn er ihren Liebsten kennen lerne .
Nach acht Tagen kam Peter Volquardsen aus der Heimat zurück , erfuhr alles von Heinke und ging in der Dämmerung zu Kai Jans und sprach mit ihm über alles .
Er erzählte , wie er , von guten und klugen Eltern behütet , eine stille , friedliche Kindheit gehabt hätte ; wie er dann die Bekanntschaft eines feinen und treuen Mannes gemacht hätte , wie da schon die Kunst mit lieblichem , reinem Angesicht in sein Leben getreten wäre ; wie er immer geordnete Verhältnisse und immer den nötigen Rat gehabt hätte ; seine Mutter hätte ihn in den innersten und feinsten Angelegenheiten heimlich und klug geleitet , sein Vater und seine älteren Brüder in allen äußeren Dingen .
Ohne schwere Not und Zweifel , links und rechts von seinem Weg die gütigen Gaben der Kunst , wäre er so dahingegangen , als durch einen schönen , wenn auch ernsten Garten .
Und hätte eines Tags auf diesem Wege das Köstlichste gefunden , mehr als alle Kunst : Heinke Boje .
So erzählte er mit klugen , ruhigen Worten und faßte den Arm von Kai Jans .
Und zuletzt sagte er :
" Ich weiß , daß Ihr Leben anders war . "
Da fing Kai Jans an , von seinem eigenen Leben zu erzählen .
Er erzählte mit stiller , ruhiger Stimme : wie seine erste Erinnerung gewesen , daß seine kleine Mutter kein Geld im Hause gehabt hätte , wie sie englische Romane gelesen hätte , und wie die einzigen Bilder , die er gesehen , Berliner Modebilder gewesen wären , und die häßlichen Gemälde in der Kirche .
Er erzählte von dem Tag , da seine älteste Schwester nach Hause gekommen wäre und vor der Mutter auf den Knien gelegen hätte und von der Zeit , da er bei Heine Wulk im Windbeuteln Unterricht gehabt hätte .
Er kam dann auf den Jammer auf der Klara und auf das elende , wirre Lernen auf der Goodefroo , als die Hand wund war , und er oft gedacht hatte :
» Spring über Bord , du bist zu nichts nütze . «
Dann kam die Lateinschule , das Gefühl der schlecht sitzenden Kleidung und der schweren Stiefel ; das mühselige Stundengeben , das Gefühl , dein Vater ist ein wunderlicher , unklarer Mann ; dann die armselige Studentenzeit .
Ach , Studentenzeit !
Dies verstohlene , hungrige Starren in das große , bunte Leben ; dies dumpfe Treiben im Strom der großen Menge ; das einzige Erfreuliche : die Freundschaft mit dem Jungen aus dem reichen Hause und ein Blick in freundliche Mädchenaugen .
Dann , als er ein Mann wurde , kam das schwere , wunderliche Grübeln .
Es legte sich auf seine Seele , wie bleierne Wolken auf ein Land .
Es war ein schweres und ängstliches Dunkel und lange wollte es nicht Licht werden .
Endlich aber , als das Dunkel grausig wurde , wurde es Licht ... Ja ... und als es Licht wurde : da sah er die Treue und die Schönheit , die neben ihm herging .
Er kannte sie von Kind an .
Er hatte ein Recht an ihr :
er hatte ihrer Seele und ihrem Charakter allerlei Gutes getan .
Er meinte , sie gehöre ihm ... wie lieb und schön ist sie ... wie lieb und schön !
So redete zuerst jeder von dem Seinen .
Dann sprachen sie über große , ernste Dinge , und es zeigte sich , daß da , bei aller Verschiedenheit der Begabung und des Lebensweges , viel Übereinstimmung war .
Und sie gingen mit dem Gefühl auseinander , daß sie Freunde werden könnten .
Nach acht Tagen kam Heinke Boje doch zu ihm .
Schüchtern , mit unsäglich lieber Gebärde bat sie ihn , ein Stück Weges mit ihr zu gehen .
Er erzählte ihr auf ihre Frage , daß er nun die Darstellung des Heilandslebens angefangen , und daß es mühselig vorwärts ginge ; in ungefähr fünf Wochen hoffe er fertig zu sein .
Er veranlaßte sie aber bald , wieder umzukehren .
Sie merkte , daß er mit Mühe sprach und blaß war und immer vor sich hin sah .
Da fragte sie ihn mit leiser , bebender Stimme :
" Magst du nicht mit mir gehen ? "
" Ich kann es nicht ! " sagte er und atmete schwer .
" Es geht über meine Kraft .
Ich kann dein Gesicht nicht ansehen und das Spiel deiner Glieder .
Es ist zu schwer . "
Da jammerte sie auf :
" Ich armes , unseliges Menschenkind . "
" Es wird anders werden , " sagte er , " wenn Jahre vergangen sind .
Aber jetzt bitte ich dich : komme nicht wieder .
Ich will noch einmal zu dir kommen , ehe ich weggehe ' . "
Sie weinte heiß auf :
" Ich wollte so gern , daß du mich lieb behieltest , bis wir beide älter und still geworden sind .
Wenn ich dann Hand in Hand mit dir sitzen könnte .
Ich kann es nicht ertragen , daß du mir fremd und Gram bist . "
" Wie sollte ich dir Gram sein ? " sagte er .
" Hast du dich an mir vergangen ?
Du bist die Liebe und Treue selber .
Ich besitze nichts Schöneres als deine Freundschaft ; du kannst glauben , daß ich sie festhalte .
Aber jetzt muß ich weggehen , und muß wegbleiben , bis ich stark geworden bin .
Nun gehe !
Sei nicht bange um mich . "
Er gab ihr die Hand und sie ging weinend .
Sechs Wochen arbeitete er nun Tag für Tag ; er hörte nichts von ihr .
Aber wenn er täglich um vier Uhr den Deich entlang ging , sah er rechts über der Stadt , seitlich der Volkmershöhe , eine einsame Gestalt stehen .
Dann stand er still ; und sie sahen zueinander herüber .
Aber sie wagten nicht , die Hand zum Gruß zu rühren .
Mitte Oktober , an einem schönen Abend , da eine frische , kalte Herbstluft wehte und die goldene Abendsonne die letzten Blätter der Kastanien in Farbenglut tauchte : da kam Heinke Boje von Volkmersdorf zurück und hatte ihn nicht gesehen und kam in ihre Kammer .
Da lag da auf ihrem Bett ein Brief , in dem er mit kurzen , lieben Worten Abschied nahm .
Daneben lag eine saubere Handschrift , darauf stand in seinen starken und vornehmen Buchstaben , die sie so sehr liebte :
" Das Leben des Heilands , nach deutschen Forschungen dargestellt : die Grundlage deutscher Wiedergeburt . "
Sechsundzwanzigstes Kapitel Die Handschrift Die Menschheit ist aus Nacht und Grauen mühselig heraufgestiegen .
Der Aufstieg hat viele hunderttausend Jahre gedauert .
Hunderttausend Jahre lang sind die Menschen wie Füchse in wald- und baumlosem Land gewesen :
In Furcht und Höhlen , in wachem Schlaf , in schlauem Anschlich , in wildem Ansprung .
Sie lebten nicht anders wie Tiere und wußten auch nicht , daß sie etwas anderes wären .
Allmählich , im Lauf neuer Jahrhunderttausende , bildeten und drängten die besonderen Fähigkeiten ihres Körpers , besonders die Form ihrer Hände , die Menschen über die anderen Tiere hinaus .
Allmählich , zweifelnd , kam dem einen und dem anderen , dem Klügsten und Tapfersten , diese Erkenntnis .
Es hat wohl wieder hunderttausend Jahre gedauert , ehe sie alle merkten :
es ist ein Unterschied zwischen Menschen und den Tieren .
Und der Mensch wird ihr Herr werden .
Aber lange , lange noch war es dunkel und wirr in ihren Seelen , wie in Tierseelen .
Sie erschraken , wie Tiere erschrecken : vor Wind und vor spiegelndem Wasser , vor Dunkel im Wald und vor Donner und Blitz .
Alles , was um sie war , schien ihnen voll von unheimlichen Wesen .
Es wußte noch keiner von ihnen , was gut und böse war ; sie kannten nur : fürchten und nichtfürchten , stark und schwach , siegen und unterliegen .
Von der Mitte Asiens in Horden und Stämmen auswandernd , so wie Sperlinge ausziehen und sich breiten , immer mehr werdend , eine Horde die andere vor sich herjagend , zuletzt , so einander treibend , über die ganze Erde sich ausbreitend , kamen sie in verschiedene Länder und unter verschiedene Sonnen .
Viele Stämme kamen unter heiße , schlaffmachende Sonne , andere kamen in Vereinsamung , andere in eisige Todeskälte :
da verfaulten oder verkümmerten oder erstarrten sie .
Viele von diesen Stämmen und Völkern sind schon hunderttausend Jahre vor unserer Zeit untergegangen ; andere sind noch in diesen unseren Zeiten , in Australien und Amerika und Afrika , dabei , zugrunde zu gehen .
Viele andere Horden und Völker aber kamen in Gegenden , wo Sonne und Wind , Meer und starke Nachbarschaft , Weizen und Wein ihnen Kraft und Fortschritt aufdrängte .
Sie hoben mehr und mehr den Kopf ; ihre Augen wurden heller ; ihre Stirnen edler .
Langsam und mühselig wich die Angst vor der Natur .
Die Mutigsten griffen tapfer und lachend in das Dunkel , so wie unter bangen Kindern , die allein im Hause sind , das mutigste sich in die dunkle Ecke wagt .
Die Gespenster wurden noch lange gefürchtet , und mit Bitten und Gaben um Erbarmung gebeten ; aber allmählich , ganz allmählich , sowie die Menschen stärker gegenüber der Natur wurden , wurde die Phantasie freundlicher .
Die bösen Geister wichen zurück und wurden ein wenig machtloser .
Es kam , schüchtern , mühsam , ein leiser Glaube an gütige Geister auf .
Es kam eine schwankende Ahnung , daß nicht der Starke recht hätte , sondern der Gute .
Das böse Gewissen kam auf , dies inwendige Licht .
Und als dies Licht leise entglomm , da wurde der Weg der Menschheit heller .
Sie hatten nun einen Wegweiser ; sie konnten nun nicht ganz verirren , und sie konnten nun weit , weit kommen , wer weiß wie weit .
Wiederum war es nicht das ganze Volk , die Maße , die gemeinsam diesen Schritt nach vorne tat , sondern in einzelnen Menschen wurde es hell .
Wie wenn das Meer leise wogt , grau und bläulich weithin die ruhigen , unruhigen Wellen ; aber plötzlich schießt an einer Stelle ... sieh da ... nun da ... eine höhere Welle auf ; sie schlägt hoch , und läuft schön mit ihrer silbernen Krone , und fällt über ihre eigenen Füße : so hoben sich diese Männer auf , diese einzigen echten Kronenträger in der Menschheit , und fielen wieder ... ja ... über ihre eigenen Füße .
Kümmerlich waren die ersten Schritte in dieser Morgendämmerung .
Die ältesten Namen sind uns nicht bekannt .
Man verstand noch nicht die Kunst des Schreibens .
Erst da die Schrift anfängt , wissen wir einige Namen dieser heiligen Helden .
Die Perser brachten Zarathustra hervor ; die Chinesen Kongtse ; die Inder Buddha ; die Hebräer Moses , Elias , Jesajas , Jeremias ; die Griechen Äschylus , Sophokles und Plato .
Alle diese haben mühsam und einsam in ihrem ganzen Volk gestanden und haben wegen ihres voraneilenden Zutrauens hart leiden müssen .
Viel Hartes , Dunkles , Kindlich-Wirres , Wildes ist noch in ihnen ; doch steigen einige in lichten Stunden auf , zu herrlicher , holder Erkenntnis , welche die Menschheit niemals überbieten wird :
" Nicht mitzuhassen , mitzulieben bin ich da . "
" Wenn ich nur dich , Gott , habe , frage ich nichts nach Himmel und Erde . "
Danach , als alle diese Männer dahin waren , kam eine Zeit der Stille .
Denn in Wogen , auf und ab , geht die ganze Schöpfung .
Die Volkskraft , wie erschöpft , brachte keine heiligen Helden mehr hervor .
Jedes Volk stand , still und steif , und hielt das Erbe jener hohen Geister in verschlossener Hand ; und die Mittelmäßigkeit wachte , daß die Hand ganz fest geschlossen war .
Da wurde das Erbe in der Hand dumpf und fing an zu schimmeln .
Diese dumpfe Stille dauerte lange Jahrhunderte .
Da war kein Wind und keine Welle im Völkermeer ; und es war , als wenn die Menschheit faulen würde .
Aber da zuckte über die Völker , die ums Mittelmeer wohnten , ein wildes Schwert auf .
Die Römer , nicht feinen Geistes , nicht Wahrheitssucher , nicht Grübler , sondern kalte Rechner , Wirklichkeitsmenschen , machten sich alle Völker untertan .
Sie schoben und zerrten alles durcheinander .
Sie schoben und zerrten auch die alten , feinen Grüblervölker : die Ägypter , die Hebräer , die Griechen , die Perser , die Germanen .
Da entstand , in diesem Gereibe der zerwühlten Völker , ein greuliches Durcheinander von Meinungen .
Sowie an der Stelle im Strom , wo sieben Auen und Siele zusammenlaufen , das Wasser wirrt und wühlt : so wirrte und wühlte allerlei Glaube .
Da gingen die Menschen zu den Philosophen und fragten :
" Was meint ihr ? "
Die anderen liefen zu einer sinnlich wilden Feier griechischer Priester :
" Natur , Natur !
Mehr bist du nicht , o Mensch . "
Am anderen Tag knieten sie vor dem Bild einer ägyptischen Göttin .
Die einen sahen anbetend zu dem Steinbild des römischen Kaisers auf und suchten in den harten und rohen Herrscherzügen vergebens heilige Menschenwürde . Dieselben gingen am Freitag zu dem germanischen Soldaten und ließen sich erzählen , wie man in seiner Heimat unter den Buchen Donar und Wodan lobte .
Am Sonnabend aber standen sie mit bedeckten Häuptern in der jüdischen Synagoge und horchten , wie der Lehrer aus dem alten Buch vortrug : " Halte meine Gebote .
So wird es dir wohlgehen ... "
So wühlte und wogte es durcheinander , das ganze Mittelmeer entlang .
Es war ein Fragen und ein Gemurmel , von der Straße von Gibraltar bis nach Persien :
" Was ist mit dem Menschenleben ?
Was ist mit Gott ?
Was ist Wahrheit ?
Weißt du , was ein Menschenherz heilig und fröhlich macht ? "
Sowie Landleute in langer , dürrer Zeit zusammenstehen und miteinander und gegeneinander reden :
" Es muß nun bald regnen .
Sieh ... die Wolke da !
... Ach , es ist nichts . "
Aber plötzlich , in der Nacht , da sie an nichts denken , fängt es an , in den Bäumen vor den Fenstern schwer und voll zu rauschen : so warteten und redeten und starrten die Menschen .
Der Mensch kann es nicht lassen , nach dem Sinn des Lebens , nach dem Glück zu suchen .
Da endlich hatte die Natur sich lange genug erholt .
Natur geht auf und ab wie Wellen .
Es schoß wieder ein Mensch auf , ein Held nach Art jener alten , heiligen Helden .
Da rauschte es , von Osten her , über die dürren Völker hernieder .
Ein mächtiges , schweres Rauschen .
* In einer Ecke des gewaltigen , zusammengestückten Reiches lag ein Land , ganz wie unser Schleswig-Holstein , ebenso groß , schmal , und langgezogen am Meer entlang , im Norden stille , weite Heidehügel , im Süden eine große , prächtige Stadt .
Es wohnte darin , in Dörfern , ein Bauernvolk , nicht ganz reiner Rasse , aber guter Mischung , aus zwei alten , edlen Stämmen .
Aber es war ein unglückliches Volk .
Das Volk wurde im Norden von einem verdorbenen Herzog , im Süden von einem Statthalter des Kaisers hart und schlecht regiert .
Fremdes Großkapital lag über ihm , wie der Wolf über dem niedergerissenen Schaf .
Direkte und indirekte Steuern , Zölle und Monopole sogen das Volk aus .
Die Beamten stahlen und raubten .
All das Geld - Geld ist Kraft - ging aus dem Land .
Dazu kam die Kirche mit großen Ansprüchen .
In der großen Hauptstadt , im Süden , erhob sich ein ungeheures Gotteshaus mit weiten Hallen und Höfen , mit hohen und teuren Konsistorien , mit Tausenden von Ober- und Unterpriestern , mit vielen geistlichen Lehrern , die durchs Land zogen .
Das alles mußte vom Volk erhalten werden .
Das größte Unglück aber war , daß das Volk in sich ganz und gar zerrissen war .
Politische und religiöse Richtungen wogten und wühlten kopflos durcheinander .
Die eine Partei waren die Stillen im Lande .
Sie wohnten verstreut übers ganze Land , besonders in den Dörfern , besonders in der Heide .
Es waren die Menschen der fleißigen Handarbeit , welche den Geist frei läßt , daß er wunderliche und tiefsinnige Grübelwege gehen kann , die Menschen der täglichen Nahrungssorge , welche die Seele nach Gottvertrauen sich recken läßt .
Die Kirche war ihnen zu vornehm , zu kalt und zu steif ; sie suchten auf eigene Faust nach einer ewigen tröstlichen Wahrheit .
Sie versenkten sich nach der Tagesarbeit in alte Chroniken und Gebetbücher und lasen mit frohem Erstaunen , wie ihre Eltern vor Jahrhunderten , in ähnlicher Notzeit , den Mut nicht hatten sinken lassen , sondern den Glauben hatten , daß die ewige Macht die Hohen und Harten nicht liebe , aber der Armen und Mühsamen sich annehme und ihnen einst einen Helfer , einen " Heiland " schicken wolle .
Aber nur wenige konnten sich zu diesem hohen Glauben aufschwingen .
Die meisten lebten in frommer Dumpfheit dahin .
Die zweite Partei waren die Liberalen .
Die zerfielen jedoch wieder in zwei ganz getrennte Lager .
Es gab eine kleine vornehme liberale Partei in der Hauptstadt : reiche Leute , der Gegenwart froh , auswärtiger Bildung aufgetan , immer dicht an der Staats- und Kirchenkrippe , mochte auch eine noch so schmutzige Hand sie füllen .
Daneben gab es eine liberale Partei unter den einfachen Leuten , die vielen nämlich , welche von dem Unterdrückerstaat kleine Ämter angenommen hatten , meistens im Zoll- und Wachtdienst .
Es waren aus dem schlichten , arbeitenden Volk die Elemente der Leichtlebigkeit , des raschen , freien Bluts , der Begabung und Bewegung .
Die dritte Partei waren die Nationalisten .
Sie war die mächtigste im Land .
Es war die Partei des engen , kirchlichen Patriotismus .
Ihr Programm war : Väterglauben und Vätersitte streng erhalten : als einen Damm gegen alles Fremde .
" Siebenmal am Tag beten , siebenmal sich waschen , siebenmal Almosen geben , täglich in die Kirche gehen , nichts ändern , nichts neueren : so gefallen wir der ewigen Macht !
Die wird uns lohnen ; und wird uns einen Helden , einen » Heiland « schenken , der uns von den verfluchten Fremdgläubigen befreien wird . "
So stand die mächtigste Partei da : in vermoderter politischer Rüstung , kleinliche Wächterin über das , was sie " rein " und " heilig " nannte , finstere Aufpasserin über alle Bethäuser und Schulen im Lande .
Sie beherrschte und tyrannisierte das Volk .
Bloß die Liberalen widerstanden ihr ; die sagten : " Leben und leben lassen ; weg mit den alten Formeln und Geboten . "
Und die Stillen im Lande widerstanden ihr ; die sagten :
" Ihr seid uns zu eng , zu stolz , zu steinern ; wir suchen Gott auf unsere Weise , lesen in den alten heiligen Büchern und grübeln in der Nacht .
Wir haben auch keine Zeit , den ganzen Tag zu beten und zu waschen und zur Kirche zu laufen ; wir müssen ums Brot arbeiten . "
In ihrem bitteren Grimm über diese Vaterlandslosen erfanden die Nationalisten ein Schimpfwort , das kurz und bündig beide traf : " Zöllner und Sünder sind sie . "
Unterhalb dieser drei großen Volksparteien wimmelte es von Heimatlosen , von Bettlern , von Landstreichern und von Kranken .
Es gab keine Ärzte , keine Irrenhäuser , keine Krankenhäuser , überhaupt keine soziale Hilfe irgendwelcher Art .
Alles Elend , alles Verbrechertum , alle Faulheit im Lande lag an der Landstraße , auf der Dorfgasse , vor der Tür der Reichen .
Die Nationalisten warfen das Almosen hin , das der Väterglaube vorschrieb , und züchteten mehr Bettler .
So sah es in diesem Bauernvolk am Meer aus .
Es war ein ganz unseliges , zerrissenes Volk .
Und über diesem unseligen , zerrissenen Volk eine fremdgläubige , ausraubende , grausame Regierung .
Vierzig Jahre später hat die große Partei der Nationalisten ihre ganze Macht zusammengenommen und hat das Volk zu unseligem Aufruhr hingerissen , in dem es zerstampft und verblutet ist .
Damals aber stand es noch : wie der große Held sagte , wie eine Herde , die keinen Hirten hat , in der Nacht , und schon schleichen und knurren im Dunklen die wilden Tiere .
Unruhig , schwer atmend , stand das Volk :
" Hilfe muß kommen ...
Was kommt ?
... Kommt der verheißene Held ?
Oder erscheint in den Wolken , als eines Menschen Bild , der rettende Gottesengel ?
Ach , lacht doch !
Laßt uns essen und trinken , morgen sind wir tot .
Zahl deine Steuern !
... Kommt er vom Himmel ?
Kommt er aus dem Volk ? ...
Hört ... Rauscht es schon in den Bäumen ?
Alter Vätergott !
Ewige Macht !
Hilf ...
Es dürstet nach dir meine Seele !
Es schmachtet nach dir mein Leib im dürren , lechzenden Land . "
* Im Norden des Landes zwischen Meer und See , in der Heide , wohnte ein Ehepaar , Joseph , Jakobs Sohn , und seine Frau , welche den Namen Maria hatte ; beide schwerlich aus reinem Blut , wahrscheinlich aus altem , edlem Mischblut .
Der Mann scheint ein höheres Lebensalter nicht erreicht zu haben , oder er hat erst als ein Älterer geheiratet .
Die Frau aber hat ihre Kinder erwachsen gesehen .
Das ist ihr nicht zum Ruhm gediehen .
Es steht die seltene Tatsache fest , daß diese Mutter eines Helden für die innere Größe ihres Kindes kein Verständnis gehabt hat .
Das Ehepaar hatte sieben Kinder , die wuchsen in dem stattlichen Dorf auf , und sahen und lernten kennen , was das Dorfleben in einem lebendigen , edlen Volke an Bildern und Erkenntnissen darbietet .
Und das erstgeborene Kind der Ehe , mit Namen Jesus , hatte besonders tiefe Augen , die ruhevollen , schönen Bilder in sich aufzunehmen ; und eine starke und feine Seele , unbewußt über sie zu sinnen , und sie in einem inneren Dämmerlichte , das im Lauf der Kinderjahre heller und heller wurde , leise und gar lieblich zu deuten .
Der Knabe ist neben dem Knecht hergegangen , wenn er pflügte , und hat die Mutter traurig gesehen , als sie ihr letztes Kind erwartete , und hat sie plötzlich fröhlich gesehen , als das Neugeborene in ihren Armen lag ...
Er ist mit seinen Gespielen auf den Hügel gegangen , wenn im Felde die ersten Blumen wuchsen .
Mit abgerissenen Blumen in den Händen standen sie und schauten weit übers Land bis ans blaue Meer im Westen .
Am selben Abend erzählte die Mutter , daß der Nachbarsohn im Zorn das Elternhaus verlassen hatte und in die Fremde gegangen wäre .
Sorge folgte ihm ; denn er war ein leichtsinniges Blut ...
Er hat das Kornfeld , das am Hügel lag , weiß zur Ernte gesehen und hat mit den anderen Kindern vor der Tür gestanden , wo eine Dorftochter Hochzeit machte .
Morgens erzählte die Mutter von den Brautjungfern , die in der Nacht mit brennenden Lichtern in der Hand durchs Dorf gezogen waren ...
Er hat auf dem Felde binden helfen und die Disteln wurden mit in die Garben gebunden und stachen den Binder ; an demselben Tag , abends , als er mit seinem Vater heimkam , hörten sie in der Dorfstraße , daß der reichste Bauer im Dorf gestorben war , und die Leute sprachen davon , daß er samt seinen Brüdern ein geiziger und schmutziger Mann gewesen ...
Er hat den Hirten mit der Schafherde durchs Dorf kommen sehen und im Dorf fing der Hirte eine kleine Unterhaltung an - langsam ziehen die Schafe weiter - : er hätte die ganze Nacht ein Schaf gesucht , gegen Morgen hätte er es gefunden ; und sein verwittertes Gesicht strahlte vor Freude .
Am selben Tag , am Spätabend , kam noch die Nachbarin gelaufen und erzählte : der Bauernsohn , der leichtfertige , der vor drei Jahren im herrischen Zorn und mit breiten Worten aus dem Elternhaus und dem Dorf gelaufen war , wäre wiedergekommen .
In der Dämmerung hätte er stundenlang an der Straße gestanden und nach den Lichtern im Elternhaus gesehen ... in Lumpen .
" In solchen Lumpen !
Und nun :
was meint ihr ?
... hört ihr ? "
Und sie hörten durchs Dorf das Singen und Jubeln .
So sehr freuten sich die Eltern , daß sie ihn wieder hatten .
Da stand das Kind von seinem Lager auf und trat vor die Tür und hörte das Gesinge .
Das Stadtkind ?
Was sieht das Stadtkind von Welt , Natur- und Menschenleben ?
Einen armseligen , kleinen , häßlichen Ausschnitt .
Aber das Dorfkind sieht die ganze Welt , mit allem was darin ist , im kleinen .
Es war ein scheues , vorsichtiges Kind ; es stand abseits und sah mit verwunderten Augen auf das Leben .
Es spielte wohl mit den anderen Kindern ; aber es geschah oft , daß es aus dem spielenden Haufen herauskam , wie willenlos , als träte ein Unsichtbarer zu ihm und sagte mit leisem Ernst : " Gehe ein wenig zur Seite . "
Dann wurden die Augen des Kindes still und stiller ; Schleier über Schleier sanken darüber .
Aber es wurde nicht dunkel in seiner Seele ; sondern je mehr die Außenwelt im Dämmern versank , entglomm in seiner Seele ein stilles , helles Licht , das wuchs , und erfüllte den ganzen Seelenraum wunderbar , mit einem reinen Glanz und mit einer holden Wärme .
Weh und wonnig stand die Kindesseele im heiligen Saal , vor hohen Türen , die sich bald öffnen werden ... " nun ... bald ... dann sehe ich seligen Himmelsschein ... "
Da kamen die spielenden Kinder und weckten ihn und sagten zueinander :
" Jesus träumt wieder .
Seht , wie er träumt . "
Da kam er zu den anderen Kindern , die Augen noch verwirrt von süßer Erinnerung , das Gesicht von einem leisen Schmerz verzogen .
An jedem Sonnabend stand das Kind und der Jüngling mit den anderen Dorfleuten in dem Schul- und Bethaus des Dorfes , in dem ein ernster Lehrer langsam und feierlich aus den alten Chroniken und Gebetbüchern vorlas .
Ein Klerikaler und Nationalist , las er mit harter , finsterer Stirn die vielen Gebote , die Gott gegeben hatte .
In einem fort ging es :
" Du sollst ... Du sollst ...
Wenn du das tust und das , und das ... bist du Gott angenehm ... "
Der tapfere scheue Knabe hörte zu und wurde verschüchtert und konnte es nicht verstehen ...
Da legte der Lehrer das Buch hin und nahm ein anderes ; und nun wurde die Stimme des ernsten , vergrämten Mannes warm und seine Augen wurden heiß .
Von Helden las er , welche vor alters im Volk aufstanden , wie Birken aufsteigen im Heidekraut .
Die grübelten schwer und einsam , ob sie das raten könnten , was als ein dumpfes Rätsel über allem Menschenleben lag : das Rätsel vom Geborenwerden und Sterben , von Gewissen und Gott , von Schuld und Gerechtigkeit , und wie eine feine Menschenseele sich durch das Leben fände , ruhevoll und unsträflich .
Und einige dieser Grübler , dieser Helden , drangen durch die Angst und durch die Nacht , nicht mit eigener Kraft , sondern : so wie Kinder , die ängstlich durch das Dunkel laufen , bange ... wie klopft das Herz !
... und laufen zuletzt in die ausgebreiteten Arme der Mutter ; eine Weile noch schluchzen sie stoßweise ob dem Wagnis und der Angst , dann werden sie ruhig und lachen : so liefen diese Helden aufs Geratewohl , auf Treue und Glauben , in einem blinden , heißen Vertrauen , bis zu den Füßen der ewigen Macht : " Ewige Macht !
Wir glauben , daß du Güte bist ! " und dann , von dieser also erstürmten und gewonnenen , herrlichen Friedensstatt aus , das tapfere Gesicht ihrem Volke zugewandt , redeten sie von der Not der Gottfremde , von der großen Gottesgüte , von der Hoffnung auf die wunderbare Gotteshilfe , von dem " Heiland " , der kommen und das Volk rein und glücklich machen sollte .
Der Knabe hörte diese Reden der großen , heiligen Helden , und sein junges Herz füllte sich mit hoher , heimlicher Wonne .
All das vorige " du sollst , du sollst " war vergessen .
Alle Angst war dahin .
Er sah und träumte bis in die Nacht hinein von den Helden , die so tapfer an Gottes Güte geglaubt hatten und ihr unglückliches Volk so heiß geliebt hatten , und von dem tapfersten und reinsten von allen , dem , der noch kommen sollte , dem " Heiland " , und schlief selig mit heißen Wangen ein .
Es waren im Dorf schlichte , ungelehrte Familien , von der Partei der Stillen im Lande .
Wahrscheinlich gehörten auch seine Eltern dazu .
An der Hausschwelle und am Herdfeuer hörte er mit zarter , weit offener Seele , was Eltern und Nachbarn von alten Zeiten her glaubten und träumten : von Gott , der mit vielen guten Engeln oben im blauen , seligen Himmel haust , und von dem Teufel , der da auch wohnt , aber in der finsteren Ecke , hinter den schweren , grauen Wolken , die im Norden am Himmelsrand liegen ; viele böse Engel sind bei ihm .
Und Gott und die Seinen , und der Teufel und die Seinen , die fallen und steigen Tag und Nacht , weben und wirren , heilen und schlagen am Menschengeschick .
Jede Krankheit und aller Irrsinn kommt von den bösen Engeln .
Wie werden die Kranken im Dorf von den bösen Engeln gequält !
Und in dem Irrsinnigen , der am anderen Ende bei seinen Eltern wohnt , hausen sieben Engel und Geister des Teufels , und lassen ihn wild aufschreien , daß man es im ganzen Dorf hört .
Aber das wird einst alles anders werden .
Alle Not und Plage von fremden Menschen und bösen Geistern wird einst ein Ende nehmen .
Der " Heiland " wird ja kommen .
Von all den heiligen Helden der größte .
Einige sagen :
er wird ein Engel sein und vom Himmel fallen , andere sagen :
er wird ein Mensch sein aus altem , verarmtem Königsstamm .
Der wird mit Gottes Hilfe eine Gottesherrschaft im Lande einrichten , von den Heidedörfern im Norden bis hinunter nach der großen Stadt .
Dann wird das ganze Volk frei , heilig und glücklich sein .
So hörte der Knabe alles , was in seinem Heimatsdorfe in dieser schweren , unruhigen Zeit an Kirchenglauben und an Volksglauben lebte .
Er übte an all diesem keine Kritik .
Er hat überhaupt bis in seinen Tod kein Stück vom Glauben oder Aberglauben seines Volkes verworfen oder verachtet .
Er lebte wie sein ganzes Volk und seine ganze Zeit in einer verzauberten Welt .
Auch für ihn stiegen sein ganzes Leben lang die Engel Gottes herunter .
Er sah den Teufel herunterfallen wie einen Blitz ; und er hielt die Kranken und Irrsinnigen für Leute , in denen die Satansengel wüteten .
Er glaubte , daß ein Mensch mit Gottes- oder Teufelshilfe übernatürliche Dinge tun könnte und daß die Toten , die in der Erde schlafen , aufwachen und umhergehen können .
Aber das war die besondere Gabe , der große , schlichte Zug in diesem aufkeimenden Menschenkind : alle Töne , die rund um seine Seele aus dem Volk und aus den alten Büchern klangen , vernahm es , aber ein Ton klang ihm durch , überklang von Jahr zu Jahr , heller und stärker , klang über alle Töne , rein und voll und ganz klar - alle anderen Töne klangen daneben leise - der Ton , der zu seiner Zeit in seinem Volk verklungen war , und in den anderen Völkern noch nicht angeklungen hatte , der Ton , den jene alten heiligen Helden vernommen hatten und hatten darauf geantwortet : " Laß mich jubeln über deine Gnade , daß du meinen Jammer angesehen und dich um die Not meiner Seele gekümmert hast . "
Und das war sein gewaltiges Heldentum , daß er in dieser dumpfen , niedrigen , wirren und wilden Zeit mit diesem hohen Bekenntnis der Güte der ewigen Macht hervortrat und dafür in jungen Jahren in den Tod ging ...
Vorerst aber ist er noch ein Knabe und Jüngling , unsicher ; und hütet zweifelnd , verwundert , wunderbar tiefe Gedanken .
Da kam die erste Jünglingszeit .
Er lernte im Dorf ein Handwerk .
Zimmermann wurde er ...
Er kam übers Dorf hinaus .
Er wanderte im trockenen Flußlauf das Tal entlang und sah die Trümmer des Hauses , das der letzte Platzregen vom Sandabhang herabgerissen hatte , und kam bis an den Meeresstrand , und sah die Boote der Perlenfischer durch die Brandung tanzen , und der Kaufmann stand mit der Ledertasche und wartete , was sie gefangen hatten .
Er wanderte durch die verarmten Heidedörfer bis an den Binnensee und stand vor dem Schloß , das der verdorbene Herzog sich gebaut hatte , und hörte das unglückliche Volk von seiner Härte und von seiner Königssünde reden , und sah die zahllosen , heimatlosen Armen , und die Kranken und die Irren an allen Straßen liegen , und sah die Haufen Soldaten und Zollbeamten an allen Straßenecken gegen das verarmte Volk wüten ...
Er zog mit den Leuten aus dem Dorf drei Tagereisen weit nach Süden zu , nach der großen Stadt , nach dem gewaltigen Gotteshaus .
Da sah er die vornehmen Liberalen in seidenen Mänteln , als Kirchenfürsten , zur Festtafel des fremden Statthalters gehen , zwischen all dem Hunger und Jammer des Volkes hindurch .
Und sah die Nationalisten in strengen Trauerkleidern an den Straßenecken stehen .
Und das Volk läuft stumpfsinnig ihnen nach , füllt die Kirche , plappert Gebete , bringt den Rest seiner Armut zu den reichen Priestern ...
Unterwegs auf dem Heimweg sprachen die Dorfgenossen darüber , ob es wohl recht wäre , was die Nationalisten behaupteten :
Man müsse den Priestern die befohlenen Gaben bringen , wenn auch die eigenen alten Eltern darüber verdürben und stürben , denn Gott und sein Gebot ginge doch über Kindesliebe ?
Und ob es wohl wirklich Gottes Wille wäre , daß man am Sonntag keinen Finger rühre , nicht einmal , um einem Menschen oder einem Tier aus der Not zu helfen ?
Sollte Gott so kleinlich sein und so eifersüchtig ?
Darüber grübelten sie lange beim Wandern und schwiegen , bis plötzlich einer , der zu den Stillsten im Lande gehörte , mit zitternder Stimme ein altes Lied anstimmte :
" Zu dir erhebe ich meine Augen , du Thronender im Himmel !
Sieh : wie die Augen der Knechte auf die Hand ihres Herrn sehen : so schauen unsere Augen auf unseren Gott , bis er sich unser erbarmt . "
Er kam ins Dorf zurück und schwieg .
Er lebte still in seinem Elternhaus und arbeitete in seinem Handwerk , baute und besserte an den Häusern im Dorf .
Er sah sein Handwerk und alles , was Natur und Menschenleben ihm entgegenstellte , mit wachen Augen an .
Aber seine Augen blieben darin nicht hängen wie Fische im Netz , sondern glitten wie Sonnenstrahlen durch alle diese Erscheinungen hindurch , und suchten ihren geheimen Grund : die ewige , heimliche Macht .
Er freute sich über das wogende , reife Weizenfeld , und über die Lilie , die am Teiche blühte , und über das junge Mädchen , das vor der Haustür stand ; aber er ließ es da wogen , blühen , stehen .
Alle Erscheinungen waren ihm nur ein Gleichnis für das , was dahinter , weit hinten , im Dunkel stand : die ewige Macht .
" Du bist nichts anderes als Heiligkeit und Liebe .
Wenn doch alle Menschen mit mir dies glauben und mit mir fröhlich sein wollten .
Ewige Macht , was bin ich und was sinne ich ?
Vater im Himmel !
Sende bald den Helden aus !
Groß ist die Not in meinem Volk . "
Die Leute im Dorf sagten :
" Ein stiller , wunderlicher Mensch ist er , von tiefer Klugheit , von heiligem Ernst , von unendlicher Güte , und rein wie ein Kind an Mutterbrust . "
Mehr sahen sie und wußten sie nicht .
Sie ahnten nicht , daß hinter diesen stillen Augen die Seele immer weiter und tiefer wurde .
Er selbst wußte auch nicht , was mit ihm war .
Er war ein armes , unruhvolles , bald jauchzendes , bald unsäglich banges Menschenkind , ein Menschenkind , von göttlichen Gedanken geschüttelt wie von Wehen , ein Genius in angstvoller Werdezeit .
Die Zeit geht hin ...
Er wird um dreißig Jahre alt .
Es gibt Leute im Dorf , welche ihn nach großen Dingen fragen ; aber er sieht zur Erde und sinnt : es ist ihm zu schwer zu antworten .
Einige Stille , Gütige und Tiefe im Dorf denken und sagen : " Was wird aus ihm ?
Laßt ihn !
Wartet : er wird einst auffliegen wie ein Adler . "
Andere schütteln den Kopf und sagen : " Was ist er ?
Ein wunderlicher Mensch , weiter nichts . "
Seine Stunde ist noch nicht gekommen :
Geist und Seele sind noch nicht klar .
Gott glüht und hämmert noch .
Denn wie es von jenen alten , heiligen Helden heißt :
" Ich mache dich heute zu einer eisernen Säule und zu einer ehernen Mauer gegen das ganze Land , gegen seine Regierung , seine Kirche und gegen die ganze Bevölkerung " : so hart , so eisern muß auch er werden , denn er soll allein stehen seinem ganzen Volk gegenüber .
Es liegt eine schauerliche Schwüle über dem Volk : Druck in den Seelen , Last von oben , Armut , Irrsinn ...
Bleierne Wolken vom Meer bis zum See , von den Heidehügeln im Norden bis zur großen Stadt im Süden .
Einmal , zweimal brennt es am Walde oder auf der Heide .
Ein verzweifelter , kühner Mensch tritt auf :
" Ich ... ich bin der Heiland !
Stehe auf , mein Volk !
Stehe auf ! "
Die Regierung tritt das Feuer mit wildem Fluche aus .
Die Menschen atmen schwer und mühsam .
" Wann kommt Hilfe im dürren , lechzenden Land ?
Jetzt oder nie .
Gehe hinaus , Kind : sieh nach , ob das Gewitter aufsteigt . "
" Es ist nichts , Vater . "
Da grollte der erste , schwere Donner über das Land .
* Im Süden des Landes , nicht weit von der Hauptstadt , stand einer auf , einer wie die alten , heiligen Helden .
Aus dem verzweifelnden Volk schoß er auf .
Da stand er und sprach .
Was er sprach , war halb Verzweiflung , halb lachende Freude .
" Volk , Volk , höre , was ich sage .
Sind wir am Ende mit Leben und jeglicher Hoffnung ?
Geht uns die Not bis an die Kehle ?
Wohlan : Ihr wißt , was die alten Bücher erzählen :
Aus vermorschtem Königsstamm soll aufschießen ein junger Zweig !
Er muß kommen .
Er kommt !
Jetzt !
Er ist ganz nah ...
" Er kommt : ein Mensch von wunderbaren Kräften , Gotteskräfte in ihm !
Gottes Engel ihm zur Linken und Rechten !
Er wird die Unterdrücker verjagen und töten , und dann wird er anfangen , furchtbar im Volk zu hausen .
Die Nationalisten , die aufgeblasenen Frommen ; die Liberalen , die im Kirchenregiment und bei Hofe sitzen , die glatten , seidenen : alle diese Heuchler und Scheiner , die reichlich leben und um den Jammer des Volkes sich nicht kümmern , die dem Volk schwere Lasten auflegen , als wären es Gottes Gebote , und selbst keinen Finger dafür rühren , die des Volkes Landstücke mit Schulden belasten , seine Häuser auffressen und fleißig dazu beten : die sind Gott und seinem Boten ein Greuel .
Er wird sie alle vernichten ...
Wenn er aber alles dies vollbracht hat , vertrieben der Feind , tot die Verderber des Volkes , dann die übrigen , die Unterdrückten , die Stillen im Land :
die werden dann wohnen im gereinigten , freien Vaterland , im stillen Glück , er ihr herrlicher König , sie sein befreites , fröhliches Volk ...
Wo seid ihr , ihr Armen und Reinen ?
O , wie Wenige , mein Volk !
Horcht : er kommt !
Heiligt die liebe Seele !
Alles Böse weg aus Herz und Leben !
Horcht !
Die Schritte des Heilands ! "
So sprach er in abgebrochenen Worten .
Er sprach zu einem verzweifelnden Volk .
So klingt noch vor Morgengrauen die Lärmtrompete über das Heer , das in unruhig quälendem Schlaf , dicht vor dem Feind , auf dem Felde liegt ...
Das ganze Volk hörte seine Stimme .
Die Liberalen lachten : " Ach , leben und leben lassen ! "
Die stolzen Kirchenleute standen starr :
" Was ?
Der Heiland soll kommen , als unser Feind ?
Was für ein Narr ist der da ? "
Die Elenden und Stillen im Land sprangen auf :
" Was ist das für ein Ton ?
Was redet er ?
Vom Ende des Jammers ? "
Da machten sie sich auf in Scharen hin zu dem Mann .
Da drang der helle Ton auch zu dem Stillen , Tiefen , zu dem Zimmermann Jesus , der im Norden des Landes im Heidedorfe hauste .
" Was ist das ?
Was redet er : Falsch , sagt er , ist die ganze Frömmigkeit , welche die Kirchenleute lehren ?
Heilige , reine Menschen will Gott ?
... Ja , die will Gott . "
Wie wenn in der Herbstnacht ein Sturm losbricht vom westlichen Meer her und braust ins Land hinein und stürmt gegen die hohen , dichten Buchen , die den tiefen , tiefen Waldsee umstehen , und kann sie nicht brechen , und hält in wildem Zorn den Atem an und ... plötzlich , mit geschwellten Muskeln und wildem Willen ... stürzt er sich wieder auf die starken Bäume , und nun krachen und brechen sie , und durch sie hin stürzt er auf den Waldsee und schlägt ihn und quält ihn : so stürzte die Unruhe in seine stille , tiefe Seele hinein .
" Was sagt er ?
Der langverheißene Heiland kommt jetzt ?
Jetzt ?
Jetzt kommt das große Wunder ?
Frei und selig wird das Volk ?
Jetzt ?
... Ja , jetzt !
Jetzt !
Denn die Not geht uns bis an die Kehle .
Ja , jetzt kommt er .
Ich will hingehen und den Mann sehen . "
Da legte der junge , stille Meister Hammer und Winkelmaß hin und machte sich auf .
Unterwegs glühte die ewige Macht und hämmerte und hämmerte .
" Der Heiland kommt ...
Wie sieht er aus ?
Wie wird er sein ?
Gott wird gewaltig in ihm wohnen samt seinen guten Geistern ... "
Und als er am zweiten Tag gegen Abend ankam , standen da Scharen von aller Gegend , von der Westsee und der Ostsee , von der großen Stadt im Süden und von den Heiden im Norden .
Belogen und betrogen von König und Kirche , ein verwirrtes , mißhandeltes , verzweifelndes Volk starrten sie auf den einen festen Mann , der vom Sturz des Königs und der Reichen und Kirchenfrommen redete und von der seligen Zeit , welche danach , nun bald , für alle , die ohne Sünde sind , kommen werde .
" Der Bote Gottes , der Heiland ist nah : der hat in der einen Hand den Tod , in der anderen ein glückseliges Leben im freien Vaterland ... "
Da drängten sich Tausende zu ihm und knieten im Wasser , das da über den weißen Sand zum Tal läuft , und gelobten unter seinen Händen : " So klar wie das Wasser und der Sand , so rein soll unsere Seele sein :
so werden wir unter dem heiligen Helden wohnen dürfen im reinen , glücklichen Vaterland , wir Stillen und Demütigen und Elenden im Land . "
Der Dorfmann vom Norden her wurde von diesem Anblick , von dieser großen Stunde hingerissen .
Er , dessen Seele da oben in der stillen Heide in Gefahr gewesen war , in Dämmerung zu verträumen oder in Unruhe sich zu verirren , wurde durch diesen Mann und diese Stunde aus dieser Gefahr herausgerissen zur Klarheit und zur Tat .
" Was sagt der Mann ?
... Reine Menschen sollen im reinen Vaterland wohnen ?
Wie aber wird ein Mensch rein ?
Das weiß er nicht .
Das weiß keiner im Land .
Weiß ich es ?
... Weiß ich es ?
Das reine Leben im Land ?
Ich ... ich kann es zeigen !
Trage ich es nicht seit meinen Kindertagen in meiner Seele ?
Dein Kind bin ich , Gott , seit ich denken kann .
Dein reines und geliebtes Kind .
Alle Sünde unmöglich in deiner Gemeinschaft ...
Nahe ist das Gottesreich !
Nahe ist das Glück meinem armen Volke !
Ja : nah ist es ...
Es muß nun kommen .
Hilf , Vater , deine Herrschaft komme !
Mein ganzes Volk selig und rein wie ich , an deinen Knien ! ...
Vater ... was soll ich tun ... ? "
Überflutet von diesen schweren Gefühls- und Willenswogen kniete auch er im weißen Sand und drängte sich mit heißer Hingabe an die ewige Macht .
Und da , als er sein ganzes Sein und Leben also willenlos der ewigen , heiligen Macht an die Knie drängte :
" Ich bin dein und will , was ich soll :
O du mein lieber Vater , du Gütiger , du Treuer ... " da kam ein Augenblick des von Sinnenseins , eine selige Verzückung , er fühlte und hörte , daß die ewige Macht , der » Vater im Himmel « , seine heiße Hingabe und seinen reinen Willen annahm :
" Du bist mein liebes Kind .
Ich freue mich deiner . "
Er stand auf und trat zurück .
Er blieb die Nacht in dieser Gegend , in seligen Gedanken , in hehren Ahnungen , in einem neuen , schönen Licht , in jubelnder Freude , daß klar geworden war , was von Kind an seine dumpfe Not und selige Freude gewesen ...
" Ein Prophet bin ich !
Ein Verkünder ewiger Wahrheit , wie die alten heiligen Helden !
Das Glück kommt über mein armes Volk !
Die Gottesherrschaft !
Sie kommt .
Ich melde sie an ! "
Da machte er sich am Morgen auf , wieder nach Norden zu ...
Er geht zwei , drei Stunden lang .
Da führt ihn sein Heimweg in eine einsame , ganz öde Gegend seines Vaterlandes .
Da legen sich die hohen Wellen seiner Gefühle .
Sein Sinn wird , wie er so in der öden Heide weiter wandert , schwer und schwerer .
Er steht still und grübelt .
" Wenn ich nun morgen abend nach Hause komme , dann muß ich auftreten ... ich , der Scheue ... und muß sagen : rein das Herz und das Leben ; die Herrschaft Gottes kommt " ...
Sie alle warten auf einen heiligen Helden , der uns mit Schwert und Wort frei macht vom fremden Joch .
" Heraus mit dem Schwert ! "
Das aber kann ich nicht .
Das hat Gott in mir nicht gesagt ...
Oder kann ich es doch ?
Ich habe Gewalt über die Menschen .
Soll ich verkünden , was ihnen gefällt ?
Soll ich ein wenig ändern , was Gott in mir sagt ?
Was ich ihnen sagen will , ist zu hoch und heilig ...
Ja , die Stillen im Land !
Aber meine Mutter und meine Brüder und die Reichen im Dorf !
Und die harten Nationalisten und der Herzog !
Die einen werden mißtrauisch sein , die anderen werden drohen , der dritte wird mich verfolgen und gefangen setzen ... Wohlan :
ich muß es ein wenig ändern .
Ich muß es ändern .
Ich will mich bunt und herrlich kleiden , in Wundern und großen Taten , und dann :
" Ich bin der Heiland !
Das Schwert zur Hand ! "
So wird mein ganzes Volk zu mir stehen ...
Nein ... , böse Geister !
... Hebt euch weg , Satansengel !
... Ich will allein auf Gott hören . "
Der Tag vergeht und die Nacht kommt ; er kauert am Felsenhang , ein armer , einsamer , von schrecklichen Zweifeln zerrissener Mensch , ein Mensch in allerschwerster Not .
Er betet und hat einen Blitz der Stärkung ; er wird wieder mutlos ; er betet wieder ; er bittet seinen " Vater im Himmel " heiß , um Stärke , um klares Licht .
Er bittet : " Zeige mir die Wahrheit !
Sage mir : Soll ich meinem Volk mit deinem Schwert und deinem Wort helfen , oder allein mit deinem Wort ? "
Wie ein Edelwild im Käfig rastlos hin- und hergeht und zwischen jedem einzelnen Gitterstab hindurch in die Freiheit sieht und kann nicht hindurch :
so sucht seine Seele die ganze Nacht hin und her nach einem Ausweg .
Er hat es später in einer stillen Stunde seinen Freunden erzählt , und sie haben es geglaubt , denn es war der Glaube des ganzen Volkes : der Satan , der aus der dunklen Himmelsecke , der oberste der bösen Engel , der stand neben ihm und redete ihm zu : " Misch ' Erde in die reine Gottessache . "
Was an Menschenfurcht und Eitelkeit und sinnlicher Lust in ihm war , das rang mit der Kraft eines starken Mannes gegen das andere , das Reine , Heilige , das vornehmlich in ihm war .
Er hat tagelang gerungen .
Zuweilen wanderte er nach Norden zu .
Dann schrak er wieder zurück und ging wieder in die Heide .
Es war oft große Gefahr , daß er den Vater im Himmel verriet und als derselbe stille Handwerker wieder in seinem Dorf ankam , aber nun ein Mensch mit zerstörter , zerrissener Seele , und von Gewissensbissen verwüstetem Innenleben .
Es war oft große Gefahr , daß er Erde in das Heilige mischte :
" Heraus mit dem Schwert , ich bin der heilige Führer , den Gott dir verheißen . "
Die Zukunft der ganzen Menschheit hing in jenen Tagen an der reinen Seele , an dem Mut und der Treue eines einzigen Menschen .
Aber er war sehr tapfer .
Er dachte an die Freude , die er genossen , wenn seine Seele bei Gott stand .
Er drängte sich immer wieder im heißen Gebet an die Knie des Vaters im Himmel .
Wir müssen ihm das danken : dem Zimmermann Jesus aus dem Norden .
Er hat der Menschheit vorwärts geholfen .
Er stand zuletzt auf , siegreich :
" Deine Sache will ich ausführen , rein , ohne Schwert , ohne Irdisches .
Ich will dir glauben und nicht zweifeln : nahe ist dein seliges Reich , und ohne Schwert soll ich es betreiben .
Hilf mir , Vater im Himmel . "
Da , erzählte er , wurde er stark .
Engel aus dem freundlichen Himmel , erzählten seine Freunde nachher , standen um ihn .
Er fürchtete sich nicht mehr .
Er atmete hoch und ruhig auf und ging mit gefaßtem Herzen dem Norden zu .
Der Zweifel liegt nun dahinten .
Sein Menschenwille ist nun ganz still .
Er will nun nichts als den reinen Gotteswillen .
" Deinen Willen will ich tun .
Das Kommen deines Reiches verkünden .
Deine schöne Herrschaft ankündigen in meinem Land , und will mich um Menschenwillen nicht kümmern . "
Er wanderte nach Norden zu .
Hinter ihm her kam laut schreiend das Gerücht :
" Der Gottesmann am Fluß ist vom Herzog gefangen genommen ; er wird unter Henkers Hand sterben . "
Aber es ist keine Furcht mehr in ihm .
Er steht , in seiner Hand die reinste Sache , die es auf der weiten Welt gibt , rein und frei da , dicht bei der ewigen Macht , bei dem " Vater im Himmel " .
* In zwei Tagen erreichte er die Heimatlandschaft .
Das Heimatdorf selbst vermied er .
In einem freundlichen Dorf , ostwärts der Heimat , trat er zum erstenmal auf , ein freier Wanderprediger , nach der Weise seines Landes .
Er trat auf , ohne Zweifel und Furcht , mit glücklichen , strahlenden Augen , er hatte ja eine Vollmacht von Gott : " Tritt auf !
Rede !
Du bist mein liebes Kind .
Rede !
Was du sagst und tust , das sagst und tust du nach meinem Willen . "
Der Adler flog nun auf .
Er stand auf und ging ans Pult , zum erstenmal , und schlug die alte Chronik auf ; und sie sahen ihn an und sahen : der ist kein trockener Lehrer ; der ist ein Mensch , bis ins Innerste erregt ; ein Geist Gottes ist in ihm .
Er las die Stelle , wo stand :
Der Geist des Herrn hat mich gesandt : den Armen im Lande bringe ich frohe Botschaft ; den Gefangenen verkünde ich Loslassung ; den Blinden das Gesicht ; und er legte das Buch hin und atmete schwer und sagte : " Das alte Wort wird nun wahr .
Nun !
Du armes , bedrücktes Volk :
die versprochene selige Zeit ist nun gekommen !
Gottes freundliche , herrliche Herrschaft unter uns armen Menschen fängt nun an !
Gebt ihm euch hin , seid seine Kinder !
Dann verschwinden alle Schatten , die auf dem Menschenleben lasten , alle , alle : böses Gewissen und alle Not und auch der Tod .
Das ganze Menschenleben :
es wird schimmern wie Gottes Saal in lauter seligem Glanz .
Gebt ihm euch hin !
Seid Gottes Kinder !
Die Herrschaft Gottes kommt nun !
Es ist nun die selige Zeit , davon die frommen Helden geredet haben !
Hört , glaubt mir und freut euch !
... "
So sagte er .
Da freuten sich die armen , unterdrückten , zagenden Menschen und wunderten sich .
Sie freuten sich über alle Maßen und wurden hingerissen von dieser wunderbaren , herrlichen , langersehnten Hoffnung .
Er zog weiter , das Heimatdorf vermeidend , in die umliegenden Dörfer und Städtchen , von Ort zu Ort .
Er erschütterte seine armen , verzagten Volksgenossen aufs tiefste .
Er hatte in den langen , einsamen , verschlossenen Jahren das Menschendasein durchgrübelt bis auf den Grund .
Den ganzen Tag stand der Jammer in seiner Seele aufrecht : voll Not und Elend ist das Menschenleben und könnte voll Süßigkeit sein .
Den ganzen Tag stand das heiße Mitleid in seiner Seele aufrecht :
mich jammert meines Volkes ; ich will und muß es wandeln , daß es selig ist an den Knien Gottes , so wie ich selig gewesen bin von meinen Kindertagen an .
Den ganzen Tag stand unerschütterlich der hohe Mut der alten Helden aufrecht in ihm :
" Ich zwinge es ; ein Geist Gottes ist in mir ; ich überwältige meine Brüder , daß sie sich zu Gott stellen , wo ich stehe und sicher und fröhlich bin .
Für das Gute ist die Menschenseele geschaffen , göttlich ist ihr Wesen ; es wird ihr sicher gelingen , Satan hinauszuwerfen samt seinen Engeln .
Ein Sturmwind der Erlösung von dem Bösen wird durch das ganze Volk brausen ; die Guten werden die Bösen überzeugen und überwinden ; die Feurigen werden die Langsamen mit fortreißen ; die Stillen im Lande werden den Widerstand der harten Frommen brechen .
Dann werden Gott und seine Engel vom Himmel auf die Erde stürzen und im Volke herrschen ; ein reines , fröhliches Volk wird unter Gottes Hut stehen , frei von aller Sünde und aller Not , jedermann glücklich unter seiner Linde . "
Das war sein Glauben , das war seine Liebe und seine Hoffnung ; und das verkündigte er mit einem Geist , der aus der Tiefe wunderbar hervorsprühte , und mit Worten , welche wie Tautropfen im schönen Garten funkelten .
Und das verkündete er in einem lebhaften und von Natur edlen und tieffrommen Volke , das eine herrliche Vergangenheit hatte und nun in einem elenden , verzweifelnden Zustand nach Glück und Freiheit schrie .
Es war kein Wunder , daß er die Gemüter hinriß .
Es flog eine Erregung durch die nördliche Landschaft , seine Heimat ; es ging wie ein Hochzeitszug von Dorf zu Dorf .
Die trüben Augen der Menschen wurden wieder hell. Große Zeiten und ihre Stimmen , lange verklungen und verrostet , summten wieder und sangen .
Es wurden auf den Türschwellen und am Herd einmal wieder große Dinge beredet :
Gott und Seele und Vaterland , das Zeichen einer großen Zeit .
Es kam Schwung in die träge Maße .
Die Stillen im Lande hatten ihre helle Freude an ihm :
" Er zählt nicht an allen zehn Fingern her , was man tun muß und tun darf .
Siebenmal und siebenmal , und das darfst du essen , und das darfst du nicht tun , und wenn Sonntag ist , ist es so und so .
Wer kann sich um all die Gebote scheren ?
Er hat eine einzige einfache Wahrheit :
Gib dem Vater im Himmel und deinen Mitmenschen deine Seele !
Du sollst sehen : selig bist du !
... "
Da saßen und standen in der Abenddämmerung Fischer am Strand bei ihren Booten ; die hatten ihm zugehört und zugesehen .
" Simon ... was sind deine Augen so blank den ganzen Tag und sagst kein Wort ?
Bist doch sonst der Lebendigste ?
Was sagst denn du zu diesem Mann ? "
Da stand Simon vom Bootsrand auf , mit zitterndem Mund und die Augen an der Erde :
" Brüder , sorgt für mein Boot und mein Netz ...
Gott seine Seele geben ?
Das ganze Leben füllen mit Liebe und Treue ?
... Selig der Mensch , der mit ihm geht .
Ich ... ich will ihm nachgehen und sehen , ob das Gottesreich kommt . "
Die kleinen Zollbeamten umdrängten ihn .
Er war ihr Mann .
Die Nationalisten sagten zu ihnen :
" Siebenmal beten und waschen und Amt niederlegen .
Wenn ihr das und das und das nicht tut , seid ihr Sünder und vaterlandslose Wichte und kommt in die Hölle . "
Er nicht so .
Er schalt nicht ; er fluchte nicht .
Er zeigte ihnen das Glück der Seele , welche aus freier Liebe treulich auf Seiten Gottes des Guten steht .
" Ein leichtes Joch ist das , " sagte er , " und wirklich eine sanfte Last .
Dagegen all das andere : die vielen Kirchengebote , böse Taten , böses Gewissen , Angst , Lebensnot ... wie schwer ist das !
Das Menschenleben , fern und ohne Gott , ist viel zu schwer für Menschenschultern , aber als Kind an Gottes Knien , da kann man es wohl rein und tapfer führen .
Und danach kommt das Gottesreich . "
Als sie das hörten , freuten sie sich und sagten zueinander :
" Was soll man dagegen sagen ?
Das ist schlichte Wahrheit .
Was sagst du , Matthäus ?
... Matthäus , du bist ein Grübler :
was sagst du dazu ?
... "
Am selben Abend sah er den Matthäus in der Zollbude hinter seinem Amtstisch sitzen , und , so im Vorübergehen , warf er ihm einen langen Blick zu .
Der ging dem Mann durch und durch .
Er stand langsam auf , gebannt von den wunderbaren Augen und von der reinen , zwingenden Güte .
Mit blassem Gesicht nahm er seinen Mantel und ging hinter ihm her .
Alle die Kranken , die in langjährigem Siechtum , oft von ihren Kindertagen an , bei ihren Verwandten elendig dahinlebten , und alle die , welche Schwermut oder Einbildung oder Wahnvorstellungen oder ansteckende Krankheiten aus dem Familienkreis herausgestoßen hatten , die in abgelegenen , verfallenen Hütten lebten ... es waren Tausende ... diese alle kamen in heiße Aufregung .
Sie glaubten alle , daß sie wegen irgendwelcher Vergehungen von Satansengeln bestraft und bewohnt waren .
Zu diesen , von den Teufeln bewohnten , kam dies holdselige , gütige Menschenkind , dies Kind Gottes , und hatte in seinem Herzen nichts als Freude , nichts als übermächtige Hoffnung :
" Alle Not hat ein Ende !
Das selige Reich Gottes kommt ! "
Da schrien sie : " Seht !
Seht !
Einer von der Art der frommen Helden !
Ein Gott wohnt in ihm !
Ein Geist Gottes !
So muß er helfen können uns Armen , in denen ein Geist des Bösen wohnt ! "
Da umstand ihn ein Haufen Jammernder , Fluchender , Bittender ; wirre , irre , verkrüppelte Menschen .
Man kann sich das Bild nicht erschütternd genug malen .
Das Volk hatte wohl nicht mehr Kranke als ein anderes , aber all seine Krankheit lag ohne Arzt , ohne Hilfe , ohne Hausmauern , ohne Decke , ohne Barmherzigkeit auf der Straße .
Nun kam Hilfe .
Hilfe von Gott .
Zehntausend Kranke und ein Arzt !
Und er ?
... er ?
... er weiß eins :
im Reiche Gottes dürfen und werden keine Kranken sein .
Von all denen , welche das Böse abtun wollen , sich auf Gottes Seite stellen , fällt der böse Geist der Krankheit ab , wie Lumpen abfallen .
Da , wo Herz und Willen ihm entgegenschlugen :
da konnte er heilen .
Von seiner Seite ein heiliger , fast wilder Wille zu helfen , ein heißer Aufschrei zu dem " Vater im Himmel " :
Soll deine Herrschaft nicht kommen in diesem Land ?
Von der anderen Seite ein andrängender Glaube , die ganze kranke , zarte Willenskraft an seinen mutigen Augen hängend :
da konnte er helfen .
" Du bist Gottes Kind ?
Gottes Kind kann nicht krank sein ... Komme , gib mir deine Hand ...
So ... Stehe auf ...
So ...
Sei ruhig ... nun freue dich ... "
Da schrien die Irren : " Seht den » Heiland ! « ... der » Heiland « ist er ! " ...
Es durchschüttelte ihn .
" Der Heiland ?
... Führe mich nicht in Versuchung !
Böse Geister reden aus ihnen ! "
Er kam am Abend in ein Dorf am See und ging in die Hütte eines Bekannten .
Da füllte sich die Hütte gleich mit Menschen .
Fenster und Türen waren von Menschen vollgestopft .
Da war ein junger Mensch im Dorf , hysterisch , willenlos , nach seinem und des Dorfes Glauben vom Satansengel geschlagen , lag schon jahrelang in Stumpfsinn und Trübsinn , stumm und gelähmt .
Vater und Mutter nahmen die Bahre und kamen vors Haus und baten : " Laßt uns hinein ! "
Aber es war nicht möglich .
Da fassen starke Hände an und heben die Bahre aufs flache Holzdach und nehmen einige Bretter weg .
An Stricken gleitet der Kranke zu Jesu Füßen .
Ein Schreien erhebt sich , ein Rufen von allen Seiten , ein wildes Drängen , heiße , neugierige Augen sehen auf ihn :
" Du kannst helfen ... du mußt helfen ... hilf dem armen Menschen ... "
Der Kranke sieht mit bangen Augen zu ihm auf .
Da beugt er sich über ihn , heiliger Helferwille , stolze Gewißheit schoß auf den Kranken hernieder :
" Weil du mit herzlicher Bitte und bangem Glauben kommst :
du bist frei von böser Gewalt .
Machtlos sind die bösen Geister .
Gottes Kind bist du .
Gottes Zeit ist gekommen .
Stehe auf und gehe ... "
Da schrie der Kranke auf und hob sich ...
Es war eine große Zeit .
Ein Frühlingssturm ging durch das kleine Land .
Er trug den Sturm , und der Sturm trug ihn .
Die Herrschaft Gottes war in der Tat im Beginnen .
" Es ist klar : das ganze Volk wird erobert werden !
Alles Gottes Reich und Herrschaft !
Er , dessen Wille bisher nur oben im Himmel geschieht , der geschieht nun auch auf der Erde .
Das Land wird nun heilig , und ein heiliges Land wird glücklich und frei .
Wer und was soll Widerstand leisten , wenn Gott und Menschen zusammenstehen ? "
Da steigen an dem lachenden Himmel die ersten schwarzen Wolken auf .
Zwei , drei zu gleicher Zeit .
* Es war der Glaube seines ganzen Volkes , daß ein " Heiland " die Gottesherrschaft bringen würde .
Also fing es bald nach seinem Auftreten im Volk an zu raunen :
" Ist dieser der Heiland ? "
Es entstand ein schweres Grübeln und Fragen :
" Ist er es ?
Ja , er ist es .
Seht doch seine Augen :
er ist ein Gotteskind !
Seht , wie gütig ist er , und wie gesegnet sind seine Hände ! "
Aber dann stutzten sie wieder :
" Nein , er ist es nicht .
Wie könnt ihr sagen , daß er es ist ?
Wißt ihr nicht , daß der Heiland aus einem alten Königsstamm sein soll , daß er das Gesetz erfüllen wird und alle Krankheit heilen , daß er die Unterdrücker vernichten und ein Weltreich aufrichten will ?
Er ist nicht der Heiland ... "
Der Held sah , welch eine tiefe Kluft zwischen seinem und seines Volkes Glauben war .
Er sah , wie das Volk irre an ihm war , wie es sich von seinem alten , irdischen Glauben nicht losreißen konnte .
Er sah , wie es immer Lust hatte , ihn mit diesem alten Glauben zu verquicken .
So wie die trübe Brandung um die Felsen rauscht und springt , so wühlte und zerrte an ihm der wilde , irdische Glaube seines Volkes .
Das Volk will , es verlangt und fordert wild und heimlich :
Sei ein Heiland , wie wir ihn uns denken .
Er aber stand da : reines Herzens , holder Seele , ein Kind und ein Held :
ich will ein Heiland sein , wie mein Vater es will .
Da fiel auf seine hohe , reine Seele ein Schatten .
Die Kranken und die Irrsinnigen umdrängten ihn allzusehr .
Das war eine große Not .
Es ist dabei und daran , daß er ein Wunderdoktor wird .
Was das Volk auch jetzt noch immer und immer wieder als ein unumstößliches Urteil ausspricht :
Gesundheit ist das höchste Gut : das war auch damals sein Urteil .
" Mache ' mich gesund !
Und mich !
Und meinen Bruder !
Und mein Kind ! "
Leibliche Not stieg riesengroß um ihn und drängte ihn von seinem Wege ab .
Er war unterwegs , nicht um einige hundert Kranke von leiblicher Krankheit zu erlösen , sondern um sein ganzes Volk auf Gottes Seite herüberzuziehen und damit von allem Übel des Leibes und der Seele und des Staates zu befreien .
Er sah die Gefahr , die da riesengroß stand , es kam eine Unruhe über ihn , ein Hasten von einem Dorf zum anderen , ein Wunsch , auf einsamen Feldern grübelnd zu sinnen , ein Aufspringen :
wir müssen weiter .
Von Süden her , von der Hauptstadt her , kam eine dritte Not ...
Die Nationalisten und Klerikalen , die um die große Hauptkirche ihren Sitz hatten , schickten zu dem armen Landvolk des Nordens sonst nur ihre geringeren Lehrer , Priester und Agenten .
Nun aber kam von dort her dieser helle , klingende Ton : " Der Vater im Himmel richtete seine Herrschaft auf in unserem Lande und macht selig und frei . "
Da merkten sie gleich an dem frischen Klang , daß es eine Teufelssache wäre .
Da schickten diese Oberaufseher der Religion und des Patriotismus ihre engsten und schwärzesten Agenten nach dem Norden .
Die beobachteten ihn nun mit finsteren , harten Stirnen .
Was für ein Umgang !
Mit dem kirchenfeindlichen , gleichgültigen Volk !
Mit den Zollbeamten , den Landesverrätern !
... " Ja , " sagte er und spottete :
" Was soll ich mich um die großen Heiligen kümmern !
Um die Starken , um die Alleswisser !
Die brauchen keinen Arzt !
Ich liebe die , welche nach Heil und Heiligung aussehen , die nach Stärke hungern und dürsten ... "
Sie traten an ihn heran .
Rund um ihn her erhobene Finger , und an jedem Finger hing ein Gottesgebot .
" Gott sagt , man soll fasten . "
" Ach , " sagte er , " wir fasten von selbst , wenn uns Not und Angst die Kehle zuschnürt . "
" Gott sagt , du sollst am Sonntag nicht arbeiten . "
" Ach , " sagte er , " seid doch am Sonntag fröhlich und hilfreich ... "
In Worten , die von Klarheit und Güte glänzten , stellte er gegen ihre verdrehten und unsinnigen Anschauungen seine Wahrheit , die den Menschen einleuchtet wie Sonnenlicht ...
Er meinte noch , daß sich der Bruch mit diesen Leuten vermeiden ließ .
Er wurde ja vom Jubel des Volkes getragen .
Er dachte noch :
» Diese Dunkelmänner werden mit fortgerissen werden ; « er dachte noch immer in seiner reinen , mutigen Seele :
» Mein ganzes Volk heilig und selig unter Gottes Zepter « ...
Wenige Tage danach , über ihre Ohnmacht verbittert und verfinstert - es gibt nichts Grauenvolleres in der ganzen Welt , als wenn lieblose Herzen die Religion zum Beruf haben - raunen sie dem Volk zu :
" Ein Brecher der Gottesgebote ist er ; seht ihr es nicht :
Mit dem Bösen tut er seine Heldentaten . "
Da richtete der heilige und gütige , der immer barmherzige Helfer sich auf ; er stand vor ihnen , wie einst der Gottesengel im heißen , auffahrenden Zorn vor Kain stand : " Hütet euch !
Wer mit wissender Seele das , was gut ist , böse nennt , der wird ewiger Sünde schuldig . "
Da duckten sie sich und traten wieder zurück , und lauerten und berichteten nach Süden , nach der Hauptstadt :
" Dieser Mensch macht der Kirche hier im Norden ein schmähliches Ende ; er ist eine schwere Gefahr für Gott und Vaterland . "
Und sie lauern und schleichen ...
Und bald darauf bringen sie es fertig , daß seine eigene Mutter und Brüder sich aus dem Heimatdorf aufmachen und vor dem Hause erscheinen , in dem er gerade weilt .
" Wir haben gehört , daß einige sagen , er sei einer von den alten heiligen Helden ; andere sagen sogar : er sei der Heiland .
Ein armer , irrer Mensch ist er .
Helft uns , daß wir ihn mit nach Hause nehmen . "
Als sie ihm drinnen sagten :
" Die Deinen sind draußen und jammern um dich , " da stand dem tapferen , reinen Helden einen Augenblick das Herz still ; dann aber sah er wieder auf .
Und es war gut , daß er in diesem Augenblick , bei diesem Aufsehen , in einige Gesichter sah , die mit strahlenden Augen auf ihn sahen .
" Ich habe keine Mutter , " sagte er , " und auch keine Brüder .
Die , welche den Gotteswillen tun , die sind mir Mutter und Brüder ... "
Aber die Heimatwunde brannte .
" Von den Meinen verlassen ?
Sie kennen mich doch von meinen Kindertagen an und wissen , daß ein guter Geist von Gott wahrhaftig in mir ist ?
.. .
Ich ... ich will nach meinem Heimatdorf , ob sie mich nicht anerkennen ... "
Er ging von Dorf zu Dorf , durch die Scharen der Verehrer und der Neugierigen , der Elenden und Kranken , Kirchenagenten an allen Ecken : da kam er an .
Im Heimatdorf waren sie auf seinen Empfang vorbereitet .
Sie sahen ihn finster an .
Der Zimmermann Jesus , der Sohn des alten Joseph : der will klüger sein als die gelehrten Priester aus der Hauptstadt ?
Der will ein Heiliger und ein Held sein ?
Wohl gar der Heiland selber und das selige Gottesreich bringen ?
Wenn du kannst ... sieh ... da steht ein Kranker !
Den kennst du von Kind an !
... Hilf ihm ... "
In den Augen des Kranken ist kein Funke von Vertrauen und Liebe .
Sein Mut und seine Zuversicht sind gelähmt .
Er kann ihm nicht helfen .
Da spotten sie über ihn , und heißer Zorn flammt auf .
" Er hat unser Dorf lächerlich gemacht im Land , der Narr . "
Sie wollen sich an ihm vergreifen .
Er geht .
Die Heimat ist für ihn verloren .
* Von diesen Tagen an ging sein Weg in den Schatten hinein ; von diesen Tagen an hatte sein Gesicht einen Ausdruck heißen Kampfzornes .
Er weiß jetzt : nicht alle werden Gottes Kinder !
Scheidung muß kommen !
Davon redete auch der Held am Flußufer ; davon reden auch die alten Bücher .
Wohlan denn !
Also Scheidung !
" Ihr meint , ich bin gekommen , Friede zu bringen ?
Schwert bringe ich ... "
Er fürchtet sich nicht .
Seine flammenden Augen suchen den Gegner .
Er kennt seinen Weg und fürchtet ihn nicht .
Der Handwerksmann nimmt es mit seines Volkes Geschichte auf und mit den Großen seines Volkes und mit allen Dingen und Gewalten der Welt .
Er weiß : die Macht alles Bösen ist zu Ende !
Gott ist mit ihm und gibt ihm Sieg .
" Feuer ins Land zu werfen , bin ich da " : das ist seine heiße , neue Erkenntnis .
Und mit zornigen Augen fügt er hinzu :
" Wie wollte ich , es brennte schon lichterloh . "
Ein klarer , scharfer Trompetenton geht durch das Land .
So empfängt das Regiment , das im Morgengrauen aufrecht steht , das Signal vorzugehen und rückt gegen den Feind .
Es ging den Leuten durch Mark und Bein .
So tief stieg noch keiner zu den heiligen Quellen hinunter , wo im Menschen das Göttliche heimlich wohnt .
So gewaltig , so umstürzend sprach noch keiner .
" Hundertundzwanzig Gesetze halten , meine Brüder ?
Aufgelegt wie man einen Sandsack auf einen Esel legt ?
Das soll einen frommen Menschen geben ?
Beten , Fasten , Kirchenlaufen , Waschen ?
Das Herz rein , meine Brüder !
Und die Hände immer bereit zu Güte und Treue !
Die den Willen Gottes tun : nur die werden im freien , glücklichen Vaterland wohnen können .
Reinigt Seele und Leben !
Ganz heilig !
Das Reich Gottes ist nah und scheidet die Menschen !
" Was steht in dem alten Buch ?
Ihr sollt nicht töten ?
Ich sage euch : Weg mit jedem Zorn und jedem Haß .
Eure Seele glühe von Vergessen und Vergeben ...
Was steht im alten Buch ?
Ihr sollt nicht ehebrechen ?
Ich sage euch :
Reizt es dich , ein fremdes Weib von ferne anzusehen :
Straf dein rechtes Auge , reiße es aus ; sei einäugig ein Reiner ...
Was sagt das alte Verbot ?
Du sollst nicht falsch schwören ?
Ich sage euch :
Unter den Gotteskindern ist Lüge ein undenkbar Ding .
Ja und nein : das ist genug ...
Was ist ein altes heiliges Wort ?
Für meine Augen zahle deine Augen , für meines Bruders Zahn zahle deinen Zahn ?
Ich sage euch : Widersteht den bösen Menschen nicht .
Laßt euch schlagen !
Mit deiner Güte besiegst du ihn ...
Sei nichts als Güte und Erbarmen .
Gib alles hin : Rock und Familie . Habe keine Gedanken als : Vater im Himmel , dein seliges Reich kommt !
Was ist Hab und Gut , Recht oder Unrecht im Gottesland ?
... Wenn es euch aber geschieht , daß die alte böse Macht euch von Gott wegziehen will , dann ruft rasch und betet , betet dringlich und sicher .
Ihr werdet erhört .
Sicher werdet ihr erhört !
Wird ein gewöhnlicher Vater seinen Kindern , die ihn um Brot bitten , Steine in ihre kleinen Hände geben ?
.. .
Um was aber sollt ihr beten ?
Um Kleinigkeiten ?
Um Kleider und Schuh , Haus und Hof , gute , getreue Nachbarn und desgleichen ?
Nein .
Wohl um ein wenig Brot für heute , um das Leben zu bergen , wenn das wunderbare Gottesreich kommt .
Um das Gottesreich betet !
Betet , daß es kommt !
Betet , daß ihr bereit seid .
Betet : Vater unser , dein Reich komme !
Dein Wille geschehe auf Erden , wie er im Himmel bei den Engeln geschieht .
Gib uns heute Brot .
Vergib Schuld , wie wir vergeben . "
Er sah in ihre Gesichter und sah , wie schwer es darin kämpfte .
Er sah in ihren Augen den Kampf zwischen fröhlichem Glauben und niederdrückender Sorge .
Da redete er mit harten Worten gegen alles irdische Gut ... " Verflucht ist das Geld .
Und was im Schatten des Geldes schleicht , die Sorge .
Schuldig ist der Reichtum :
Er zieht die Gedanken an sich und allmählich die ganze Seele .
Schuldig ist der müßige , gedankenlose Reichtum , der das Volk vergißt , das arm und krank in enger , sonnenloser Wohnung rund um ihn wohnt .
Verflucht ist das Geld .
Hast du es , so bist du schuldig .
Sühne die Schuld .
Gib dein Geld hin , daß die Armut im Lande gelindert werde . "
Einer stand auf und kam zu ihm :
" Herr , mein Bruder betrügt mich um mein Erbteil .
Sage ihm , daß er es mir gibt . "
Er wandte sich verächtlich ab .
" Mensch !
Wer hat mich zum Erbschlichter gemacht !
Ich , ein Schiedsmann über Ackerstücke und Viehherde !
Ich bin da , zu sagen : Laßt fahren euer Geld .
Seht : Die Sperlinge säen nicht und die Lilien spinnen nicht , und der Vater im Himmel macht sie alle Tage satt und kleidet sie köstlich .
Sollte er seines Reiches Kinder , die Sorge seiner Seele , hungern und frieren lassen ?
Weg mit dem Geld !
Es ist nichts wert : es hindert euch .
Sammelt euch nicht Geld , sammelt euch Gottes- und Menschenliebe .
Sorgt um das eine :
Gottes Land soll unsere Heimat werden .
Bald !
Morgen !
Übermorgen !
Sorgt und kümmert , daß ihr der seligen Heimat und der seligen Zeit , die ganz nahe ist , würdig seid .
" Seid nicht bange , Gotteskinder !
... Zweifelt nicht an eurer eigenen Seele .
Gott wohnt in ihr und hilft ihr .
Seht wie klein ist das Korn des Senfs .
Man hält es zwischen zwei Fingerspitzen .
Und es wächst , und wird von selbst ein Bäumlein .
Seid nicht bange , Gottes Kinder , richtet allen Willen auf das eine : immer die Seele an Gott heranbringen .
Alles andere vergeßt , um alles andere kümmert euch nicht ...
Der Kaufmann geht an den Strand , will kaufen , was zu kaufen ist .
Da hat ein Perlenfischer eine Perle in der flachen Hand , von unendlichem Wert .
Sie ist billig zu kaufen .
Das ist ein Handel !
Das ist ein Handel !
Da ging der Mann hin , eilig ; er verkaufte und schlug weg Land und Haus und all seinen Hausrat , und kam wieder , das Geld in der flachen Hand .
Und kaufte die Perle .
Schwer reich wurde er in einem Augenblick .
In dem Augenblick , als die Perle in seine Hand hinüberglitt .
Menschen , rein die Seele und dicht bei Gott !
Gottes Seligkeit ist billig zu kaufen .
Seht meine Augen , und seht mein Leben und all mein Tun ...
Gottes Seligkeit wohnt in meiner Seele .
Gottes Seligkeit kommt ...
Sie kommt .
Seht mich an !
... "
Da stand da eine alte Mutter ; die hatte ihn immerzu angeschaut , mit heißen Augen ; die rief mit ihrer hellen alten Stimme : " Selig ist der Leib , der dich getragen hat , und selig sind die Brüste , die du gesogen hast . "
Die Seele des Helden ist noch immer voll von hochstehender Hoffnung .
Er vergißt und verachtet die Feindschaft der Klerikalen .
Die schlimme Wunde , welche die Heimat schlug , will vernarben .
Wenn auch viele mißtrauisch sind , Tausende stehen mit seligen Augen vor ihm .
Wie eine leuchtende Heroldserscheinung geht eine hohe Aufregung vor ihm her .
Getreue stehen links und rechts von ihm wie ritterliche Wachen .
Jubel schallt hinter ihm her wie wehende Fahnen .
Er wagt es :
er schickt die Treuen , die nun schon drei , vier Monate lang mit ihm ziehen , in die umliegenden Dörfer .
Sie erzählen :
" Alle Not hat nun ein Ende : das Gottesreich , das lang ersehnte , geht nun an .
Einer wie die alten Helden , ein Mann von wunderbarer Gnade bei Gott und Menschen , mit hoher Seele , mit Händen , die gütig und stark sind , wandert unter uns .
Er ruft den Tag des Heils aus , nimmt Sünden ab , schilt und vertreibt die bösen Geister .
Er hat uns ganz und gar bezwungen , unsere Seelen verzaubert , die unsäglich glücklich vor ihm stehen .
Glaubt uns , und tut alles Böse ab , daß ihr lachen mögt wie wir : wenn Gott im Himmel nun plötzlich allen unseren Jammer endet und mit vielen tausend Engeln sein Reich baut in unserem Vaterland ... "
So zogen sie aus und kamen nach einer Woche wieder .
Sie kamen mit strahlenden Gesichtern .
" Herr , denke dir : sogar die bösen Geister , die in den Kranken und Irrsinnigen wohnen , waren uns untertan . "
Da brach ein Jubel aus seiner Seele :
" Ich sah den Satan aus seiner dunklen Himmelsecke auf die Erde herunterstürzen wie einen Blitz , zu retten , was zu retten ist .
Er merkt , daß seine Herrschaft auf der Erde zu Ende geht .
Ich aber lache und juble dir , mein Vater im freundlichen Himmelsraum !
Ich lache und juble , daß du , Geheimnisvoller , mir dein gütiges Wesen offenbart hast und mich zu deinem Kinde machtest , und mir hilfst , viele andere Kinder dir herbeizuführen .
Ich lache und juble , daß niemand dich erkannt hat als ich allein , und daß sie alle nun von mir lernen und sehen , und selig werden .
Ich lache und juble , daß es nicht die großen Überweisen sind , denen du dein Reich öffnest , sondern Geringe und Ungelehrte . "
Im Jubel zog er weiter , immer gütig , immer aller Gnade voll .
Ein Nationalist , Simon mit Namen , ein reicher Mann , der gern berühmte Leute bei sich sah und gern den Weitherzigen spielte , lädt ihn zu Gast .
Protzig ist die Tafel in offener Halle gedeckt ; mit nackten Füßen sitzen die Gäste nach Landesweise .
Da entsteht in der Tür ein Gedränge .
Ein armes Mädchen aus dem Volk der Stadt , gequält von der Not eines wilden Lebens , hat gehört , daß er da sei , er , von dem man erzählt , daß in wunderbarer Weise ein Geist Gottes in ihm sei .
Sie steht und sucht ihn und kennt ihn an seinen treuen , gütigen Augen , und ihr brechen die Knie .
Und wie sie da liegt , kniend und weinend , wäscht sie seine Füße mit ihren Tränen und beugt sich tief , und trocknet sie mit den langen Strähnen ihres Haares .
In der Halle ist es still geworden .
Man hört nichts als ihr bitterliches Weinen .
Da sah der gute Held auf und sah das Gesicht seines Wirtes und sah den heimlichen Hohn darin : " Wenn du ein Heiliger wärst , ach !
Dann wüßtest du , daß sie eine Hure ist ! " ...
Da brach ein glühend Feuer aus seinen Augen : " Simon , ich habe dir etwas zu sagen . "
Da wurde es noch stiller .
" Ein Geldmann hatte zwei kleinen Leuten Geld geliehen , dem einen fünfzig Mark , dem anderen fünfhundert .
Sie konnten beide nicht bezahlen .
Da schenkte er es ihnen .
Sage mir : Wer von den beiden wird den Geldmann am meisten lieb haben ? "
Simon , mit breitem Gesicht :
" Der , dem am meisten geschenkt ist ! "
Da fuhr der Gütige im Zorn auf :
" Sieh , Simon !
Es ist Brauch in unserem ganzen Land , daß man dem Gast , der von staubiger Straße einkehrt , Wasser für die Füße gibt und einen Händedruck .
Du hast mir dies beides nicht gegeben .
Du meinst , du hast nicht nötig , freundlich zu sein , du meinst , du brauchst weder Gott noch Mensch .
Du meinst , du bist niemandem etwas schuldig , nicht einmal fünfzig Mark .
Du meinst : Ach , dies verlorene und verdorbene Weib ! ...
Dies Weib , Simon ?!
Wohl : Gott und Menschen viel schuldig , fünfhundert Mark !
Eine große Sünderin !
Aber sieh , alle ihre Sünde : vergeben ist sie und vergessen !
Darum , weil sie mir Wandersmann , und Gott , den sie in mir wohnend weiß , so viel heiße Liebe erwiesen hat .
Die Liebe zu Gott und Menschen , Simon , die deckt eine Menge Sünden zu .
Simon : ob dir vergeben ist ? "
Und er sprach gut mit ihr : " Gott im Himmel ist auch dein Vater und hat dich lieb .
Behalte du ihn auch lieb !
Behalte ihn lieb , auch wenn du dich aus deiner Sünde nicht herausfindest !
Nun gehe !
Weine nicht so ! "
So zog er von Dorf zu Dorf , immer der Große und immer der Heilige , mit erneutem Schwung , von Begeisterung getragen .
Aber hinter ihm her ... ziemlich weit hinter ihm her ... da , wo der Alltagsstaub sich wieder auf die erregten Seelen legt : hinter ihm her schleichen und wühlen die schwarzen Feinde .
So wie Krähen auffliegen vom Kirchendach , und fliegen und fliegen , und sehen das einsame Wild in das Winterfeld gehen , immer weiter , und fliegen leise krächzend hinterher : so kommen sie von dem großen Gotteshaus im Süden des Landes und fliegen nach Norden , und fliegen und schreien hinter ihm her : " Du meinst , du willst die alten Heiligtümer vernichten ?
Du sollst dich wundern , du Narr , wie tief und fest sie noch im Volke sitzen ! "
Sie reden mit heißen Worten auf das Volk ein :
" Volk , Volk !
Bleibe bei dem Glauben deiner Vorfahren !
Wollt ihr eure Väter in ihren Gräbern zu Narren machen ?
Ein ungelehrter Mensch !
Fern von allem Kirchentum , irgendwo in einem kleinen Dorf aufgewachsen , am Rand des Landes in der Heide ?!
Der tastet die Heiligtümer an , welche die gelehrten Gottesmänner bewachen ?!
Unseres armen , unglücklichen Volkes heiligstes und einziges Gut , seine Kirche ?!
Denn was haben wir sonst ?!
Der sollte der verheißene Heiland sein ?!
Erfüllt er eine einzige Bedingung , die zum Heiland gehört ?
Des Teufels Dienstmann ist er ! "
Sie wühlten und jammerten , drohten und ängstigten .
Sie redeten heimlich mit dem stumpfsinnigen Alter , und redeten heimlich mit den Weibern .
Sie faßten die Menge an der Dummheit und an der Pietät .
Sie befreiten die Menge von der bitterbösen Not , die Sache selbst entscheiden zu müssen .
" Wir sind Priester und wissen es . "
Viele hörten nicht auf sie .
Die tiefer und zarter Seele waren , mancher schlichte , ernste Mann , manches starke Weib , viele Arbeiter , die sagten :
" Was geht uns die Kirche an ?
Kümmert sich die Kirche um uns ? "
Viele sahen mit glücklichen Augen auf ihn , ganz hingerissen von seiner Gottinnigkeit , Güte und Wahrhaftigkeit .
Aber die große Maße des Volkes , dies dicke Tier ohne Augen und mit der schweren Bewegung , das ein wenig den Kopf gehoben hatte und ein wenig gelauscht hatte , als er mit seiner klingenden Stimme vorüberzog :
das ließ sich einschläfern .
" Die kirchlichen Gebräuche und Gebote sind gewiß doch heilig .
Wie wären sie sonst so alt geworden ?
Vater und Großvater haben sich abgemüht , sie treulich zu halten !
Weh mir , was für eine Zeit !
Daß man so schwer denken soll !
Sei vorsichtig , meine liebe Seele !
Meine liebe Seele , die Priester müssen es wissen !
Sieh , wie kluge Augen die Priester haben , und wie hoch sie die Stirn in Falten ziehen !
Fürchte dich , Seele !
Ich bitte dich , meine Seele , bleibe beim alten und sei ruhig ... "
Und das dicke Tier wurde wieder ruhig .
Und die Krähen flogen weiter , immer hinter ihm her .
Lautlos .
Der sonnige Held wandte wieder um und zog seinen Weg zurück .
Denn das ganze Gebiet , das er hin und her durchgewandert hat , ist nicht viel mehr als fünf oder sechs Tagereisen .
Und als er umwandte , merkte er , daß das Volk anders gegen ihn war .
Er merkte , daß es abfiel .
Er zog weiter und kam in ein Dorf , durch das er vor vier Monaten im Siegeszug gezogen war .
Die Leute blieben jetzt in den Türen , als klebten sie auf der Schwelle .
Er zog durch mehrere kleine Städte am See .
Vor vier , fünf Monaten hatten die Menschenmengen ihn hier bestürmt :
Irre schreiend voran , Kranke auf Bahren an der Straße , flehende Mütter , aller Augen voll heißer Erregung auf ihn gerichtet , alle zu seinen Füßen , und er fing an :
" Das Vaterland wird nun ein heiliges , seliges Land ... " jetzt : die Straßen leer , ein paar scheue Gesichter in den Türen .
Er kommt in das Städtchen am See , das er noch vor zwei Monaten " meine Stadt " genannt hatte , in dessen Straßen und Häusern die Begeisterung bis zum Himmel geschlagen hatte : Gottes Herrschaft war da ; sie regierte auf den Straßen und brannte in den Herzen .
Auch jetzt kamen wohl Kranke ; und es kamen auch alte Getreue .
Aber die Menge des Volkes hielt sich ängstlich in den Häusern .
" Wir hören keine Fanfaren vom Himmel her .
Gottes Herrschaft kommt nicht .
Er ist ein heiliger Held , aber er irrt sich " ...
Die Klerikalen reden und drohen .
Als er das sieht , dies lahme Sinken des Glaubens , dies ängstliche Zurückweichen vor ihm :
da kann er den heißen , schweren Zorn nicht zurückhalten .
Wie Jähzorn fliegt es in ihm auf :
" Weh euch , Städte am See !
Ihr habt wunderbare Dinge gesehen .
Andere hätten in Sack und Asche Buße getan .
Weh dir , meine Stadt !
Du warst bis in den Himmel gehoben : Du sollst bis in die Hölle hinuntergeworfen werden . "
Vorbei ist all sein Jubeln .
Eine schrecklich schwere Angst legt sich auf seine Seele .
Was sollte er nun tun ?
Seine Seele ist schwanger von einer großen , neuen Welt ; nun sieht er deutlich , er kann diese neue Welt nicht in Erscheinung setzen .
Was soll er tun ?
Er weiß , daß der Vater im Himmel dicht bei ihm und mit ihm ist ; aber die Menschen wollen nicht glauben .
Was soll er tun ?
Zurückgehen ?
Das kann er nicht .
Wie kann er von dem abfallen , der ihn so fröhlich macht ?
Wie kann er von der Wahrheit lassen ?
Was soll er tun ?
Sich mit den Kirchenleuten vertragen ?
Sagen : " Fastet weiter , wascht weiter , haltet weiter die Sonntagsverbote , aber habt daneben fromme , reine Herzen ? "
Das kann er nicht .
Wie kann man eine Wahrheit in zwei Hälften schneiden , die eine Hälfte behalten und die andere verkaufen ?
Und müßte er darum sterben :
er bleibt bei der ganzen Wahrheit .
Das Ganze tun !
Gott ganz dienen !
Und dann : wie Gott will !
.. .
" Wie will Gott ?
Was hat Gott mit mir vor ?
... "
Da kommen zwei schwere Ereignisse , gleich nacheinander .
Sie bringen die letzte Klarheit .
Sie zeigen , wie wildes Wetterleuchten in der Nacht , den weiteren Weg .
* Noch einmal , zum zweiten- und letztenmal , tritt die hohe , finstere Erscheinung vor ihn hin , die vor ungefähr sechs Monaten seine tief träumende Seele mit scharfem , hellem Ruf geweckt hatte .
Der Held vom Flußufer .
Er war jetzt ein Gefangener .
Er schrie in seinem Gefängnis , wie ein gefangener Hirsch nach dem frischen Wald schreit und dem freien Wind .
Er sandte zwei Getreue nach dem Norden hinauf .
" Geht hin und fragt ihn :
Was treibt er ?
Was will er ?
Das Volk jubelt ihm zu ?
Es hat ihn zum König machen wollen ?
Warum springt er nicht auf wie ein Löwe und füllt mit seinem Brüllen das Land ?
Ist es nicht die alte Verheißung :
Nach Süden zur Hauptstadt soll der Heilige Gottes ziehen , dort auf dem Thron der alten Könige sitzen , und im befreiten Volk ewig herrschen ?
Warum zieht er nicht nach der Hauptstadt , Schwert in der Hand , an der Spitze des Volkes , das ihm zugejubelt , nun schon sechs Monate lang ?
Geht hin und fragt ihn :
Bist du der gottgesegnete Mann , der Heiland , nach dem wir nun seit achthundert Jahren schreien ?
Oder müssen wir auf einen anderen warten ? "
Die Frage fiel dem gütigen Helden schwer auf die Seele .
Er erkannte :
" Auch bei ihm das irdische , trübe Heilandsbild !
Auch er versteht dich nicht ! "
Er gab eine kurze und klare Antwort : " Sagt ihm wieder : die Gottesherrschaft ist da ; und so sieht sie aus : Krankheit und bitterböse Sünde , und Geldnot und Sorge weichen , und das gedrückte Volk ist voll lachender Freude . "
Und er sagte , erschüttert von dem schweren Augenblick , der ihn nun auch von diesem tapferen Helden schied :
" Groß und treu ist dieser Mann , aber schwer ist sein Irrtum :
er meint wie die alten Frommen , mit irdischer Gewalt komme das Gottesreich .
Ich aber sage euch , die Reinen und die Demütigen , die sind Leute und Bürger im Gottesreich .
Ohne Wehr und Waffen , ohne Vorschriften und Formen stürmen diese hinein ins Gottesland . "
Als die Klerikalen das sahen und hörten , daß er so über die alten heiligen Vorschriften sprach , machten sie wieder einen Ansturm .
Und da sie merkten , daß das edle Wild nicht mehr so überstark war , fuhren sie dreister über ihn her : " Sage uns gerade heraus : wie stehst du zu allen den heiligen Geboten , welche unsere Kirche aufgestellt hat ?
Das sage uns ! "
Da warf er ihnen alle ihre hohen , heiligen Gebräuche und Gebote als einen Dreck vor die Füße .
" Ihr Heuchler , sind das Gottes Gebote ?
Unsinnige Menschenerfindungen sind es .
Stehen dick und breit im Volk da , wo Gottes Wille stehen sollte !
Weg mit all der kirchlichen Form der Frömmigkeit ; sie ist der Fluch des Volkes .
Aufs Herz und aufs Leben allein kommt es an ... "
Das war das Ende von allen sogenannten heiligen Vorschriften , das Ende von aller angemalten , dick prangenden Frömmigkeit .
Alle die alten Heiligtümer : die stolzen und kostbaren Kirchen , die Zeremonien , die tausende Priester , die Rosenkränze und Messen , die Opfer und Sakramente , die Wallfahrten und weiten Kirchwege , all diese schrecklich schweren Dinge , die seit Jahrtausenden auf der Menschheit lasten :
sie alle , alle stürzte der tapfere Mann in diesen Tagen .
Darum ruhte es nun auf seinen Schultern wie Schwere des ganzen Menschenschicksals .
Er war nun ein verfluchter Verbrecher , ein Gottesschänder .
" Hört !
Hört !
Habt ihr gehört ?
Alles Heilige schändet er !
Alles !
Ein Teufelsanbeter ist er . "
Da kroch die Maße , das blinde , dumme , dicke Tier , noch weiter von ihm zurück .
" Was nun ?
Was soll nun aus mir und meiner Arbeit werden ?
Ich glaube ... ich glaube ... es geht mit mir in Not und Tod hinein ...
Und geht es in Not und Tod ... fahre hin , junges Leben ...
Wenn ich nur wüßte : wie führe ich aus , was er mir in die Seele gelegt .
Mein Vaterland , wie mache ich , daß du rein und heilig bist , wenn Gott morgen kommt mit all seinen Engeln , sein Reich in dir zu errichten ?
Wie soll ich das vollenden , gehaßt von den Vornehmen und Frommen , von der Menge bald getragen , bald verlassen ?
Was fang ich an ?
Wie bringe ich mein Volk dazu , daß es einmütig mit mir hineinstürmt ins Gottesreich ?
Wie will er , daß ich ihm helfe ?
... "
Und sieh ... als er so bange fragte : da sah er , wie im Nebel , vor sich auf seinem Weg , die alte , heilige Wunderfahne wieder wehen , nach der sein Volk verzaubert starrte , nun schon achthundert Jahre .
" Ein Heiland wird kommen !
Ein Königssohn ! "
Wie starrt das Volk !
" Kommt er ?
Er kommt !
Da flattert die Fahne .
Da !
Da zuckt das Schwert ! "
Ein wilder Schrei der Freude fliegt aus dem ganzen Volk rauschend zum Himmel auf ; alles Volk zu des Heilands Füßen .
" Soll ich nach der alten Fahne greifen ?
Soll ich sagen : ich ... ich bin der Heiland ? "
" Die von bösen Geistern Bewohnten schreien :
» Du bist es . «
Das Volk wollte in mancher hohen Stunde , daß ich sagte : ich bin es .
Der teure Held vom Fluß fragt : » Bist du es ? «
Alle ahnen und wollen :
» Heraus mit der Fahne . « "
" Erhebe ich nicht die Fahne , so ist es aus mit Gottes Sache und mit meinem Volk ! "
" Hüte dich !
Fasse die Fahne nicht an !
Es klebt Erde daran !
Hüte dich : du weißt , deines Volkes Heilandsglaube ist ein anderer als deiner ; er ist wild und wirr !
Fasse die Fahne nicht an !
Sie ist nichts für dich !
Sie reißt deine reine Sache und dich dazu in einen trüben Wirbel und in den Tod . "
Er geht nach Norden über die Grenze des Landes .
Er will in der fremden Gegend allein sein , mit der kleinen Schar der Getreuen .
Seine Seele ist in schwerer , unruhiger Verwunderung .
" Ich weiß doch , daß mein Vater im Himmel mit mir ist ...
Mein Glaube irrt sich nicht ...
Gott herrscht in meiner Seele ...
Er wird seine Herrschaft gleich aufrichten im ganzen Land .
Wie wunderlich und schwer : mit Gott einig , und kann doch seinen Willen nicht zustande bringen ...
Und es wird Zeit :
ich muß nach dem Süden ziehen , durchs ganze Land , nach der Hauptstadt zu , auch dort zu sagen : das wunderbare Gottesreich ist nah .
Was soll ich tun ? "
" Höre ' !
Wie die alte Wunderfahne schwer und heimlich rauscht !
Ja , wer danach greift : der hat Gewalt .
Dem folgt das ganze Volk ! "
" Was singen die alten Bücher vom Heiland ?
Eine starke Gerte aus altem Königsstumpf ?
Nein , ich bin ein Kind aus schlichtem Volk und ein Handwerker . "
" Was singen die alten Bücher ?
Was erzählten sie in der Dämmerung an den Haustüren ?
Daß er irdische Gewalt an sich reißen und mit Roß und Schwert gegen die Feinde reiten wird ... Nein !
Das tue ich nicht , ich will nicht lassen von dem , was Gott mir ins Herz gelegt :
Selig sind die reines Herzens sind und die Sanftmütigen . "
" Was singen die alten Bücher ?
Singen sie kein ander Lied ?
... Doch ...
Sie singen auch von einem Friedenskönig .
» Sieh , Land , dein König kommt zu dir , friedfertig ! «
Nicht ein König der Schwerter über Schwerter , sondern ein König des reinen , hohen Geistes über reine Geister .
Der bin ich . "
So grübelt und so gestaltet er , ein Herr und Gewaltiger , auch über die Geschichte seines Volkes und über seine Zukunft .
Auch nicht ein Haar breit wurde er dem untreu , was seiner Seele heiliges Besitztum war .
Sie kehrten um und wanderten wieder nach Süden , der Heimat zu .
Und wie er sich dem alten Gebiet näherte , schwoll wieder die Menschenmenge , die ihn umgab .
In seinen Augen stand schon etwas wie Licht von einer anderen Welt .
Die Knie derer , die ihn ansahen , sanken .
Die Armen und die Kranken feierten hohe Tage .
Tausende zogen hinter seinen Helferhänden her und hinter seinen gnadevollen Worten .
Sie spürten nicht Hunger und nicht Durst .
Er machte die Seelen so fröhlich und leicht , daß sie des Leibes vergaßen .
Nur die Priester blieben kalt .
In ihren harten Herzen ist die Religion schon lange zu Gift geworden .
Sie treten ihm mit fliegenden Worten entgegen :
" Du bist ein Wundertäter ?
Aber was sind das für Wunder , die du getan hast ?
Kranke heilen ?
Das kann mehr als einer im Land !
Sieh hier , auf dieser Stelle , wo du stehst ... auf diesem Heideweg ... laß vom blauen Himmel herunter rotes Feuer regnen ... Oder , wenn es dir besser gefällt : so laß hier an deiner linken Seite , da neben dir auf dem Heideweg , mit reinen Füßen im weißen Sand , einen Engel Gottes stehen . "
Zornig fuhr er auf :
" Ein Zeichen vom Himmel wollt ihr , damit euch Glaube und Heiligung nichts kostet !
Ihr habt so Großes und Heiliges gehört und gesehen , was niemals auf der Welt gewesen ist , und habt doch nicht geglaubt .
Ein Zeichen vom Himmel ?
Das sollt ihr haben , wenn ihr Tote aufersteht zum Gericht ! "
Das Volk hat Frage und Antwort gehört ; es zweifelt wieder .
Es sieht ja nichts .
" Kranke heilen , ja das kann mancher .
Wunder tun auch !
Die Welt ist ja voll von Wundern ! "
Er wendet sich wieder nach Norden über die Grenze in die Einsamkeit , auf stille , menschenleere Heidewege .
Der harte , hohnvolle Angriff , das Zurückzucken des Volkes hat ihn getroffen .
" So komme ich nicht zum Ziel .
Selige Gottesherrschaft in meinem Vaterland !
Wie bringe ich dich zustande ?
Vater im Himmel , hilf mir ... "
" Du bist der Heiland !
Nun bist du stark ! "
Weiter auf öden Wegen .
" Was steht in den alten Chroniken von dem Heiland ?
Sie erzählen von Palmenzweigen und Kinderjubel , und fröhlichem Einzug in die große Stadt , und von herrlicher Herrschaft auf der hohen Burg über ein reines , gehorsames Volk .
So reden sie .
Aber ... wie ist es ... reden sie nicht auch von anderen Dingen ?
Summen und singen sie nicht von einem Volk :
» Das Volk wird seine Ohren taub machen und wird sein Herz hart wie Stein machen ? «
Sie singen auch von schnöder Verwerfung , von bitterer Verlassenheit , von jammervollem , einsamem Tod .
Sie singen nicht bloß von Sieg , sondern auch vom Tod des Heilands . "
" Und nach dem Tod ? "
" Was dann ?
... Und nach dem Tod ?
Was sagt das alte Buch ?
» Da kam einer wie ein Menschenkind mit den Wolken zum Himmel , gelangte zu dem Alten der Tage und wurde vor ihn gebracht .
Dem wurde dann Macht und Ansehen und Herrschaft gegeben .
Alle Völker und Rassen müssen ihm dienen ; seine Macht soll ewig und unverändert sein , und sein Reich niemals zerstört werden ...
« Es kann wohl sein , daß er sterben muß .
Aber dann wird kommen vom Himmel herab Gottes Kraft .
Sie wird in den Wolken des Himmels erscheinen in Gestalt eines Menschenkindes .
Mit Engeln und Gewaltigen wird es herniedersteigen und Gottes Herrschaft aufrichten . "
Seine Seele erhebt sich bis zu Himmelshöhen und weitet sich , daß sie die ganze Menschheit umfaßt .
Seine Seele spinnt ungeheuerliche Gedanken , malt an Bildern übergroßer Herrlichkeit .
Seine Seele geht bis an die Grenze des Menschlichen , bis an die Grenze eines erhabenen Wahnsinns .
Furcht ist nicht .
Sind die Herzen der Menschen von Felsen , so steht in der Chronik vom Heiland : » Härter als Felsen , hart wie Diamant mache ich deine Stirn . «
Nein : Furcht ist nicht .
Nein .
Den Willen seines Vaters kann er ausführen und wäre er noch so wunderbar und noch so schwer .
Wenn nur den Menschen geholfen wird !
An seiner Idee ändert er nichts .
Immer , vom ersten Tag seines Auftretens an , hat er die eine selbe Idee :
es kann mit der Menschheit nicht so weiter gehen , im alten Trott und alten Jammer , in Krankheit und Irrsinn , Unterdrückung und Elend , und Sünde und Schuld .
Es muß und wird ein Wunder geschehen , ein ungeheures Völkerwunder .
Die Gottesherrschaft wird und muß erscheinen ; darin werden reine , gottfröhliche Menschen , satt an Leib und Seele , den Willen Gottes ganz und lustig tun .
» Dein Wille , wie er im Himmel bei den Engeln geschieht , so wird er auch auf der Erde geschehen . «
Dies Erdenwerk , heilig und wunderbar , soll er mit Gottes wunderbarer Hilfe zustande bringen .
Das ist seine Idee .
Niemals und nicht um ein Haar breit verläßt er dies sein wahres , reines Selbst ...
Aber über die Ausführung grübelt und gestaltet er .
So wie er die alten heiligen Gebräuche beurteilt und gestaltet hat , so wandelt er und deutet er an der heiligen Hoffnung seines Volkes ...
" Ich muß nach der alten Fahne greifen .
Aber rein soll sie bleiben und rein mein Weg ...
Ich muß nach der alten Fahne greifen : der Glaube und die Begeisterung meines Volkes geht nur hinter dieser Fahne her .
Es ist Gottes Wille ; denn sonst hülfe er mir ohne die Fahne ...
Ich will nach der Fahne greifen .
Dann ... dann kommt ... mit Jubel und Brausen , vom Himmel her , mit vielen Engeln auf die Erde herab die Gottesherrschaft ... "
So grübelte und gestaltete der Gewaltige .
Hingerissen durch die harte Weltstunde , hingerissen durch seinen hohen , hehren Mut , geht dieser gewaltige Mensch neben den schweren Rossen her , welche im dumpfen Trott , im Halbdunkeln Tal den Menschheitswagen ziehen .
Er hält die widerwilligen , die schwerfälligen , die schäumenden an kurzem Zügel , und zwingt sie auf einen höheren Weg , wo die Sonne steht und der Wind wandert .
Sie ziehen weiter . Heidewege ; drei , vier Tage nach Norden zu .
Er voran in Sinnen ; die Getreuen hinter ihm her in schwankender Stimmung .
Wenn er sich umkehrt und sie ansieht , sind sie gebannt .
Seine Augen sind ihre Wonne und ihr Grauen .
So kommen sie an den Fuß des Gebirges .
Da schrickt er auf .
Wie lange will er denn wandern , ohne sich zu entscheiden ?
Die Stunde der Entscheidung muß kommen .
" Sagt mir :
was sagen die Leute , daß ich sei ? "
Ein Jammer ist es , er muß nach der Meinung der Leute fragen .
Die Getreuen reden durcheinander :
" Sie sagen , du bist einer von den alten , frommen Helden ; von den Toten auferstanden , sagen sie . "
" Und ihr ... was sagt ihr ? "
Da ist ein Heißkopf unter ihnen ; der riß sein übervolles Herz auf :
" Du ?
Du bist der Heiland !
... Wir wissen es lange . "
" Du bist der Heiland .
Du bist es . "
" Sage ' es ! ...
So bist du Herr im Land . "
" Und dann : Schwert hoch !
Herunter mit dem fremden König und mit den hochmütigen Pfaffen . "
" Du , König im Vaterland ! ...
Auf der Schwertspitze dein Königreich . "
" Und wir , deine Treuen , zu deiner Linken und Rechten in deiner Herrlichkeit , deine Vasallen und Minister ! "
Da entsetzte er sich , daß diese , seine Nächsten und Treuen , die seit einem halben Jahre mit ihm zogen , ihn so wenig verstanden .
Er fuhr sie hart an :
" Wißt ihr nicht , was in den alten Büchern steht ?
Es kann sein , daß es zu Sturm und Sieg geht ...
Die alten Bücher singen aber auch ein anderes Lied : ein Lied von Not und Tod . "
Sie schüttelten sehr den Kopf .
Das konnten sie nicht verstehen .
Sie kannten aus den alten Büchern und von den Herdfeuern ihrer Jugend her nichts als das schöne , wilde Sturmlied : Hoch die Heilandsfahne !
Dann gibt Gott mit seinen Heerscharen wunderbaren Sieg .
Der Heißkopf tritt an seine Seite und redet ihm leise zu :
" Nicht so viel von Demut und Herzensreinheit und Sterben !
Mehr vom Schwert !
Hinauf auf den Thron !
... Meister , wer soll an deiner rechten Seite sitzen ? "
Da stieß er ihn von sich :
" Weg von mir , Satan .
Allein auf den Willen Gottes lausche ich .
Was hilft es einem Menschen , wenn er die ganze Welt gewinnt , richtet aber sein eigenes Selbst zugrunde ; und besitzt die ganze Welt , aber hat nicht mehr sein eigenes Selbst ?
Wer mir nachfolgen will , der soll wilde , fleischige Gedanken lassen und mit mir gehen zu Leben oder Tod , Sieg oder Untergang . "
Sie kehren um ... Zurück in die Heimat .
Ein Einsamer zieht dahin .
Ein reiner , gütiger , heiliger Mensch in überhohen Gedanken , in wunderbaren Bildern und Träumen , versengt von seiner Liebe zu den Menschen und zu der ewigen , geheimnisvollen Macht , welche er seinen " Vater " nennt .
Niemals war ein Mensch so einsam .
Einer gegenüber seinem ganzen Volk , gegen die ganze Menschheit .
Er will nach Süden in die Hauptstadt , dort die Gottesherrschaft proklamieren .
Die Vollmacht zu dem Ungeheuren trägt er in seiner heiligen , bangen , mutigen Seele .
Wer kann gegen eine wahre , reine Menschenseele ?
* Als sie südwärts wieder durch die Heimat ziehen - zum letztenmal sieht er die grünen Hügel und im Tal den See - da sammeln sich die Menschenmengen wieder um den gütigen Helfer mit den hohen , wunderbaren Worten .
Aber ein neuartiges Staunen und Raunen geht um , und die Getreuen verheimlichen nicht , was sie nun wissen .
Ein ungeheures Stutzen geht durch das Volk .
" Er hat es also selbst gesagt : er sei der Heiland !
Auf den wir seit achthundert Jahren warten ! "
" Der Heiland ! "
" Soll der Heiland nicht aus altem Königsstamm sein ?
Soll er nicht in goldener Kriegsrüstung kommen ?
Soll er nicht ein Schwertmann sein und Sturm laufen ?
Dieser aber ist ein heiliger , gütiger Mann ; und von reiner Seele redet er und Barmherzigkeit . "
Ein heißes , unruhiges Hin- und Herreden beginnt .
Aber ein lauter , ungeheurer Jubel will nicht aufkommen .
Die Klerikalen machen sich an den Herzog , der hier im Norden ein bescheidenes Regiment führt und immer nach Süden horcht , ob er dem großen , stolzen Statthalter des Kaisers in der Hauptstadt einen Gefallen erweisen kann .
Sie machen ihn scharf :
" Bisher war er ein harmloser Schwärmer ; aber jetzt , da er sich den Heiland nennt , ist er ein politischer Verbrecher . "
Der Held erfährt durch treue Anhänger , daß ein Anschlag gegen ihn im Werke ist ; aber er ist schon unterwegs nach dem Süden .
Die Reise hat Eile .
In der Hauptstadt beginnt das große Kirchenfest ; viele Tausende kommen da zusammen , aus dem ganzen Vaterland , dazu die verstreuten Volksgenossen aus der ganzen Welt .
Da , mitten im Fest und Festesmenge , will er aufstehen und sagen : " Ich bin der Heiland !
Ich ... ich bringe das Gottesreich . "
Dann ... dann ... wenn er das sagt : wird der Vater im Himmel ihm zur Seite treten mit mehr als Zehntausend von seinen himmlischen Kriegerscharen .
Wenn nicht ... bald nach seinem Tod ... wird Gott kommen ... zehntausend Himmelshelfer zu seiner Seite .
Einen verächtlichen Gruß schickt er dem Herzog : " Sagt dem Fuchs :
Ich heile Irre und Kranke , und am dritten Tag bin ich am Ziel . "
Und mit bitterem Mut sagt er , das Herz nun schon auf harte Not gerichtet : " Ich muß wandern , heute und morgen und am dritten Tag , denn die , welche Gott begeistert und in Flammen gesetzt hat , müssen in der Hauptstadt sterben . "
Wie mit Nägeln schlägt er es in die Seele seiner Freunde :
" Ich muß wohl sterben .
Aber dann kommt Gott oder Gottes Bote in Herrlichkeit und gründet die Gottesherrschaft . "
So wandert er zum letztenmal durch seine Heimat , nach dem Süden , mit zusammengebissenen Lippen , mit todernsten Augen , mit heißbangem Mut .
So weit es möglich ist , verheimlicht er sein Wandern .
Er will alle Kraft zusammenhalten , zu dem Tag , da er die Hauptstadt betritt .
Aber hinter ihm her und neben ihm und vor ihm ziehen die Heimatgenossen , in dichten Festzügen , denselben Weg , und verkünden es :
Der Heiland , der langverheißene , kommt !
Der große Wandel im Vaterland , jetzt kommt er !
Das Gewaltige , das Ungeheure ist nun da .
Aber anders ist es , als wir gedacht ...
Anders ... Kommt !
Wunderbare Dinge stehen vor euch !
Kommt mit , daß ihr es seht !
... Und wie Krähen fliegen die Sendlinge der Nationalen dem Zug voraus : Ihr da unten !
... Ihr Ersten der Kirche !
Die Köpfe hoch ...
Er kommt ! ...
Er kommt !
... Und er sagt : " Der Heiland ist er .
Der Heiland !!
... "
Da antwortet , vom hohen Kirchendach her , wildes Aufschreien .
Weiter nach Süden , Stunde um Stunde , bald im Haufen Volks , bald auf stillem Weg .
Und immer in ihre Seelen hineingeredet , in schönen , bunten Bildern , daß sie wohlgerüstet und würdig sind , wenn , nach seinem Tod , aus blutig roter Morgenröte der große , selige Tag der Gottesherrschaft anbricht .
Von dem Bauer erzählte er , dessen Sohn leichtfertig in die böse Fremde ging und dort erst tief in den Schmutz kam und dann in schwere Not geriet und sich aufmachte , wieder nach Haus , und so freundlich aufgenommen wurde ... und von der Mutter , die einen verlorenen Groschen lange , lange suchte , bis in die Nacht hinein , und sich so köstlich freute , als sie ihn wieder hatte ... und von dem Hirten , der lange , lange das eine Schaf suchte .
Er hatte hundert Schafe , aber er suchte das eine verlorene bis an die Morgenfrühe .
Wie freute er sich , als er es fand !
Seht : soviel wert ist eine einzige Menschenseele vor Gott !
So freut er sich !
Sorgt um eure Seele , die so heiß geliebt wird !
Sorgt , daß sie würdig ist der seligen Gottesherrschaft , die nun mit Macht im Anzug ist .
So wanderten sie einen Tag ; und wanderten den zweiten .
Die Züge der Festwanderer werden dichter .
Die Hauptstadt ist nicht mehr fern .
Da stellen sich ihm die frommen Narren wieder in den Weg .
Sie wollen ihm einen Strick drehen , wenn sie können , mit dem sie ihn binden wollen , wenn er die Hand hebt und sagt :
Ich bin der Heiland ...
" Höre !
.. .
In den alten Schriften steht , wie du weißt :
Wenn es dem Mann beliebt , kann er sein Weib von sich wegschicken . Weg mit dir , Weib , ich mag dich nicht mehr sehen ! " ...
Er sah sie von oben herab an :
" Ehe heißt : eins fürs ganze Leben ... "
Er war der erste aller Menschen , der das schwache Weib ebenbürtig neben den Mann stellte ...
Ihr Frauen in aller Welt !
Ihr müßt ihm viel danken .
Sie treten stumm zurück .
Er war immer größer als die alten Vorschriften .
In der Abendherberge im Dorf kamen Mütter mit ihren Kindern , auf dem Arm und an der Hand , und baten , daß er über den Kindern betete .
Die Getreuen , wie damals alle Welt , wiesen die Kinder zurück :
" Kinder ? Geringe Leute .
Hart gegen die Kinder !
Die Rute über sie !
Zurück mit den Kindern !
... "
Aber er :
" In der Gottesherrschaft , die nun kommt , gibt es keine Geringen ; sie werden alle , alle an festlichen Tischen sitzen und satt werden .
Besonders die Kinder !
Die Kinder besonders !
Sie sind voll Vertrauen ; darum sind sie die Großen im Gottesreich .
Werdet doch wie Kinder !
Komme her , Mutter ; komme her mit deinen Kleinen ! "
Und er nahm die Kinder auf den Schoß und herzte sie ...
Er war der erste aller Menschen , der die Kinder ebenbürtig neben die Großen stellte .
Er stellte , der erste , die Kinder in den Sonnenschein ...
Ihr Frauen und Kinder in aller Welt !
Ihr müßt ihm viel danken .
Sie wandern weiter , den dritten und letzten Tag .
Der Menschenstrom schwillt an .
Festzug auf Festzug geht auf breiter Straße der Hauptstadt zu .
Fremde , die von ostwärts kommen , schließen sich an .
Sie haben alle von dem frommen Helden gehört und hören nun mehr , und raunen und flüstern und erschrecken über sein Vorhaben und suchen in seinem stolzen , reinen Gesicht , in dem ein Todesmut brennt , wie ein Leuchtfeuer in stürmischer Nacht .
Es brandet weit um ihn das Meer .
Ein reicher , junger Mann kniet vor ihm auf der Straße im Staub ...
" Guter Meister ... was muß ich tun , daß ich an der Gottesherrschaft teilnehme ? "
Er beugt sich zu ihm nieder .
" Die alten heiligen Gebote kennst du : Du sollst nicht fluchen ... "
" Das habe ich alles gehalten ...
Von meinen Kindertagen an .
Aber ich habe keinen Frieden ... "
Da beugte er sich tiefer .
Er gewann ihn lieb ; er dachte :
» Das ist eine Seele , die zu dir gehört . «
" Eins fehlt dir noch zum Frieden .
Gib dein Vermögen den Armen und komme mit mir . "
Da stand er auf und atmete schwer und trat taumelnd zur Seite und verschwand im Haufen .
" Wie schwer ist es , daß ein Begüterter in die Gottesherrschaft kommt . "
Die Menge schwillt und schwillt , Festzug an Festzug reiht sich .
Die Entscheidung ist nahe .
Zwei von den Getreuen drängen sich dicht an ihn heran .
" Herr , versprich uns beiden , daß wir nachher deine ersten Leute sind . "
Er sieht sie bekümmert an .
" Wollt ihr mit mir sterben ? "
" Ja , Herr , das wollen wir . "
Seine Augen strahlen in die ihren :
" Es soll so sein , wie ihr sagt :
ihr sollt um meine Sache mit mir sterben .
Und danach mit mir herrschen .
Wer aber neben mir der zweite und dritte sein wird , das bestimmt Gott allein ... "
Er wendet sich zu den nächsten Freunden :
" Ihr müßt euch nicht Herr nennen lassen .
Einer ist euer Herr :
unser Vater im Himmel .
In der Welt heißt es : Herr , Herr !
Herrschen , herrschen !
Bei euch heißt es : dienen , dienen .
Möglichst vielen dienen .
Helfen , heilen !
So wie ich diene und mein Leben hingeben will , damit die vielen Tausende los werden von dem bösen , stumpfsinnigen Dienst des Lebens , und das Glück der Menschen komme im Gottesreich . "
In der kleinen Stadt , die vor der Hauptstadt am Wege liegt , wogen die Straßen von der aufgeregten Menge .
Ein Mann , klein von Gestalt , steht auf dem Ast eines Baumes an der Straße , ein Staatsbeamter , reich geworden durch das Geld , das er seinem armen , unglücklichen Volk in fremdem Dienst abgepreßt hat .
In seinen Augen glüht böses , angstvolles Gewissen :
" Weh mir , wenn das Reich Gottes nun kommt .
Und meine arme Seele muß draußen stehen ...
Und hat das Heilige doch lieb . "
Der fromme Held sieht die Augen .
Solche Augen kann er brauchen .
" Wer ist der Mann ? "
" Ein Schurke ist er !
Ein Volksverräter .
Ein verfluchter Zolleinnehmer . "
" Du ...
Steige eilig herab vom Baum ... ich will bei dir zu Mittag essen . "
Der geht neben ihm her , stolpernd , und überstürzt sich in seinem Wort : " Herr ... daß du bei mir zu Gast sein willst !
Daß du so gut mit mir bist !
Herr , die Hälfte meines Vermögens zahle ich aus ... heute noch ... an die Armen .
Weil du so lieb mit mir bist !
Nie wieder ... nie wieder betrüge ich ... "
Nach kurzer Mittagsrast wandert er auf langsam steigender Straße der Hauptstadt zu , die Getreuen um ihn bald in Grauen , bald in heimlich jäher Freude ; vor , hinter ihm , um ihn das Geleit großer Menschenmassen , die ihn alle kennen und heiß verehren , die von Jubel und Neugier brennen , die Seele voll von Wunderbildern .
Im Dorfe vor der Stadt wohnte eine Familie , die ihm von der Zeit früherer Feste her befreundet war .
Dort kehrte er zur letzten Rast ein .
Ein Reitesel wird gebracht .
Decken darauf .
So geht es weiter .
Die Hauptstadt liegt noch immer hinter breiten , bewaldeten Hügeln verborgen .
Nun aber , nicht weit von der Stadtmauer , umbiegt die Straße den letzten Hügel ...
Da liegt die große , reiche Stadt ...
Und mitten in ihr die uralte , gewaltige Kirche , so groß , daß sie mit ihren Höfen und Säulengängen und Priesterwohnungen selber eine Stadt bedeutet .
Hier hielt er und sah mit großen Augen auf die Stadt nieder .
Und wie er sah , und sah diese Häuser , diese Kirche , und das Schloß , und wie das Getöse der großen , reichen Stadt zu ihm heraufdringt :
da wird er gewiß , daß es zu traurigem Ende geht .
Da überwältigt ihn die Not der Stunde und die Angst um die liebe Heimat , und Tränen stürzen aus seinen Augen ...
Aber das ist nur ein Augenblick .
" Gottes Wille !
Gott mit dir !
Und sind ihre Herzen hart wie Fels , so ist meins von Diamant . "
Er sah sich nach den Seinen um , mit jenen Augen , die er im Norden hatte , wenn er die bösen , irren Geister mit hartem Wort bannte .
Sie sehen die Augen .
Ein tosender Jubel bricht los .
Kleider liegen ausgebreitet auf dem Weg .
Die Straße ist dicht voll von Palmenwedeln .
" Nun kommt das Gottesreich !
Hilf , Gott , in der Höhe ! "
" Das ist das selige Reich ! "
" Das ist die Gerte aus altem Königsstamm ! "
" Selige Zeit nun im Vaterland !
Hilf , Gott , in der Höhe ! "
Männer und Frauen laufen und jubeln .
Kinder springen und singen .
Aus den Häusern und aus den gewaltigen Höfen der Kirche strömen die Massen .
Sie haben längst von ihm gehört , und durch nordische Festwanderer , daß er kommen wird .
Es ist ein Lärmen und Staunen sondergleichen .
" Selige Zeit ist nun im Vaterland !
Hilf doch , Gott !
Deine Herrschaft , nun geht sie an !
Hilf uns ! "
Mit todblassen Gesichtern stehen die Klerikalen an den Hausmauern .
Zwei drängen sich zu ihm heran .
" Verbiet ihn doch ... den wahnsinnigen Ruf !
... "
Er sieht voll Verachtung und Zorn auf sie nieder .
" Wenn diese schwiegen , die Mauern würden schreien . "
Die ganze Stadt ist in Aufregung ; von der Burg sehen der Statthalter und seine Söldner mit Staunen und Kopfschütteln auf das gewaltige Treiben .
Viele einzelne fragen wohl :
" Wer ist das ?
Wer ist das ? "
Aber die Maße des Volkes weiß es :
" Das ist der fromme , reine Held von Norden .
Er sagt : er ist der Heiland .
Er sagt : das große Wunder kommt , die Gottesherrschaft ! "
Da stehen die ungeheuren , kostbaren , alten und neuen Bauten der Kirche .
Auf den Höfen und in den Hallen das bunte und freche Treiben des Festmarktes .
Da stehen Ochsen und Kälber in langen Reihen , da eine vollbesetzte Schafhürde , da Geflügel in Käfigen , da Weintrauben auf Wagen .
Da wird auf glattem Zahltisch Kaisergeld in Kirchengeld gewechselt .
" Her mit deinem besten Geld und Gut , Volk !
Her mit deinem Schweiß !
Her damit !
... So !
.. .
Nun ist Gott zufrieden , nun erklärt er dich für gerecht . "
Du armes Volk !
Was für ein Gott !
Zweimal machen deine Priester dich arm : sie nehmen dir dein tägliches Brot : und sie verkehren dir das Herz in der Brust , daß du nicht siehst , was Wahrheit ist .
Der von Norden kennt Gott anders :
Nicht Hände voll Gold will er , sondern Herzen voll Mut und Reinheit , und Brudersinn .
Nicht Kirchen will er und hohe Feste , und Mengen von Priestern : sondern , daß Recht und Gerechtigkeit im Lande ist .
Der Held , nun Heiland , steht mitten im Kirchenhof und erhebt seine helle Stimme .
Ein Zahltisch fliegt zur Seite .
Handelnde Weiber schreien kreischend auf .
Schafe rennen , Käfige fallen um .
Die Küster laufen entsetzt vor seinem hohen Wesen und seinem blitzenden Wort .
" So sage ich euch im Namen Gottes : Mein Haus soll ein Bethaus sein .
Ihr Volksmörder !
Ihr Räuber !
Ist dies eure Höhle ? "
Ein wildes Entsetzen läuft durch die Stadt .
Ungeheuerlich ist die Tat .
Die Bangen fliehen ; sie hören schon den harten Schritt der Soldaten .
Die Haufen aus der Heimat und das andere Volk jubeln .
Die Priester stehen machtlos mit flammendem Zorn in Haufen an den Türen .
Ernste und Fromme stehen mit zusammengebissenen Lippen , tiefe Augen auf ihn gerichtet :
" Das bedeutet für dich den Tod , du Tapferer und Reiner . "
Leer ist der weite Hofraum von allem weltlichen Handel .
Rein ist die Kirche im Land .
Gottes Herrschaft ist nun aufgerichtet .
Reine Herzen sind hier mit Gott einig , und Hände in Bruderhand .
Die Menge drängte sich an ihn .
Er jubelt in seiner Seele : " Ich gewinne sie alle , alle !
Es geht geraden Weges hinein in die selige , fröhliche Gottesherrschaft !
Ich brauche den bitteren Tod nicht zu schmecken ... "
Abseits aber , im abgelegenen Hof , stehen die Haufen der Klerikalen .
" Sterben muß er !
Das ist klar .
Aber vorsichtig :
Das dumme Volk steht zu ihm ...
Sterben muß er ...
Das ist klar ! "
* Zwei Tage lang ist er König der Volksmassen .
Der große Hof und die Hallen , er regiert da .
Die Kirche ist rein von weltlichen Dingen ... Kranke werden über die Steinfliesen getragen ... hell klingt der Schritt der Träger .
Von der Höhe dieser Stunden fast über Menschen Maß gehoben , im Bewußtsein , nichts für sich zu wollen , allein Gottes Knecht zu sein , hat er wunderbare Kraft in seinen Händen .
Kinderscharen stehen zwischen den Säulen und rufen den alten Heilandsruf .
Zu seinen Füßen liegen Tausende .
Immer neue Scharen hängen an seinem Mund und rühmen die Tiefe seiner Weisheit und seine strahlende Güte , und sättigen ihre armen , verdursteten Seelen .
Dies Volk hatte jahrhundertelang an hervorragenden Stellen nur verschrobene Menschen gesehen , nur Gespenster von Menschen , niemals reine , schlichte Menschlichkeit .
" Wie rein ist er , wie schlicht , wie natürlich ! "
" Ja , so muß der Heiland sein . "
" Sproß vom alten König ! "
" Er ist nicht vom alten Königsstamm . "
" Ist er nicht ? "
" Dann ist er ein Betrüger . "
" Das ist nicht wahr ...
Sieh doch , wie er aussieht , und höre , was er sagt ...
Kann der ein Betrüger sein ? "
Da erschienen zwei vom Oberkirchenrat im Tor , vornehme , hohe Männer , und kommen auf ihn zu ...
" Platz da !
... "
Die Menge macht Platz .
Sie kommen an ihn heran und sagen : " Wir fragen dich , mit welcher Vollmacht trittst du auf ? "
Er sieht sie mit bitterem Hohn an .
" Sagt mir :
Der Held , der vor einem Jahr da unten am Fluß stand und Umkehr predigte , hatte der eine göttliche Vollmacht oder war er ein Betrüger ? "
Sie wagen nicht zu sagen : er war ein Betrüger ; das Volk weiß , daß er ein reiner , treuer Mensch war .
Sie zucken die Achseln und gehen .
Hinter ihnen drein fällt wie klirrendes Eisen das Wort von den verbrecherischen Pächtern :
" Sie töteten die Knechte , die der Besitzer sandte .
Da hatte der Besitzer noch einen lieben Sohn ; ... den töteten sie auch .
Ich sage euch : der Besitzer wird den Hof anderen Leuten geben . "
Die hohe Geistlichkeit ist abgeschlagen .
Sie kamen hoch von oben her , aus der Volksferne , und von den Büchern , und vom grünen Tisch ; aber sie waren doch fast ehrliche Leute .
Nun aber kommen seine alten Bekannten von Norden her , die schwarzen Schleicher , die heiligen Schurken .
Sieh , wie sie die Hände freudig reiben !
Wahrhaftig : es blitzt Begeisterung aus ihren Augen !
O , diese Begeisterung !
... " Meister !
Wir wissen , daß du ein wahrer Mensch bist !
Und dich um keinen Menschen kümmerst .
Um keinen ! ...
Unser Herz ist bedrückt ...
Also : Wir wollen gern wissen : darf unser frommes Volk dem Kaiser Steuern bezahlen ?
... Du weißt : der Kaiser ist leider ein Ketzer . "
Was nun ?
... Sagt er : " Nein !
Keine Steuern ! " so faßt ihn des Kaisers Statthalter , und sie sind ihn los .
Sagt er : " Ja , " so kehrt das Volk ihm den Rücken ; denn dreimal verhaßt ist die Steuer :
weil sie groß ist , und an den Ketzer geht , und außer Landes .
Aber sein Geist geht auf einem höheren Feld .
Er ist ein Mensch von ganz anderer Art .
Was schiert ihn Geld und Steuer !
Reich Gottes hält vor der Tür .
" Gebt dem Kaiser , was ihm gebührt , und Gott das andere .
Achtet auf eure Seele !
Daß sie Gottes Willen tue . "
Da gingen auch die zur Seite .
Gegen Abend kamen vom Schloß her einige Hofleute , so vom rechten Hofgemisch , halb frivol und halb fromm .
Die hatten bei Tisch lachend und lebhaft das Ereignis des Tages beredet , und hatten abgemacht :
" Sogenannte Volkshelden muß man nicht ernst nehmen .
Man tötet sie mit einem guten Witz , mit Lächerlichkeit ... "
Was kümmern diese Leute sich um des Volkes Not ?
Also kommen sie , ein wenig verschmitzt lächelnd , ein wenig fromm , ein wenig betrunken ... " Meister , es ist eine heilige Bestimmung in den alten Büchern : Wenn ein Mann in kinderloser Ehe stirbt , so muß sein lediger Bruder seine Witwe heiraten .
Wenn es sich nun ereignete , daß die Frau der Reihe nach sieben Brüder heiratet : wem wird sie dann gehören im ewigen Leben ? "
Er gab die kurze , ernste Antwort :
" Wenn die Menschen vom Tode aufwachen , dann ist es vorbei mit Freien und sich Freien lassen .
Sie sind dann wie Gottes Engel . "
Da ging ein angesehener Mann auf den frommen Helden zu .
Er wollte gern für seine eigene Seele und für alle , die umherstanden , in einem kurzen und klaren Wort erfahren , wie der geheimnisvolle Grund heiße , daraus , als aus einer reinen Quelle dies wundervolle , starke und reine Leben komme .
" Sage mir , welches Gebot ist das allererste ? "
Der Heiland richtete sich auf und sagte ein kurzes Wort , und zerdrückte mit dem Wort alle die hundert kirchlichen Gebote :
" Ein einzig Gebot ist : Gott lieben mit brennender Seele und den Nächsten wie sich selbst .
Das heißt fromm sein .
Alles andere ist überflüssige , schädliche Menschenerfindung . "
Dem , der gefragt hatte , leuchteten die Augen .
Viele leuchtende Augen !
... Viele !
Aber viele Gleichgültige !
... " Vater und Großvater haben sich immer zu den alten Vorschriften gehalten und waren doch auch tüchtige Männer . "
Und viele Bedenkliche !
.. .
" Es ist eine gefährliche Sache !!
Wer weiß , was daraus entstehen kann ! "
" Ich habe ein Haus und ein kleines Feld . "
Und hier und da ein Spötter !
... " Du kommst nicht in Gottes Reich !
... "
" Ich will auch nicht .
Es ist mir zu sauber da ... "
" Ein wunderlicher Heiliger ! "
Die alle gehen langsam zur Seite und fallen ab .
Dazu wühlen , lauern , fragen und berichten die Klerikalen .
Zwei Tage hat er nun immer geredet .
Immer geredet , und immer gesiegt !
Was hilft solch Siegen ?
Die Zeit ist ein böser Gleichmacher .
Die Klerikalen wühlen ...
" Es ist lächerlich .
Der soll der Heiland sein ?
Wo ist sein Geburtsschein aus altem Königsstamm ?
Ein Handwerker aus der Ecke des Landes , wo nicht einmal reines Blut wohnt ?
Wo allerhand fremdes Volk über die Grenze läuft ? "
Er hört das Streiten und merkt , daß alles wankt , wenn er in diesem Punkt nicht siegt .
Er sagt ihnen , es stünde auch in den heiligen Büchern : der Heiland ist nicht aus Königsblut .
Er redet vergebens ; dieser Glaube sitzt zu tief in den Köpfen .
Er hat nichts , gar nichts für das Raubtier im Menschen .
In seinen Händen ist nichts , gar nichts , als Gottinnigkeit , Reinheit , Treue .
Damit macht man ein Volk nicht satt , nicht drei Tage lang .
Und die Engel Gottes kommen nicht .
Und sie wühlen , und mischen Sinn und Unsinn , und haben in ihren Händen : Wahrheit und Geld und Angst und Blut .
Sie siegen mehr und mehr .
Er weicht nicht .
Er sieht jetzt klarer und klarer , daß die Niederlage kommt .
Desto fester steht er ; desto starrer wird er .
Gewaltig , mit Wunderstärke , erhebt sich in seiner reinen , großen Seele der Glaube : " Gott ist doch mit mir .
Und wenn ich ihn auch nicht verstehe , er ist doch mit mir . "
Er reißt aus den alten frommen Büchern an sich , was ihm in den furchtbaren Ängsten , die sich wie unheimliche schwarze Tiere um ihn lagern , stolzen Glauben geben kann .
" Wenn ich nun tot bin ... dann werden schwere Geburtswehen durch das Land zittern .
Die alten Feinde rund ums Land und die Glaubensstürme drinnen werden hin und wieder toben ; Kinder werden gegen Eltern vorgehen ; Bruder- und Schwesterherz wird sich scheiden .
Dies alles wird Zeichen sein , daß das Reich Gottes vom Himmel herab herunterstürmt auf die Erde .
Plötzlich , mit Gewalt und Herrlichkeit wird in den Wolken des Himmels ein Bote Gottes erscheinen , anzusehen als eines Menschen Bild , und wird Gottes Herrschaft ins Land bringen . "
Sie fragen ihn zweifelnd bange : " Wann wird das geschehen ? "
Er kann darauf keine Antwort geben .
" Es wird noch zu eurer Lebzeit geschehen .
Plötzlich !
Seid auf der Wacht !
Wacht und betet . "
Während er noch so grübelt und in seiner Brust zu seiner Seele flüstert :
" Weiche nicht !
Weiche nicht !
Das ist Verrat an deinem Vater im Himmel .
Seine Herrschaft kommt dann nicht " ... und durch Ausmalung gewaltiger Bilder der Zukunft seine Seele stärkt :
da sind die Klerikalen in heißer Beratung , wie sie ihm ein rasches Ende bereiten .
Nun hatte der Held , nach rechter Heldenart , ein köstliches Vertrauen zu allen Menschen .
So hatte sich unter die Getreuen ein Schleicher und Weichling eingenistet .
Der merkte , daß die Sache hier in der Hauptstadt bergab ging .
Da fiel sein bißchen Glauben und sein bißchen Mut hin .
Und da wurde er sofort " ganz anderer Meinung " .
Es fiel ihm " wie Schuppen von den Augen " .
Eitelkeit kam hinzu .
Er ging zu den Dunkelmännern : " Gebt mir so und soviel , " sagt er , " so will ich euch heute Nacht führen , daß ihr ihn ohne viel Aufsehen gefangen nehmt . "
Sie hören ihn ohne Scham an .
Da ist keiner , der aufspringt :
" Weg mit dem Lumpen ; ich kann ihn nicht ansehen . "
Sie bereden die Sache kurz und kommen zu dem Entschluß : heute noch !
Es tritt keiner für ihn auf ; es schreit keiner auf in tiefer Angst .
In keinem von diesen Gespenstern ist auch nur eine Ahnung , was sie vernichten .
Sie glotzen mit dummen Fischaugen die edle , goldene Krone an , die in ihren Teich gefallen ist .
Sie sind alle verdorben und gestorben .
Am Leben geblieben ist allein der Getötete , darum , weil er unter lauter Gespenstern ein Mensch war .
Der Abend kam heran .
Am Benehmen der Feinde und am Verschwinden des Gefährten haben der Held und seine Getreuen erkannt , daß der Anschlag noch in dieser Nacht ausgeführt werden soll .
Da setzt er sich mit den Seinen zum letzten Mal an den Tisch .
Es war eine alte Sitte im ganzen Land , daß man an diesem Festabend feierlich tafelte , so gut jeder Hausvater es herstellen konnte .
Lammfleisch , Brot in Brocken und Wein in Bechern reichte der Hausvater um den Tisch und gedachte dabei in kurzem Dankgebet alter , grauer , banger Vergangenheit , da Gott sich , nach dem Volksglauben , als ein guter Bundesgenosse bewährt hatte .
Er sprach zuerst wehmütig von der Freude , die er hatte , daß die Feinde ihm diese schöne , friedliche Stunde noch gelassen hätten , alte , väterliche Sitte zu begehen .
Dann sagte er mit festem Mute :
" Ich sage euch :
Ich werde dies Fest nicht wieder feiern .
Ehe es wiederkehrt , ist das Reich Gottes da ! "
Und er nahm den Becher und sagte noch einmal :
" Ich werde nun nicht wieder von der Frucht des Weinstocks trinken ; es sei denn im Reich Gottes .
Wir sitzen bald beieinander bei seligem Mal , im gereinigten heiligen Land .
Das ist mein Glaube . "
Horch , ist das der Tritt von Soldaten ?
Er bricht unter Dankgebet das Brot , schwer bangt seine liebe Seele : " So geht es nun mit meinem Leib .
Er wird zerbrochen werden . "
Sie stehen vom Mal auf und gehen in die Nacht hinaus .
Horch , geht Soldatenschritt durch die Gasse ?
Er faßt den Feuerkopf am Arm , und redet leise und heftig mit ihm : " Höre !
Ich weiß : der Teufel wird versuchen , euch von meiner Seite wegzureißen .
Ich habe Gott heiß gebeten um dich ; denn du bist der Tapferste .
Wenn du dich einst nach der Angst wieder ermannst , dann stärke deine Brüder . "
Der Feuerkopf prahlte laut und wild auf :
" Ich ?
... Angst ?
... Ich bin bereit , jetzt auf der Stelle , mit dir in Haft und Tod zu gehen . "
Da schüttelte ihn der Held ; und sah ihn nicht an :
" Vor Hahnenschrei , noch in dieser Nacht , wirst du mich verlassen . "
Im Weitergehen wurde seine Seele weich .
Das schöne Einst und das schwere Jetzt steht dicht nebeneinander .
" Wißt ihr noch , da oben im Norden ?
... Ich schickte euch aus , so wie ihr gingt und standet ...
Habt ihr Mangel gehabt ? "
Sie schüttelten alle die Köpfe :
" Nein , niemals . "
" Aber jetzt !
Seht euch vor !
Ihr müßt gerüstet sein wie Soldaten . "
" Zwei von uns haben Schwerter . "
Da waren sie wieder auf dem falschen Weg , auf dem er nicht gehen durfte , so sehr auch seine Seele nach einer Rettung schrie .
Er brach rasch ab :
" Genug davon . "
Als sie in einen Baumgarten kamen , fiel schwere Müdigkeit über die meisten .
Sie warfen sich ins Gras und schliefen .
Drei der Treuesten gingen ein wenig weiter mit ihm , aber auch sie waren stumpf und müde und sanken hin .
Da kam das Gefühl furchtbarster Verlassenheit über ihn , und er bat sie : " Todtraurig bin ich !
Bleibt bei mir . "
Sie lagen da , auf den Ellbogen gestützt ; wußten nichts zu sagen , stumpf und dumpf und müde .
Da eilte seine arme , einsame Seele von allen Menschen weg zu der ewigen Macht : " Vater ... mein Vater , dir ist alles möglich !
Vater , nimm den bitteren Kelch weg !
Nimm ihn weg !
... Nein , nicht wie ich will ... wie du willst ... "
Wieder zu den Freunden :
" Ich bitte euch ... wacht doch mit mir ... du , mein Treuster , wache doch mit mir ! "
Wieder weg von den Menschen , hin zu der ewigen Macht .
Er liegt vor ihr auf den Knien und bittet wieder :
" Wenn es möglich ist ... nicht mein Wille ... dein Wille .
Vater , ist es nicht möglich ? "
Es ist nicht möglich .
Es ist ein alter , unergründlicher Schöpfungswille : die Menschheit muß durch Leid und Jammer waten .
Die Menschheit kommt nur durch das Leiden der Besten weiter .
Er fühlt das auch , nimmt seine zuckende , jammernde Seele in beide Hände .
" Nicht wie ich will .
Wie du willst . "
So lag er über die halbe Nacht .
Es wird wahr sein , was berichtet wird , daß er Trost gefunden hat .
Da klirren die Waffen .
Der Schurke steht im Fackeldunst ... Schwerter blitzen ...
Zerstoben sind die Getreuen .
Sie führen ihn in ihrer Mitte in die Stadt hinein in den Sitzungsraum des Kirchenrats .
Im Hofraum , um das Feuer , sitzen , liegen Soldaten .
Diener gehen hin und her .
Allerlei erbärmlich Volk , das von der Kirche und den Kirchenfürsten lebt und einen Wink bekommen hat , sammelt sich .
Ein wenig abseits vom Feuer , im Halbschatten , entsteht ein kurzer Wortwechsel und heftiges Fingerzeigen .
" Du warst doch bei ihm . "
" Ach ... dummes Gerede ! "
" Deine Sprache verrät dich ja , Mensch !
Du bist vom Norden . "
" Ich habe dich im Kirchenhof gesehen , du standest dicht neben ihm . "
" Verflucht will ich sein !!
... Ich habe den Menschen in meinem ganzen Leben nicht gesehen . "
Todblaß steht er da ; die Hände fliegen ihm vor Angst .
Kirchenfürsten gehen vorüber .
Geduckt schleicht er sich davon , sprungbereit .
Als er vor dem Tor in Sicherheit auf der dunklen Straße steht , weint er laut auf .
Das Morgengrauen kommt , die Kirchenbehörde ist versammelt .
Die Sache eilt .
Die Sache ist gut eingefädelt .
Es handelt sich darum , ihn als einen politischen Verbrecher zu statuieren .
Dann fällt er in die Hände des Staates .
" Und der Staat ist unser Büttel , und macht schnelle Justiz . "
Also haben sie eine einzige Frage an ihn :
" Bist du der Heiland , der König unseres Volkes ? "
Der gefangene Held hob das Haupt .
In den reinen Augen ist ein Licht , das ist schon nicht mehr von dieser Welt : " Ihr sagt es ja !
Und ihr , ihr werdet Gottes Wunderboten , den Bringer seines Reiches , in den Wolken des Himmels erscheinen und herabsteigen sehen auf die Erde . "
Das war genug .
Der Tag war angebrochen .
Er wird der Wache übergeben und in die kaiserliche Statthalterei geführt .
Die ganze große Stadt wird wach .
Eine Menge Volk füllt alle Straßen .
Nun ist da manche Faust geballt .
Manches Auge voll Tränen und Zorn .
Aber das Schloßtor ist hinter ihm geschlossen .
Er ist nun in furchtbar starken und schrecklich harten Händen .
Im Sitzungssaal des Statthalters verklagen sie ihn als politischen Verschwörer .
Der Statthalter , schon ein älterer Mann , hat in Kaisers Dienst wunderliche Sitte von manchem Völklein gesehen und ist mit allem leicht fertig geworden .
Wie so viele hohe Leute hat er es ganz verlernt , oder hat es nie gekannt : auf die einzelne Menschenseele zu achten .
Er sieht den Angeklagten von oben bis unten an und fragt verständnislos :
" Du bist also der König dieses Volkes ? "
" Du behauptest es . "
Der Statthalter sieht ihn wieder an :
" Mir scheint , er ist ein harmloser Mensch .
Ich lasse ihn wieder laufen . "
Das zusammengelaufene fromme Pack , das zwischen den Säulen steht , schreit : " Pfähl ' ihn , pfähl ihn ! "
Das war die Strafe des kaiserlichen Strafgesetzes für Hochverrat ...
Der Verurteilte wurde an Händen und Füßen an einen einfachen , aufrechtstehenden Pfahl gebunden oder genagelt , dort hing er , bis der Tod eintrat .
So sind in jener Zeit viele Tausende hingerichtet worden .
Die vornehmsten der Prälaten treten an den Statthalter heran und haben eine leise Unterredung .
Der Mann sei wirklich ein Hochverräter ; viel Volk , besonders von Norden her , hange ihm an .
Wenn er den Mann wieder freiließe ... soviel sie wüßten , wäre der Kaiser im Punkt Hochverrat sehr empfindlich .
Der Wink wurde verstanden .
Über das Recht geht dem Statthalter sein Fortkommen .
Der Held von Norden wird als Aufrührer , als Kroneräuber nach dem Strafrecht des Staates verurteilt , erst ausgepeitscht , um dann an den stehenden Pfahl gebunden zu werden , bis er tot ist .
Die Peitschenhiebe gingen bis auf die Knochen .
Man weiß nicht , wie der treue Held diese schreckliche körperliche und seelische Qual erduldet hat .
Als das Schlagen aufhört , ist er vollständig erschöpft .
Den Pfahl , den er selbst zum Richtplatz tragen soll , kann er nicht mehr heben .
Ein Mann , der da zufällig geht , wird gezwungen , ihn anzufassen .
Zwei Männer , wegen Straßenraub zu demselben Tode verurteilt , werden mit ihm zum Richtplatz geführt .
Oben über der Stadt , auf einer kahlen Kuppe wird er entkleidet , niedergelegt und an dem Pfahl befestigt .
Kräftige Hände fassen an und stellen auf .
Die Soldaten boten ihm von ihrem Trunk an ; aber er nahm ihn nicht .
Er war wohl schon zu schwach .
Einige vom Kirchenrat und vom Pöbel verspotteten den still Sterbenden .
Ebenso die beiden Verbrecher .
Sie sagten : " Du bist der König im Land !
So hilf dir doch ! "
Was in ihm vorging , weiß kein Mensch .
Er sagte nichts mehr .
Er wußte nicht , warum ihn sein " Vater " verlassen hatte .
Er wußte nicht , wohin er ging , und wohin es mit seiner Sache ging .
Er wußte nur , daß seine Sache , für die er so jammervoll aus dem Leben mußte , recht und gut war .
Er hatte wohl bis zuletzt noch eine leise Hoffnung , daß sein " Vater im Himmel " ihm den Grund des bitteren Kelches schenken würde .
Aber es kamen keine zehntausend Engel .
Es kam nicht ein einziger .
Von seinen Getreuen und von seinen Verwandten war niemand da .
Er starb , nachdem er einige Stunden schwerröchelnd gehangen hatte , an Blutverlust und Erstickung .
Und das war sein Leben .
Und das war sein Tod .
Er war der schönste der Menschenkinder .
* Die zersprengten Getreuen eilten zu zwei und drei , das liebe Leben zu bergen , nach Norden , in die Heimat .
Dort angekommen , abgehetzt , in furchtbarer Seelennot , wagten sie es , leise , mit scheuem Umsehn , von ihm zu reden .
" Ist er der Heiland gewesen ? ...
So kann er nicht im Grabe bleiben ...
Ein Gottesbote soll kommen ?
Und das Gottesreich aufrichten ?
Er selbst wird der Gottesbote sein ! "
" Es sind schon viele von den Toten auferstanden .
Es ist ganz unmöglich , daß ein Grab , und wäre es noch so tief , diesen Helden hielte .
Wie liebte er Gott !
Wie vertraute er Gott !
Wie sagte er noch ?
Kann auch ein irdischer Vater seinem Kind , das ihn um Brot bittet , Steine geben ?
Sollte die ewige Macht , der er so vertraute , ihm einen Stein gegeben haben ? "
" Wie lieb hatte er uns !
Welch eine Menschenerscheinung .
Wie bewegte er uns das ganze Herz .
O , du ... was sollen wir ohne dich !
Komme doch , bringe das selige Reich , Heiland du !
O , wir brauchen dich ! "
" Er wird wiederkommen , " so redeten die alten Bücher ; " er muß wiederkommen , " so flüsterten die Menschen und sahen sich sehnsuchtsvoll um .
" Er muß wiederkommen , " so flüsterte der See und die Bäume und der Wind in der Nacht in der Gegend , wo er noch vor vierzehn Tagen gewandelt hatte .
" Ich muß ihn wiedersehen , " sagte Petrus , der ihn verleugnet hatte , " sonst kann ich nicht leben . "
" Horch !
Sahst du etwas , Petrus ? "
Und am anderen Tag sprang das erste Gerücht auf :
Am Ufer , wo er oft entlang gegangen , hatte Petrus ihn abends gesehen .
Er hatte da im Dunklen gestanden , eine freundliche Lichterscheinung , und hatte ihn angesehen .
Am anderen Tag flog ein anderes Gerücht von Dorf zu Dorf .
Seine alten Freunde , die Fischer , hatten abends vorher am Ufer gesessen , ums Kohlenfeuer , bei Fisch und Brot .
Und das Feuer lohte und das Meer rauschte und die Sterne standen am Himmel und die Nacht stand riesengroß um sie , und sie redeten von ihm : " Wißt ihr noch ? Damals ... und damals !
... und das !
... Wie war er immer voll Erkenntnis und Wahrheit ... ach , und immer , immer heilig ... immer gütig ... ein herrlich Menschenbild ...
Wenn wir hier saßen ... wißt ihr noch ? hier am Ufer ... abends beim Mal ums Feuer ... und das Feuer lohte wie jetzt und das Meer rauschte und er saß bei uns ... und er nahm das Brot ... und sprach mit seiner lieben Stimme das Gebet ... O Gott !
Siehst du es ?
... Sahst du es ?
O Gott , ich habe ihn gesehen ! ...
Er stand da hinter dir !
... "
Am anderen Abend wanderten zwei andere von seinen Getreuen im Dunkel auf einsamer Landstraße zur Stadt , in Unterhaltung über ihn ganz vertieft , und sie wandern und wandern und sind Kinder einer Zeit , da die ganze Welt verzaubert und die Nacht voll von Wundern ist , und die Wunde der Seele brennt und die Liebe zu dem wunderbaren Menschen glüht ...
" Und sie haben ihn gesehen !
Ob er es wirklich gewesen ?
Er lebt ?
Er lebt !
... Wo mag er in dieser Stunde sein , und um diese Stunde haben sie ihn gesehen ... wie mag er aussehn ?
Liebe , sagen sie , und Licht ... ja , lieb und Licht ... vielleicht ... vielleicht geht er neben uns ... unsichtbar ... und plötzlich ... ein heller Schein und er steht dort am Baum ...
Sahst du etwas ?
... O du ... stille das brennende Herz !
... "
Sie kamen heim , mit brennenden Augen , sie hatten ihn gesehen : " Er ging im Dunklen neben uns her , und verschwand . "
Nun war kein Halten mehr .
Da er vor wachen Augen nicht erschien , sahen ihn gläubig-sehnsüchtige , von Liebe zu ihm strahlende Augen .
Da er am hellen Tag nicht kam , sahen sie im Dunklen seine Lichterscheinung .
Wochen vergingen ...
Da er in Herrlichkeit nicht kam : als flüchtig Licht konnte er sich nicht lange halten .
Die Erscheinungen verwehten nach einigen Wochen wie Nebelfetzen .
Aber das Erzählen der Erscheinungen hörte nicht auf .
Die Erzählungen vermehrten und vergrößerten das , was man gesehen hatte .
Jahre vergingen ...
Er kam immer noch nicht ...
Sie redeten weiter von ihm .
Er hatte ihnen ja das ganze Herz bewegt .
Es bildete sich unter den Fischern und Heidebauern zerstreut , eine Schar von Menschen , die an ihn als den Heiland glaubten und jeden Tag mit brennender Seele auf sein Wiederkommen und das Gottesreich hofften .
Die Jahre vergingen .
Die Schar derer , die von ihm flüsterten und erzählten und an seine Sendung glaubten , wurde langsam größer .
Sie griff nach der Hauptstadt hinüber ; von dort , durch Festbesucher , griff sie nach den Volksgenossen hinüber , die in der fernen , großen Kaiserstadt wohnten .
Was für Leute !
Aus allen Ländern und aus allem Aberglauben !
Syrer und Ägypter , germanische Soldaten und griechische Arbeiter .
Wie malten und übermalten sie das Heilandsleben !
Sie alle Kinder einer wirren , unruhigen Zeit , Bewohner einer verzauberten Welt .
Überall , wo zwei oder drei oder zehn beisammen saßen , erzählten sie leise , mit leuchtenden Augen , von seinem Leben .
Da wurde dies schlichte , tapfere Menschenleben immer wunderbarer .
" Mir hat einer erzählt " - der hat es von einem der alten Getreuen - : " er hat einmal auf dem See gewandelt . "
" Ja ... und kennst du die Geschichte , wie er den Sturm beschwor ? "
" Habt ihr schon gehört - ich weiß es von einem , der aus jener Gegend stammt - einmal waren viertausend Menschen ihm nachgelaufen in die öde Heide hinein .
Die hat er alle satt gemacht ... was meinst du ? mit sieben Broten . "
" Nein : es waren fünftausend Menschen und er hatte fünf Brote : so war es .
Und zwölf Handkörbe voll Brocken hat man aufgesammelt . "
" Einen Toten hat er aufgeweckt . "
" Die Hauptsache ist , daß er selbst vom Tode auferstand . "
" Nun ...
Das steht fest ... Allen seinen Getreuen ist er erschienen . "
" Die Wache am Grab ist zusammengebrochen . "
" Er hat mit ihnen gegessen und getrunken .
Fische haben sie gegessen . "
" Ich habe sogar gehört , als ich einmal zum Fest in der Heimat war , daß er fünfhundert Leuten zugleich erschienen ist . "
" Ja , vor ihren sehenden Augen ist er nach dem Himmel hinaufgeflogen . "
" Nach dem Himmel hinauf ?
Was will er da ?
Er will doch hier auf Erden die Gottesherrschaft aufrichten ? "
" Ja ... er kommt wieder .
Er ist nur vorläufig dahin gegangen . "
" Aber das ist wahr , er ist jetzt im Himmel .
Sonst wäre er ja unter uns !
Denn er ist doch auferstanden ! "
Alles das , was sie einst von dem schlichten Menschenkind vergebens begehrt hatten : wunderbare Herkunft vom Himmel her , königlichen Stammbaum , widernatürliche Wunderzeichen , Auferstehung : das alles legte heiße Liebe , dichtende Phantasie , religiöses Bedürfnis ihm jetzt zu .
So redeten sie , und so warteten sie .
Ein Jahr nach dem anderen ging ins Land .
Sie beteten zum Vater im Himmel , wie er sie gelehrt hatte : Dein Reich komme ; und lebten rein , und halfen und stärkten sich gegenseitig und waren selig in ihrer Sehnsucht .
Einige Getreue starben .
Und er hatte doch gesagt :
" Ich komme bei euren Lebzeiten wieder ?
... "
Sie warteten und warteten .
Er kam immer noch nicht .
Da war Gefahr vorhanden , daß seine Anhänger eine dunkle , nationale Sekte blieben .
Darum , weil er nicht kam , wie er behauptet hatte .
Es war Gefahr vorhanden , daß der fromme , tapfere Held umsonst gelebt hatte , und vergessen wurde ; und daß seine herrliche Sache , für die er so tapfer gestorben war , nämlich die Erhöhung der Menschheit , für die Menschheit verloren ging .
Es war Gefahr vorhanden , daß diese zarte , holde Erscheinung wie ein Duft verwehte .
Da trat ein großer , starker , fast wunderlicher Mann auf .
Der wurde sein Konservator und sein Herold .
* Es lebte da , nicht weit von seinem Heimatlande , ein Volksgenosse , ein Nationalist und Klerikaler , ein Mann von großer , nationaler Bildung und allgemeiner Weltbildung , und von scharfem Verstand .
Er war aber ein durch und durch kranker Mensch .
Und zwar war seine Krankheit , wie er an vielen Stellen in den Briefen an seine Freunde erzählt , diese : er war von schweren nervösen und geistigen Störungen gepeinigt , welche ihm das natürliche Leben als lauter Elend , Ekel und Sterben erscheinen ließen ; von Zeit zu Zeit steigerte sich dieser Zustand zu epileptischen Anfällen , während welcher er , bewußtlosen Geistes , Bilder von wunderbarer himmlischer Herrlichkeit und Schönheit sah .
Er war wohl nicht viel jünger als der schlichte , tapfere Held von Norden und hatte ihn mit seinen Augen nie gesehen .
Dieser Mann nun hatte mit vielen Gebildeten seiner Volksgenossen und seiner Zeit einen ganz besonders hohen und wunderbaren Glauben ; wie denn jene unruhig hin- und hersuchend Zeit in phantasievollen Köpfen und frommen Herzen manch wunderliches Weltbild zeugte .
Sein Glaube , an dem er nach seiner Art mit heißem , ja überhitztem Herzen hing , war kurz dieser :
Von der oberen himmlischen Welt , aus der Überfülle seiner ewigen Kraft , wird Gott seinen Boten , ein ewiges , himmlisches Wesen , herunterschicken .
Dies ewige , himmlische Wesen , Gottes rechte Hand schon bei der Schöpfung der Welt , größer und herrlicher als ein Engel Gottes , wird seine himmlische Herrlichkeit in einem Menschenbilde verstecken und verkleiden .
Als » Heiland « wird er mit den bösen Menschen und Geistern dieser unteren Welt in Kampf treten und wird siegen oder sterben .
Zuletzt jedenfalls wird er mit Gottes- und Engelshilfe siegen , und wird die Menschheit von allem Übel erlösen .
Und nun , dies ewige , himmlische Wesen kommt bald :
es muß bald kommen .
Wie voll Not und Angst und Jammer ist mein Leben , ist aller Menschen Leben !
Es kann jeden Tag kommen .
Himmlisch Wesen !
Holde Lichtgestalt !
Heiland !
Reich Gottes ! komme ! komme !
Denn die Welt ist reif .
Als nun dieser Mann , mit diesem Glauben , hörte , daß es im Norden seiner Heimat eine Sekte gäbe , welche behauptete und sagte : der Heiland , der ewige Bote , wäre , als ein Handwerker verkleidet , bereits erschienen , wäre von den frommen Machthabern seines Volkes verkannt und getötet , wäre aber wieder lebendig geworden und käme nun bald wieder :
da ergriff ihn eine wilde Erregung und ein harter Haß .
Nicht möglich war das !
Seine Kirche hätte den Heiligen Gottes verkannt ?
Die Frommen seines Landes hätten das verkleidete himmlische Wesen nicht erkannt ?
Betrüger waren diese Leute und Narren !
... Und er rief nach Staatshilfe und verklagte und verfolgte sie mit heißem Zorn und wildem Eifer .
Er hatte aber in seinem Glauben keinen Frieden .
Der Glaube war so kalt und leer .
Es war eigentlich nur das Gerüst eines Glaubens ; es fehlte der heiße , lebensvolle Inhalt .
Nach diesem Inhalt sehnte sich der körperlich und seelisch schwer leidende Mann .
" Ach , Herr , sende bald das himmlische Wesen !
Ach , Herr , wie wird es sein , wenn es kommt ?
Wie wird es kommen ? "
Eines Tages nun , als er auf einsamem Weg hinter ihnen her war , das heiße , fromme Herz voll von Grübeln über den " falschen Heiland " :
" Heilig , " sagen sie , " ist er gewesen , und unendlich lieb , und Kinder Gottes wollte er , daß wir Menschen würden - weg mit allen äußeren Formeln der Frömmigkeit ... Ja ... das ist wahr .
So sind sie , seine Leute .
Wie wunderbar ist ihr Vertrauen zu Gott !
Wie fröhlich sind sie als seine Kinder , wie frohgemut unter meinen harten Händen !
Wie gütig und freundlich untereinander !
Ja ... sie haben alles , alles , was ich mir für meine arme Seele wünsche , und kann es nicht finden ...
Und getötet ist er , und ist auferstanden ?
... Befreit vom jämmerlichen Leibe ?
... Sie haben ihn mit ihren Augen gesehen ... wenn es nun doch wahr wäre ?
Wenn er es wäre ?
... Ach ... wenn er ... wenn er sich mir zeigte !
... wenn ich ihn sähe , auferstanden , erwiesen als ein Himmelsgast ; dann ... dann würde ich befreit durch ihn von diesem Todesleib ... ich stände , in befreitem hohem Leben , dicht an Gottes Knie , ein seliges Wesen ... ja dann !
... dann ... "
Und sieh ... da ... als er in diesem furchtbaren Zweifel dahinging : da kam einer jener schweren körperlichen und seelischen Zustände über ihn : er sah den , der sein Herz in diese Not riß , umstrahlt , umglüht mit wunderbarer himmlischer Größe und Schönheit .
Von dieser Stunde an war er ein heißer , rastloser Verkünder des schlichten Helden .
" Er ist mir erschienen ! " sagte er .
" Also ist er der Heiland . "
Und nun legte er um den schlichten Helden , um dies holde , treue Menschenkind , das ganze Wundergerüst seines hohen , phantastischen Glaubens .
Er machte ihn zu dem ewigen Gotteswesen , zu dem großen , ewigen Weltwunder .
Er legte um das schlichte , bange , demütige Menschenkind siebenfach glitzernden , schweren Goldbrokat .
Die alten treuen Heidebauern hatten seinen Vater und seine Mutter gekannt , und hatten mit ihm am Tisch gesessen .
Sie hatten ihn lachen und weinen gesehen , irrend und zweifelnd , ärgerlich und zornig , gesund und schwach .
Er war mit ihnen die langen Sandwege zur Hauptstadt gewandert :
sie wußten , daß er nicht der Schöpfer der Welt war , sondern ein Mensch wie sie .
Aber dieser feurige , phantastische , in sein Weltbild ganz verrannte Mann hatte ihn niemals gesehen ; er wußte wenig von seinem Leben , es interessierte ihn auch nicht : er sah in ihm nichts als das ewige Wunderwesen , gestorben , auferstanden ; und nun : " Wacht auf , Menschen !
Wacht auf !
Gott war in der Welt !
Wacht auf !
Er kommt ... er kommt !
Rasch !
... Morgen oder übermorgen kommt er zurück vom Himmel her , zum Gericht . "
Er überredete mit seinem Feuergeist die alten Getreuen .
Er überwand die alten Anhänger .
Er überzeugte andere : Volksgenossen und Fremde .
Denn man sehnte sich nach einem großen , starken Glauben und nach einem einheitlichen Weltbild .
Und er war tapfer und geistreich , und von tiefer , heißer , dämonischer Frömmigkeit .
Wie ein heiliger Wahn , sagt er selbst , lebte und glühte in ihm sein neuer Glaube und seine Liebe .
Und er war von ungeheurer Phantasie .
Er wußte alles :
Gottes geheimnisvolle Pläne , und die Erschaffung der Welt , und das letzte Gericht .
Alles , alles wußte er .
Er baute ein wunderbares Gedankengebäude auf , mit Stangen und Schrauben , starr und steif , doch von einem Feuer der Liebe durchglüht ; das reichte von der Hölle und ging durch die Gräber der Toten , und stieg bis zum siebenten Himmel , und wohl darüber hinweg .
Also war nun das schlichte , edle Menschenbild ganz und gar verwandelt .
Aus dem treuen , qualvoll kämpfenden , suchenden Menschen wurde ein verkleidetes , ewiges Wunderwesen .
Aus dem heißen Liebhaber seines armen , verzweifelten Volkes , aus dem mit zerbrochener Hoffnung Sterbenden wurde der ewige Genugtuer für alle Menschensünden , auch für zukünftige .
Aus seiner Forderung :
" Die Menschen sind von Natur Gottes Kinder und können Gottes guten Willen tun , wenn sie nur wollen , " wurde die Erklärung :
" Die Menschen sind von Natur ganz verdorben und ganz kraftlos , Teufels Kinder , und können nur durch ein Wunder auf Gottes Seite kommen . "
Aus seiner Forderung : " Fühle ' dich als Gottes Kind !
Tue Gottes Willen !
Ein Mensch , der Gottes Willen tut , ist selig , " wurde die Forderung :
" Tut so !
Aber glaubt dazu , daß der ewige Gottessohn für euch gestorben ist , so seid ihr selig . "
Aus seiner Hoffnung , " daß ein Gottesbote kommen würde , in seinem Volk das selige Regiment Gottes aufzurichten , " wurde der Glaube , " daß er selbst als göttlicher , ewiger Richter aller Menschen auf der ganzen Erde , der Lebenden und Toten , wieder erscheinen würde . "
Aber in dem einen stand er jenem schlichten , edlen Menschenkinde dicht zur Seite ; er sagte wie jener : die Liebe zu Gott und den Menschen über alles !
Er predigte und predigte , brennend , glühend von Liebe zu dem ewigen , himmlischen Wesen und zu Gott und zu den Menschen , die er so bitter gern retten wollte .
Er ertrug Not und Gefahr , Spott und Jammer .
Fürwahr : ein großer , edler Mann , bei all seiner Wunderlichkeit ; und ein tapferer Held .
Er predigte bis an seinen Tod :
" Das ewige , himmlische Wesen kommt !
Es kommt !
Und mit ihm das Gericht ! "
Aber es kam nicht .
* Es kam nicht .
Da richteten sich die Gläubigen darauf , daß es vielleicht noch lange ausbliebe .
Sie machten es sich ein wenig bequemer .
Sie gaben den heißen Glauben , daß er jeden Augenblick kommen könne , auf , und freuten sich der milden Hoffnung :
" Nach unserem Tode werden wir zu ihm kommen und er wird sich unser erbarmen . "
Da wurde wieder Platz für Priester .
Sie schoben sich leise und sachte zwischen den " himmlischen Erlöser " und die Menschen .
Es begann wieder der alte Schacher mit Menschenträgheit und Menschenangst .
Ganz wie es zur Zeit des treuen Helden in seinem Volk gewesen war .
Sie sammelten die alten Bücher , über denen der treue Held in seinen jungen Jahren in bangem Sinnen gegrübelt hatte ; dazu vier wunderbare Berichte über sein Leben ; und die Briefe , welche jener große , wunderliche Anhänger geschrieben hatte , und einige andere Schriftstücke , die von seiner Sache handelten , und banden all diese Gegensätze und Widersprüche in ein Buch zusammen und nannten es " das heilige Buch " , und sagten - und die meisten glaubten es ehrlich - : das ganze Buch wäre unter den Augen Gottes geschrieben und wäre ohne Irrtum und ohne Widerspruch .
Und als dieser Glaube , auf diese Art nun schon zweimal verändert , also eine handliche , bequeme und doch bunte Sache geworden war , da strömten ihm immer mehr Menschen zu .
Selbst reiche Leute und Fürsten fanden ihn erträglich .
Und als immer mehr hinzuströmten , da schob sich die ganze gewaltige Maße der Gleichgültigen zu ihm hin .
Da wurde dieser Glaube Mode und Staatsreligion .
Jahrhunderte vergingen .
Die Priester und Synoden berieten und erfanden .
Legenden erstanden ; Wundertaten alter und neuer Heiligen wurden berichtet und in Bücher gefaßt .
Große Gesetzsammlungen wurden niedergeschrieben .
Und all diese Berichte und Heiligengeschichten und Bücher wurden , Buch für Buch , auf das heilige Buch gelegt .
Das Korn der Priester stand in Blüte und erfüllte mit seinem Dunst weithin den warmen Sommertag .
Sie legten immer mehr Menschenwitz auf das alte heilige Buch und kümmerten sich nicht mehr darum , und vergaßen es fast , und dachten nicht mehr daran , daß jemals ein Mensch wieder danach fragen könnte .
Und so war es nun dahin gekommen :
Aus dem guten Heidemann , dem tapferen Helden mit dem schlichten , treuen Menschenleben , mit dem wundervollen , reinen Kinderglauben und mit dem einsamen , verzweifelten Sterben , hatten Zeit , Menschenklugheit und -herrschsucht ein starres Fabelwesen gemacht :
das saß oben , hinter den Wolken , in steifem Gold , und regierte die Welt .
Und neben ihm saß , fast größer als er , seine Mutter .
Seine arme törichte Mutter !
Und um ihn standen in seidenen Gewändern und mit würdigen , hochmütigen und steifen Mienen die alten , klugen , feurigen Heidebauern , die einst barfuß mit ihm den Sandweg entlang zogen .
* Die ewige Macht bewegt immerfort , nicht allein die Sterne , nicht allein die Meere , sondern auch die Menschenherden .
Es geschah , daß im deutschen Volk einer aufwuchs von heißer Seele , von starkem , sinnlichem , natürlichem Geist , von hohem , geradem Mut , von tüchtiger Bildung , ein rechter Deutscher .
Als der ein Mann wurde , suchte er für seine Seele ein ehrlich Verhältnis zu der ewigen Macht .
Da warf er all die krausen und dummen und hochmütigen Bücher , welche die Priester auf das heilige Buch gehäuft hatten , vom Tisch herab in den Dreck , und setzte sich an den Tisch und studierte das heilige Buch .
Und als er es nun studierte , da kam er nicht bis auf den Grund .
Er konnte nicht bis auf den Grund kommen ; es fehlten noch die Forschungen der Gelehrten .
Er kam nicht bis auf den Grund ; nicht bis zu dem Menschen Jesus .
Es fluteten ihm mit Macht und Fülle die hohen Trompetentöne jenes großen , wunderlichen Anhängers entgegen , des Paulus .
Er hörte nur ihn .
Er verstand den heißen , überlauten Mann nicht ganz ; er deutete ihn etwas um .
Er stellte in die Mitte seines Glaubens sein Wort :
" Der Mensch wird vor Gott gerecht und lieb durch den Glauben an den Tod und an das ewige Verdienst des Gottessohnes . "
Er gewann durch seine Frömmigkeit und durch den mannhaften Mut , mit dem er für seinen Glauben eintrat , die Hälfte seines Volkes .
Der Norden des deutschen Volkes und die anderen germanischen Völker , Kraft und Zukunft der Welt , warfen jenes ganze verschimmelte Buchgesammle über Bord und fuhren mit seinem Glauben , dem " Wort Gottes " oder der " Kirchenlehre " , wie sie sagten , in eine gute und stolze Zeit hinein .
Aber sie konnten doch nicht lange damit fahren .
Nicht länger als dreihundert Jahre .
Der inwendige , schwere , geschichtliche und auch seelische Irrtum , auf dem dies " Wort Gottes " , diese " Kirchenlehre " gegründet war - nämlich , daß sie lehrte : jener schlichte Held wäre als ein ewig himmlisches Wunderwesen , Sohn Gottes und Weltenschöpfer , in Verkleidung auf der Welt gewesen - dieser Irrtum machte , daß diese Kirchenlehre bald etwas Leeres , Hartes und Knöchernes bekam .
Und je knöcherner und härter sie wurde , desto mehr fiel sie in die Gewalt mittelmäßiger Köpfe .
Und je mehr sie in die Gewalt mittelmäßiger Köpfe fiel , desto mehr brüstete sie sich , und sagte , daß sie unveränderlich wäre .
Enge Köpfe , Narren erfanden zuletzt das Wort : " Gottes Wort und Luthers Lehre ' vergehen nun und nimmermehr . "
* Die ewige Macht arbeitet immer an den Gedanken der Menschen .
Es wandten sich , im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte , die Edelsten im Volk , seine besten Dichter , Denker und Fürsten , und alle Klugen und Edlen , Jungen und Stolzen , von diesem Glauben und dieser Kirche ab .
Sie verlangten von einer Kirche , daß sie als eine hohe und stolze Heroldsgestalt vor dem ganzen Volk voranginge und es auf hohe Wege führe , zu jeder edlen Freiheit .
Diese Kirchen aber standen beide wie zwei alte Marketenderinnen , ganz hinten , an ihren zerbrochenen Karren , und jammerten und schalten hinter dem Volke her , das vorwärts zog .
Hei , wie zog es vorwärts !
Friedrich der Große und Goethe und Helmholtz ... wer nennt all die Namen !
Wir grüßen euch , Führer .
Kluge und tapfere deutsche Männer , unbefriedigt von der widerseelischen , kalten Kirchenlehre , von der ewigen Macht in ihrer Seele unruhig gemacht , daß sie Gott suchen mußten , faßten - es sind jetzt hundert Jahre her - den Mut , das heilige Buch zu untersuchen .
Sie wollten sehen , ob das Buch wirklich eine Einheit wäre und ohne Irrtum , wie die Kirchen lehrten .
Sie nahmen sich vor - es war ein tapferes Unternehmen :
" Wir wollen das Buch untersuchen , als wäre es ein gewöhnlich Buch . "
Und als sie nun untersuchten - hunderte treue , tapfere Gelehrte , einhundert Jahre lang , in mühseliger Arbeit - da wurde es klarer und klarer , daß " das heilige Buch " viel religiöse und geschichtliche Irrtümer enthielte und viel verschiedenen Glauben , viel edle Menschlichkeit und viel Böses , viel Hartes und viele Widersprüche .
Es war ein schönes , ungeordnetes , buntes Buch , wie ein schöner , ungeordneter , bunter Garten .
Und die tapferen Männer wagten sich immer tiefer in den wunderbaren , schönen Garten hinein .
Immer tiefer .
Durch viel Gestrüpp hindurch und durch viele lange , stolze , steife Bäume .
Immer tiefer .
Mit Zagen und heißer Ehrfurcht .
Ob sie das heilige Land fänden , das die Menschenseele sucht !
... Und da , horch !
... da hörten sie ... mitten im weiten , bunten Garten , in grünen , wunderlichen , dichten Büschen ganz versteckt , leise und klar , die köstliche , reine Stimme einer Nachtigall .
Sie sang wunderbar lieb , schlicht und tief , und zuletzt mit erschütternd wehem Ton von der Liebe der ewigen Macht und von der göttlichen Art der Menschen .
So wie einst in Luthers Tagen in vielen deutschen Gemütern ein neues , heißes Suchen entstand nach " Gottes Wort " und eine neue Liebe zu ihm : so flammte in diesen unseren Tagen eine heiße , neue Liebe zu dem schlichten Helden auf , der unter allerlei wunderbarer Gewandung verdeckt und verborgen war .
Es war eine Zeit fröhlichen und heißen Fleißes .
Unter dem Hohn und Zorn der Dunkelmänner , unter dem Jammern ängstlicher Gemüter , haben tapfere , deutsche Gelehrte jahrzehntelang gearbeitet , ob sie wohl die Dornenhecke durchbrechen könnten , hinter der , durch zweitausend Jahre , der Held verborgen schlief :
Wach auf !
Wach auf , treuer Held !
Und allmählich , da viele Treue und Wahrhaftige an der Arbeit waren und sich die Hände reichten , sahen wir seine Seele ; und sechs oder sieben der wichtigsten Stationen seines Lebens wurden sicher festgestellt ; und er stand da : ein Mensch .
Ein Mensch war er .
Beweise genug dafür !
Erstens : Er hat es selbst gesagt .
Zweitens : Er war in seinem Denken ein Kind seiner Zeit .
Drittens : Er war eine besondere Charaktererscheinung .
Viertens : Er hat eine Entwicklung gehabt .
Fünftens : Seine Natur war nicht ganz frei von Bösem .
Sechstens : Er hat geirrt , besonders in seinem schönen heißen Kinderglauben : er kam nicht wieder und das Reich Gottes kam auch nicht ...
Er war ein Mensch .
So wunderbar gut und weise , hellsehend und mutig er war :
er geht in keiner Tat und in keinem Gedanken übers Menschenmaß hinaus .
Er ist ein Mensch gewesen und nicht mehr .
So wie im deutschen Wald von alters her eine unzählige Menge von Bäumen stand und steht , und alle immer wesensgleich gewesen sind , und auch jetzt sind , kein einziger Wunderbaum unter ihnen - denn daß einer goldene Blätter gehabt hat , wird für ein Märchen gehalten - , aber alle , jeder für sich , ein großes Wunder der Schöpfung : so ist es auch mit den Menschen .
Sie sind alle vom Weibe geboren , und unter das Gesetz der Schöpfung gestellt , und gehen , unterwegs nach Wahrheit und Schönheit suchend , ins Grab .
Es wird eine Zeit kommen und sie ist ja schon da : daß der kräftige Teil unseres Volkes mit stillem , ernstem Wundern an die Vergangenheit denken wird , da man ein edles Kind eines fremden Volkstums und einer vergangenen Zeit als einen Gott und dann noch eine Zeitlang als einen Halbgott verehrt hat , zumal man erkennen wird , daß man von den edlen Gütern der Menschheit auch nicht eins verlor , als man diesen Glauben aufgab .
Haben alle früheren Völker sich nicht gescheut , ihre Götter auf ihre Echtheit hin zu untersuchen , und sie abgeschafft , wenn sie fanden , daß sie von der Phantasie erhöhte Menschen waren , haben die germanischen Völker die Klarheit und Tapferkeit gehabt , die " Mutter Gottes " und die anderen katholischen Halbgötter und Heiligen , ohne Furcht vor den " Geheimnissen ihrer Persönlichkeit " zu prüfen und abzulehnen : so werden sorgenvolle und ängstliche Gemüter nicht hindern , daß auch der letzte Gottmensch , der noch zwischen den Menschen und der ewigen Macht steht , gründlich untersucht wird , daß wir endlich sie selbst und sie allein anbeten .
Er selber , der wahrhaftige Held , wäre der letzte , der solche Untersuchung verböte .
* Und nun also , wenn er ein Mensch war , sind wir frei gegenüber alledem , was jemals über ihn gelehrt worden ist .
Wir lehnen alle die Lehren ab , welche die Menschen sich von ihm und demnach von den göttlichen Dingen gemacht haben .
Wir verwerfen also die Mutter Gottes und die Heiligen , den Papst und die Messen . Weg damit !
Gott hat dies alles durch die Wissenschaft richten lassen und zum Tode verurteilt .
Wir verwerfen auch die Dreieinigkeit und den Sündenfall , den ewigen Gottessohn und die Stellvertretung durch sein Blut und die Auferstehung des Leibes .
Was sollen wir diese Dinge glauben ?
Sie machen uns weder fröhlicher noch heiliger .
Überhaupt , was haben diese Dinge mit Glauben zu tun : sie sind ja Wissen .
Sie sind verkehrtes Wissen .
Deutsche Forschung hat sie kurz und klein geschlagen .
Sie mögen zu ihren Zeiten für die Menschheit recht und ein Segen gewesen sein , und ein schützend Lattenwerk um das zarte Heilandsbild .
Jetzt sind sie veraltet , unnütz und schädlich .
Wir sind aber auch frei ihm selber gegenüber .
Wir lehnen ab alles , was zeitlich und irrtümlich in ihm war .
Wir lehnen also seine Aussagen über Gott ab , die aus dem kleinen Weltbild seiner Tage stammen .
Der Heiland stand mit hellem Vertrauen vor dem Weltbild seiner Tage und sah und deutete alles , diesem Weltbild gemäß , in Übereinstimmung mit ihm , doch nicht ihm untertänig , sondern mit souveräner , stolzer Seele schaffend ... und deutete und ahnte und schuf , und fand das Wesen der ewigen Macht , fand einen Gott von menschenartig enger Persönlichkeit , von menschlicher Erregung , von plötzlichen , widernatürlichen Entschlüssen , einen Gott , der im Himmel wohnte wie in einem Hause , und mit seinem Nachbarn , dem Teufel , in ewigem Streit lag .
Wir Kinder dieser Zeit stehen vor einem größeren und anderen Weltbilde .
Es ist tausendmal größer als das des Heilands ; und es ist ganz anders .
Es ist unerhört zierlich und wie sorglich in Kleinigkeiten ; es ist unerhört erschrecklich in Tiefen und Fernen ; es ist unerhört folgerichtig und herbe in seinen Ursachen und Wirkungen , in seinen natürlichen und sittlichen Gesetzen .
Dies Weltbild , das Weltbild des Kopernikus , Galilei , Newton ; Galvani , Darwin , Robert Mayer , Helmholtz erkennen wir an .
Wir erkennen es an ohne irgendeine Einschränkung .
Und wir erschrecken nicht vor ihm , sondern wir stehen vor ihm mit dem hellen Vertrauen , mit dem der Heiland vor dem Weltbild seiner Tage stand .
So wie der Heiland , jener so menschliche Held , mit feurig liebender Seele , mit seinem :
" Ich will Gott lieben und die Menschen , " vor dem Weltbild seiner Tage stand , und nirgends ihm untertan , nirgends im Widerspruch mit ihm , mit souveräner Seele es deutete : so kommen jetzt Menschen und werden kommen , von seiner Art , von seinem Vertrauen , unbelastet mit all den veralteten Glaubens- und Weltansichten , und werden dies ungeheure rätselhafte Bild der Welt ahnend verstehen , und mit schöner heiliger Phantasie , mit frei schaffender Seele herrlich deuten und werden das Bild Gottes sehen .
Und dieser Gott wird anders sein , ganz anders als der des Heilands .
Seine Werke werden unendlich viel größer und anbetungswürdiger sein .
Er wird nicht wider seine Werke streiten , die er geschaffen hat ; sondern er wird in ihnen und durch sie leben , weben und sein .
Seine Gerechtigkeit wird in seinen klaren ewigen Gesetzen wohnen und wird natürlicher , klarer und härter sein .
Seine Liebe wird viel weitherziger sein .
Er wird nicht bloß " das auserwählte Volk " lieben oder " seine Gläubigen " oder " die Wächter Zions " ; sondern alles , was in aller Welt , bei allerlei Meinung , natürlich , edel , wahrhaftig , schön und demütig ist vor den erhabenen Wundern seines Wesens und seiner Schöpfung , davon werden wir sagen : " Sieh , Gott liebt es . "
- Und also lehnen wir seine Aussagen über Gott ab , die aus seinem kleinen , irrtümlichen Weltbild kommen .
Wir lehnen aber auch seine Aussagen über Gottes Willen ab , die von demselben kleinen Weltbild herrühren und daher , daß er das Kind einer wundersüchtigen Zeit und einer heißeren Rasse war .
Wir lehnen ab seine verächtliche Abneigung gegen die Welt und die Menschheit so wie sie ist ; und seine Erwartung einer baldigen wunderbaren Veränderung beider ; seine Geringachtung des öffentlichen und staatlichen Lebens und der beruflichen Lebensarbeit ; seine vollständige Verachtung der Güter und Freuden der Erde .
Diese Ansichten und Lehren lehnen wir ab .
Wir , die germanischen Menschen , Kinder Siegfrieds und Goethes , freuen uns dieser Erde als der uns von Gott gegebenen Heimat , wollen nicht , daß sie anders sei oder werde , als sie ist , begehren auch nicht , daß ihre ewigen , harten aber herrlichen und gerechten Gesetze durch kleinere oder größere Mirakel möchten verletzt werden , wissen auch , daß das niemals geschehen ist noch geschehen kann , sondern hoffen vielmehr mit großer germanischer Freude an Frühling , Wandern und Sieg , daß sie durch die treue Arbeit unserer Hände , die zähen Gedanken unserer Hirne und die Veredlung unserer Seelen im Lauf der Jahrtausende in allmählicher mühsamer Entwicklung ein Garten und Reich Gottes werde .
Das ist unser Glaube von diesen allerwichtigsten Dingen .
Das ist der ruhige und starke und fröhliche Glaube der Germanen .
Wir lehnen seinen Glauben über diese Dinge ab .
Aber eins von ihm brauchen wir ; eins von ihm erkennen wir an , das Wesentliche an ihm , nämlich seine feurig liebende Seele , sein :
" Ich will Gott lieben aus meinem ganzen Herzen und meinen Nächsten als mich selbst . "
Dies müssen wir anerkennen , sowohl aus einem inwendigen ewigen Zwang , als aus einem freien persönlichen Entschluß .
Wir fühlen : hier ist ewiges , schönes Menschentum .
Hier ist ewiges , unschätzbares Menschengut .
Hier stehen zum Heiland alle edlen Geister der Welt und unseres Volks .
Hier geht der Weg der Menschheit vorwärts .
Unwandelbar wird über der Menschheit funkeln , und immer stärker und heller erglänzen , das , was er uns gebracht hat , aus seiner wunderbar schönen , hellsehenden , mutigen Menschenseele heraus , dieses : den Glauben an eine hohe göttliche Würde und Wert jeder Menschenseele , und aus diesem Glauben stammend , den Glauben an die Güte und Nähe der unerkannten , ewigen Macht , und aus demselben Glauben aufschießend wie aus gutem Erdreich schwere , schöne Frucht , den Glauben an schwere , schöne Aufgaben der Menschheit , und an ihr wunderbares Ziel , dem Reich Gottes zu .
Damit hat er , vor allen anderen frommen Helden der Menschheit , Sinn und Wert des Menschendaseins ans Licht gebracht und ihm ewigen Adel und ewige Bewegung gegeben .
Dieses , sein Wesen , wird der Menschheit immer und unwandelbar wertvoll und teuer sein .
Alles andere aber , was die Kirchen von ihm aufbewahren und in alten Säcken und Truhen hüten , das sind seine verstaubten und verschimmelten Kleider .
Von ihrem Anrühren oder Anbeten wird keine kranke Seele gesund und kein zerrissenes Volk heil .
* Und nun freut euch , Schulkinder im ganzen Land und ihre Lehrer !
Noch müßt ihr verkehrtes , wirres Wissen traktieren , das mit Glauben nichts zu schaffen hat , unnütz ist und schädlich .
Freut euch : das wird bald alles in die Rumpelkammer kommen .
Ihr werdet euch an dem Handwerker Jesus freuen , dem reinen Helden , und werdet mit seinen heiligen Augen in die Wunder der Schöpfung und des Lebens sehen , die unsere Zeit gefunden hat , und werdet mit großem edlem Mut ins Leben gehen .
Freue dich , erwachsene Jugend im ganzen Land !
Die Kirche stritt gegen die Vernunft , die gottgegebene , und stritt gegen edle Lebenslust .
Sieh : hier ist ein Glaube , sich freuend , lachend über jeden Sieg der Wissenschaft , edlem Griechentum zugeneigt , herrliche Ausgaben gebend .
Gelehrte und Künstler , freut euch !
Wie standet ihr wirr und kopfschüttelnd vor dem ungeheuren , seltsamen Wunderbild .
Die Kirche hatte es da mitten auf den Weg der Menschheit gestellt ; im Bogen gingt ihr herum , wußtet nichts damit anzufangen .
Jetzt steht da , auf dem Weg , ein schlichtes , tapferes Menschenkind , und sieht euch mit tiefen , treuen Augen an .
Menschlich zwar , doch wunderbar hoch ist nun der Weg der Menschheit .
Ihr Prediger in beiden Kirchen , die ihr hohen und freien Geistes seid , freut euch !
Man wird euch nicht lange mehr ängstigen und zwingen wollen , Verkündiger eines ungeschichtlichen übermalten Heilandsbildes , eines ungerechten , kleinlichen Gottes , und eines veralteten Weltbildes zu sein .
Sondern ihr werdet mit Prophetenaugen und Prophetenworten , in der Weise jenes Großen , von der Zukunft der Menschheit reden , welche ins selige Gottesreich hineinläuft .
Und ihr tut das schon .
Freue dich , Staat !
Die Kirchen haben dich tüchtig gebraucht .
Sie haben dich zu ihrem Knecht und Schelmen gemacht und dich dazu betrogen und geschunden .
Sie waren ja voller Geheimnisse und davon dick und stark .
Deutsche Forschung hat ihnen die Geheimnisse aus dem Leibe gerissen .
Was haben sie das Volk noch zu verwalten , zu herrschen , zu spalten , zu halten ?
Ihre große schlimme Macht ist erschüttert ; du aber wirst stärker werden und wirst deine Kinder zu hohem freiem Menschentum führen .
Freue dich , Christenheit !
Deine Sache war in dieser unserer Zeit eine verlorene Sache .
Mit dem " Papst " und dem " Wort Gottes " hättest du die Welt nicht erobert .
Aber diesen schlichten Helden und seinen Geist und Glauben werden China , Japan und Indien annehmen .
Haben sie Seelen wie wir , so werden sie zu diesem Glauben kommen .
Denn er ist dem Menschenherzen gemäß , es bedarf seiner und öffnet sich ihm .
Nun freue ' dich , meine Seele !
Sitze noch ein wenig und sinne ; und freue ' dich !
Welch eine Zeit !
Wie hat die deutsche Wissenschaft Licht geworfen über viel Dunkel !
Mag das Licht dir auch ein wenig weh tun , Seele ; deine Augen werden sich daran gewöhnen , Seele , Tagvogel du !
Siehst du nun deutlich das Land ?
Welch ein heilig Land !
Unsere Kinder , unsere Jugend , wie wird sie glücklich sein !
Sitze noch ein wenig und sieh und sinne ...
So : nun nicht länger !
Nun stehe auf , zu froher Arbeit , du Bange !
Du Fröhliche !
Du Gottesgenossin !
* Heinke Boje saß in ihrer Kammer am Tisch und las beim Schein ihrer Lampe .
Als die Nacht kam , stiegen überall aus den Gräben und Tiefen schwere Herbstnebel und lagerten sich als graue Schlangen rund um die Stadt Hilligenlei .
Und glitten in die Straßen hinein und erschienen den Menschen und erschreckten sie mit ihrem lautlosen Treiben und bleichen Gleiten und füllten zuletzt die ganze Stadt bis über die Höhe der Häuser und bis an das Bleidach des breiten Turmes und verdeckten alles Licht .
Als Heinke Boje um Mitternacht zu Ende gelesen hatte , öffnete sie das Fenster und sah hinaus , und gewahrte das ungestaltete , geistlose , kalte Treiben und es wurde ihr die Brust eng und sie fürchtete sich .
Die ganze Ungewißheit und die ganze Last des Menschendaseins und die schreckliche Einsamkeit der einzelnen Seele erschien ihr und quälte sie sehr .
Und sie weinte um sich und um alle Menschen und um den , der nun einsam seinen Weg ging , durch diesen grauen , kalten , gestaltlosen Nebel .
Es begleitete ihn keine Liebe ; es ging kein Glaubensgenosse mit ihm .
Aber dann liefen ihre Gedanken zu dem , von dem sie eben gelesen hatte , zu dem Menschlichsten der Menschen und zu seinem Glauben .
Und an seinem Glauben rankte sich der ihre empor .
Und sie glaubte und betete , wie er geglaubt und gebetet hatte .
Siebenundzwanzigstes Kapitel Ein Vierteljahr später , als Heinke Boje in Ostholstein neben der Mutter von Peter Volquardsen beim Morgenkaffee saß , den blitzenden Brautring an der Hand , bekam sie den ersten ausführlichen Brief von Kai Jans .
Er kam aus Kapstadt .
Sie fuhr auf und lief nach oben in ihre Schlafkammer und las mit scharfen Augen .
Die beiden Reisenden waren in Kapstadt von Bord gegangen und wollten nun nach einem wohlüberlegten Plan die ganzen englischen Kolonien bis nach dem Krokodilfluß hinauf bereisen .
Zwei Jahre sollten dazu verwendet werden .
Danach wollten sie , wenn es möglich wäre , über Land nach unserer westlichen Kolonie hinüberziehn .
Der Brief hielt sich aber bei dieser Sache nicht lange auf , sondern plauderte bald von allerlei persönlichen Erlebnissen , alten und neuen , größeren und kleineren , und von der Stimmung , mit der sie aufgenommen waren , oder welche sie hervorgebracht hatten , und gaben der Leserin ein buntes , lebendiges Bild von der Seele des Schreibers .
Es war der Brief eines Menschen , der die Entsagung fertig gebracht hat und seinen einsamen Weg mit stillen , ernsten Augen tapfer geht .
Einmal nur gab eine kleine Wendung einen Ton wie von heißem Jammer um das Verlorene ; aber er verklang gleich und rasch hinter einem schelmischen Spott .
Sie war überglücklich über den Brief .
Sie hatte gefürchtet , daß er sich doch verbittert von ihr abwenden könnte und kalt und fremd schriebe , oder daß er vielleicht über seine große Not klagte .
Aber nun schrieb er so lieb zugleich und so tapfer .
O , sie hörte es aus den ernsten und aus den schelmischen Worten , wie lieb und wie tapfer !
Sie las den Brief durch Tränen wieder und wieder , und setzte sich gleich hin und schrieb einen langen Brief zurück , der voll war von ihrer großen Freude und heißen Freundschaft .
Von da an gingen freundliche , inhaltreiche Briefe hin und her .
Sie dachte zuweilen mit großer Sehnsucht an ihn ; aber meistens mit guter Ruhe , wie ein Mensch , der ein schönes , reiches Gut in Händen hat , und eins in der Fremde ; er weiß aber , daß es ihm unverloren ist .
Sie freute sich wie ein Kind auf den fernen Tag , da er einst wiederkommen würde .
Das sollte köstlich sein !
Wenn er als ihr Gast an ihrem Tisch säße !
Was für ein lieber Gast !
Wie wollte sie ihn verziehen !
Wie wollte sie necken und Schelmen , und aufmerken , was ihm lieb oder leid wäre .
Und eines Tages meldete sie ihm , daß sie nun mit ihrem Freunde zusammen Hause , und wiederum eines Tags , daß sie ihr erstes Kind erwartete , und wiederum eines Tags , daß sie einen kleinen Knaben geboren hätte .
Mit heißer Freude , mit heimlichem , bangem Stolz hörte sie aus seinen Briefen , wie schwer die Nachrichten ihn getroffen hatten .
Sie wollte ja und begehrte ja heiß , daß er sie lieb behielte , immer , immer .
Sie konnte den Gedanken nicht ertragen , daß eine andere ihn besitzen , und daß sie vergessen sein könnte .
Und sie schrieb ihm in rührenden Worten , wie glücklich sie wäre , das Kleinod seiner Liebe zu besitzen , und daß sie eine wunderschöne Hoffnung hege : einst , wenn sie beide älter geworden und ruhige Leute :
dann wollten sie Haus an Haus wohnen :
" Und dann kommt jeden Morgen , jeden Morgen , eins von den Kindern , und bringt Dir zum Morgengruß eine Blume , und an jedem Abend sitzt Du bei uns unterm selben Lampenschein . "
Er ging in seiner Antwort auf diesen Gedanken ein und malte ihn wieder und wieder aus , bald in drolliger Schelmerei , bald in so ernster , lebendiger Art , daß sie heiß aufschluchzte .
So vergingen drei und ein halbes Jahr .
Sie lebte in köstlicher Einigkeit und Glückseligkeit mit ihrem Mann , freute sich mit ihm an ihrem Kinde , das nun schon zwischen ihnen beiden hin und wieder lief und mit klugen Augen auf die Bilder sah , die der Vater ihm zeigte , und erwartete ihr zweites Kind .
Um diese Zeit brachten die Zeitungen die ersten Nachrichten von dem Aufstand in unserer Kolonie , der uns soviel edles Blut gekostet hat .
Sie waren aber wegen ihres Reisenden ohne Sorge ; denn er hatte in seinem letzten Brief geschrieben , daß sie wegen der hohen Kosten und der Jahreszeit darauf verzichtet hätten , auf dem Landweg in die Kolonie zu kommen ; sie würden über Kapstadt-Swakopmund dahingelangen .
Als sie aber dann zehn Wochen lang ohne Nachricht blieben , fingen sie doch an zu sorgen .
Da endlich kam ein Brief .
Sein Freund schrieb von Windhuk aus an die " Freundin seines lieben Freundes " ...
" Wir entschlossen uns doch , da wir Begleitung von Buren fanden , mit Wagen durch Griqualand nach Großnamaland zu kommen , und erreichten es auch glücklich und schickten uns an , von den Buren wegzugehen , um einige Farmen zu besichtigen .
Da kam in der Nacht ein Kolonist an unser Feuer , zu Fuß , flüchtig , und meldete uns , daß er überfallen wäre , und daß seine Frau mit drei Kindern im Busch umherirre .
Da standen Kai Jans und ich auf , trennten uns sofort von den Buren und schlichen im Schutz der Dunkelheit mit dem Flüchtling an seine Wohnstätte heran und suchten und fanden im Busch seine Frau und die Kinder und wanderten nun in Tag- und Nachtmärschen , zu Fuß , über heißen , trockenen Sand und Fels , oft fast verdurstet , immer in Gefahr , nach Norden zu .
Während dieses Marsches hat unser Freund sich zu sehr angestrengt .
Sie wissen , daß seit der Zeit , da er auf der Klara Matrose war , Herz und Lunge nicht sehr stark sind .
Dazu ließ seine lebhafte Phantasie ihn in den Nächten unserer Flucht auch dann nicht schlafen , wenn wir anderen die Wache übernommen hatten .
Dazu war er immer bereit , das kleinste Kind zu tragen , einen kleinen dicken Jungen , der immerfort weinen wollte .
Genug , als wir in Rehoboth ankamen , wo einige Sicherheit war , bekam er eine schwere Lungenentzündung .
Diese Krankheit , welche rasch und heftig verlief , ist nun ziemlich gehoben ; aber der Arzt weiß doch nicht , wo es mit ihm hinausläuft , da sich nun erst zeigt , wie sehr das Herz angegriffen ist .
Ich habe eine leidlich gute Gelegenheit benutzt , mit ihm hierher nach Windhuk zu kommen , und will ihn von hier , wenn der Arzt es irgendwie gestattet , nach Deutschland bringen , damit Sie und die Heimat und ihre Heilquellen ihn wieder gesund machen .
Nun nehme ich mir die Freiheit , Ihnen noch folgendes zu schreiben :
Ich wußte seit dem Anfang unserer Reise , daß mein Freund ein schweres Leid trug , obgleich er kein Wort zu mir darüber gesagt hatte .
Aber sein Benehmen zeigte mir , was sein Mund nicht sagen wollte .
Er war zwar für gewöhnlich so , wie Sie ihn kennen : wahren und klaren Geistes , für die Zustände des fremden Landes interessiert , immer freundlich , immer hilfreich , ein Freund der Menschen .
Aber wenn er allein war und sich unbeachtet glaubte , fand ich ihn oft in wunderlicher Stimmung , zuweilen zusammengesunken , einen stillen Gram im Gesicht , wie ein Mensch , dem alle Hoffnung gescheitert ist , zuweilen aber mit glänzenden , weltfernen , glücklichen Augen , wie ein Mensch , der im Geist in weiter Ferne seine Liebe in Glück und Freude lachen und spielen sieht .
Ich wußte nicht , was es war , das ihn in so verschiedene Stimmungen hineinbringen konnte ; doch dachte ich mir schon lange , daß beide , die verzweifelte wie die fröhliche , mit Ihrer Person zusammenhingen ; denn wenn er auf Jugend und Heimat zu sprechen kam , sprach er zuletzt immer von Ihnen .
Aber am ersten Tag in Rehoboth , am Spätnachmittag , als er merkte , daß eine schwere Krankheit in raschem Anzug war , und er noch eilig einen Brief an Sie schreiben wollte , das aufbrausende Fieber aber seine Hand fliegen machte und er die Feder hinwerfen mußte :
da sagte er mit dem Ton vollständiger unruhiger Mutlosigkeit , daß er viel Schweres im Leben besiegt hätte , er hätte sogar mit alten und mächtigen Geistgewalten tapfer gefochten ; aber eins könne er nicht bezwingen und nicht zu gutem Ende durchfechten : daß er Sie verloren hätte , und zwar durch seine eigene Torheit .
Ich bin ein nüchterner und fast kalter Mensch - er sagt , daß er mich gerade darum zu seinem Freunde gemacht habe , daß ich sein wildes , heißes Blut kühle - :
ich sagte ihm , daß ein Gefühl der Zuneigung ins Ungeheure wachsen könne , wenn die Sehnsucht und eine lebhafte Phantasie es täglich nähre .
Aber er antwortete mir , daß er Sie von Ihrer Kindheit an kenne .
Und obgleich er gegen Ihre Fehler , welche die Fehler Ihrer Familie wären , nicht blind wäre , bedeuteten Sie doch für ihn von Ihrer Kindheit an alles Schöne und Liebe und Reine .
Ich will Ihnen von seiner Krankheit weiter nichts erzählen , als daß er in seinen Phantasien noch immerfort einen Knaben tröstete , den er durch den Sand und den Busch trug ; es war aber nicht jenes Kind , sondern das Ihre , das Sie erwarten .
In einer wunderbaren Wirrung des kranken Geistes brachte er es zu Ihnen , durch weite Landstrecken , auf mühsamen Wegen , mit schwerer Anstrengung gehend , während Sie in der Ferne standen und herübersahen und ihn schalten , daß er so langsam vorwärts ginge .
Ich fand hinten in seinem Tagebuch , das er mir übergab , einige Aufzeichnungen , welche ich diesem Brief noch anfüge .
Zuerst einige Anmerkungen zum Leben des Heilandes , welche darauf absehen , daß einige Rauheiten im Stil verschwinden und einige Härten gemildert werden .
Die anderen Aufzeichnungen beschäftigen sich mit seinem Verhältnis zu Ihnen .
Wohl in der Absicht , in seinem Leid in jedem Augenblick Tröstung und Stärkung zur Hand zu haben , hat er die Erwägungen zusammengestellt , die ihm das eine oder das andere bringen .
Ich nenne diese :
» Weil Gott mich und sie vor schwerer Not bewahren wollte , sorgte er , daß ich sie nicht bekam ; denn ich soll bald sterben ...
Ich bin es allein , der leidet ; sie beide leben durch meine Entsagung in reinem Frieden ...
Ich muß leben und tapfer sein , damit sie einen Helfer haben , wenn sie vielleicht einmal in Not kommen ...
Wie mancher arme Verschmähte hörte nicht ein einzig freundliches Wort von seiner Geliebten ; ich aber bin ihr lieb und wert ; das sehe ich aus jedem Brief ...
Ich will glauben , daß meine Not einen guten Zweck in sich selbst trägt :
sie wird mich ernster und heiliger machen und stark zu meinem Werk ...
Ich will an ältere Tage denken , wo ich einst ihren Umgang ertragen , ja mich köstlich daran freuen kann ...
Wenn sie meine Frau wäre , hätte ich bei jedem Herzklopfen und bei jedem Schmerz in der Schulter Angst , daß ich lange krank würde oder stürbe ; nun aber bin ich ein Mensch , der ewigen Macht immer gewärtig , sie bringe gesunde oder kranke Tage oder die Sterbestunde . «
Ich schreibe Ihnen dies alles und schicke es mit der Post , die übermorgen fällig ist , entweder , damit Sie ihm schreiben können , was Sie nach diesem für richtig halten , oder , im anderen Fall , damit Sie über seinen ganzen Zustand unterrichtet sind , wenn ich vielleicht nach einigen Wochen depeschiere , daß ich ihn nach der Heimat zurückbringe . "
So lautete der Brief des Freundes .
Drei Wochen später kam eine Depesche : " Jans 21. Mai Hamburg . "
Da fuhren die beiden Menschen , die ihm vor allen und von Kind an am nächsten standen :
Heinke Volquardsen und der Kornhändler Lau am 21. Mai , morgens in aller Frühe , nach Hamburg .
* Als Pe Ontjes Lau gleich nach der Ankunft vom Gasthaus nach dem Hafen herunter kam , um sich zu erkundigen , sah er den Dampfer , wie er langsam an Blohm und Voß vorüber elbauf ging .
Er fuhr eilig nach dem Afrikakai und kam fast mit dem Dampfer zugleich an und ging an Bord .
Er ließ den Arzt herausbitten und fragte ihn , ob Jans da wäre und wie es mit ihm stände .
Der junge Arzt sagte , daß die Seefahrt der Lunge sehr gut getan hätte ; sie sei wohl ganz wieder heil ; aber das Herz ließe noch sehr zu wünschen übrig .
Es könne sich wieder kräftigen , ja nach einer gelungenen Kur an einer Heilquelle wieder ganz gut werden ; es könne aber vorläufig auch jeder Tag das Schlimmste bringen .
Er wollte hineingehen und den Besuch anmelden ; hoffentlich bringe er nur Gutes .
Da ging Lau hinein und war mit ihm allein .
Er lag auf dem Bett und war mager und stark verfallen , so daß Lau erschrak .
Er verbarg es aber und setzte sich auf den Stuhl am Bett und behielt seine Hand in der seinen .
" Wie bei Kap Horn , " sagte Kai Jans .
" So ähnlich ! " sagte Lau .
" Ich soll dich von allen grüßen , " sagte er .
" Zuerst von deinem Vater . "
" Was macht der Alte ? " sagte Kai Jans und lächelte .
Er dachte an die Briefe , die er von ihm bekommen hatte , in denen er bald in drolliger Weise von Hilligenlei , bald in etwas überschwänglichen Worten von seinen religionspolitischen Hoffnungen sprach .
" Er steht nichts aus , " sagte Lau .
" Er hat das kleine Stück Zinsgeld von der Hindorfer Sparkasse und die Altersrente , und dann und wann noch einen kleinen Arbeitslohn :
das macht zusammen soviel , daß er jeden Tag eine Mark zu verzehren hat .
Er ist wieder , seit du ihn gesehen hast , etwas kleiner geworden , auch wieder etwas magerer ; aber ich sage dir :
wenn er tief in der Mütze sitzt und die Augen funkeln gleich unterm Schirm , und die kurze Pfeife ist im Gang :
es gibt nichts Großartigeres in Hilligenlei .
Ich sage manchmal zu Anna : Du und Thoms Jans , jeder in seiner Art : ihr seid die Fürstlichkeiten am Ort .
Er liest die Arbeiterzeitung wie zuvor und bleibt bei der Partei .
Aber er ist nicht ganz waschecht ; er kann sich von der Bibel nicht trennen ... er kann sozusagen ... vom Feuerschiff nicht weg , auf dem er in jungen Tagen ein Grübler und Bibelleser gewesen ist . "
" Wie geht es Anna und ihren Kindern ? "
Pe Ontjes Lau schmunzelte : " Siehst du , " sagte er : " wir , ich meine die Kinder und ich , kennen ja jetzt ihre Nücken und kommen leidlich gut mit ihr aus .
Sie quält sich natürlich damit , daß ihr Mann nicht der reichste und angesehenste und gelehrteste Mann in Hilligenlei ist - eigentlich könnte sie ja von Gott verlangen , daß es so wäre - und daß ihre Kinder nicht die klügsten und ersten in der Schule sind .
Das Mädchen hat einen raschen , hellen Geist , wie sie ; aber der Junge ist langsam , wie ich .
Wir haben unsere Not mit ihr , Kai , und werden sie immer haben ; es ist , als wenn ihr Geist unbehauen oder doch ungeglättet geblieben ist .
Und sieh :
da hast du uns etwas geholfen .
Als sie damals , vor vier Jahren , das Leben des Heilands gelesen hatte , das Heinke von dir bekommen hat , war sie eine Zeitlang weicher , gerechter und ruhiger .
Neulich aber kam der Junge zu mir in die Schreibstube , stellte sich dicht neben mich und spielte so etwas mit dem Lineal und sagte so nebenbei :
» Du , Mutter ist wieder so hochfahrend und so scharf , gestern und heute ... weißt du was ... du mußt heute abend Mal das Gespräch auf das Leben des Heilands bringen .
Vielleicht liest sie es Mal wieder . « " Kai Jans lächelte :
" Aber glücklich seid ihr doch ! " sagte er .
" So !
So ! " sagte Pe Ontjes .
" Ihre und unsere ganze Not ist , daß sie uns so überhitzig lieb hat . "
" Und Piet ? "
" Piet ?
... Piet hat immer noch kein anderes Interesse als : erwerben , erwerben .
Er ist nicht glücklich dabei ... aber es ist , als wenn etwas anderes in seiner Seele nicht vorhanden ist .
Er hat eine Deutschamerikanerin geheiratet , die ihm ähnlich ist und uns fremd . "
Kai Jans lag eine Weile still , mit halb geschlossenen Augen , und dachte an seinen Jugendfreund .
Dann glitten seine Gedanken zu Tjark Dusenschön und er fragte nach ihm .
" Er ist hier in Hamburg und soll irgendeinen guten Posten als Privatbeamter haben .
Ich glaube , beim Begräbniswesen .
Mache dir um den keine Sorge : so einer kommt nicht um . "
Kai Jans schwieg und lag wieder eine Weile , ein wenig müde , und Pe Ontjes saß bei ihm .
Dann wurde er aber wieder wach und sagte : " Hast du sonst noch einen Gruß für mich ? "
" Heinke ist hier , Kai . "
" Kommt sie denn hierher ? " sagte er leise .
Und plötzlich ... er wollte es aufhalten , konnte es aber nicht , fing er heiß an zu weinen und sagte unter Weinen : " Lieber Pe Ontjes ...
Ich bin kein Weichling , aber ich bin noch schwach von der Krankheit . "
" Weiß ich , mein Junge ... weiß ich ... wenn es nicht anders geht , weine man . "
" Ich habe nicht geweint seit dem Tag auf der Goodefroo . "
" Weiß ich , mein Junge ... Du brauchst dich nicht zu schämen ; die Geschichte ist schlimm genug . "
" Es ist das Härteste , was ein Mensch erleben kann , " sagte Kai Jans , " wenn man das Liebste , was man hat , meiden muß . "
" Kann ich verstehen , mein Junge . "
" Ich habe dagegen angekämpft :
das kannst du glauben .
Aber oft , wenn ich so ganz allein war , so verlassen und dachte mich da hinein :
wie lieb sie ist und hörte ihre gütige Stimme und sah ihre Augen , dann nahm der Gram fast überhand . "
" Ich denke , es wird nun besser , Kai , " sagte der große Pe Ontjes mitleidig .
" Du wirst dich daran gewöhnen , sie dann und wann zu sehen .
Dann wirst du ruhiger werden . "
Er wurde ein wenig stiller .
" Ja , " sagte er .
" Da es nun einmal so gekommen ist , muß ich mich freuen , daß sie und auch ihr Mann so freundlich mit mir sind .
Ich will es noch lernen , mich an ihrem Glück zu freuen . "
Er fuhr mit der Hand über die Augen und lag still .
" Es ist ja auch möglich , " sagte er dann , " daß ich nicht lange mehr lebe ; dann hat alle Not ein Ende . "
" Ach , " sagte Pe Ontjes , " rede nicht davon : Du gehst nach Wiesbaden oder nach Nauheim und wirst wieder gesund und wirst wieder ein frischer , starker Mann und bist in der Weise tätig , wie du es dir nach deinem Leben des Heilands zurechtdenkst . "
" Ja , " sagte er ... " ich will sehen ... ich möchte noch viel tun ... "
Man hörte einen Schritt draußen auf dem Deck und eine Frauenstimme .
" Ich habe ihr gesagt , daß sie mir nachkommen soll , wenn ich nicht wiederkomme .
Ich glaube , sie ist da ...
Ich bleibe auf dem Schiff ...
Ich wollte dir noch sagen , daß sie ihr zweites Kind erwartet ...
So , sei tapfer und ruhig . "
Er ging nach der Tür und trat hinaus und sie kam herein .
Sie ging gleich auf sein Bett zu und fing an , ihn zu streicheln , und obgleich sie sich fest vorgenommen hatte , daß sie ruhig bleiben wollte , fing sie doch an zu weinen und streichelte ihn und sagte : " Lieber , lieber Junge ... siehst du ... nun ist die Heinke hier ... nun sage , was soll sie dir zuliebe tun ?
Sage es , was soll ich tun ? "
Er sah mit strahlenden Augen zu ihr auf : " Freundlich mit mir sein , " sagte er .
" Ich bin zu glücklich , daß du so mit mir ...
Sind sie gut mit dir . "
" Wer , Kai ...
Peter Volquardsen ?
Der ist immer derselbe geblieben , Kai ...
Immer lieb , und immer klug und fein . "
" Dann ist ja alles gut , " sagte er .
" Dann ist es nicht vergeblich gewesen . "
" Nein , " sagte sie , " nicht vergeblich .
Du hast eine Menschenseele vor bösem , finsterem Weg bewahrt und eine andere vor schlechtem Gewissen .
Nicht vergeblich !
Aber du mußt tapfer sein .
Was nützt es sonst , wenn du nicht tapfer und fröhlich bist ? "
Sie beugte sich über seine Hand und drückte sie gegen ihr Gesicht und sagte mit schmerzlichem Weinen :
" Wenn du es nicht erträgst und an deiner Liebe zu mir zugrunde gehst , das kann ich nicht ertragen .
Dann ist all mein Glück dahin . "
Er nickte ihr zu :
" Ich bin immer tapfer gewesen , " sagte er .
" Habe ich dir nicht immer gute Briefe geschrieben ? "
Sie strich ihm mit weicher Hand das Haar an Stirn und Schläfen und sah ihn mit gütigen , tränenvollen Augen an .
" Und in den Sommerferien , wenn du in Wiesbaden bist , wenn wir irgendwie soviel Geld zusammen sparen können , wollen wir dich besuchen .
Ich kann dann noch reisen .
Dann will ich den ganzen Tag bei dir sitzen .
Und dann , im Herbst , kommst du nach Hilligenlei .
Du sollst bei Anna wohnen .
Weißt du schon ? "
" Nachher will ich in Hamburg wohnen , " sagte er .
" Ich habe es mit meinem Freund beredet .
Ich will da das und das tun . "
Er lachte leise :
" Du sollst sehen :
ich fürchte mich nicht . "
" Dann kommst du dann und wann nach Hilligenlei und dann freuen wir uns !
Du sollst es uns allen ansehen , wie wir uns freuen .
Wir alle . "
" Und dann werden deine Kinder größer , " sagte er mit glücklichen Augen , " und dann kommst du mit ihnen nach Hamburg und ich zeige euch alles .
Und dann werde ich allmählich älter und kann bei dir sitzen und kann dir zusehen , wie du in deinem Hause wirtschaftest , und rede mit dir von alten Zeiten . "
" Und dann , " sagte sie schelmisch , mit großen Augen , " dann werden wir beide ganz alt und du kommst jeden Tag und wir unterhalten uns über unseren Gesundheitszustand , " und sie fing an , mit hoher , piepiger Stimme zu sprechen , nach der Weise ganz alter , kraftloser Leute .
Es stand wunderlich zu ihren jungen , feuchten Augen und ihrem frischen , lachenden Gesicht .
Er sah sie mit glücklichen Augen an :
" Wie wunderbar lieb du bist , " sagte er .
" Bist du so gegen alle Menschen , wie du gegen mich bist ? "
" Nein , " sagte sie .
" Du weißt , das können die Bojes nicht .
Gegen die Meinen und gegen dich .
Ach , du solltest den kleinen Jungen sehen !
... Ich wollte ihn erst mitbringen .
Aber es ist besser so .
Ich wollte die alte Heinke Boje sein , wenn ich käme . "
" Die alte Heinke Boje ! " sagte er und atmete schwer .
" Deine liebste Freundin ! " sagte sie , " die alles , alles für dich tut .
Du sollst nie einsam sein , Kai !
Das soll ich dir von meinem Mann sagen .
Du sollst nie einsam sein . "
" Ihr lieben Menschen , " sagte er .
" Erzähle mir von ihm und wie du lebst . "
Sie fing an zu erzählen und er hörte eine Weile zu .
Aber allmählich wurden ihm die Augen schwer .
Da trat auch der Arzt herein .
Er trat ans Bett und sagte : " Ich habe gedacht , ich wollte Sie heute nachmittag um drei selbst ins Krankenhaus begleiten .
Da Sie nun heute schon allerlei Aufregung gehabt haben , und die Übersiedlung Ihnen noch bevorsteht , schlage ich vor , daß Sie Ihre Freunde erst morgen vormittag wiedersehen ... im Hospital .
Sind Sie damit einverstanden ? "
Kai Jans nickte und der Arzt wandte sich dem Ausgang zu .
Da beugte sich Heinke Boje noch einmal rasch und heimlich über ihn und sagte leise , mit überströmenden Augen :
" Du lieber Mensch , " und ging hinaus .
So hatten sie sich zum letztenmal gesehen .
Am Spätnachmittag wurde er in das Hafenkrankenhaus gebracht und lag dort müde und matt von der Übersiedlung , doch ruhig .
Gegen Abend kam ein junger Hamburger Pastor zu ihm , der schon seit Jahren sehr an ihm hing und nun durch zufällige Begegnung mit dem Arzt erfahren hatte , daß er da wäre .
Der hatte auch , wie einige andere Bekannte , die Handschrift über das Leben des Heilands gelesen , die schon in einigen Abschriften von Hand zu Hand ging , und fragte ihn , ob er sie veröffentlichen wolle .
Aber er sagte , er wolle noch ein Jahr damit warten ; er müsse sie noch wieder durchlesen .
Darauf fragte ihn der junge Freund , ob er sich vor der Veröffentlichung fürchte .
" Nein , " sagte er .
" Wie soll ich mich fürchten ?
Mögen die Kirchen sich fürchten .
Ich weiß , daß mein Heiland und mein Evangelium wahrhaftiger ist als das der Kirchenlehren .
Und wenn ich ganz allein stünde ; ich wollte mich doch nicht fürchten .
Wer mit der Wahrheit allein ist , der ist noch lange nicht verlassen ... Sie werden freilich sagen :
» Sieh , nun er nicht mehr im Amt ist , redet er so frei und wild heraus « ; aber so ist es nicht ; sondern ich war vorher noch nicht klar .
Ich war noch im Bann der Kirchenlehre , wie die meisten meiner Brüder .
Es ist alles langsam und quälig gekommen .
Wie habe ich in meinem Leben gegrübelt .
Wie habe ich mich gefürchtet . "
Nach einer Weile sagte er :
" Aber ich habe mich doch durch all das Gewirr hindurch gekämpft ; ich habe mich nicht hin- und hergewunden wie ein Aal , der aus der Reuse läuft .
Darum bin ich nun auch froh und frei , und will leben oder sterben , wie Gott will . "
Nach einer Weile , während welcher der Freund in dem Neuen Testament blätterte , das auf dem Tisch neben dem Bett lag , sagte er wie zu sich selbst :
" Es ist auch besser so . "
" Was ist besser so ? " fragte der Freund .
Aber er antwortete darauf nicht .
Er sagte mit leiser , müder Stimme - er hatte wohl das Knistern der Blätter gehört - : " Lies mir ein wenig vor ... von ihm . "
Da las der einige Worte aus der Bergpredigt und einige Gleichnisse , wie er sie gerade aufschlug .
Nach einer Weile träumte er auf und sagte : " Die Lehrer im ganzen Land sollen freundlich sein mit allen Kindern . "
" Wie kommst du darauf ? " fragte der Freund .
" Gegen Kinder muß man freundlich sein , " sagte er ; " sie können sich nicht wehren .
Und vielleicht - sie können es nicht wissen - sitzt zu ihren Füßen der Knabe , der uns die letzte Erkenntnis bringt , oder das Mädchen , das seine Mutter wird , und wird gequält von schweren , wunderlichen Gedanken wie von Träumen . "
Der Freund sagte :
" Eine ganze Zahl von Professoren mühen sich jetzt , dem einfachen Volk das Neue zu erzählen .
Sie schreiben wahrhaftig ein schlichtes Deutsch . "
Da lächelte er .
" Es wird ihnen schwer genug werden , " sagte er ...
" Gott segne die deutsche Wissenschaft allezeit ...
Ich habe früher gering von ihr gedacht ...
Wir sind ihr viel Dank schuldig . "
Der Freund sagte :
" Wenn nun dein Leben des Heilands veröffentlicht wird , so werden viele , viele Menschen , die mit der Kirchenlehre zerfallen waren und damit allen Glauben verloren hatten , sich wieder als Christen fühlen .
Sie werden sich wieder zum Evangelium halten und damit für Seele und Leben viel gewinnen . "
Er schien nicht gehört zu haben .
Nach einer Weile sagte er :
" Wenn wir erst frei sind von all den schweren , wirren Dingen : von Papst , und Stellvertretung durch sein Blut , und den anderen dumpfen Irrtümern und haben dafür das schlichte , schöne Evangelium :
dann wird es hell werden . "
Danach faltete er mühsam die Hände und lag eine Weile still .
Dann sagte er ziemlich laut :
" Ich habe Hilligenlei einmal gesehen ... im Traum ... es war unsäglich schön . "
Dann schien er zu schlafen .
Da saß der Freund noch eine Weile neben dem Bett , im Neuen Testament lesend , und ging dann leise fort .
Am anderen Morgen fand man Kai Jans tot .
Er war , wie die Untersuchung ergab , um Mitternacht herum , an Herzschlag gestorben ; wie es schien , ohne schweren Kampf .
* Als Pe Ontjes morgens um neun ins Krankenhaus kam , erfuhr er das Ende und ging sehr bedrückt in den Gasthof zurück zu Heinke .
Die war noch in ihrem Zimmer .
Als er es ihr sagte , war sie erst wie versteinert .
Dann , als sie es begriff und es plötzlich vor ihr stand : » er ist weg , weg aus deinem Leben ...
« weinte sie heiß auf und streckte die Hand nach ihm aus , wie ein Kind , dem sein liebes Spielzeug weggenommen wird .
So saß denn nun Mal wieder eine Boje auf ihrem Bettrand , ganz untröstlich .
Pe Ontjes redete ihr zu , so gut er konnte : " Hast du ihn denn so lieb ? " sagte er .
" Und hast deinen Mann ebenso lieb ?
... "
Und mit ehrlichem Erstaunen sagte er :
" Was seid ihr doch für merkwürdiges Volk , ihr Bojes ! ...
Aber nun mußt du das Weinen lassen .
Stehe nun auf und komme .
Wir müssen depeschieren und sehen , wie wir ihn begraben . "
" Nicht in Hamburg , " sagte sie .
" Unsinn ... " sagte er , " in Hindorf .
Daher stammt sein Geschlecht .
Da hat sein Vater seine Jugend verbracht .
Da ist er die zwei Jahre im Amt gewesen . "
" Ja , " sagte sie ... " und da komme ich oft und besuche die lieben , freundlichen Menschen im Pastorat , wo wir beide wie Kinder im Hause gewesen sind . "
Sie stand auf und wusch sich die hellen Augen und ordnete ihr Kleid und sagte unter erneutem Aufschluchzen :
" Ich kann nicht so gehen ; ich muß ein schwarzes Kleid haben . "
Er lächelte in all seiner Trauer .
" Wir wollen hier eins kaufen , Heinke , " sagte er freundlich und streichelte sie .
" So , nun komme ! "
Da nahmen sie einen Wagen und fuhren nach dem Krankenhaus .
Unterwegs beredete er sie , daß sie es aufgab , den Toten noch zu sehen .
" Ich habe ihn gesehen , " sagte er , " und ich sage dir , daß er mit einem stillen , friedlichen Gesicht daliegt .
Damit laß es genug sein . "
Als sie wieder aus dem Gebäude heraustraten , kam kein anderer als Tjark Dusenschön über den Platz auf sie zu .
Er trug feierliches , zweireihiges Schwarz und hohen , blanken Hut und Regenschirm .
Mit tiefem Ernst in seinem runden , bartlosen Gesicht trat er an sie heran , grüßte und gab ihnen die Hand und sagte : " Ich habe gehört , daß Kai Jans tot ist ... " er kämpfte mit den Tränen ...
" Die Leiche soll nach Hilligenlei ? "
" Nach Hindorf . "
" Ich bin Geschäftsleiter des Begräbnisvereins St. Trinitatis Barmherzigkeit , den ich gegründet habe .
Wenn du mir diese traurige Angelegenheit überlassen willst , so will ich alles wohl besorgen ...
Wir haben drei Klassen ... " und er zog einen Prospekt heraus .
" Die mittlere , " sagte Pe Ontjes rasch und kurz .
" Sarg , Schmuck ... "
" Ich will aber dabeistehn und zusehen , " sagte Pe Ontjes .
" ... und Transport bis Bahnhof Hilligenlei zweihundertsechzig Mark . "
" Abgemacht , " sagte Pe Ontjes ...
" Dann können wir nun gehen , Heinke , " sagte er .
Am dritten Tag lag Kai Jans in der Leichenhalle des Krankenhauses aufgebahrt , noch unverändert , in seinem weißen Schmuck , den Tjark Dusenschön besorgt hatte .
Pe Ontjes hatte aufrecht daneben gestanden und hatte zugesehn .
Nun kamen die Träger herein .
Da trat Tjark Dusenschön in seinem schönen , zweireihigen Rock , den blanken , schwarzen Hut in der Hand , zu Häupten des Toten und sprach mit seiner schönen , vollen Stimme , gemäß den Satzungen des Vereins St. Trinitatis Barmherzigkeit , ein Vaterunser .
Dann wurde der Sarg zugemacht und hinausgetragen .
Draußen , als der Leichenwagen schon im Gange war , und Pe Ontjes zu Heinke in den Wagen steigen wollte , trat Tjark Dusenschön noch zum Abschied hinzu und sagte mit einem ernsten , traurigen Kopfschütteln :
" Es ist schade , daß doch so gar nichts aus ihm geworden ist ; er hatte eine so gute Begabung .
Aber er hatte ... weißt du ... er hatte kein rechtes Standesgefühl .
Das war es .
Er blieb immer der Arbeiterjunge , der Dorfjunge .
Er erhob sich nicht ...
Das war sein Fehler . "
Pe Ontjes sagte nichts .
Er hastete , daß sie aus der großen Stadt nach Hause kamen .
Er lehnte sich immer wieder aus dem Wagenfenster und sah dem Voranfahrenden Leichenwagen nach , wie er sich durch all die Menschen und Wagen und durch all das Lärmen und Klingeln langsam und ernst hindurch wand .
Als sie auf dem Bahnhof in Hilligenlei ankamen und dort die zwanzig bis dreißig Leidtragenden standen , lauter bekannte Gesichter , und als dann acht Tagelöhner von Hindorf den Sarg anfaßten , je vier auf jeder Seite , blonde zur Linken , rote Bärte zur Rechten , und mit einem kräftigen Ruck hoch auf die Schultern nahmen , da atmete Steuermann Lau hoch auf .
" Gott sei Dank ! " sagte er .
Es war ihm , als wenn er ihn erst jetzt aus aller Not der Seele und des Lebens gerettet wüßte .
Vor dem langen Haus , vor seiner Tür , stand der kleine Alte und wartete auf den Zug .
Er warf einen langen Blick auf den Sarg und es zuckte um seinen Mund .
Aber dann drückte er die Mütze tief über die Augen und trat stumm ins Gefolge .
Pe Ontjes Lau , der Gewaltige , trat an seine Seite .
Einige Kinder kamen von der anderen Seite , von der Schmiede von Jan Friech Buhmann her , und einer sagte : " Weißt du was ?
Kai Jans hat Gott gesehen .
Zwischen hier und der Bülk , auf dem Deich hat er ihn getroffen . "
Heinke und Anna , die bei dem Alten gewesen waren , sahen aus dem Fenster .
Es kommt hier erst jetzt allmählich die Sitte auf , daß Frauen im Gefolge sind .
Was sollen wir nun noch sagen ?
.. .
In sein offenes Grab fiel ein schwerer , warmer Mairegen .
Neues Korn sprießt auf .
Und Menschen werden wachsen , die sich in Grübeln und Taten um die höchsten Dinge der Menschheit Mühe geben .

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Frenssen, Gustav. Hilligenlei. Bildungsromankorpus. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0hs.0