Zweiter Teil .
Berlin , 1786 . bei Friedrich Maurer .
Um ferneren schiefen Urteile , wie schon einige über dies Buch gefällt sind , vorzubeugen , sehe ich mich genötigt , zu erklären , daß dasjenige , was ich aus Ursachen , die ich für leicht zu erraten hielt , einen psychologischen Roman genannt habe , im eigentlichsten Verstande Biographie , und zwar eine so wahre und getreue Darstellung eines Menschenlebens , bis auf seine kleinsten Nuancen , ist , als es vielleicht nur irgend eine geben kann . --
Wem nun an einer solchen getreuen Darstellung etwas gelegen ist , der wird sich an das anfänglich unbedeutende und unwichtig scheinende nicht stoßen , sondern in Erwägung ziehen , daß dies künstlich verflochtene Gewebe eines Menschenlebens aus einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten besteht , die alle in dieser Verflechtung äußerst wichtig reden , so unbedeutend sie an sich scheinen . --
Wer auf sein vergangenes Leben aufmerksam wird , der glaubt zuerst oft nichts als Zwecklosigkeit , abgerißene Fäden , Verwirrung , Nacht und Dunkelheit zu sehen ; je mehr sich aber sein Blick darauf heftet , desto mehr verschwindet die Dunkelheit , die Zwecklosigkeit verliert sich allmählich , die abgerißenen Fäden knüpfen sich wieder an , das Untereinandergeworfene und Verwirrte ordnet sich -- und das mißtönende löset sich unvermerkt in Harmonie und Wohlklang auf . --
Der Umstand , wodurch Anton Reisers Schicksal unvermutet eine glücklichere Wendung nahm , war : daß er sich auf der Straße mit ein Paar Jungen balgte , die mit ihm aus der Schule kamen , und ihn unterwegs geneckt hatten , welches er nicht länger leiden wollte ; indem er sich nun mit ihnen bei den Haaren herumzauste , kam auf einmal der Pastor M. . . daher gegangen -- und wie groß war nun Reisers Beschämung und Verwirrung , da ihn die beiden Jungen selbst zuerst aufmerksam darauf machten , und ihm , mit einer Art von Schadenfreude den Zorn vorstellten , den nun der Pastor M. . . auf ihn werfen würde .
Was ? -- ich will einst selbst solch ein ehrwürdiger Mann werden , wie daher kommt -- wünsche , daß mir das jetzt schon ein jeder ansehen soll , damit sich irgend einer findet , der sich meiner annimmt , und mich aus dem Staube hervorzieht , und muß nun in der Stellung von diesem Manne überrascht werden , bei dem ich konfirmiert werden soll , wo ich Gelegenheit hätte , mich in meinem besten Lichte zu zeigen .
-- Dieser Mann , was A wird er nun von mir denken , wofür wird er mich halten ?
Diese Gedanken gingen Reisern durch den Kopf , und bestürmten ihn auf einmal so sehr mit Scham , Verwirrung , und Verachtung seiner selbst , daß er glaubte in die Erde sinken zu müssen .
-- Aber er ermannte sich , das Selbstzutrauen arbeitete sich unter der erstickenden Scham wieder hervor , und flößte ihm zugleich Mut und Zutrauen gegen den Pastor M. . . ein --- er faßte schnell ein Herz , ging geradewegs auf den Pastor M. . . zu , und redete ihn auf öffentlicher Straße an , indem er zu ihm sagte , er sei einer von den Knaben , die bei ihm zur Kinderlehre gingen , und der Pastor M. . . möchte doch deswegen keinen Zorn auf ihn werfen , daß er sich eben jetzt mit den beiden Jungen dort geschlagen hätte , dies wäre sonst gar seine Art nicht ; die Jungen hätten ihn nicht zufrieden gelassen ; und es sollte nie wieder geschehen .
-- Dem Pastor M. . . war es sehr auffallend , sich auf der Straße von einem Knaben auf die Weise angeredet zu sehen , der sich eben mit ein paar anderen Buben herumgebalgt hatte -- nach einer Clay einen Pause antwortete er :
es sei freilich sehr Unrecht und unschicklich sich zu balgen , indes hätte das weiter nichts zu sagen , wenn er es künftig unterließe ; drauf erkundigte er sich auch , nach seinem Namen und Eltern , fragte ihn , wo er bis jetzt in die Schule gegangen wäre , u. s. w. und entließ ihn sehr gütig -- wer war aber froher , als Reiser , und wie leicht war ihm ums Herz , da er sich nun wieder aus dieser gefährlichen Situation herausgewickelt glaubte .
Und wie viel froher würde er noch gewesen sein , hätte er gewußt , daß dieser ungefähre Zufall allen seinen ängstlichen Besorgnissen ein Ende machen , und die erste Grundlage seines künftigen Glücks sein würde .
-- Denn von dem Augenblick an hatte der Pastor M. . . den Gedanken gefaßt , sich näher nach diesem jungen Menschen zu erkundigen , und sich seiner tätig anzunehmen , weil er nicht ohne Grund vermutete , daß sobald des jungen Reisers Betragen gegen ihn nicht Verstellung war , es keine gemeine Denkungsart bei einem Knaben von dem Alter voraussetzte -- und daß es nicht Verstellung war , dafür schien ihm seine Miene zu bürgen . A 2 Den Sonntag darauf fragte ihn der Pastor M... des Nachmittags in der Kinderlehre öfter wie sonst ; und Reiser hatte nun schon gewissermaßen einen seiner Wünsche erreicht , in der Kirche , vor dem versammelten Volke , wenigstens auf irgend eine Art öffentlich reden zu können , indem er die Katechismusfragen des Pastors mit lauter und vernehmlicher Stimme beantwortete , wobei er sich denn sehr von den übrigen unterschied , indem er richtig akzentuierte , da jene ihre Antworten in dem gewöhnlichen singenden Tone der Schulknaben herbeteten .
Nach geendigter Kinderlehre winkte ihn der Pastor M... beiseite , und entbot ihn auf den anderen Morgen zu sich -- welch eine freudige Unruhe bemächtigte sich nun auf einmal seiner Gedanken , da es schien , als ob sich irgend ein Mensch einmal näher um ihn bekümmern wollte , -- denn damit schmeichelte er sich nun freilich , daß der Pastor M... durch seine Antworten aufmerksam auf ihn geworden sei ; und er nahm sich nun auch vor , Zutrauen zu diesen Manne zu fassen , und ihm alle seine Wünsche zu entdecken .
Als er nach einer fast schlaflosen Nacht den anderen Morgen zu dem Pastor M. . . kam , fragte ihn dieser zuerst , was für einer Lebensart er sich zu widmen dächte , und bahnte ihm also den Weg , zu dem , was er schon selbst vorzubringen im Sinn hatte . --- Reiser entdeckte ihm sein Vorhaben .
Der Pastor M. . . stellte ihm die Schwierigkeiten vor , sprach ihm aber doch auch zugleich wieder Mut ein , und machte den Anfang zur tätigen Ermunterung damit , daß er versprach , ihn durch seinen einzigen Sohn , der die erste Klasse des Lyzeums in H.. besuchte , in der lateinischen Sprache unterrichten zu lassen , womit auch noch in derselben Woche der Anfang gemacht wurde .
Bei dem allen glaubte Reiser in den Mienen und dem Betragen des Pastor M. . . zu lesen , daß er noch irgend etwas Wichtiges zurück behielte , welches er ihm zu seiner Zeit sagen würde :
in dieser Vermutung wurde er noch mehr durch die geheimnisvollen Ausdrücke des Garnisonküsters bestärkt , dessen Lehrstunden er noch besuchte , und der ihm immer einen Stuhl setzte , wenn er kam , indes die anderen auf Bänken saßen .
--- Dieser pflegte denn wohl , wenn die Stunde aus A 3 war , zu ihm zu sagen : sein Sie ja recht auf Ihrer Hur , und denken Sie , daß man genau auf Sie acht gibt . --
Es sind große Dinge mit Ihnen im Werke ! und dergleichen mehr , wodurch nun Reiser freilich anfing , sich eine wichtigere Person , als bisher zu glauben , und seine kleine Eitelkeit mehr wie zu viel Nahrung erhielt , die sich denn oft töricht genug in seinem Gange und und in seinen Mienen äußerte , indem er manchmal in seinen Gedanken mit allem Ernst und der Würde eines Lehrers des Volks auf der Straße einhertrat , wie er dies denn schon in B. . . getan hatte , besonders wenn er schwarze Weste und Beinkleider trug .
Bei seinem Gange hatte er sich den Gang eines jungen Geistlichen , der damals Lazarethprediger in H. . . und zugleich Konrektor am Lyzeum war , zum Muster genommen , weil dieser in der Art sein Kinn zu tragen , etwas hatte , das Reisern ganz besonders gefiel .
Nie kann wohl jemand in irgend einem Genuß , glücklicher gewesen sein , als es Reiser damals in der Erwartung der großen Dinge war , die mit ihm vorgehen sollten .
-- Dies erhitzte seine Einbiidungskraft bis auf einen hohen Grad .
Und da nun der Zeitpunkt immer näher heran rückte , wo er zum Abendmahl sollte gelassen werden , so erwachten auch alle die schwärmerischen Ideen wieder , die er sich schon in B. . . von dieser Sache in den Kopf gesetzt hatte , wozu noch die Lehrstunden des Garnisonküsters kamen , der denjenigen , die er zum Abendmahl vorbereiten half , dabei Himmel und Hölle auf eine so fürchterliche Art vostellte , daß seinen Zuhörern oft Schrecken und Entsetzen ankam , welches aber doch mit einer angenehmen Empfindung verknüpft war , womit man das Schreckliche und Fürchterliche gemeiniglich anzuhören pflegt , und er empfand dann wieder das Vergnügen , seine Zuhörer , so erschüttert zu haben , welches ihm wonnevolle Tränen auspreßte , die den ganzen Auftritt , wenn er so des Abends in der erleuchteten Schulstube zwischen ihnen stand , noch feierlicher machte .
Auch der Pastor M. . . hielt wöchentlich einige Stunden , worin er diejenigen , die zum Abendmahl gehen sollten , vorbereitete , aber das , was er sagte , kam lange nicht gegen die herzerschütternden Anreden seines Küsters , ob es Reisern gleich zusammenhängender und besser gesagt zu A 4 sein schien .
--- Nichts war für Anton schmeichelhafter , als da der Pastor M. . . einmal den Begriff , daß die Gläubigen Kinder Gottes sind , durch das Beispiel erklärte , wenn er mit irgend einem aus der Zahl seiner jungen Zuhörer genauer umgienge , ihn besonders zu sich kommen ließe , und sich mit ihm unterredete , dieser ihm denn auch näher als die übrigen wäre , und so wären die Kinder Gottes ihm auch näher , als die übrigen Menschen .
Nun glaubte Reiser unter der Zahl seiner Mitschüler der einzige gewesen zu sein , auf den der Pastor M. . . aufmerksamer , als auf alle übrigen wäre , --- allein so schmeichelhaft auch dies für seine Eitelkeit war , so erfüllte es ihn doch bald nachher wieder mit einer unbeschreiblichen Wehmut , daß nun alle die übrigen an diesem Glück was ihm allein geworden war , nicht Teil nehmen sollten , und von dem nähern Umgange mit dem Pastor M. . . gleichsam auf immer ausgeschlossen sein sollten .
--- Eine Wehmut , die er sich schon in seinen frühesten Kinderjahren einmal empfunden zu haben erinnert , da ihm seine Base in einem Laden ein Spielzeung gekauft hatte , daß er in Händen trug , als er aus dem Hause ging ; und vor der Haustür saß ein Mädchen in zerlumpten Kleidern ungefähr in seinem Alter , das voll Verwunderung über das schöne Stück Spielzeug ausrief : Ach , Herr Gott , wie schön ! --
Reiser mochte etwa damals sechs bis sieben Jahre alt sein -- der Ton , des geduldigen Entbehrens ungeachtet der höchsten Bewunderung , womit das zerlumpte Mädchen die Worte sagte :
Ach Herr Gott , wie schön ! drang ihm durch die Seele . --- Das arme Mädchen mußte alle diese Schönheiten so vor sich vorbeitragen sehen , und durfte nicht einmal einen Gedanken daran haben , irgend ein Stück davon zu besitzen .
Es war von dem Genuß dieser köstlichen Dinge gleichsam auf immer ausgeschlossen , und doch so nahe dabei -- wie gern wäre er zurückgegangen , und hätte dem zerlumpten Mädchen das kostbare Spielzeug geschenkt , wenn es seine Base gelitten hätte ! --- so oft er nachher daran dachte , empfand er eine bittere Reue , daß er es dem Mädchen nicht gleich auf der Stelle gegeben hatte .
Eine solche Art von mitleidsvoller Wehmut war es auch , die Reiser empfand , da er sich ausschließungsweise mit den Vorzügen in der Gunst des Pastor M. . . beehrt glaubte , wodurch seine Mitschüler , ohne , A 5 daß sie es verdient hatten , so weit unter ihn herabgesetzt wurden .
Grade diese Empfindung ist nachher wieder in seiner Seele erwacht , so oft er in der ersten von Virgils Eklogen an die Worte kam ; nec invideo u. s. w. Indem er sich in die Stelle des glücklichen Hirten versetzte , der ruhig im Schatten seines Baums sitzen kann , indes der andere sein Haus und Feld mit dem Rücken ansehen muß , war ihm bei dem nec invideo des letzteren immer gerade so zu Mute , als da das zerlumpte Mädchen sagte : " Ach Herr Gott , wie schön ist das ! "
Ich habe hier notwendig in Reisers Leben etwas nachholen und etwas vorwegriefen müssen , wenn ich zusammen stellen wollte , was nach meiner Absicht , zusammen gehört .
Ich werde dies noch öfter tun ; und wer meine Absicht eingesehen hat , bei dem darf ich wohl nicht erst dieser anscheinenden Absprünge wegen um Entschuldigung bitten .
Man sieht leicht , daß Anton Reisers Eitelkeit , durch die Umstände , welche sich jetzt vereinigten , um ihm seine eigene Person wichtig zu machen , mehr als zu viel Nahrung erhielt .
Es bedurfte wieder einer kleinen Demütigung für ihn , und die blieb nicht aus .
Er schmeichelte sich nicht ohne Grund , unter allen , die bei dem Pastor M. . . konfirmiert wurden , der erste zu sein .
Er saß auch oben an , und war gewiß , daß ihm keiner diesen Platz streitig machen würde .
Als auf einmal ein junger wohlgekleideter Mensch , in seinen Alter , und von feiner Erziehung die Lehrstunden des Pastor M. . . mit besuchte , der ihn durch sein feines äußeres Betragen sowohl , als durch die vorzügliche Achtung , womit ihn der Pastor M. . . begegnete , ganz in Dunkel setzte , und dem auch sogleich über ihm der erste Platz angewiesen wurde .
Reisers süßer Traum , der erste unter seinen Mitschülern zu sein , war nun plötzlich verschwunden .
Er fühlte sich erniedrigt , herabgesetzt , mit den übrigen allen in eine Klasse geworfen .
--- Er erkundigte sich bei dem Bedienten des Pastor M. . . nach seinem fürchterlichen Nebenbuhler , und erfuhr , daß er eines Amtmanns Sohn , und bei dem Pastor M. . . in Pension sei , auch mit den übrigen zugleich konfirmiert werden würde .
Der schwärzeste Neid nahm auf eine Zeitlang in Antons Seele Platz ; der blaue Rock mit dem samtenen Kragen , den der Amtmannssohn trug ; sein feines Betragen , seine hübsche Frisur , schlug ihn nieder und machte ihn mißvergnügt mit sich selbst ; aber doch schärfte sich bald wieder das Gefühl bei ihm , daß dies Unrecht sei , und er wurde nun noch mißvergnügter über sein Mißvergnügen .
Ach , er hätte nicht nötig gehabt , den armen Knaben zu beneiden , dessen Glückssonne bald ausgeschienen hatte .
Binnen vierzehn Tagen kam die Nachricht , daß sein Vater wegen Untreue seines Dienstes entsetzt sei .
Für den jungen Menschen konnte also auch die Pension nicht länger bezahlt werden , der Pastor M. . . schickte ihn seinen Anverwandten wieder , und Reiser behielt seinen ersten Platz .
Er konnte seine Freude wegen der Folgen , die dieser Vorfall für ihn hatte , nicht unterdrücken , und doch machte er sich selber Vorwürfe wegen seiner Freude -- er suchte sich zum Mitleid zu zwingen , weil er es für recht hielt -- und die Freude zu unterdrücken , weil er sie für Unrecht hielt ; sie hatte aber demungeachtet die Oberhand , und er half sich denn am Ende damit , daß er doch nicht wieder das Schicksal könne , welches nun den jungen Menschen einmal habe unglücklich machen wollen .
Hier ist die Frage : wenn das Schicksal des jungen Menschen sich plötzlich wiedergeändert hätte , würde ihn Reiser aus erster Bewegung freiwillig mit lächelnder teilnehmender Miene wieder haben über sich stehen lassen , oder hätte er sich erst mit einer Art von Anstrengung in diese Empfindung versetzen müssen , weil er sie für recht und edel gehalten hätte .
--- Der Zusammenhäng seiner Geschichte mag in der Folge diese Frage entscheiden !
Alle Abend hatte nun Reiser eine lateinische Stunde bei dem Sohn des Pastor M. . . , und kam wirklich so weit , daß er binnen vier Wochen ziemlich den Kornelius Nepos exponieren lernte .
Welche Wonne war ihm das , wenn denn etwa der Garnisonküster dazu kam , und fragte , was die beiden Herren Studenten machten -- und als der Pastor M. . . damals gerade seine älteste Tochter an einen jungen Prediger verheiratete , der eines Sonntags Nachmittags für ihn die Kinderlehre hielt , und dieser auf Reisern , immer aufmerksamer zu werden schien , je öfter er ihn antworten hörte : welch ein entzückender Augenblick für Reisern , da derselbe nun nach geendigtem Gottesdienst zum Pastor M. . . kam , und der Schwiegersohn des Pastors , ihn nun mit der größten Achtung anredete , und sagte , es sei ihm gleich in der Kirche , da Reiser ihm zuerst geantwortet , aufgefallen , ob das wohl der junge Mensch sein möchte , von dem ihm sein Schwiegervater so viel Gutes gesagt , und es freue ihn , daß er sich nicht geirrt habe .
In seinem Leben hatte Anton keine solche Empfindung gehabt , als ihm diese achtungsvolle Begegnung verursachte .
-- Da er nun die Sprache der feinen Lebensart nicht gelernt hatte , und sich doch auch nicht gemein ausdrücken wollte , so bediente er sich bei solchen Gelegenheiten der Büchersprache , die bei ihm aus dem Telemach , der Bibel , und dem Katechismus zusammengesetzt war , welches seinen Antworten oft einen sonderbaren Anstrich von Originalität gab , indem er z. B. bei solchen Gelegenheiten zu sagen pflegte , er habe den Trieb zum Studieren , der ihn unaufhaltsam mit sich fortgerissen , nicht überwältigen können , und wolle sich nun der Wohltaten , die man ihm erzeige auf alle Weise würdig zu machen , und in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit sein Leben bis an sein Ende zu führen suchen .
Indes hatte der Konsistorialrat G. . . . an an den sich Reiser schon vorher gewandt hatte , für ihn ausgemacht , daß er die sogenannte Neustädter Schule unentgeltlich besuchen könnte .
--- Allein der Pastor M. . . sagte , daß dürfe nun nicht geschehen ; er solle , bis er konfirmiert würde noch von seinem Sohne unterrichtet werden , damit er alsdann sogleich die höhere Schule auf der Altstadt besuchen könne , wo der Direktor sich seiner annehmen wolle ; und wegen der Eifersucht , die zwischen den beiden Schulen zu herrschen pflegte , würde er besser tun , wenn er jene nicht zuerst besuchte .
--- Dies mußte Reiser dem Konsistorialrat G. . . selber sagen , um den freien Unterricht , welchen er ihm verschafft hatte , abzulehnen , worüber denn derselbe sehr empfindlich wurde , und Reisern erst hart anredete , ihn aber doch zuletzt wieder mit der Aufmunterung entließ , daß er sich auf andere Weise dennoch seiner annehmen wolle .
So schien nun an Reisers Schicksale , um den sich vorher niemand bekümmert hatte , auf einmal alles Teil zu nehmen .
--- Er hörte von Eifersucht der Schulen seinetwegen sprechen .
--- Der Konsistorialrat G. . . und der Pastor M. . . schier einen sich gleichsam um ihn zu streiten , wer sich am meisten seiner annehmen wollte .
Der Pastor M. . . bediente sich des Ausdrucks , er solle nur dem Konsistorialrat G. . . sagen , es wären seinetwegen schon Anstalten getroffen worden , und würden noch Anstalten getroffen werden , daß er zu der höheren Schule auf der Altstadt hinlänglich vorbereitet würde , ohne vorher die niedere Schule auf der Neustadt zu besuchen .
-- Also Anstalten sollten nun seinetwegen getroffen werden , wegen eines Knaben , den seine eigenen Eltern nicht einmal ihrer Aufmerksamkeit wert gehalten hatten .
Mit welchen glänzenden Träumen und Aussichten in die Zukunft , dies Reisers Phantasie erfüllt habe , darf ich wohl nicht erst sagen .
Insbesondere , da nun noch immer die geheimnisvollen Winke bei dem Garnisonküster und die Zurückhaltung des Pastor M. . . fortdauerte , womit er Reisern etwas wichtiges zu verschweigen schien .
-- Endlich kam es denn heraus , daß der Prinz . . . auf Empfehlung des Pastor M. . . sich des jungen Reisers annehmen , und ihm monatlich . . . Rthlr . zu seinem Unterhalt aussetzen wolle .
-- Also war nun Reiser auf einmal allen allen seinen Besorgnissen wegen der Zukunft entrissen , das süße Traumbild eines sehnlich gewünschten , aber nie gehofften Glückes , war ehe er es sich versehen , wirklich geworden , und er konnte nun seinen angenehmsten Phantasien nachhängen , ohne zu fürchten , daß er durch Mangel und Armut darin gestört werden würde .
--- Sein Herz ergoß sich wirklich in Dank gegen die Vorsehung .
-- Kein Abend ging hin , wo er nicht den Prinzen und den Pastor M. . . in sein Abendgebet mit eingeschlossen hätte --- und oft vergoß er im Stillen Tränen der Freude und des Danks , wenn er diese glückliche Wendung seines Schicksals überdachte .
Reisers Vater hatte nun auch nichts weiter gegen sein Studieren einzuwenden , sobald er hörte , daß es ihm nichts kosten sollte .
Und da überdem nun die Zeit heran kam , wo er seine kleine Bedienung , an einem Ort sechs Meilen von H. . . antreten mußte , und ihm sein Sohn also auf keine Weise mehr zur Last fallen konnte .
--- Allein nun war die Frage , bei wem Reiser nach der Abreise seiner Eltern wohnen und essen sollte .
Der Pastor M. . . schien nicht geneigt zu sein , ihn ganz zu B sich ins Haus zu nehmen .
Es mußte also drauf gedacht werden , ihn irgendwo bei ordentlichen Leuten unterzubringen .
Und ein Hauboist Namens F. . . vom Regiment des Prinzen . . . erbot sich von freien Stücken dazu , Reisern unentgeltlich bei sich wohnen zu lassen .
Ein Schuster , bei dem seine Eltern einmal im Hause gewohnt hatten , noch ein Hauboist , ein Hofmusikus , ein Garkoch , und ein Seidensticker , erboten sich jeder , ihm wöchentlich einen Freitisch zu geben .
Dies verringerte Reisers Freude in etwas wieder , welcher glaubte , daß das , was der Prinz für ihn hergab , zu seinem Unterhalt zureichen würde , ohne daß er an fremden Tischen sein Brot essen dürfte .
Auch verringerte dies seine Freude nicht ohne Ursache , denn es setzte ihn in der Folge oft in eine höchst peinliche und ängstliche Lage , so daß er oft im eigentlichen Verstande sein Brot mit Tränen essen mußte .
--- Denn alles beeiferte sich zwar , auf die Weise ihm Wohltaten zu erzeigen , aber jeder glaubte auch dadurch ein Recht erworben zu haben , über seine Aufführung zu wachen , und ihm in Ansehung seines Betragens Rat zu erteilen , der dann immer ganz blind lings sollte angenommen werden , wenn er seine Wohltäter nicht erzürnen wollte .
Nun war Reiser gerade von so viel Leuten , von ganz verschiedener Denkungsart , abhängig , als ihm Freitische gaben , wo jeder drohte , seine Hand von ihm abzuziehen , sobald er seinem Rat nicht folgte , der oft dem Rat eines anderen Wohltäters geradezu widersprach .
Dem einen trug er sein Haar zu gut , dem anderen zu schlecht frisiert , dem einen ging er zu schlecht , dem anderen , für einen Knaben der von Wohltaten leben müsse , noch zu geputzt einher , --- und dergleichen unzählige Demütigungen und Herabwürdigungen gab es mehr , denen Reiser durch den Genuß der Freitische ausgesetzt war , und denen gewiß ein jeder junger Mensch mehr oder weniger ausgesetzt ist , der das Unglück hat , auf Schulen durch Freitische seinen Unterhalt zu suchen , und die Woche hindurch von einen zum anderen herumessen zu müssen .
Dies alles ahndete Reisern dunkel , als die Freitische insgesamt für ihn angenommen , und keine Wohltat verschmäht wurde , die ihm nur irgend jemand erweisen wollte .
--- An dem guten Willen aber pflegt es nie zu fehlen , wenn Leute B 2 einem jungen Menschen zum Studieren beförderlich sein zu können glauben -- dies erweckt einen ganz besonderen Eifer -- jeder denkt sich dunkel , wenn dieser Mann einmal auf der Kanzel steht , dann wird das auch mein Werk mit sein . --
Es entstand ein ordentlicher Wetteifer um Reisern , und jeder auch der ärmste wollte nun auf einmal zum Wohltäter an ihm werden , wie denn ein armer Schuster sich erbot , ihm alle Sonntagabend einmal zu essen zu geben -- dies alles wurde mit Freuden für ihn angenommen , und von seine Eltern mit dem Haubolsten und dessen Frau überrechneten , wie glücklich er nun sei , daß er alle Tage in der Woche zu essen habe , und wie man nun von den Gelde , was der Prinz hergebe , für ihn sparen könne .
Ach , die glänzenden Aussichten , die sich Reiser von dem Glück , das auf ihn wartete , gemacht hatte , verdunkelten sich nachher sehr wieder .
Indes dauerte doch der erste angenehme Taumel , in welchen ihn die tätige Vorsorge und die Teilnehmung so vieler Menschen an seinem Schicksale versetzt hatte , noch eine Weile fort . --
Das große Feld der Wissenschaften lag vor ihm -- sein künftiger Fleiß , die nützlichste Anwendung jeder Stunde bei seinem künftigen Studieren war den ganzen Tag über sein einziger Gedanke , und die Wonne die er darin finden , und die erstaunlichen Fortschritte , die er nun tun , und sich Ruhm und Beifall dadurch erwerben würde : mit diesen süßen Vorstellungen stand er auf , und ging damit zu Bette -- aber er wußte nicht , daß ihm das Drückende und Erniedrigende seiner äußeren Lage dies Vergnügen so sehr verbittern würde .
Anständig genährt und gekleidet zu sein , gehört schlechterdings dazu , wenn ein junger Mensch zum Fleiß im Studieren Mut behalten soll .
Beides war bei Reisern der Fall nicht .
Man wollte für ihn sparen , und ließ ihn während der Zeit wirklich darben .
Seine Eltern reisten nun auch weg , und er zog mit seinen wenigen Habseligkeiten bei dem Haubolsten F. . . ein , dessen Frau insbesondere sich schon von seiner Kindheit an , seiner mit angenommen hatte . --
Es herrschte bei diesen Leuten , die keine Kinder hatten , die größte Ordnung in der Einrichtung ihrer Lebensart , welche viel B 3 leicht nur irgendwo statt finden kann .
Da war nichts , keine Bürste und keine Schere , was nicht seit Jahren seinen bestimmten angewiesenen Platz gehabt hätte .
Da war kein Morgen , der anbrach , wo nicht um acht Uhr Kaffee getrunken , und um neun Uhr der Morgensegen gelesen worden wäre , welches allemal kniend geschah , indes die Frau F. . . aus dem Benjamin Schmolke vorlaße , wobei denn Reiser auch mit knien mußte .
Des Abends nach neun Uhr wurde auf eben die Art indem jeder vor seinem Stuhle kniete , auch der Abendsegen aus dem Schmolke gelesen , und dann zu Bette gegangen .
Dies war die unverbrüchliche Ordnung , welche von diesen Leuten schon seit beinahe zwanzig Jahren , wo sie auch beständig auf derselben Stube gewohnt hatten , war beobachtet worden .
Und sie waren gewiß dabei sehr glücklich , aber sie durften auch schlechterdings durch nichts darin gestört werden , wenn nicht zugleich ihre innere Zufriedenheit , die größtenteils auf diese unverbrüchliche Ordnung gebaut war , mit darunter leiden sollte .
Dies hatten sie nicht recht erwogen , da sie sich entschlossen , ihre Stubengesellschaft mit jemanden zu vermehren , der sich unmöglich auf einmal in ihre seit zwanzig Jahren etablierte Ordnung , die ihnen schon zur anderen Natur geworden war , gänzlich fügen konnte .
Es konnte also nicht fehlen , daß es ihnen bald zu gereuen anfing , daß sie sich selbst eine Last aufgebürdet hatten , die ihnen schwerer wurde , als sie glaubten .
Weil sie nur eine Stube und eine Kammer hatten , so mußte Reiser in der Wohnstube schlafen , welches ihnen nun alle Morgen , so oft sie herein traten , einen unvermuteten Anblick von Unordnung machte , dessen sie nicht gewohnt waren , und der sie wirklich in ihrer Zufriedenheit störte .
-- Anton merkte dies bald , und der Gedanke , lästig zu sein , war ihm so ängstigend und peinlich , daß er sich oft kaum zu husten getraute , wenn er an den Blicken seiner Wohltäter sah , daß er ihnen im Grunde zur Last war . --
Denn er mußte doch seine wenigen Sachen nun irgendwo hinlegen , und wo er sie hinlegte , da störten sie gewissermaßen die Ordnung , weil jeder Fleck hier nun schon einmal bestimmt war . --
Und doch war es ihm nun unmöglich , sich aus dieser peinlichen Lage wieder herauszu B 4 wickeln . --
Dies alles zusammengenommen versetzte ihn oft Stundenlang in eine unbeschreibliche Wehmut , die er sich damals selber nicht zu erklären wußte , und sie anfänglich bloß der Angewohnheit seines neuen Aufenthaltes zuschrieb .
Allein es war nichts als der demütigende Gedanke des Lästigseins , der ihn so danieder drückte .
Hatte er gleich bei seinen Eltern , und bei dem Hutmacher L. . . auch nicht viel Freude gehabt , so hatte er doch ein gewisses Recht da zu sein .
Bei jenen , weil es seine Eltern waren , und bei diesem , weil er arbeitete .
-- Hier aber war der Stuhl worauf er saß eine Wohltat .
-- Möchten dies doch alle diejenigen erwägen , welche irgend jemanden Wohltaten erzeigen wollen , und sich vorher recht prüfen , ob sie sich auch so dabei nehmen werden , daß ihre gutgemeinte Entschließung dem Bedürftigen nie zur Qual gereiche .
Das Jahr , welches Reiser in dieser Lage zubrachte , war , obgleich jeder ihn glücklich pries , in einzelnen Stunden und Augenblicken , eines der qualvollsten seines Lebens .
Reiser hätte sich vielleicht seinen Zustand angenehmer machen können , hätte er des nur ge habt , was man bei manchen jungen Leuten ein insinuantes Wesen nennt .
Allein zu einem solchen insinuanten Wesen gehört ein gewisses Selbstzutrauen , das ihm von Kindheit auf war benommen worden ; um sich gefällig zu machen , muß man vorher den Gedanken haben , daß man auch gefallen könne .
-- Reisers Selbstzutrauen mußte erst durch zuvorkommende Güte geweckt werden , ehe er es wagte , sich beliebt zu machen .
-- Und wo er nur einen Schein von Unzufriedenheit anderer mit ihm bemerkte , da war er sehr geneigt , an der Möglichkeit zu verzweifeln , jemals ein Gegenstand ihrer Liebe oder ihrer Achtung zu werden .
Darum gehörte gewiß ein großer Grad von Anstrengung bei ihm dazu , sich selber Personen als einen Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit vorzustellen , von denen er noch nicht wußte , wie sie seine Zudringlichkeit aufnehmen würden .
Seine Base prophezeite ihm sehr oft , wie ihm der Mangel jenes insinuanten Wesens an seinem Fortkommen in der Welt schaden würde .
Sie lehrte ihn , wie er mit der Frau F. . . sprechen , und ihr sagen solle : " liebe Frau F. . . , sein B 5 Sie nun meine Mutter , da ich ohne Vater und Mutter bin , ich will Sie auch so lieb haben , wie eine Mutter " .
-- Allein wenn Reiser dergleichen sagen wollte , so war , als ob ihm die Worte im Munde erstarben ; es würde höchst ungeschickt herausgekommen sein , wenn er so etwas hätte sagen wollen .
-- Dergleichen zärtliche Ausdrücke waren nie durch zuvorkommendes , gütiges Betragen irgend eines Menschen gegen ihn , aus seinem Munde hervorgelockt worden ; seine Zunge hatte keine Geschmeidigkeit dazu . --
Er konnte den Rat seiner Base unmöglich befolgen .
Wenn sein Herz voll war , so suchte er schon Ausdrücke , wo er sie auch fand .
Aber die Sprache der feinen Lebensart hatte er freilich nie reden gelernt .
-- Was man insinuantes Wesen nennt , wäre auch bei ihm die kriechendste Schmeichelei gewesen .
Indes war nun die Zeit herangekommen , wo Reiser konfirmiert werden , und in der Kirche öffentlich sein Glaubensbekenntnis ablegen sollte , -- eine große Nahrung für seine Eitelkeit -- er dachte sich die versammelten Menschen , sich als den ersten , unter seinen Mitschülern , der alle Aufmerksamkeit bei seinen Antworten vorzüglich auf sich ziehen würde , durch Stimme , Bewegung und Miene . --
Der Tag erschien , und Reiser erwachte wie ein römischer Feldherr erwacht sein mag , dem an dem Tage ein Triumph bevorstand .
-- Er wurde bei seinem Vetter den Perückenmacher hoch frisiert , und trug einen bläulichen Rock und schwarze Unterkleider , eine Tracht , die der geistlichen gewissermaßen sich schon am meisten näherte .
Aber so wie der Triumph des größten Feldherrn zuweilen durch unerwartete Demütigungen verbittert wurde , daß er ihn nur halb genießen konnte ; so ging es auch Reisern an diesem Tage seines Ruhms und seines Glanzes .
-- Seine Freitische nahmen mit diesem Tage ihren Anfang -- er hatte den ersten des Mittags bei dem Garnisonküster , und den anderen des Abends bei dem armen Schuster -- und obgleich der Garnisonküster ein Mann war , der das großmütigste Herz besaß , und Reisern seinen Lebenslauf erzählte , wie er auch erst als ein armer Schüler ins Chor gegangen sei , aber schon in seinem siebzehnten Jahre den blauen Mantel mit dem schwarz Zähne vertauscht habe -- so war doch die Frau desselben der Neid und die Mißgunst selber , und jeder ihrer Blicke vergiftete Reisern den Bissen , den er in den Mund steckte .
Sie lies es sich zwar am ersten Tage nicht so sehr , wie nachher , aber doch stark genug merken , daß Reiser niedergeschlagenen Herzens , ohne selbst recht zu wissen , worüber , zur Kirche ging , und die Freude , die er sich an diesem sehnlich gewünschten Tage versprochen hatte , nur halb empfand . --
Er sollte nun hingehen , um sein Glaubensbekenntnis auf gewisse Weise zn beschwören . --
Dies dachte er sich , und ihm fiel dabei ein , daß sein Vater vor einiger Zeit zu Hause erzählt hatte , wie er wegen seines Dienstes vereidet worden war , daß er nichts weniger , als gleichgültig dabei gewesen sei -- und Reiser schien sich , da er zur Kirche ging , gegen den Eid , den er ablegen sollte , gleichgültig zu sein .
-- Aus dem Unterricht , den er in der Religion bekommen , hatte er sehr hohe Begriffe vom Eide , und hielt diese Gleichgültigkeit an sich für höchst strafbar .
Er zwang sich also nicht gleichgültig , sondern gerührt und ernsthaft zu sein , bei diesem wichtigen Schritte , und war mit sich selber unzufrieden , daß er nicht noch weit gerührter war ; aber die Blicke der Frau des Garnisonküsters waren es , welche alle sanfte und angenehme Empfindungen aus seinem Herzen weggescheucht hatten .
Er konnte sich doch nicht recht freuen , weil niemand war , der an seiner Freude recht nahen Anteil nahm , weil er dachte , daß er auch selbst an diesem Tage an fremden Tischen essen mußte .
Da er indes in die Kirche kam , und nun vor den Altar trat , und oben an in der Reihe stand , so erwärmte das alles zwar wieder seine Phantasie -- aber es war doch lange das nicht , was er sich versprochen hatte .
-- Und gerade das wichtigste und feierlichste , die Ablegung des Glaubensbekenntnisses , welches einer im Namen der übrigen tun mußte , kam nicht an ihn , und er hatte sich doch schon viele Tage vorher auf Miene , Bewegung , und Ton geübt , womit er es ablegen wollte .
Er dachte , der Pastor M... würde ihn etwa den Nachmittag zu sich kommen lassen , aber er ließ ihn nicht zu sich kommen -- und während , daß seine Mitschüler nun zu Hause gingen , und der zärtlichen Bewillkommung ihrer Eltern entgegen sahen , ging Reiser einsam und verlassen auf der Straße umher , wo ihn der Direktor des Lyzeums begegnete , der ihn anredete , und fragte , ob er nicht Reiseruss hieße ? -- und als Reiser mit Ja antwortete , ihm freundlich die Hand drückte ; und sagte , er habe schon durch den Pastor M... viel Gutes von ihm gehört , und würde bald näher mit ihm bekannt werden .
Welche unerwartete Aufmunterung für ihn , daß dieser Mann , den er schon oft mit tiefer Ehrfurcht betrachtet hatte , ihn auf der Straße anzureden würdigte , und ihn Reiseruss nannte .
Der Direktor B. . . war wirklich ein Mann , welcher einem jeden der ihn sah , Ehrfurcht und Liebe einzuflößen im Stande war .
Er kleidete sich zierlich , und doch anständig , trug sich edel , war wohlgebildet , hatte die heiterste Miene , worin ihm so oft er wollte , der strengste Ernst zu Gebote stand .
Er war ein Schulmann , gerade wie er sein sollte , um von diesem Stande die Verachtung der feinen Welt , womit die gewöhnliche Pedanterie desselben belegt ist , abzuwälzen .
Wie es nun kam , daß er Reisern Reiseruss nannte , mag der Himmel wissen , genug er nannte ihn so , und es schmeichelte Reisern nicht wenig , auf die Weise seinen Namen zum erstenmal in us umgetauft zu sehen .
-- Da er mit dieser Endigung der Namen immer die Idee von Würde und einer erstaunenswürdigen Gelehrsamkeit verknüpft hatte , und sich nun schon im Geiste den gelehrten und berühmten Neiserus nennen hörte .
Diese Benennung , womit er so zufälliger Weise von dem Direktor B. . . beehrt wurde , ist ihm nachher auch oft wieder eingefallen , und manchmal mit ein Sporn zum Fleiße gewesen ; denn mit dem us an seinem Namen erwachte auf einmal die ganze Reihe von Vorstellungen , einmal ein berühmter Gelehrter zu werden , wie Erasmus Roterodamus , und andere , deren Lebensbeschreibungen er zum Teil gelesen , und ihre Bildnisse in Kupfer gestochen gesehen hatte .
Am Abend ging er nun zu dem armen Schuster , und wurde wenigstens mit freundlicheren Blicken , als von der Frau des Garnisonküsters , empfangen .
Der Schuster Heydorn , so hieß sein Wohltäter , hatte die Schriften des Taulerus und andere dergleichen gelesen , und redete daher eine Art von Büchersprache , wobei er manchmal einen gewissen predigenden Ton annahm .
Gemeiniglich zitierte er einen gewissen Periahnder , wenn er etwas behauptete , als : der Mensch muß sich nur Gott hingeben , sagt Periahnder -- und so sagte alles , was der Schuster Heydorn sagte , auch dieser Periahnder , der im Grunde nichts als eine allegorische Person war , die in Bunians Christenreise oder sonst irgendwo vorkommt .
Aber Reisern klang der Nahme Periahnder so süß in seinen Ohren . --
Er dachte sich dabei etwas Erhabenes , Geheimnisvolles , und hörte den Schuster Heydorn immer gern von Perianderen sprechen .
Der gute Heydorn hatte ihn aber etwas zu spät aufgehalten , und als er zu Hause kam , hatten sein Wirt und seine Wirtin ihren Abendsegen gelesen , und nicht unmittelbar darauf zu Bette gehen können , welches seit Jahren nicht geschehen sein mochte .
Dies war denn Ursache , daß Reiser ziemlich kalt und finster empfangen wurde , und sich von diesem Tage , dem er so lange voll voll sehnlicher Erwartung entgegen gesehen hatte , mit traurigem Herzen niederlegen mußte .
Diese Woche mußte er nun zum erstenmal herumessen , und machte am Montage bei dem Garkoch den Anfang , wo er sein Essen unter den übrigen Leuten , die bezahlten , bekam , und man sich weiter nicht um ihn bekümmerte .
-- Dies war , was er wünschte , und er ging immer mit leichterem Herze hierher .
Den Dienstag Mittag ging er zu dem Schuster S. , wo seine Eltern im Hause gewohnt hatten , und wurde auf das liebreichste und freundlichste empfangen .
Die guten Leute hatten ihn , als ein kleines Kind gekannt , und die alte Mutter des Schuster S. . . hatte immer gesagt , aus dem Jungen würde noch einmal etwas -- und nun freute sie sich , daß ihre Prophezeiung einzutreffen schien .
Und wenn es Reiser je nicht fühlte , daß er fremdes Brot aß , so war es an diesem gastfreundlichen Tische , wo er oft nachher seines Kummers vergessen hat , und mit heiterer Miene wieder weggieng , wenn er traurig hingegangen war .
Denn mit dem Schuster S. . . vertiefte er sich immer in philosophische Gesprächen , bis die alte C Mutter sagte : nun Kinder , so hört doch einmal auf , und laßt das liebe Essen nicht kalt werden !
O , was war der Schuster S. . . für ein Mann ! von ihm konnte man mit Wahrheit sagen , daß er vom Lehrstuhle die Köpfe der Leute hätte bilden sollen , denen er Schuh machte . --
Er und Reiser kamen oft in ihren Gesprächen , ohne alle Anleitung , auf Dinge , die Reiser nachher als die tiefste Weisheit in den Vorlesungen über die Metaphysik wieder hörte , und er hatte oft schon Stundenlang mit dem Schuster S. . . darüber gesprochen . --
Denn sie waren ganz von selbst auf die Entwicklung der Begriffe von Raum und Zeit , von subjektivischer und objektivischer Welt , u. s. w. gekommen , ohne die Schulterminologie zu wissen , sie halfen sich denn mit der Sprache des gemeinen Lebens so gut sie konnten , welches oft sonderbar genug heraus kam , -- kurz bei den Schuster S. . . vergaß Reiser alles .
Unangenehme seines Zustandes , er fühlte sich hier gleichsam in die höhere Geisterwelt versetzt , und sein Wesen wieder veredelt , weil er jemanden fand , mit dem er sich verstehen , und Gedanken gegen Gedanken wechseln konnte .
Die Stunden , welche er hier bei den Freunden seiner Kindheit und seiner Jugend zubrachte , waren gewiß damals die angenehmsten seines Lebens .
Hier war es allein , wo er sich mit völligem Zutrauen gewissermaßen , wie zu Hause fühlte .
Am Mittwoch aß er denn bei seinem Wirt , wo das wenige , was er genoß , so gut es auch diese Leute übrigens mit ihm meinen mochten , ihm doch fast jedesmal so verbittert wurde , daß er sich vor diesem Tage fast mehr , wie vor allen anderen fürchtete .
Denn an diesem Mittage pflegte seine Wohltäterin die Frau F... immer nicht geradezu , sondern nur in gewissen Anspielungen , indem sie zu ihrem Manne sprach , Reisers Betragen durchzugehen , ihm die Dankbarkeit gegen seine Wohltäter einzuschärfen , und etwas von Leuten mit einfließen lassen , die sich angewöhnt hätten sehr viel zu essen , und am Ende gar nicht mehr zu sättigen gewesen wären .
-- Reiser hatte damals , da er in seinem vollen Wachstum war , wirklich sehr guten Appetit , allein mit Zittern steckte er jeden Bissen in den Mund , wenn er dergleichen Anspielungen hörte .
Bei der Frau F... geschah es nun wirklich nicht sowohl aus Geiz oder Neid , daß sie dergleichen Anspielungen C 2 machte , sondern aus dem feinen Gefühl von Ordnung , welches dadurch beleidiget wurde , wenn jemand , ihrer Meinung nach , zu viel aß .
-- Sie pflegte denn auch wohl von Gnadenbrünlein und Gnadenquellen zu reden , die sich verstopften , wenn man nicht mit Mäßigkeit daraus schöpfte .
Die Frau des Hofmusikus , welche ihm am Donnerstage zu essen gab , war zwar dabei etwas rauh in ihrem Betragen , quälte ihn aber doch dadurch lange nicht so , als die Frau F. . . mit aller ihrer Feinheit .
-- Am Freitage aber hatte er wieder einen sehr schlimmen Tag , indem er bei Leuten aß , die es ihn nicht durch Anspielungen , sondern auf eine ziemlich grobe Art fühlen ließen , daß sie seine Wohltäter waren .
Sie hatten ihn auch noch als Kind gekannt , und nannten ihn nicht auf eine zärtliche sondern verächtliche Weise bei seinem Vornamen Anton , da er doch anfing , sich unter die erwachsenen Leute zu zählen .
Kurz diese Leute behandelten ihn so , daß er den ganzen Freitag über mißmutig und und traurig zu sein pflegte , und zu nichts recht Lust hatte , ohne oft zu wissen worüber , es war aber darüber , daß er den Mittag der erniedre genden Begegnung dieser Leute ausgesetzt war , deren Wohltat er sich doch notwendig wieder gefallen lassen mußte , wenn es ihm nicht , als der unverzeihlichste Stolz sollte ausgelegt werden .
-- Am Sonnabend aß er denn bei seinem Vetter dem Peruquenmacher , wo er eine Kleinigkeit bezahlte , und mit frohem Herzen aß , und den Sonntag wider bei dem Garnisonküster .
Dies Verzeichnis von Reisers Freitischen , und den Personen , die sie ihm gaben , ist gewiß nicht so unwichtig , wie es manchem vielleicht beim ersten Anblick scheinen mag -- dergleichen kleinscheinende Umstände sind es eben , die das Leben ausmachen , und auf die Gemütsbeschaffenheit eines Menschen den stärksten Einfluß haben . --
Es kam bei Reisers Fleiß und seinen Fortschritten , die er an irgend einem Tage tun sollte , sehr viel darauf an , was er für eine Aussicht auf den folgenden Tag hatte , ob er gerade bei dem Schuster S... , oder bei der Frau F... , oder dem Garnisonküster essen mußte .
Aus dieser seiner täglichen Situation nun wird sich größtenteils sein nachheriges Betragen erklären lassen , welches sonst C 3 sehr oft mit seinem Charakter widersprechend scheinen würde .
Ein großer Vorteil würde es für Reisern gewesen sein , wenn ihn der Pastor M. . . wöchentlich einmal hätte bei sich essen lassen .
Aber dieser gab ihm statt dessen einen sogenannten Geldtisch so wie auch der Seidensticker ; von diesen wenigen Groschen nun mußte Reiser wöchentlich sein Frühstück und Abendbrot bestreiten .
So hatte die Frau F. . . es angeordnet .
Denn was der Prinz hergab , sollte alles für ihn gespart werden .
Sein Frühstück bestand also in ein wenig Tee , und einem Stück Brot , und sein Abendessen in ein wenig Brot und Butter und Salz .
Dann sagte die Frau F. . . er müsse sich ans Mittagsessen halten , doch aber , gab sie ihm zu verstehen , daß er sich ja hüten müsse , sich zu überessen .
So war nun Reisers Ökonomie eingerichtet , was seinen Unterhalt anbetraf .
Aber auch zu seiner Kleidung wurde nicht einmal von dem Gelde , was der Prinz für ihn hergab , etwas genommen , sondern ein alter grober roter Soldatenrock für ihn gekauft , der ihm zurechtgemacht wurde , und womit er nun die öffentliche Schule bei suchen sollte , in welcher nun auch der allerärmste besser als er gekleidet war , ein Umstand , der nicht wenig dazu beitrug , gleich anfänglich seinen Mut in etwas niederzuschlagen .
Dazu kam nun noch , daß er das Kommisbrot , welches der Hauboist F. . . empfing , hohlen , und unter den Armen durch die Stadt tragen mußte , welches er zwar , wenn es irgend möglich war , in der Dämmerung tat , aber es sich doch auf keine Weise durfte merken lassen , daß er sich dies zu tun schäme , wenn es ihm nicht ebenfalls als ein unverzeihlicher Stolz sollte ausgelegt werden ; denn von diesem Brote wurde ihm selbst wöchentlich eins für ein geringes Geld überlassen , wovon er denn sein Frühstück und seinen Abendtisch bestreiten mußte .
Gegen dies alles durfte er sich nun nicht im mindesten auflehnen , weil der Pastor M. . . in die Einsichten der Frau F. . . , was Reisers Erziehung und die Einrichtung seiner Lebensart an betraf , ein unbegrenztes Zutrauen setzte .
In derselben Woche machte er auch noch seinen Besuch bei diesen Leuten , und dankte ihnen , daß sie die nähere Aufsicht über Reisern hätten überneh E4 men wollen , den er nun völlig ihrer Sorgfalt anvertraute .
Reiser saß dabei halbtraurig am Ofen , ob er gleich nicht gerne undankbar für die Vorsorge des Pastor M. . . sein wollte .
Aber er hing nun von diesem Augenblick an , ganz und gar von Leuten ab , bei denen er die wenigen Tage schon in einem so peinlichen Zustande zugebracht hatte .
Bei aller dieser anscheinenden Güte , die ihm erwiesen wurde , konnte er sich nie recht freuen , sondern war immer ängstlich und verlegen , weil ihm jede auch die kleinste Unzufriedenheit , die man ihm merken ließ , doppelt kränkend war sobald er bedachte , daß selbst der eigentliche Fleck seines Daseins , das Obdach , dessen er sich erfreute , bloß von der Güte so sehr empfindlicher und leicht zu beleidigender Personen abhing , als F. . . und noch weit mehr seine Frau war .
Bei dem allen war ihm nun doch der Gedanke aufmunternd , daß er in der künftigen Woche , die sogenannte hohe Schule zu besuchen anfangen sollte .
Das war so lange sein sehnlichster Wunsch gewesen .
Wie oft hatte er mit Ehrfurcht , das große Schulgebäude mit der hohen steinern Treppe vor demselben , angestaunt , wenn er über den Marktkirchhof ging . --
Stundenlang stand er oft , ob er etwa durch die Fenster etwas , von dem , was inwendig vorging , erblicken könnte .
Nun schimmerte von dem großen Katheder in Prima zufälliger Weise ein Teil durch das Fenster -- wie malte sich seine Phantasie das aus !
Wie oft träumte ihm des Nachts von diesem Katheder , und von langen Reihen von Bänken , wo die glücklichen Schüler der Weisheit saßen , in deren Gesellschaft er nun bald sollte aufgenommen werden .
So bestanden von seiner Kindheit auf seine eigentlichen Vergnügungen größtenteils in der Einbildungskraft , und er wurde dadurch einigermaßen für den Mangel der wirklichen Jugendfreuden , die andere in vollem Maße genießen , schadlos gehalten . --
Dicht neben der Schule führten zwei lange Gänge nach den nebeneinander gebauten Priesterhäusern .
Die machten ihm einen so ehrwürdigen Prospekt , daß das Bild davon nebst dem Schulgebäude Tag und Nacht das herrschende in seiner Seele war -- und denn die Benennung , hohe Schule , welche unter gemeinen Leuten im Gebrauch war , und der Aus C 5 druck , hohe Schüler , welchen er ebenfalls oft gehört hatte , machten , daß ihm seine Bestimmung , diese Schule zu besuchen , immer wichtiger und größer vorkam .
Der Zeitpunkt , wo dies geschehen ! sollte , war nun da , und mit klopfenden Herzen erwartete er den Augenblick wo ihn der Direktor B. . . in einen dieser Hörsäle der Weisheit führen würde .
Er wurde von dem Direktor geprüft , und tüchtig befunden , in die zweite Klasse gesetzt zu werden .
Die mit einer natürlichen Würde verknüpfte Freundlichkeit , womit ihn dieser Mann zuerst mein lieber Reiser ! nannte , ging ihm durch die Seele , und flößte ihm das innigste Zutrauen verbunden mit einer unbegrenzten Ehrfurcht gegen den Direktor ein .
O was vermag ein Schulmann über die Herzen junger Leute , wenn er gerade so wie der Direktor B. . . den rechten Ton einer durch Leutseligkeit gemilderten Würde in seinem Betragen zu treffen weiß !
Den Sonntag nach der Konfirmation , ging nun Reiser zuerst zum Abendmahl , und suchte nun aufs gewissenhafteste die Lehren in Ausübung zu bringen , welche er sich darüber aufgeschrieben und auswendig gelernt hatte , als die vorhergehende Prüfung nach dem Buße - und Sündenspiegel , und dann das Hinzutreten zum Altar mit einem freudigen Zittern . --
Er suchte sich auf alle Weise in eine solche Art von freudigen Zittern zu versetzen :
es wollte ihm aber nicht gelingen , und er machte sich selbst die bittersten Vorwürfe darüber , daß sein Herz so verhärtet war .
Endlich fing er vor Kälte an zu zittern , und dies beruhigte ihn einigermaßen .
Allein die himmlische Empfindung und das selige Gefühl , das ihm nun diese Seelenspeise gewähren sollte , alles das empfand er nicht -- er schrieb aber die Schuld davon bloß seinem eigenen verstockten Herzen zu , und quälte sich selbst über den Zustand der Gleichgültigkeit , worin er sich fühlte .
Am meisten schmerzte es ihn , daß er nicht recht zur Erkenntnis seines Sündenelendes kommen konnte , welches doch zur Heilsordnung nötig war .
Auch hatte er den Tag vorher in einer auswendig gelernten Beichte im Beichtstuhl bekennen müssen , daß er leider viel und mannigfaltig gesündigt , mit Gedanken , Worten und Wer ken , mit Unterlassung des Guten und Begehung des Bösen .
Die Sünden nun , deren er sich schuldig glaubte , waren vorzüglich Unterlassungssünden .
Er betete nicht andächtig genug , liebte Gott nicht eifrig genug , fühlte nicht Dankbarkeit genug gegen seine Wohltäter , und empfand kein freudiges Zittern , da er zum Abendmahle ging . --
Dies alles ging ihm nun nahe , aber er konnte es doch mit Zwang nicht abhelfen , darum war es ihm in so fern recht lieb , daß ihm für diese Vergehungen von dem Pastor M. . . die Absolution erteilet wurde .
Dabei blieb er aber doch immer mit sich selber unzufrieden :
denn zu der Gottseligkeit und Frömmigkeit rechnete er vorzüglich die Aufmerksamkeit auf jeden seiner Schritte und Tritte , auf jedes Lächeln , und auf jede Miene , auf jedes Wort , das er sprach , und auf jeden Gedanken , den er dachte .
-- Diese Aufmerksamkeit mußte nun natürlicher Weise sehr oft unterbrochen werden , und konnte nicht wohl über eine Stunde in einem fortdauern -- sobald nun Reiser seine Zerstreuung merkte , wurde er unzufrieden mit sich selber , und hielt es am Ende beinahe für unmöglich , ein ordentlich gottseliges und frommes Leben zu führen .
Die Frau F... hielt ihm an dem Tage , da er zum Abendmahl ging , eine lange Predigt über die bösen Lüste und Begierden , die in diesem Alter zu erwachen pflegten , und wogegen er nun kämpfen müsse .
Zum Glück verstand Reiser nicht , was sie eigentlich damit meinte , und wagte es auch nicht , sich genauer danach zu erkundigen , sondern nahm sich nur fest vor , wenn böse Lüste in ihm erwachen sollten , sie möchten auch sein von welcher Art sie wollten , ritterlich dagegen anzukämpfen .
Er hatte bei seinem Religionsunterricht auf dem Seminarium zwar schon von allerlei Sünden gehört , wovon er sich nie einen rechten Begriff machen konnte , als von Sodomiterei , stumme Sünden , und dem Laster der Selbstbefleckung , welche alle bei der Erklärung des sechsten Gebots genannt wurden , und die er sich sogar aufgeschrieben hatte .
Aber die Namen waren auch alles , was er davon wußte ; denn zum Glück hatte der Inspektor diese Sünden mit so fürchterlichen Farben gemalt , daß sich Reiser schon vor der Vorstellung von diesen ungeheuren Sünden selbst fürchtete , und mit seinen Gedanken in das Dunkel , welches sie umhüllte , nicht tiefer einzudringen wagte .
-- Überhaupt waren seine Begriffe von dem Ursprung des Menschen noch sehr dunkel und verworren , ob er gleich nicht mehr glaubte , daß der Storch die Kinder bringe .
-- Seine Gedanken waren gewiß damals rein ; denn ein gewisses Gefühl von Scham , daß ihm natürlich zu sein schien , war Ursache , daß er weder mit seinen Gedanken über dergleichen Gegenständen verweilte , noch sich mit seinen Mitschülern und Bekannten darüber zu unterreden wagte .
Auch kamen ihm seine religiösen Begriffe von Sünde wohl hierbei zu statt .
-- Es war ihm fürchterlich genug , daß es wirklich dergleichen Laster , die er nur den Namen nach kannte , in der Welt gab , geschweige denn , daß er nur einen Gedanken hätte haben sollen , sie näher kennen zu lernen .
Am Montag morgen introduzierte ihn nun der Direktor B. . . in die zweite Klasse des Lyzeums , wo der Konrektor und der Kantor unter richteten .
-- Der Konrektor war zugleich Prediger , und Reiser hatte ihn oft predigen hören . --
Er war es eben , dessen Art sich in seinem Priesterornat zu tragen , Reisern besonders gefiel , so daß er dieselbe mit einem gewissen Auf- und Niederbewegen des Kinns zuweilen nachzuahmen suchte .
Auch war der Pastor G. . . , so hieß er , noch ein sehr junger , der Kantor hingegen war ein alter und etwas hypochondrischer Mann .
In der zweiten Klasse waren schon ziemlich erwachsene junge Leute , und Reiser bildete sich nicht wenig darauf ein , nun ein Sekundaner zu sein .
Die Lehrstunden nahmen ihren Anfang : der Konrektor lehrte die Theologie , die Geschichte , den lateinischen Stil , und das griechische neue Testament .
-- Der Kantor den Katechismus , die Geographie , und die lateinische Grammatik .
Des Morgens um 7 Uhr fingen die Stunden an , und dauerten bis 10 , und des Nachmittags um 1 Uhr fingen sie wieder an , und dauerten bis um 4 Uhr .
-- Hier mußte nun also Reiser nebst zwanzig bis dreißig anderen jungen Leuten , einen großen Teil seines damaligen Lebens zubringen .
Es war also gewiß kein unwichtiger Umstand , wie diese Lehrstunden eingerichtet waren .
Alle Morgen früh wurde nach der vorgeschriebenen Ordnung zuerst ein Kapitel aus der Bibel gelesen , wie es jedesmal in der Reihe folgte , es mochte nun so lang oder kurz sein , wie es wollte .
Darauf wurde denn nach einer gewissen Heilsordnung zweimal die Woche eine Art von Theologie doziert , worin z. B. die opera ad extra , und die opera ad intra vorkamen , die vorzüglich eingeprägt wurden .
Unter den ersteren wurden nämlich die Werke verstanden , woran alle drei Personen in der Gottheit Teil nahmen , als die Schöpfung , Erlösung u. s. w. ob sie gleich einer Person vorzüglich zugeschrieben werden ; und unter den letzteren wurde das verstanden , wodurch sich eine Person von der anderen unterschied , und was ihr nur ganz allein zukommt , als die Zeugung des Sohnes vom Vater , das Ausgehen des heiligen Geistes vom Vater und Sohn u. s. w. Reiser hatte diese Unterschiede zwar schon auf dem Seminarium gelernt , aber es freute ihn doch sehr , daß er sie nun auch lateinisch zu benennen wußte .
Die opera ad extra und die opera ad intra prägten sich sich ihm von den theologischen Unterricht am tiefsten ein .
Zwei Stunden in der Woche trug der Konrektor eine Art von Universalgeschichte nach dem Holberg vor , und der Kantor lehrte die Geographie nach dem Hübner .
Das war der ganze wissenschaftliche Unterricht .
Alle übrige Zeit wurde auf die Erlernung der lateinischen Sprache verwandt .
Diese war es denn auch allein , worin sich jemand Ruhm und Beifall erwerben konnte .
Denn die Ordnung der Plätze richtete sich nur nach der Geschicklichkeit im Lateinischen .
Der Kantor hatte nun die Methode , daß er über eine Anzahl von Regeln aus der großen märkischen Grammatik wöchentlich einen kleinen Aufsatz diktierte , der ins lateinische übersetzt werden mußte , und wo die Ausdrücke so gewählt waren , daß immer gerade die jedesmaligen grammatikalischen Regeln darauf konnten angewandt werden .
Wer nun auf die Erklärung derselben am besten Acht gegeben hatte , der konnte auch sein sogenanntes Exerzitium am besten machen , und sich dadurch zu einem höheren Platze hinaufarbeiten .
D So sonderbar nun auch die um des Lateinischen Willen zusammen gelesenen deutschen Ausdrücke zuweilen klangen , so nützlich war doch im Grunde diese Übung , und solch einen Wetteifer erregte sie . --
Denn binnen einem Jahre kam Reiser dadurch so weit , daß er ohne einen einzigen grammatikalischen Fehler Latein schrieb , und sich also in dieser Sprache richtiger , als in der deutschen ausdrückte .
Denn im lateinischen wußte er , wo er den Akkusativ und den Dativ setzen mußte .
Im Deutschen aber hatte er nie daran gedacht , daß mich z. B. der Akkusativ und mir der Dativ sei , und daß man seine Muttersprache eben so wie das Lateinische auch deklinieren und konjugieren müssen .
-- Indes faßte er doch unvermerkt einige allgemeine Begriffe , die er nachher auf seine Muttersprache anwenden konnte , -- Er fing allmählich an , sich deutliche Begriffe von dem zu machen , was man Substantivum und Verbum nannte , welche er sonst noch oft verwechselte , wo sie aneinander grenzten , als z. B. gehen , und das Gehen .
Weil aber dergleichen Irrtümer in der lateinischen Ausarbeitung immer einen Fehler zu veranlassen pflegten , so wurde er beständig aufmerksamer darauf , und lernte auch die feineren Unterschiede zwischen den Redeteilen und ihren Abänderungen unvermerkt einsehen ; so daß er sich nach einiger Zeit zuweilen selbst verwunderte , wie er vor kurzem noch solche auffallende Fehler habe machen können .
Der Kantor pflegte unter jede lateinische Ausarbeitung , nachdem er an den Seiten mit roten Strichen die Anzahl der Fehler bemerkt hatte , sein vidi ( ich habe es durchgesehen ) zu setzen .
Da nun Reiser dies vidi unter seinem ersten Exerzitium sah , so glaubte er , es sei dies ein Wort , das er selbst immer ans Ende der Ausarbeitung schreiben müsse , und dessen Auslassung ihm der Kantor mit als einen Fehler angerechnet habe .
Er schrieb also mit eigener Hand unter sein zweites Exerzitium vidi , worüber der Kantor und sein Sohn , der dabei war , laut auflachten , und ihm erklärten , was es hieße . --
Auf einmal sah nun Reiser seinen Irrtum , und konnte nicht begreifen , wie er nicht selbst auf die richtige Erklärung des vidi gefallen sei , da er doch sonst wohl wußte , was vidi hieß. D 2 Es war ihm , als ob er mit Beschämung aus einer Art von Dummheit erwachte , die ihm angewandelt hatte .
Und er wurde auf einige Augenblicke fast eben so niedergeschlagen darüber , als da der Inspektor auf den Seminarium einst zu ihm sagte : dummer Knabe , indem er glaubte , daß er nicht einmal buchstabieren könne .
Eine solche Art von wirklicher oder anscheinender Dummheit bei gewissen Vorfällen rührte zum Teil aus einem Mangel an Gegenwart des Geistes , zum Teil aus einer gewissen Ängstlichkeit oder auch Trägheit her , wodurch die natürliche Kraft des Denkens auf eine Zeitlang an ihrer freien Wirksamkeit gehindert wurde .
Noch eine Hauptlektion waren die Lebensbeschreibungen der griechischen Feldherrn vom Kornelius Nepos , wovon wöchentlich ein Kapitel aus der Lebensbeschreibung irgend eines Feldherrn auswendig mußte hergesagt werden .
Diese Gedächtnisübungen wurden Reisern sehr leicht , weil er nicht sowohl die Worte , als die Sachen , sich einzuprägen suchte , welches er allemal des Abends vor dem Schlafengehen tat , und des Morgens , wenn er aufwachte , die Ideen weit heller und besser geordnet , als den Abend vorher , in seinem Gedächtnis wiederfand , gleichsam , als ob die Seele während dem Schlafen fortgearbeitet , und das , was sie einmal angefangen , nun während der gänzlichen Ruhe des Körpers , mit Muße vollendet hätte .
Alles was Reiser dem Gedächtnis anvertraute , pflegte er auf die Weise auswendig zu lernen .
Er fing nun auch an , sich mit der Poesie zu beschäftigen , welches er schon in seiner Kindheit getan hatte , wo denn seine Verse immer die schöne Natur , das Landleben und dergleichen zum Gegenstande zu haben pflegten .
Denn seine einsamen Spaziergänge und der Anblick der grünen Wiesen , wenn er etwa einmal vor das Tor kam , war wirklich das einzige , was ihn in seiner Lage in eine poetische Begeisterung versetzen konnte .
Als ein Knabe von zehn Jahren verfertigte er ein paar Strophen , die sich anfingen :
In den schön beblümten Auen Kann man Gottes Güte schauen , u. s. w. welche sein Vater in Musik setzte .
Und das Gedicht , das er jetzt hervorbrachte , war eine Einladung auf das Land worin wenigstens die D 3 Worte nicht übel gewählt waren . --
Dies kleine Gedicht gab er dem jungen M. . . durch welchen es in die Hände des Pastor M. . . und des Direktors kam , die ihren Beifall darüber bezeigten , so daß Reiser beinahe angefangen hätte , sich für einen Dichter zu halten .
Aber der Kantor benahm ihm fürs erste diesen Irrtum , indem er sein Gedicht Zeile vor Zeile mit ihm durchging , und ihn sowohl auf die Fehler gegen das Metrum , als auf den fehlerhaften Ausdruck , und den Mangel des Zusammenhangs der Gedanken aufmerksam machte .
Diese scharfe Kritik des Kantors war für Reisern eine wahre Wohltat , die er ihm nie genug verdanken kann .
Der Beifall , den dies erste Produkt seiner Muse so unverdienter Weise erhielt , hätte ihm sonst vielleicht auf sein ganzes Leben geschadet .
Demungeachtet wandelte ihn der furor poeticus noch manchmal an , und weil ihn jetzt wirklich das Vergnügen , dem Studieren zuliegen , am meisten begeisterte , so wagte er sich an ein neues Gedicht zum Lobe der Wissenschaften , welches sich komisch genug anhob :
An euch ihr schönen Wissenschaften , An euch soll meine Seele haften , u. s. w. Der Kantor lehrte auch lateinische Verse machen , trug die Regeln der Prosedie vor , die er nachher auf Catonis distiche , beim Skandieren derselben anwenden ließ .
Reiser fand hieran sehr großes Vergnügen , weil es ihm so gelehrt klang , lateinische Verse skandieren zu können , und zu wissen , warum die eine Silbe lang , und die andere kurz ausgesprochen werden mußte ; der Kantor schlug mit den Händen den Takt beim Skandieren .
Das anzusehen und mitmachen zu können , war ihm denn eine wahre Seelenfreude .
-- Und als nun gar der Kantor zuletzt eine Anzahl durcheinander geworfener lateinischer Wörter , welches Verse gewesen waren , diktierte , damit sie wieder in metrische Ordnung gebracht werden sollten , welch ein Vergnügen für Reisern , da er nun mit wenigen Fehlern , ein paar ordentliche Hexameter wieder herausbrachte , und von dem Kantor einen alten Kurtius zum Premium erhielt .
Hier herrschte nun gewiß der sogenannte alte Schulschlendrian , und Reiser kam demohngeach D 4 tet in einem Jahre so weit , daß er ohne einen grammatikalischen Fehler Latein schreiben , und einen lateinischen Vers richtig skandieren konnte .
-- Das ganz einfache Mittel hierzu war -- Die öftere Wiederholung des Alten mit dem Neuen , welches doch die Pädagogen der neueren Zeiten ja in Erwägung ziehen sollten .
Eine Sache mag noch so schön vorgetragen sein , sobald sie nicht öfter wiederholt wird , haftet sie schlechterdings nicht in dem jugendlichen Gemüte .
Die Alten haben gewiß nicht in den Wind geredet , wenn sie sagten : daß die Wiederholung die Mutter des Studierens sei .
Von zehn bis elf Uhr gab der Konrektor noch eine Privatstunde , im deutschen Deklamieren , und im deutschen Stil , worauf sich Reiser immer am meisten freute , weil er Gelegenheit hatte , sich durch Ausarbeitungen hervorzutun , und sich zugleich vom Katheder öffentlich konnte hören lassen , welches einige Ähnlichkeit mit dem Predigen hatte , das immer der höchste Gegenstand aller seiner Wünsche war .
Außer ihm war nun noch einer , Namens J. . . , der an dieser Übung im Deklamieren ein eben so großes Vergnügen fand .
Dieser I. . . ist nachher einer unserer ersten Schauspieler und beliebtesten dramatischen Schriftsteller geworden ; und Reisers Schicksal hat mit dem seinigen bis auf einen gewissen Zeitpunkt viel Ähnliches gehabt . -- I. . . und Reiser zeichneten sich immer in der Deklamationsübung am meisten aus -- I. . . übertraf Reisern weit an lebhaftem Ausdruck der Empfindung -- Reiser aber empfand tiefer . -- I. . . dachte weit schneller , und hatte daher Witz und Gegenwart des Geistes , aber keine Geduld , lange über einem Gegenstande auszuhalten .
-- Reiser schwang sich daher auch in allen übrigen bald über ihn hinauf -- Er verlor allemal gegen I. . . , sobald es auf Witz und Lebhaftigkeit ankam , aber er gewann immer gegen ihn , sobald es darauf ankam , die eigentliche Kraft des Denkens an irgend einem Gegenstande zu üben -- I. . . konnte sehr lebhaft durch etwas gerührt werden , aber es machte bei ihm keinen so dauernden Eindruck , Er konnte sehr leicht , und wie im Fluge etwas fassen , aber es entwischte ihm gemeiniglich eben so schnell wieder . -- I. . . war zum Schauspie D 5 leer geboren .
Er hatte schon als ein Knabe von zwölf Jahren , alle seine Minen und Bewegungen in seiner Gewalt -- und konnte alle Arten von Lächerlichkeiten in der vollkommensten Nachahmung darstellen .
Da war kein Prediger in H... dem er nicht auf das natürlichste nachgepredigt hatte .
Dazu wurde denn gemeiniglich die Zwischenzeit , ehe der Konrektor zur Privatstunde kam , angewandt .
Jedermann fürchtete sich daher vor J. . . , weil er jedermann , sobald er nur wollte , lächerlich zu machen wusste .
-- Reiser liebte ihn dennoch , und hätte schon damals gern nähern Umgang mit ihm gehabt , wenn die Verschiedenheit der Glücksumstände es nicht verhindert hätte .
J. . .s Eltern waren reich und Augesehen , und Reiser war ein armer Knabe , der von Wohltaten lebte , demungeachtet aber den Gedanken bis in den Tod haßte , sich auf irgend eine Weise Reichen aufzubringen .
-- Indes genoß er von seinen reicheren und besser gekleideten Mitschülern weit mehr Achtung als er erwartet hatte , welches zum Teil wohl mit daher kommen mochte , weil man wußte , daß ihn der Prinz studieren ließe , und ihn daher schon in einem etwas höheren Lichte betrachtete , als man sonst würde getan haben . --
Dies brachte ihm auch von seinen Lehrern etwas mehr Aufmerksamkeit und Achtung zu Wege .
Ob nun gleich zum Teil schon erwachsene Leute von siebzehn bis achtzehn Jahren in dieser Klasse saßen , so herrschten doch darin noch sehr erniedrigende Strafen .
Der Konrekter sowohl als der Kantor teilten Ohrfeigen aus , und bedienten sich zu schärferen Züchtigungen der Peitsche , welche beständig auf dem Katheder lag ; auch mußten diejenigen welche etwas verbrochen hatten , manchmal zur Strafe am Katheder knien .
Reisern war der Gedanke schon unerträglich , sich jemals eine solche Strafe von Männern zuzuziehen , welche er als seine Lehrer im hohen Grade liebte und ehrte , und nichts eifriger wünschte , als sich wiederum ihre Liebe und Achtung zu erwerben .
Welch eine Wirkung mußte es also auf ihn tun , da er einmal , ehe er sich_es versah , und ganz ohne seine Schuld , das Schicksal einiger seiner Mitschüler , welche we gen eines vorgefallenen Lärms , vom Konrektor mit der Peitsche bestraft wurden , teilen mußte .
Gleiche Brüder gleiche Kappen , sagte der Konrektor , da er an ihn kam , und hörte auf keine Entschuldigungen , drohte auch noch dazu , ihn bei dem Pastor M. . . zu verklagen .
Das Gefühl seiner Unschuld beseelte Reisern mit einem edlen Trotze , und er drohte wieder , den Konrektor bei dem Pastor M. . . zu verklagen , daß er ihn unschuldiger weise auf eine so erniedrigende Art behandelte .
Reiser sagte dies mit der Stimme der unterdrückten Unschuld , und der Konrektor antwortete ihm kein Wort .
Aber von der Zeit an , war auch alles Gefühl von Achtung und Liebe für den Konrektor , wie aus seinem Herzen weggeblasen .
Und da der Konrektor nun einmal in seinen Strafen weiter keinen Unterschied machte , so achtetet Reiser eine Ohrfeige oder einen Peitschenschlag von ihm eben so wenig , als ob irgend ein unvernünftiges Tier an ihn angerannt wäre .
Und weil er nun sah , daß es gleichviel war , ob er sich die Achtung dieses Lehrers zu erwerben suchte , oder nicht , so hing er auch nun seiner Neigung nach , und war nicht mehr aus Pflicht , sondern bloß wenn ihn die Sache interessierte aufmerksam .
Er pflegte denn oft Stundenlang mit seinem Freunde J. . . zu plaudern , mit dem er denn zuweilen gesellschaftlich am Katheder knien mußte .
J. . . fand auch hierin Stoff , seinen Witz zu üben , indem er das Katheder , worauf sich der Konrektor mit den Ellenbogen gestützt hatte , mit dem Mecklenburgischen Wappen , und sich und Reisern mit den beiden Schildhaltern verglich . -- J. . .s Schalkhaftigkeit war durch keine Strafen zu unterdrücken , ausgenommen durch eine , wo er einmal eine ganze Stunde lang mit dem Gesicht gegen den Ofen gekehrt stehen mußte , und also seinen Witz nicht spielen lassen , oder gegen jemand irgend eine Pantomine machen konnte .
-- Diese Strafe preßte ihm zum erstenmal Tränen aus , und er legte sich im Ernst aufs Bitten , welches er sonst nie tat . --
So war die Disziplin des Konrektors beschaffen . --
Es hatte einmal einer aus Versehen seine Nachtmütze statt des Buchs in die Tasche gesteckt , und er ließ ihn mit der Nachtmütze auf dem Kopfe eine Stundelang vor der ganzen Klasse knieu , worüber denn J. . . seinen tausend Spaß hatte , und seinen Nachbarn , die sich über seine Pantomime und seine drolligen Einfälle zuweilen des Lachens nicht enthalten konnte , manche Ohrfeige zuzog .
Was nun diese Disziplin des Konrektors auf das Gemüt und den Charakter seiner Untergebenen für eine Wirkung getan , was für ein : rühmliches Andenken er sich dadurch in den Herzen seiner Schüler gestiftet habe , und was für einen Kranz er sich dadurch erworben habe , mag seinem eigenen Gewissen anheim gestellt sein . --
Wenn er sich denn oft so recht als ein Held gezeigt hatte , so pflegte er wohl zu sagen :
ich bin keine Schlafmütze wie andere , und deutete damit , daß es jedermann merken konnte , auf seinen Kollegen , den Kantor , der ungeachtet seiner hypochondrischen Laune , und einiger ihm anklebenden Pedanterie , ein weit besserer Mann war , als der Konrektor .
Nie hat Reiser von diesem einen Schlag bekommen , ob derselbe gleich sonst eben nicht karg mit Ohrfeigen , und ziemlich freigebig mit der Peitsche war .
Aber er sah doch ein , daß es Reisern im Ernst darum zu tun war , Strafe zu vermeiden , und nun schlug er doch nicht blindlings zu .
Bei ihm lernte auch Reiser weit mehr , als bei den Konrektor , weil er aus Pflicht aufmerksam war , wenn ihn gleich die Sache nicht interessierte .
-- Und da es ihm gelang , sich durch die lateinischen Ausarbeitungen bis zum ersten Platze hinauf zu arbeiten ! wie aufmunternd war ihm nun das Lob des Kantors , und wie eindringend der Zuspruch desselben , daß er sich nun auf diesem Platze solle zu behaupten suchen . --
Nun erteilte der Kantor immer dem ersten in der Klasse das Amt eines Zensors oder Aufsehers über das Betragen der übrigen , und da nun Reiser sich immer auf seinem ersten Platze behauptete , so gab ihm der Kantor den ehrenvollen Titel eines censor perpetuus oder immerwährenden Aufsehers .
Er verwaltete dies Amt mit der größten Gewissenhaftigkeit und Unparteilichkeit , und sah es oft mit Wehmut an , wie die Buben den guten Kantor , der freilich auch nicht immer den rechten Weg der Disziplin einschlug , ärgerten und ihm das Leben sauer machten , so daß derselbe oft in der Betrübnis sei nes Herzens ausrief , quem dii odere , paedogogum fecere , wenn die Götter haßten , den machten sie zum Schulmann .
-- Für den Kantor hatte Reiser alles aufgeopfert , weil er nie ungerecht gegen ihn gewesen war , obgleich das Betragen desselben sonst auch nicht immer das freundlichste war . --
Wie rührend war es Reisern oft , wenn in der Katechismusstunde alles um ihn her lärmte und tobte , und der Kantor denn mit Gewalt aufs Buch schlug , und sagte :
ich habe Gottes Wort an euch ! --
Nur Schade daß der gute Mann dergleichen Ausdrücke , die zu rechter Zeit angebracht , ihre Wirkung nicht verfehlen , zu oft anbrachte , und gewisse Gemeinplätze , als Torheit steckt den Knaben im Herzen , und dergleichen , alle Augenblicke im Munde führte , wodurch man sich den am Ende so sehr daran gewöhnte , daß niemand mehr darauf achtete , und eben daher entstand die ewige Unruhe in den Lehrstunden des Kantors .
-- Der Konrektor sprach weniger bei seinen Züchtigungen , darum bewirkten sie mehr Stille und Ordnung .
Da nun Reiser auf eine kurze Zeit die Schule besucht hatte , so kam er auf den Einfall , ins Chor zu gehen ; nicht sowohl um Geld zu verdienen , als vielmehr in einen neuen ehrenvollen Stand zu treten , wovon er sich schon als Hutmacherbursche in B. . . immer so große Begriffe gemacht hatte .
-- Seine Phantasie hatte hier wieder Spielraum -- Das war ihm alles so himmlisch , so feierlich in die Lobgesänge zur Ehre Gottes öffentlich mit einzustimmen -- Der Nahme Chor tönte ihm so angenehm . --
Das Lob Gottes in vollen Chören zu singen , war ein Ausdruck , der ihm immer im Sinne schallte . --
Er konnte die Zeit kaum abwarten ! wo er in diese glänzende Versammlung würde aufgenommen werden .
Einer seiner Mitschüler , der schon lange im Chor gesungen hatte , versicherte ihm zwar , er sei es so satt und überdrüssig , daß er lieber Heute als Morgen davon frei sein möchte -- Reiser konnte sich das unmöglich einbilden .
Er besuchte mit großem Eifer die Lehrstunde , wo der Kantor Unterricht im Singen erteilte , und beneidete nun jeden , der eine bessere Stimme besaß , als er .
E Richtet weit von H. . . ist ein Wasserfall , wo er auf Anraten des Kantors oft Stundenlang hinging , um sich recht auszuschreien , und seine Stimme zu üben .
-- Allein es wollte mit dem Singen nie recht fort .
Denn es fehlte ihm zugleich an dem , was man musikalisches Gehör nennt .
Aber das theoretische , was der Kantor bei seinem Unterricht mit einfließen ließ , war ihm desto willkommener , und er machte dem Kantor durch seine Aufmerksamkeit viel Vergnügen .
Reiser empfand nun wirkliche Liebe gegen den Kantor , und machte allenthalben sehr viel Rühmens von ihm , so wie dieser ihn wieder bei den Leuten lobte . --
Da fügte es sich einmal , daß Reiser dem Kantor für das gute Zeugnis dankte , das ihm derselbe bei einem seiner Gönner gegeben hatte , und der Kantor erwiderte :
Reiser habe ihm ja auch ein gutes Zeugnis gegeben :
denn es war ihm wieder zu Ohren gekommen , wie gut Reiser allenthalben von ihm sprach .
Die Freude dieses Augenblicks hätte Reiser um vieles in der Welt nicht gegeben , so angenehm war es ihm , daß sein Lehrer es nun selber wuß te , wie sehr er ihn liebte .
-- Wer ihm das beim ersten Anblick gesagt hätte , dem würde er es nicht geglaubt haben , daß der Kantor einmal so sehr sein Freund sein würde .
Denn der Konrektor war erstlich sein Mann ; dessen lächelude freundliche Miene , und glatte Stirn nahmen ihn ein , indes die finstere Miene des Kantors und seine runzelvolle Stirn ihn zurückscheuchten .
Ach , was für ein artiger freundlicher Mann ist der Konrektor gegen den alten mürrischen Kantor ! pflegte er im Anfang oft zu sagen :
aber bei der genaueren Bekanntschaft wandte sich das Blatt gar bald um .
Reiser suchte sich auch auf alle Weise in der Achtung des Kantors immer fester zu setzen .
Dies ging so weit , daß er auf einem öffentlichen Spatzierplatze , wo der Kantor hinzukommen pflegte , mit einem aufgeschlagenen Buche in der Hand auf und nieder ging , um die Blicke seines Lehrers auf sich zu ziehen , der ihn nun für ein Muster des Fleißes halten sollte , weil er sogar beim Spatziergehen studierte . --
Ob nun Reiser gleich an dem Buche , das er laß , wirklich Vergnügen fand , E 2 so war doch das Vergnügen , von dem Kantor in dieser Attitüde bemerkt zu werden , noch weit größer , und man sieht auch aus diesem Zuge seinen Hang zur Eitelkeit .
Es lag ihm mehr an dem Schein , als an der Sache , obgleich die Sache ihm auch nicht unwichtig war .
Man hatte eine erstaunliche Meinung von seinem Fleiß , und pflegte ihm immer anzuraten , daß er seiner Gesundheit schonen sollte ; dies war ihm äußerst schmeichelhaft , und er ließ die Leute bei dieser Meinung , obgleich sein Fleiß lange nicht so groß war , wie er hätte sein können , wenn das Drückende seiner Lage , in Ansehung seiner Nahrung und Wohnung ihn nicht oft träge und mißmutig gemacht hätte .
Denn die unwürdige Behandlung der er zuweilen ausgesetzt war , benahm ihm oft einen großen Teil der Achtung gegen sich selbst , welche schlechterdings zum Fleiß notwendig ist . --
Oft ging er mit traurigem Herzen zur Schule , wenn er aber denn einmal darin war , so vergaß er seines Kummers , und die Schulstunden waren im Grunde noch seine glücklichsten Stunden .
Wenn er aber dann wieder zu Hause kam , und sich manchmal verblümter Weise mußte zu verstehen geben lassen , wie überdrüssig man seiner Gegenwart wäre -- dann saß er Stundenlang und getraute sich kaum Atem zu hohlen -- er war dann in einem entsetzlichen Zustande -- und hätte in der Welt nichts arbeiten können , denn sein Herz war ihm durch diese Begegnung zerrissen . --
So konnten auch die Blicke der Frau des Garnisonküsters , wenn er dort gegessen hatte , ihn auf einige Tage niederschlagen , und ihm den Mut zum Fleiß benehmen .
Sicher wäre Reiser glücklicher und zufriedener und gewiß auch fleißiger gewesen , als er war , hätte man ihn von dem Gelde , das der Prinz für ihn hergab , Salz und Brot für sich kaufen lassen , als daß man ihn an fremden Tischen sein Brot essen ließ .
Es war abscheulich , in was für eine Lage er einmal geriet , da die Frau des Garnisonküsters , über Tische erst anfing von den schlechten Zeiten , und von dem harten Winter , und dann von dem Holzmangel zu reden , und endlich über E 3 die Besorgnis in Tränen ausbrach , wo man noch zuletzt Brot herschaffen solle ; und da Reiser in der Verlegenheit über diese Reden unversehens ein Stück Brot an die Erde fallen ließ , ihn mit den Augen einer Furie anblickte , ohne doch etwas zu sagen --
Da sich Reiser über diese unwürdige Begegnung der Tränen nicht enthalten konnte , so brach sie gegen ihn los , warf ihm mit dürren Worten Unhöflichkeit und ungeschicktes Betragen vor , und gab zu verstehen , daß dergleichen Leute , die ihr den Bissen im Munde zu Gift machten , an ihrem Tische nicht willkommen wäre .
-- Der gute Garnisonküster der Reisern innig bedauerte , aber das Regiment nicht im Hause führte , erbarmte sich seiner , und sagte ihm sogleich den Tisch auf -- So beschämt erniedrigt , und herabgewürdigt mußte nun Reiser aus diesem Hause gehen , und durfte es kaum wagen , sich zu Hause davon etwas merken zu lassen , daß er einen Freitisch verloren habe .
Wenn ihm der Garnisonküster nachher zuweilen auf der Strasse begegnete , drückte er ihm einen halben Gulden in die Hand , um ihn für die Mißgunst und den Geiz seiner Frau schadlos zu halten .
Nun gab es wieder eine Art Leute , welche , wenn sie Reisern eine Mahlzeit zu essen gaben , alle Augenblick zu sagen pflegten , wie gern es ihn gegönnt sei , und daß er sich_es nur recht sollte schmecken lassen , denn für eine Mahlzeit werde es ihm nun doch einmal gerechnet , und dergleichen mehr , welches Reisern nicht weniger verlegen machte , so daß ihm das Essen , statt des Vergnügens was man sonst dabei empffndet , gemeiniglich eine wahre Qual war -- Wie glücklich fühlte er sich , da er am ersten Sonntage , nachdem er den Tisch bei dem Garnisonküster verloren , und es zu Hause noch nicht hatte sagen wollen , ein Dreier Brot verzehrte , und dabei einen Spaziergang um den Wall machte .
Es schien als ob sich alles vereiniget habe , Reisern in der Demut zu üben ; ein Glück daß er nicht niederträchtig drüber werde -- dann würde er freilich zufrieden und vergnügter gewesen sein , aber um alle den edlen Stolz , der den Menschen allein über das Tier erhebt , das nur E 4 seinen Hunger zu stillen sucht , wäre es bei ihm getan gewesen .
Der Stand des geringsten Lehrburschen eines Handwerkers ist ehrenvoller , als der eines jungen Menschen , der um studieren zu können , von Wohltaten lebt , sobald ihm diese Wohltaten auf eine herabwürdigende Art erzeigt werden .
Fühlt sich ein solcher junger Mensch glücklich , so ist er in Gefahr niederträchtig zu werden , und hat er nicht die Anlage zur Niederträchtigkeit , so wird es ihm wie Reisern gehen ; er wird mißmutig und menschenfeindlich gesinnt werden , wie es Reiser wirklich wurde , denn er fing schon damals an , in der Einsamkeit sein größtes Vergnügen zu finden .
Einmal schickte ihn die Frau F... sogar mit einem großen Stück Leinwand in des Prinzen Haus , welches dort an die Leute zum Verkaufe vorgezeigt werden sollte -- Alles Sträuben dagegen würde nichts geholfen haben -- denn der Pastor M... hatte einmal der Frau eine unbeschränkte Gewalt über Reisern erteilet -- und jede Weigerung würde ihm als ein unverzeihlicher Stolz ausgelegt worden sein . --
Es würde ihm nicht ins Schild gemalt werden , pflegte dann die Frau F. . . wohl zu sagen .
-- Eben so wenig durfte er sich sträuben , das Brot zu hohlen , welches der Houboist vom Regiment bekam , und ob er dies gleich immer in der Dämmerung tat , und die abgelegensten Straßen wählte , damit ihn keiner seiner Mitschüler sehen möchte , so bemerkte ihn doch einmal einer derselben zu seinem größten Schrecken , welcher aber zum Glück so gut gesinnt war , daß er ihm völlige Verschwiegenheit versprach und hielt , ihm aber doch , wenn sie sich in der Klasse zuweilen unwilligen , drohte , es fruchtbar zu machen .
Endlich wurde ihm denn doch von dem Gelde des Prinzen ein neues Kleid geschafft , weil sein alter roter Soldatenrock gar nicht mehr halten wollte ; aber gleichsam , als wenn es recht eigentlich auf seine Demütigung abgesehen wäre , wählte man ihm graues Bediententuch zum Kleide -- wodurch er wiederum gegen seine Mitschüler fast eben so sonderbar als mit dem roten Soldatenrock abstach ; und das Kleid durfte er anfänglich doch nur bei feierlichen Gelegenheiten , E 5 wenn etwa in der Schule Examen war , oder wenn er zum Abendmahl ging , anziehen .
Was ihn aber von allen Demütigungen die er erlitt am meisten kränkte , und was er der Frau F. . . nie hat vergessen können , war eine ungerechte Beschuldigung , die ihm bis in die Seele schmerzte , und die er doch durch keine Beweise von sich ablehnen konnte .
Die Frau F. . . , hatte ein kleines Mädchen von etwa 3 bis 4 Jahren von einer ihrer Anverwandtinnen zu sich genommen .
Diesem Kinde dachte sie zu Weihnachten eine überraschende Freude zu machen und hatte zu dem Ende einen Baum mit Lichtern aufgeputzt , und mit Rosinen und Mandeln behangen .
Reiser blieb allein in der Stube , während die Frau F. . . in die Kammer ging , um das Kind zu hohlen .
Nun fügte es sich , da sie wieder hereinkam , daß vermutlich durch die Bewegung der Türe , der Baum mit allen Lichtern umfiel , und Reiser in demselben Augenblick hinzulief , um ihn aufrecht zu erhalten , da dies aber nicht gehen wollte , sogleich wieder seine Hand davon abzog , welches nun gerade so aussah , als ob er sich die ganze Zeit über mit dem Baum bei schäftigt habe , und nun , da die Frau F... hereinkam , erschrocken sei , und folglich den Baum habe fahren lassen , der nun wirklich umfiel .
In den Gedanken der Frau F. . . war es nun ausgemacht , daß er von den Baum hatte naschen wollen , und auf die Weise ihr und dem Kinde eine unschuldige Freude verdorben habe .
Diesen entehrenden Verdacht gab sie Reisern mit deutlichen Worten zu verstehen , und wie sollte er ihn von sich abwälzen .
Er hatte keinen Zeugen .
Und der Anschein war wieder ihn . --
Schon die Möglichkeit , daß man einen solchen Verdacht gegen ihn hegen konnte , erniedrigte ihn bei sich selber , er war in einem solchen Zustande , wo man gleichsam zu versinken , oder in einem Augenblick gänzlich vernichtet zu sein , wünscht .
Ein Zustand , der eine Art von Seelenlähmung hervorzubringen vermag , welche nicht so leicht wieder gehoben werden kann . --
Man fühlt sich in einem solchen Augenblick gleichsam wie vernichtet , und gäbe sein Leben darum , sich vor aller Welt verbergen zu können .
-- Das Selbstzutrauen , welches der moralischen tätig keit so nötig ist , als das Atemhohlen der körperlichen Bewegung , erhält einen so gewaltigen Stoß , daß es ihm schwer hält , sich wieder zu erholen .
Wenn Reiser nachher irgendwo zugegen war , wo man etwa eine Kleinigkeit suchte , von der man glaubte , daß sie weggenommen sei , so konnte er sich nicht enthalten , rot zu werden , und in Verwirrung zu geraten , bloß weil er sich die Möglichkeit lebhaft dachte , daß man ihn , ohne es sich geradezu merken lassen zu wollen , für den Täter halten könnte .
-- Ein Beweis , wie sehr man sich irren kann , wenn man oft die Beschämung und Verwirrung eines angeklagten , als ein stillschweigendes Geständnis seines Verbrechens auslegt .
-- Durch tausend unverdiente Demütigungen kann jemand am Ende so weit gebracht werden , daß er sich selbst als einen Gegenstand der allgemeinen Verachtung ansieht , und es nicht mehr wagt , die Augen vor jemanden aufzuschlagen -- er kann auf die Weise in der größten Unschuld seines Herzens alle die Kennzeichen eines bösen Gewissens an sich blicken lassen , und wehe ihm dann , wenn er einem eingebildeten Menschenkenner , wie es so viele gibt , in die Hände fällt , der nach dem ersten Eindruck den seine Miene auf ihn macht , sogleich seinen Charakter beurteilt --
Unter allen Empfindungen ist wohl der höchste Grad der Beschämung , worin jemand versetzt wird , eine der peinigendsten .
Mehr als einmal in seinem Leben hat Reiser dies empfunden , mehr als einmal hat er Augenblicke gehabt , wo er gleichsam vor sich selber vernichtet wurde -- wenn er z. B. eine Begrüßung , ein Lob , eine Einladung , oder dergleichen auf sich gedeutet hatte , womit er nicht gemeint war . --
Die Beschämung und die Verwirrung worin ein solcher Mißverstand ihn versetzen konnte , war unbeschreiblich --
Es ist auch ein ganz besonderes Gefühl dabei , wenn man aus Missverstand sich eine Höflichkeit zurechnet , die einem anderen zugedacht ist .
Eben der Gedanke , daß man zu sehr von sich eingenommen sein könne , ist es , der so etwas außerordentlich demütigendes hat .
Dazu kommt das lächerliche Licht , in welchem man zu erscheinen glaubt -- Kurz Reiser hat in seinem Leben nichts Schrecklicheres empfunden als diesen Zu stand der Beschämung , worin ihn oft eine Kleinigkeit vesetzen konnte . --
Alles andere griff nicht so sein innerstes Wesen , sein eigentliches Selbst an , als gerade dies .
In Ansehung dieser Art des Leidens hat er auch das stärkste Mitleid empfunden .
Um jemanden eine Beschämung zu ersparen , würde er mehr getan haben , als um jemanden aus wirklichem Unglück retten :
denn die Beschämung dünkte ihm das größte Unglück , was einem widerfahren kann .
Er war einmal bei einein Kaufmann in H. . . der gemeiniglich statt der Person mit der er sprach einen anderen anzusehen pflegte .
Dieser bat , indem er Reisern ansah , einen anderen der mit in der Stube war , zum Essen , und da Reiser die Einladung auf sich deutete , und sie höflich ablehnte , so sagte der Kaufmann mit sehr trockener Mine :
ich meine , ihn ja nicht ! --
dies ich meine ihn ja nicht ! mit der trocknen Mine tat eine solche Wirkung auf Reisern , daß er glaubte in die Erde sinken zu müssen ; dies ich meine ihn ja nicht ! verfolgte ihn nachher wo er ging und stand , und machte seine Stimme , gebrochen und zitternd , wenn er mit vorne Nehmern reden sollte , sein Stolz konnte dies nie wieder ganz verwinden .
" Wie kann er glauben , daß man ihn zum " Essen bitten sollte ? "
-- So legte Reiser daß ich meine ihn ja nicht aus , und er kam sich in dem Augenblick so unbedentend , so weggeworfen , so nichts vor , daß ihm sein Gesicht , seine Hände , sein ganzes Wesen zur Last war , und er nun die dümmste und albernste Figur machte , so wie er da stand , und zugleich dies alberne und dumme in seinem Betragen lebhafter und stärker als irgend jemand außer ihm empfand .
-- Hätte Reiser irgend jemanden gehabt , der an seinem Schicksal wahren Anteil genommen hätte , so würden ihm dergleichen Begegnungen vielleicht nicht so kränkend gewesen sein .
Aber so war sein Schicksal an die eigentliche Teilnehmung anderer Menschen nur mit so schwachen Fäden geknüpft , daß die anscheinende Ablösung irgend eines solchen Fadens , ihn plötzlich das Zerreißen aller übrigen befürchten ließ , und er sich dann in einem Zustande sah , wo er keines Menschen Aufmerksamkeit auf sich mehr erregte , son deren sich für ein Wesen hielt , auf das weiter gar keine Rücksicht genommen wurde . --
Die Scham ist ein so heftiger Affekt , wie irgend einer , und es ist zu verwundern , daß die Folgen desselben nicht zuweilen tödlich sind .
Die Furcht , in einem lächerlichen Lichte zu erscheinen war bei Reisern zuweilen so entsetzlich , daß er alles , selbst sein Leben , würde aufgeopfert haben , um dies zu vermeiden .
-- Niemand hat das Infelix paupertas , quia ridiculos miseros facit , Traurig ist das Los der Armut , weil sie die Unglücklichen lächerlich macht , wohl stärker empfunden , als er , dem lächerlich zu werden , das größte Unglück auf der Welt dünkte .
-- Es gibt eine Art des Lächerlichen , welche ihm noch am erträglichsten war . --
Wenn nämlich Leute bloß der Sonderbarkeit wegen über etwas lachen , daß sie sich selbst nicht nachzutun getrauen , ohne es deswegen in einem verächtlichen Lichte zu betrachten .
Wenn er z. B. etwa von sich sagen hörte der Reiser ist doch ein sonderbarer Mensch , er geht des Abends ganz im Finsteren dreimal um den Wall , und spricht mit Niemand , als mit sich selber , indem er sich die Lektion des Tages wiederholt , u. s. w. -- so war ihm das gar nicht unangenehm zu hören , es hatte vielmehr etwas Schmeichelhaftes für ihn , auf die Weise in einem gewissen sonderbaren Lichte zu erscheinen . --
Aber als J... seinen Vers -- An euch ihr schönen Wissenschaften An euch soll meine Seele haften , lächerlich machte , das war für ihn sehr kränkend und beschämend , und er hätte viel darum gegeben , daß er diesen Vers nicht gemacht hätte .
Nachdem Reiser ein Vierteljahr lang die Singestunden des Kantors besucht hatte , erreichte er nun auch das so sehnlich gewünschte Glück , ins Chor zu gehen , wo er die Altstimme sang . --
Die Freude über seinen neuen Stand eines Chorschülers dauerte einige Wochen , so lange es nämlich gut Wetter blieb .
Er fand ein gar großes Vergnügen an den Arien und Motetten , die er singen hörte , und an den freundschaftlichen Unterredungen mit seinen Mitschülern , während F daß sie von einem Hause und einer Straße zur anderen gingen .
Ein solches Chor hat viel Ähnliches mit einer herumwandernden Truppe Schauspieler , in der man auch Freude und Leid , gutes und schlechtes Wetter u. s. w. auf gewisse Weise mit einander teilt , welches immer ein festeres Aneinanderschließen zu bewirken pflegt .
Am meisten hatte sich Reiser auf den blauen Mantel gefreut , der ins künftige seine Zierde sein würde --
Denn dieser Mantel näherte sich doch doch schon etwas der priesterlichen Kleidung . --
Aber auch diese Hoffnung täuschte ihn sehr ; denn die Frau F. . . ließ , um für ihn zu sparen , aus ein paar alten blauen Schürzen einen Mantel für ihn zusammennähen , womit er unter den übrigen Chorschülern eben keine glänzende Figur machte .
Nun bemerkte Reiser gleich am ersten Tage unter den Chorschülern einen , der sich von den übrigen , ganz besonders auszeichnete . --
Man sah es ihm gleich an , daß er ein Ausländer war , wenn man es auch nicht an seiner Sprache gehört hätte .
Denn alle seine Minen und Bewegungen zeigten mehr Lebhaftigkeit und Gewandtheit , als das äußer der steifen und schwerfälligen H. . .r -- Reiser konnte sich immer nicht satt an ihm sehen ; und da er ihn nun reden hörte , so konnte er sich nicht enthalten seine wohlgesetzten Ausdrücke , in dem obersächsischen Dialekt zu bewundern ; alles was die H...r sagten , kam ihm dagegen plump und abgeschmackt vor . --
Nun war der Präfektus im Chore ein alter versoffener Kerl , mit dem sich dieser Ausländer immer am meisten herumzankte , und ihm gemeiniglich sehr treffende und beißende Antworten zu geben pflegte , wenn der Präfektus sich eine Art von Oberherrschaft über ihn anmaßen wollte .
Und als dieser unter anderen einmal zu ihm sagte , er sei schon zu lange Präfektus , als daß er sich von so einem Gelbschnabel dürfe Anzüglichkeiten sagen lassen , so antwortete der Ausländer , es bringe ihm freilich eben nicht viel Ehre , daß er so ein alter Knabe , und noch immer Präfektus sei -- Diese Überlegenheit des Witzes , womit der Ausländer den Präfektus auf einmal niederschlug , machte Reisern noch aufmerksamer auf ihn , und da er sich nach F 2 dem Namen desselben erkundigte , erfuhr er , daß er Reiser hieße , und aus Erfurt gebürtig sei .
Nun war es Reisern sehr auffallend daß dieser junge Mensch , den er schon so liebgewonnen hatte , gerade mit ihm einerlei Namen führte , ungeachtet er wegen die Entfernung des Geburtsortes schwerlich mit ihm verwandt sein konnte . --
Er hätte gern gleich mit ihm Bekanntschaft gemacht , aber er wagte es noch nicht , weil sein Namensgenosse ein Primaner , und er nur ein Sekundaner war . --
Auch fürchtete er sich vor dem Witze desselben , dem er sich nicht gewachsen fühlte , wenn er einmal auf ihn sollte gerichtet werden .
Indes fügte sich ihre Bekanntschaft von selber , indem Philipp Reiser auf Anton Reisers stilles und in sich gekehrtes Wesen , eben so wie dieser auf das lebhafte Wesen von jenem , immer aufmerksamer wurde , und sie sich ungeachtet dieser Verschiedenheit ihrer Charaktere , bald unter der Menge heraus fanden , und Freunde wurden .
Dieser Philipp Reiser war gewiß ein vortrefflicher Kopf , der aber auch , durch die Umstände , worin ihn das Schicksal versetzt hat , unterdrückt worden ist .
-- Nebst einer feinen Empfindung besaß er viel Witz und Laune , wirkliches musikalisches Talent , und war zugleich ein vorzüglicher mechanischer Kopf -- aber er war arm , und dabei im höchsten Grade stolz-- ehe er Wohltaten angenommen hätte , würde er Hunger gelitten haben , welches er auch wirklich öfters tat . --
Hatte er aber Geld , so war er freigebig und gastfrei wie ein König , -- dann schmeckte ihm wohl , was er genoß , wenn er reichlich davon mitteilen konnte -- aber er hatte freilich Einnahme und Ausgabe nicht allzugut berechnen gelernt , und hatte daher sehr oft Gelegenheit sich in der großen Kunst des freiwilligen Entbehrens von dem , was man sonst gern hätte , zu üben .
-- Ohne jemals Anweisung dazu gehabt zu haben , verfertigte er sehr gute Klaviere und Forte Pianos , welches ihm zuweilen ansehnliche Einnahme verschaffte , die ihm aber freilich bei seiner gar zu großen Freigebigkeit nicht viel halfen . --
Dabei hatte er den Kopf beständig voll romanhafter Ideen , und war immer in irgend ein Frauenzimmer sterblich verliebt ; wenn er auf diesen F 3 Punkt kam , so war es immer , als hörte man einen Liebhaber aus den Ritterzeiten .
-- Seine Treue in der Freundschaft , seine Begierde , den Nohtleidenden zu helfen , und selbst seine Gastfreiheit , kam auf diesen Schlag heraus , und gründete sich zum Teil auf die romanhaften Begriffe , womit seine Phantasie genährt war , obgleich sein gutes Herz der eigentliche Grund davon war --
denn nur auf dem Boden eines guten Herzens können dergleichen Auswüchse von romanhaften Tugenden emporkeimen , und Wurzel fassen .
In einer eigennützigen Seele , und zusammengeschrumpften Herzen wird die häufigste Romanenlektüre nie dergleichen Wirkungen hervorbringen .
-- Man sieht nun leicht ein , warum Philipp und Anton Reiser sich auf halbem Wege begegneten und bei dem nähern Umgange für einander gemacht zu sein schienen .
Der erstere war beinahe zwanzig Jahr alt , da Reiser ihn kennen lernte ; die Jahre , die er vor ihm voraus hatte , machten ihn also gewissermaßen zu seinem Führer und Ratgeber , nur Schade , daß in dem Hauptpunkte , was die Ordnung des Lebens betraf , Reiser keinen besseren Führer und Ratgeber fand . --
Indes hatte er doch nun den ersten eigentlichen Freund seiner Jugend gefunden , dessen Umgang und Gespräche ihm die Stunden , die er im Chore zubringen mußte , noch einigermaßen erträglich machten .
Denn nun war das schöne Wetter vorbei , und es stellten sich Regen , Schnee und Kälte ein -- demungeachtet mußte das Chor seine gewissen Stunden auf der Straße singen . --
O wie zählte Reiser jetzt da er vom Frost erstarrt war , die Minuten , ehe das lästige Singen vorbei war , das ihm sonst eine himmlische Musik in seinen Ohren dünkte .
Den ganzen Mittwoch und Sonnabendnachmittag , und den ganzen Sonntag nahm nun allein das Chorsingen weg --
denn alle Sonntagmorgen mußten die Chorschüler in der Kirche sein , um vom Chore herunter das Amen zu singen . --
Auch des Sonnabendsnachmittags bei der Vorbereitung zum Abendmahle , mußten die jüngern Chorschüler mit dem Kantor ein Lied singen , und einer von ihnen einen Psalm , oben von dem hohen Chore herunter lesen , welches nun F 4 für Reisern wieder ein großer Fund war -- durch eine solche öffentliche und laute Vorlesung eines Psalms , hielt er sich wieder für alle Beschwerlichkeiten des Chorsingens belohnt . --
Er dünkte sich nun schon wie der Pastor P. . . in B. . . dazustehen , und mit erschütternder Stimme zu dem versammelten Volke zu reden .
Übrigens aber wurde das Chorsingen für ihn bald die unangenehmste Sache von der Welt .
Es raubte ihm alle Erholungsstunden , die ihm noch übrig waren , und machte , daß er nun keinem einzigen ruhigen Tage in der Woche entgegen sehen konnte .
Wie verschwanden die goldenen Träume , die er sich davon gemacht hatte ! -- und wie gern hätte er sich nun aus dieser Sklaverei wieder losgekauft , wenn es noch möglich gewesen wäre .
-- Aber nun war das Chorgeld einmal zu seinen gewöhnlichen Einkünften mit gerechnet , und er durfte gar nicht einmal daran denken , je wieder davon los zu kommen .
Den Gefährten seiner Sklaverei ging es größteutheis nicht besser , wie ihm , sie waren dieses Lebens eben so überdrüssig .
-- Und das Leben eines Chorschülers , der sich sein Brot vor den Türen ersingen muß , ist auch wirklich ein sehr trauriges Leben .
Wenn einer den Mut nicht ganz dabei verliert , so ist das gewiß ein seltener Fall . --
Die meisten werden am Ende niederträchtig gesinnt , und verlieren , wenn sie es einmal geworden sind , nie ganz die Spur davon .
Einen sonderbaren Eindruck auf Reisern machte das sogenannte Neujahrsingen , welches drei Tage nacheinander dauert , und wegen der seht abwechselnden Szenen , die dabei vorfallen , mit einem Zuge auf Abenteuer sehr viel Ähnliches hat -- Ein Häufchen Chorschüler steht in Schnee und Kälte dicht aneinander gedrängt auf der Straße , bis ein Bote der von Zeit zu Zeit abgeschickt wird , die Nachricht bringt , daß in irgend einem Hause soll gesungen werden .
-- Dann geht man in das Haus hinein , und wird gemeiniglich in die Stube genötigt , wo denn erst eine Arie oder Motette , die sich auf die Zeit paßt gesungen wird .
-- Alsdann pflegt mancher Hauswirt so höflich zu sein , und die Chorschüler mit Wein oder Kaffee , und Kuchen zu F 5 bewirten .
Diese Aufnahme in einer warmen Stube nach dem man oft lange in der Kälte gestanden hatte , und die Erfrischungen die einem gereicht wurden , waren eine solche Erquickung , und die Mannigfaltigkeit der Gegenstände , indem man an einem Tage wohl zwanzig und mehr verschiedene häusliche Einrichtungen und Familien in ihren Wohnzimmern versammelt sah , machte einen so angenehmen Eindruck auf die Seele , daß man diese drei Tage über in einer Art von Entzückung und beständigen Erwartung neuer Szenen schwebte , und sich die Beschwerden der Witterung gern gefallen ließ . --
Das Singen dauerte bis fast in die Nacht , und die Erleuchtung des Abends machte dann die Szene noch feierlicher --
Unter anderen wurde auch in einem Hospital für alte Frauen zum Neujahr gesungen , wo sich die Chorschüler mit den alten Müttern in einen Kreis zusammensetzen , und mit gefalteten Händen singen mußten :
Bis hierher hat mich Gott gebracht. u. s. w. -- Bei diesem Neujahrsingen schien alles freundschaftlicher gegeneinander zu sein .
Man sah nicht so sehr auf die Rangordnung , die Primaner sprachen mit den Sekundanern , und eine ungewöhnliche Heiterkeit verbreitete sich über die Gemüter .
An diesem Neujahr überfiel auch Reisern eine erstaunliche Wut Verse zu machen . --
Er schrieb Neujahrwünsche in Versen an seine Eltern , seinen Bruder , die Frau F. . . , und wer weiß an wen , und sprach darin von Silberbächen , die sich durch Blumen schlängelu , und von sanften Zephirs , und goldenen Tagen , daß es zum bewundern war -- sein Vater hatte vorzügliches Vergnügen an dem Silberbach gefunden ; seine Mutter aber verwunderte sich , daß er seinen Vater bester Vater nenne , da er doch nur einen Vater habe .
Seine poetische Lektion bestand damals fast in nichts , als Lessings kleinen Schriften , die ihm Philipp Reiser geliehen hatte und die er fast auswendig wußte , so oft hatte er sie durchgelesen .
Übrigens sieht man leicht , daß er , seit dem er ins Chor ging , zu eigenen Arbeiten , die von ihm abhingen , eben nicht viel Zeit übrig behielt .
Demungeachtet hatte er allerlei große Projekte ! der Stil im Kornelius Nepos war ihm z. E. nicht erhaben genug , und er nahm sich vor , die Geschichte der Feldherrn ganz anders einzukleiden ; etwa so wie der Daniel in der Löwengrube geschrieben war -- dies sollte denn auch eine Art von Heldengedicht werden .
In einer Privatstunde bei dem Konrektor wurden des Terenz Komödien gelesen , und schon der Gedanke , daß dieser Autor unter die schweren gezählt wird , machte , daß er ihn mit größerem Eifer , als etwa den Phädrus oder Eutropius studierte , und jedes Stück , was in der Schule gelesen wurde , sogleich zu Hause übersetzte .
-- Als er nun auf die Weise wirklich in sehr kurzer Zeit starke Fortschritte getan hatte , besuchte er den alten tauben Mann wieder , der nun weit über hundert Jahr alt , und schon eine Zeitlang kindisch gewesen war , zu aller Verwunderung aber noch ein Jahr vor seinem Tode seinen völligen Verstand wieder erhielt .
-- Reiser wußte seine Stube am Ende des langen finsteren Ganges , und ihm wandelte ein kleiner Schauer an , als er von ferne den scharrenden Gang des alten Mannes hörte , der ihn , da er herein trat , sehr freundlich willkommen hieß , und ihn mit der Hand winkte , daß er ihm etwas aufschreiben solle .
Mit welchem Entzücken schrieb ihm nun Reiser auf , daß er jetzt studiere , und schon den Terenz , und das griechische neue Testament übersetze .
Der Greis ließ sich herab , an Reisers kindischer Freude Teil zu nehmen , und wunderte sich darüber , daß er bereits den Terenz verstünde , wozu doch schon eine Menge von Wörtern gehöre .
Am Ende schrieb ihm Reiser um seine Gelehrsamkeit ganz auszukramen , mit griechischen Buchstaben etwas auf -- und der alte Mann ermunterte ihn zum ferneren Fleiß , und ermahnte ihn , des Gebets nicht zu vergessen , worauf er sich mit ihm auf die Knie nieder warf , und gerade so , wie vor fünf Jahren , da Reiser ihn zum erstenmal sah , wieder mit ihm betete .
Mit gerührtem Herzen ging Reiser zu Hause , und nahm sich vor , sich ganz wieder zu Gott zu wenden , das hieß bei ihm , unaufhörlich an Gott zu denken -- er erinnerte sich mit Wehmut des Zustandes , worin er sich als ein Knabe befunden hatte , da er mit Gott Unterredung hielt , und immer voll hoher Erwartung war , was nun für große Dinge , in ihm vorgehen würden .
-- In diesen Erinnerungen lag eine unbeschreibliche Süßigkeit , denn der Roman , den die frömmelnde Phantasie der gläubigen Seelen mit dem höchsten Wesen spielt , von dem sie sich bald verlassen , und bald wieder angenommen glauben , bald eine Sehnsucht und einen Hunger nach ihm empfinden , und bald wieder in einem Zustande der Trockenheit , und Lehre des Herzens sind , hat wirklich etwas erhabenes , und großes , und erhält die Lebensgeister in einer immerwährenden Tätigkeit , so daß auch die Träume des Nachts sich mit überirdischen Dingen beschäftigen , wie denn Reisern einst träumte , daß er in die Gesellschaft der Seligen aufgenommen war , die sich in kristallenen Strömen badeten -- Ein Traum , der oft wieder seine Einbildungskraft entzückt hat .
Reiser liehe sich nun von dem alten Tischer die Guionschen Schriften wieder , und erinnerte sich indem er sie laß , an jene glücklichen Zeiten zurück , wo er seiner Meinung nach auf dem Wege zur Vollkommenheit begriffen war . --
Wenn er nun manchmal durch seine äußeren Umstände traurig und mißmutig gemacht war , und ihm keine Lektüre schmecken wollte , so waren die Bibel und die Lieder der Madam Geoion das einzige , wozu er wegen des reizenden Dunkels , das ihm darin herrschte , seine Zuflucht nahm .
Ihm schimmerte durch den Schleier des rätselhaften Ausdrucks ein unbekanntes Licht entgegen , das seine erstorbene Phantasie wieder anfrischte -- aber mit dem eigentlichen Fromm sein oder dem beständigen Denken an Gott wollte es demungeachtet nicht mehr recht fort . --
In den Verbindungen worin er jetzt war , bekümmerte man sich eben nicht mehr um seinen Seelenzustand , und er hatte in der Schule und im Chore viel zu viel Zerstreuung , als daß er auch nur eine Woche lang seiner Neigung zum ununterbrochenen In sich gekehrt sein hätte getreu bleiben können .
Indes besuchte er doch den Greis vor seinem Tode noch verschiedenemal , bis er auch einmal zu ihm gehen wollte , und erfuhr , daß er tot und begraben sei -- seine letzten Worte waren gewesen : alles ! alles ! alles ! -- diese Worte erinnerte sich Reiser oft mitten im Gebet , oder auch sonst nach einer Pause , in einer Art von Entzückung , von ihm gehört zu haben -- Es schien dann zuweilen , als wollte er mit diesen Worten seinen zur Ewigkeit reifen Geist aushauchen , und in dem Augenblick seine sterbliche Hülle abstreifen .
-- Darum war es Reisern sehr auffallend , da er hörte , daß der alte Mann mit diesen Worten gestorben sei , und doch war es ihm auch , als sei er nicht gestorben , so sehr schien dieser fromme Greis immer schon in einer anderen Welt zu leben -- Tod und Ewigkeit , waren die letztenmal das ihn Reiser sprach , fast sein einziger Gedanke .
-- Es war Reisern diesmal fast nicht anders , als ob der alte Mann ausgezogen sei , da er ihn habe besuchen wollen , und dies war bei ihm nichts weniger als Gleichgültigkeit , sondern eine innige Vertraulichkeit mit dem Gedanken an den Tod dieses Mannes .
Indes hatte er an dem alten Mann wieder einen Freund seiner Jugend verloren , dessen Teilnehmung an seinen Schicksale ihm oft Freude gemacht hatte .
Er fühlte sich in manchen Stunden , ohne selbst zu wissen warum , verlassener wie sonst . --
Die Frau F. . . wurde der Last , welche ihr sein Aufenthalt bei ihr machte , ebenfalls immer überdrüssiger , und sagte ihm endlich , nachdem sie Dreivierteljahre lang Geduld gehabt hatte , die Wohnung auf , mit dem wohlgemeinten Rate , daß er sich nun nach einem anderen Logis umsehen solle .
-- Indes war der Rektor des Lyzeums abgegangen , und der neue Rektor S... , welcher an dessen Stelle gewählt wurde , war ein guter Freund von dem Pastor M... , der nun darauf dachte , Reisern bei diesem Mann ins Haus zu bringen , und ihn im Voraus auf die großen Vorteile aufmerksam machte , welche ihm dadurch erwachsen würden , wenn er das Glück haben sollte , von diesem Manne in sein Haus aufgenommen zu werden .
-- Also bei dem Rektor sollte nun Reiser ins Haus ziehen -- wie sehr schmeichelte dies seiner Eitelkeit !
denn dachte er sich , wenn es ihm glücken sollte , sich bei dem Rektor beliebt zu machen , was für eine glänzende Aussicht sich ihm dann eröffnete , da überdem nun der Rektor sein Lehrer wurde , indem er nach Endigung seines ersten Schuljahres gleich nach Prima versetzt werden sollte , worin der Direktor und der Rektor allein Unterricht gaben .
G Im Grunde war es ihm äußerst angenehm , daß ihm die Frau F... die Wohnung aufsagte , weil er es nie hätte wagen dürfen , nur ein Wort davon zu erwähnen , daß er von ihr wegziehen wolle . --
Hierzu kam nun noch , daß er die große Erwartung hatte , ein Hausgenosse des Rektors seines künftigen Lehrers zu werden .
Allein um diese Zeit hatte sich eine neue Grille in seiner Phantasie zu bilden angefangen , welche auf sein ganzes künftiges Leben einen großen Einfluß gehabt hat .
Ich habe nämlich schon der Deklamationsübungen erwähnt , welche in Sekunda von dem Konrektor veranstaltet wurden .
Dies hatte für ihn und J... einen so außerordentlichen Reiz , daß alles andere sich dagegen verdunkelte , und Reiser nichts mehr wünschte , als Gelegenheit zu haben , mit mehreren seiner Mitschüler einmal eine Komödie aufzuführen , um sich im Deklamieren hören zu lassen -- dies hatte einen so unendlichen Reiz für ihn , daß er eine Zeitlang Tag und Nacht mit diesem Gedanken umgieng , und selber den Entwurf zu einer Komödie machte , wo zwei Freunde von einander getrennt werden sollten , und dar über untröstlich waren , u. s. w. -- Auch fand er in Leydings Handbibliothek , die ihm jemand geliehen hatte , ein rührendes Drama in Versen : der Einsiedler welches er gern mit J. . . aufführen wollte . --
Er wünschte sich denn eine recht affektvolle Rolle , wo er mit dem größten Pathos reden und sich in eine Reihe von Empfindungen versetzen könnte , die er so gern hatte , und sie doch in seiner wirklichen Welt , wo alles so kahl so armselig zuging , nicht haben konnte .
-- Dieser Wunsch war bei Reisern sehr natürlich ; er hatte Gefühle für Freundschaft , für Dankbarkeit , für Großmut , und edle Entschlossenheit , welche alle ungenutzt in ihm schlummerten ; denn durch seine äußere Lage schrumpfte sein Herz zusammen .
-- Was Wunder , daß es sich in einer idealischen Welt wieder zu erweitern , und seinen natürlichen Empfindungen nachzuhängen suchte ! --
In dem Schauspiel schien er sich gleichsam wieder zu finden , nachdem er sich in seiner wirklichen Welt beinahe verloren hatte -- Darum wurde auch in der Folge seine Freundschaft mit Philipp Reisern beinahe eine theatralische Freundschaft , die oft so weit ging , daß G 2 einer für den anderen zu sterben entschlossen war . --
Nun wurde ihm die Theatergrille so wert , daß die Sucht zu predigen beinahe ganz dadurch aus seiner Seele verdrängt wurde --
denn hier fand seine Phantasie einen weit größeren Spielraum , weit mehr wirkliches Leben , und Interesse , als in dem ewigen Monolog des Predigers .
-- Wenn er die Szenen eines Drama , daß er entweder gelesen , oder sich selbst in Gedanken entworfen hatte , durchging , so war er das alles nacheinander wirklich , was er vorstellte , er war bald großmütig , bald dankbar , bald gekränkt und duldend , bald heftig und jedem Angriff mutig entgegenkämpfend .
Dabei war ihm nun die Aussicht auf Prima äußerst glänzend --
denn die Primaner des Lyzeums in H. . . hatten wirklich so viele äußere in die Augen fallende Vorzüge wie in wenigen Schulen statt finden mögen .
-- Sie hielten alle Neujahr bei einer großen Menge Zuschauer einen öffentlichen Aufzug mit Musik und Fackeln , indem sie dem Direktor und dem Rektor ein Vivat brachten .
-- Am Abend darauf überreichten sie das eine Jahr dem Direktor , und das andere dem Rektor , ein freiwillig zusammengebrachtes Geschenk , das gemeiniglich über hundert Taler betrug , und wobei derjenige der es überreichte eine kurze lateinische Rede hielt -- alsdann wurden sie mit Wein und Kuchen bewirtet , und durften sich die Freiheit herausnehmen , ihrem Lehrer in seiner Behausung ein lauterschallendes Vivat zu rufen .
Fast ein Vierteljahr vorher wurde immer schon von der Anordnung dieses Zuges gesprochen .
Alle Sommer in den Hundstagen wurde von den Primanern öffentlich Komödie gespielt , wo ihnen die Wahl der Stücke , und die Anordnung ebenfalls allein überlassen war -- Dies beschäftigte sie fast den ganzen Sommer über .
-- Dann fiel im Januar das Geburtsfest der Königin , und im Mai das Gebursfest des Königs ein , wo allemal mit großer Feierlichkeit ein Redeaktus veranstaltet wurde , bei dem der Prinz , die Minister , und fast alle Honoratioren der Stadt erschienen .
Die Vorbereitung hierzu nahm nun jedesmal sehr viel Zeit weg -- Dazu kamen jährlich noch zwei öffentliche Prüfungen , die auch allemal mit Ferien begleitet waren -- G 3 Hierdurch ging freilich viel Zeit verloren -- Indes waren dies alles doch so viele glänzende Ziele für einen ehrgeizigen Jüngling , welche ihm den Reiz der Schuljahre immer wieder auffrischten , so bald er verlöschen wollte .
Etwa einmal einer der Anführer bei dem Zuge der mit Fackeln zu sein , oder die lateinische Rede bei Überreichung des Geschenks zu halten , oder eine Hauptrolle in einem der aufgeführten Stücke zu bekommen , oder gar eine Rede an des Königs oder der Königin Geburtstage zu halten , das waren die Wünsche und Aussichten eines Primaners des Lyzeums in H. . . -- Hierzu kam nun noch der elegante Hö_ Saal der ersten Klasse , mit dem zierlichgebauten doppelten Katheder von schöngebohnten Nußbaumholz , und vor den Fenstern die grünen Vorhänge , welches alles sich vereinigte , um Reisers Phantasie aufs neue mit reizenden Bilden von seinem künftigen Zustande anzufüllen , und seine Erwartung von dem , was nun mit ihm vorgehen würde , bis auf den höchsten Grad zu spannen .
Sogleich nach seinem ersten Schuljahre ein Primaner zu werden , das war ein Glück , welches er sich kaum hätte träumen lassen .
Erfüllt von diesen Hoffnungen und Aussichten , reiste er nun in der Ferienwoche vor Ostern , mit Fuhrleuten , die denselben Weg nahmen , zu seinen Eltern , um ihnen sein Glück zu verkündigen . --
Auf dieser Reise , da der Weg größtenteils durch Wald und Heide ging , nahm seine vorher erwärmte Phantasie einen außerordentlichen Schwung ; er entwarf Heldengedichte , Trauerspiele , Romane , und wer weiß was -- zuweilen fiel ihm auch der Gedanke ein , sein Leben zu schreiben ; der Anfang , den er sich dachte lief aber immer auf den Schlag der Robinsons hinaus , die er gelesen hatte , daß er nämlich in dem und dem Jahre zu H. . . von armen doch ehrlichen Eltern geboren sei , und so sollte es denn weiter fortgehen .
So oft er nachher zu seinen Eltern reiste , es mochte nun zu Fuß oder zu Wagen sein , war unterwegs seine Einbildungskraft immer am geschäftigsten -- ein ganzer Zeitraum seines verfloßenen Lebens stand vor ihm da , so bald er die vier Türme von H. . . aus dem Gesicht verlor G 4 -- der Gesichtskreis seiner Seele erweiterte sich denn mit dem Gesichtskreis seiner Augen -- Er fühlte sich aus dem umschränkten Zirkel seines Daseins in die große weite Welt versetzt , wo alle wunderbaren Ereignisse , die er je in Romanen , gelesen hatte , möglich waren -- daß etwa von jenem Hügel plötzlich sein Vater oder seine Mutter wie aus der Ferne ihm entgegen kommen , und wie er denn freudig auf sie zueilen würde -- er glaubte schon den Ton der Stimme seiner Eltern zu hören -- und da er nun das erstemal diese Reise tat , so empfand er wirklich das reinste Vergnügen der sehnlichen Erwartung , bei seinen Eltern zu sein :
denn was hatte er ihnen nicht für große Dinge zu erzählen !
Da er nun am folgenden Mittage hinkam , bewillkommten ihn seine Eltern und seine beiden Brüder mit herzlicher Freude in ihrer ländlichen Wohnung .
Sie hatten einen kleinen Garten hinter dem Hause .
Und waren so weit recht gut eingerichtet .
Aber mit dem Hausfrieden stand es leider , wie er bald sah , noch nach wie vor .
Er hörte indes von seinem Vater wieder die Zither spielen , und die Lieder der Madam Geoion dazu singen .
-- Sie unterredeten sich nun auch über die Lehren der Mad. Geoion , und Reiser der sich in seinem Kopfe schon eine Art von Mataphisik gebildet hatte , die nahe an den Spinozismus grenzte , traf mit seinem Vater oft wunderbar zusammen , wenn sie von dem All der Gottheit und dem Nichts der Kreatur , das die Madame Geoion lehrte , sprachen .
Sie glaubten sich einander zu verstehen , und Reiser empfand ein unendliches Vergnügen in diesen Unterredungen mit seinem Vater , denn es war ihm schmeichelhaft , daß sich sein Vater , der ihn sonst nur für einen dummen Jungen zn halten schien , nun sebst über dergleichen erhabene Gegenstände mit ihm unterredete .
Dann besuchten sie den Prediger und die Honorationen des Orts , wo Reiser allenthalben mit ins Gespräch gezogen wurde , und sich auch , weil ihm diese Behandlung Selbstzutrauen einflößte , dabei ganz gut nahm . --
Die Nachbaren seiner Eltern , und wer sonst hinkam , waren alle aufmerksam auf den Sohn des * * Schreibers , den der Prinz in H... studieren ließe --
Die reine ungetrübte Freude , die Reiser in diesen wenigen Tagen genoß , verbunden G 5 mit den angenehmsten Hoffnungen , ersetzte ihm reichlich allen Kummer , und unverdiente Demütigungen , die er ein ganzes Jahr hindurch erlitten hatte .
So nahe , wie seine Mutter , nahm doch niemand in der Welt an seinem Schicksal Teil -- so oft er sich des Abends zu Bette legte , sprach sie das Gott walte über ihn , und schlug über seine Stirn das Kreuz dazu , wie sie ehemals getan hatte , damit er sicher schlafen sollte , und kein Abend und kein Morgen verging , wo sie ihn , auch in seiner Abwesenheit nicht mit in ihr Gebet einschloß .
-- Mit Wehmut nahm Reiser Abschied von seinen Eltern , und da er die Türme von H. . . wieder sah , so beklemmten traurige Ahnungen sein Herz .
Den anderen Tag nach seiner Zurückkunft wurde er von dem Direktor zu der Klassenversetzung geprüft , und da er aus des Cicero Buche von den Pflichten etwas aus dem lateinischen ins deutsche übersetzen sollte , so fügte es sich daß er in dem Exemplar , das ihm der Direktor gab , unglücklicherweise ein Blatt mit solcher Ungeschick lichkeit umschlug , daß er es beinahe zerrissen hätte .
Durch so etwas konnte nun die Empfindlichkeit des Direktors , der in allem stets die äußerste Delikatesse suchte , gerade am stärksten beleidigt worden .
-- Reiser verlor unendlich bei ihm durch diesen Zug von anscheinenden Mangel an feiner Empfindung und feiner Lebensart .
Der Direktor verwies ihm auf eine sehr bittere Art seine Ungeschicklichkeit , so daß Reisers Zutrauen zu dem Direktor , durch die Beschämung , worin er durch diesen bitteren Weiß versetzt wurde , ebenfalls einem gewaltigen Stoß erhielt , wovon es sich nie wieder erholen konnte .
Das schüchterne Wesen , was Reiser auf diese Veranlassung von nun an in der Gegenwart des Direktors bewies , diente dazu , ihn bei denselben noch immer mehr herabzusetzen .
-- Kurz , von einem einzigen zu schnell umgeschlagenen Blatte , in dem Exemplar des Direktors von Ciceros Buche von den Pflichten , schrieben sich größtenteils alle die Leiden her , die Reisern von nun an in seinen Schuljahren bevorstanden , und welche sich vorzüglich auf den Mangel der Achtung des Direktors gründeten , dessen Beifall , woran ihm so viel lag , er zuerst durch das zu schnelle Blattumschlagen verscherzt hatte .
Hierzu kam nun noch , daß die Frau F... , ob er gleich von ihr weg zog , ihm doch sein neues Kleid einschloß , und er mit einem alten Rock , den er noch von den Hutmacher L... hatte , Prima besuchen mußte , wo er neben sich fast lauter wohlgekleidete junge Leute sah .
Der Rock gab ihm ein lächerliches Ansehen , weil er ihm zu kurz geworden war .
Dies fühlte er selbst , und der Umstand trug sehr viel zu der Schüchternheit in seinem Wesen bei , das er in Prima mehr wie jemals äußerte . --
Auch waren der Kantor und der Konrektor äußerst auf ihn aufgebracht , daß er ihnen von seiner Versetzung nach Prima vorher nichts gesagt , und ohne ihren Rat diesen Schiert getan hätte .
Er entschuldigte sich so gut er konnte , damit , daß er es nicht bedacht hätte .
Der Kantor verzieh ihm auch bald , aber der Konrektor hat es ihm nie verziehen , sondern es ihn noch lange nachher entgelten lassen .
Er machte nämlich eine starke Forderung an Reisern für die Privatstunden , die dieser bei ihm gehabt hatte , und wovon je dermann glaubte , daß er sie ihm umsonst würde gegeben habe -- dies Geld ließ er Reisern einige Jahre hindurch von seinem Chorgelde abziehen , wenn es dieser oft am nötigsten brauchte .
-- Ein Umstand der ihn ebenfalls sehr niederschlug .
Nun bekam er in dem Hause des Rektors zwar eine Stube und Kammer , aber auch weiter nichts , denn der Rektor war selbst noch nicht recht eingerichtet .
Reiser hatte noch eine wollene Decke von seinen Eltern , dazu mietete man ihm ein Kopfküssen und Unterbette , um ja so viel , wie möglich zu sparen ; wenn es nun des Nachts kalt war , so mußte er seine Kleider zu Hilfe nehmen , um sich hinlänglich zu bedecken .
Ein altes Klavier , das er hatte , diente ihm statt eines Tisches , dazu hatte er eine kleine Bank aus dem Auditorium des Rektors , über dem Bette ein kleines Bücherbrett an einem Nagel hängend , und in der Kammer hatte er einen alten Koffer mit ein paar abgetragenen Kleidungsstücken stehen -- das war seine ganze häusliche Einrichtung , wobei er sich aber doch um ein großes glücklicher befand , als in der Stube der Frau F... , in welcher sonst weit mehr Bequemlichkeiten waren .
Wenn er nun allein auf seiner Stube war , so befand er sich so weit recht wohl , aber zu dem Rektor konnte er noch kein Zutrauen fassen .
Wenn er ihn gleich im Schlafrock und in der Nachtmütze sah , so schien doch immer ein Nimbus von Ernst und Würde sich um ihn her zu verbreiten , der Reisern in großer Entfernung von ihm hielt -- er mußte ihm seine Bibliothek in Ordnung bringen helfen ; wenn er denn zuweilen so dicht bei ihm stand , indem er ihm Bücher zureichte , daß er seinen Atem hören konnte , so fühlte er oft einige anschließende Kraft in sich -- aber in dem folgenden Augenblick war die Schüchternheit und Verlegenheit wieder da -- Demungeachtet liebte er den Rektor -- und sein mit romanhaften Ideen angefüllter Kopf ließ ihn manchmal den Wunsch tun , daß er doch mit dem Rektor auf irgend eine unbewohnte Insel versetzt werden möchte , wo sie durch das Schicksal gleich gemacht , auf einen freundschaftlichen und vertrauten Fuß umgehen könnten .
Der Rektor tat alles , um Reisern Mut und Zutrauen einzuflößen ; er ließ ihn verschiedenemal mit sich allein an seinem Tische speisen , und unterredete sich mit ihn -- Reiser hatte damals schon Schriftstellerprojekte :
er wollte die alte Acerra Philalogika in einen besseren Stil bringen , und der Rektor war so gütig , ihn zu ermuntern , daß er immer dergleichen Projekte für die Zukunft nähren , und sich mit dergleichen Ausarbeitungen beschäftigen solle .
Wenn nun Reiser über so etwas mit dem Rektor sprach , so fehlte es ihm immer an den rechten Ausdrücken , deren er sich bedienen sollte , welches seine Perioden sehr unterbrochen machte .
-- Denn er schwieg lieber , ehe er das unrechte Wort zu dem Gedanken wählte , den er ausdrücken wollte .
-- Der Rektor half ihm dann mit vieler Nachsicht zurecht -- Er ließ ihn auch zuweilen des Abends zu sich auf die Stube kommen , und sich von ihm vorlesen .
-- Reiser erdreistete sich denn auch manchmal Fragen an ihn zu tun :
in wie fern z. B. ein Stuhl ein Individuum zu nennen sei , da man ihn doch immer noch wieder teilen könne , wel cher Zweifel ihm bei der Logik , die er vom Direktor hörte , aufgefallen war -- und der Rektor löste ihm sehr herablassend seinen Zweifel auf , und lobte ihn dabei wegen seines Nachdenkens über dergleichen Gegenstände ; ja er scherzte zuweilen gar mit ihm , und wenn er ihn dem Auftrag gab , irgend ein Buch oder sonst etwas zu hohlen , so tat er dies nie in einem befehlenden Tone , sondern bittweise . --
So war nun alles so weit recht gut -- aber das Blattumschlagen schien nun einmal für Reisern eine unglückliche Sache zu sein -- er mußte einmal für den Rektor geheftete Bücher aufschneiden , und machte das so ungeschickt , daß er mit dem Federmesser tiefe Einschnitte in die Blätter machte , wodurch ein paar Bücher fast ganz verdorben wurden .
-- Der Rektor wurde darüber sehr böse , und machte ihm den bitteren Vorwurf , als ob er aus Bosheit die Einschnitte in die Blätter gemacht habe , um von der Arbeit frei zu sein . --
Das war nun freilich nicht der Fall -- der Vorwurf schmerzte Reisern und trug viel dazu bei , seinen allmählich wachsenden Mut wieder niederzuschlagen .
Indes erholte er sich doch noch einmal wieder , da ihn der Rektor auf einer kleinen Reise , nach einer benachbarten katholischen Stadt mitnahm , um die Feier des Fronleichnamsfestes mit anzusehen .
-- Der Rektor , der Konrektor , der Kantor , und ein paar Kandidaten der Theologie , fuhren auf einem Wagen mit Extrapost , wo Reiser auch ein Plätzchen erhielt -- Nun hörte er , diese ehrwürdigen Männer , die durch das Aneinanderschließen , welches gemeiniglich bei einer kleinen Reisegesellschaft statt zu finden pflegt , vertraulich gemacht waren , sehr lebhaft mit einander scherzen ; und dies tat eine ganz besondere Wirkung auf Reisern .
-- Der Nimbus um ihre Köpfe verschwand allmählich , und er sah an ihnen zum erstenmal Menschen , wie andere Menschen sind -- Dem nach nie hatte er eine Gesellschaft von Schwarzröcken zusammengesehen , die sich ohne Zwang mit einander besprachen , und alle das steife zeremonienmäßige Wesen , was ihnen sonst von ihrem Stande anklebt , auf eine Zeitlang gegen einander ablegten .
Nur der gute Kantor behielt immer ein gewisses steifes Wesen bei , und da unterwegs eine große Menge Bett H leer , die geistliche Lieder absangen , dem Wagen entgegen kamen , schraubte man den Kantor mit diesem Auftritt , indem man ihn wegen dieser schreckichen Disharmonien , wodurch sein Gehör ganz erschüttert wurde , herzlich bedauerte .
-- Es war zum erstenmal , daß Reiser sah , wie sich solche ehrwürdige Männer auch , eben so wie andere Leute , untereinander schrauben könnten .
Und diese Erfahrung , die er machte , war ihm sehr nützlich , indem er nun jeden Priester , den er sonst noch immer gewissermaßen als eine Art von übermenschlichem Wesen betrachtete , sich etwa in den Zirkel einer solchen Reisegesellschaft dachte , und ihn denn in seiner Vorstellung , von dem Nimbus , der ihn vorher umgab , mit leichter Mühe entblößte .
Allein er fühlte es demungeachtet wieder lebhaft , welch ein unbedeutendes Wesen er in dieser Gesellschaft war ; und da man alle Merkwürdigkeiten der Klöster , und andere Sachen in der katholischen Stadt besah , wozu noch eine Anzahl zum Teil auch fremder Personen sich gesellte , so fühlte er , wie es sich immer von selbst verstand , daß er bei allem der letzte war , und daß er dies noch als eine große Ehre ansehen mußte , die ihm widerfuhr -- dieser Gedanke machte , daß er sich in der Gesellschaft verlegen , albern , und dumm betrug , und dies verlegene und alberne Betragen fühlte er auch wieder selbst weit stärker , als es vielleicht irgend jemand außer ihm bemerken mochte ; darum war er die Zeit über , in welcher er so viel neues zu hören und zu sehen bekam , nichts weniger als glücklich , und wünschte sich wieder auf sein einsames Stübchen , mit der Bank und dem alten Klaviere , und dem Bücherbrett , das über dem Bette am Nagel hing .
Was aber nun vorzüglich anfing , ihm sein Schicksal zu verbittern , war eine neue unverdiente Demütigung , wozu seine gegenwärtige Lage , die er doch wiederum nicht ändern konnte , die Veranlassung gab .
Als er nämlich die erstenmal Prima besuchte , so hörte er schon zuweilen hinter sich zischeln : sieh , das ist des Rektors Famulus ! --
Eine Benennung , mit welcher Reiser den allerniedrigsten Begriff verband ; denn er wußte von den Verhältnissen eines Famulus auf der Uni H 2 gesittet noch nichts .
Ihm bezeichnete Famulus , wo möglich noch weniger , als einen Bedienten , der seinem Herren die Schuh putzt -- Dabei dünkte es ihm , als ob er allgemein von seinen Mitschülern mit einer Art von Verachtung betrachtet wurde . --
Dann dachte er sich in seinem kurzem Rocke , womit er sich immer selbst in einer lächerlichen Gestalt erschien -- In Sekunda war er ungeachtet seiner schlechten Kleidung von seinen Mitschülern noch geachtet worden , wegen der hohen Meinung , die man davon hatte , daß ihn der Prinz studieren ließ .
In Prima wußte man dies zwar auch zum Teil , aber die Idee , daß er beim Rektor Famulus war , schien ihn in aller Augen herabzusetzen . --
Nun kam in Prima außerordentlich viel auf den Platz an , wo man saß : höhere Plätze konnten nur durch langen fortgesetzten Fleiß erlangt werden .
Gemeiniglich rückte man alle halbe Jahre nur eine Bank in die Höhe -- Die ersten vier Bänke machten den unteren , und die letzteren drei den oberen Zötus aus -- Wer nun bei den halbjährigen Versetzungen zurück blieb , für den war dies eine der größten Erniedrigungen .
Nun hatte Reiser gleich am dritten Morgen , während daß ein Primaner von dem unteren Katheder ein Geschriebenes Gebet ablaß , da ihm , sein Nachbar etwas sagte , eine lächelnde Miene gemacht , und da er sah , daß er vom Direktor bemerkt wurde , diese Mine plötzlich in eine ernsthafte zu verwandeln gesucht --
Und der Eindruck , welcher noch von dem Blattumschlagen in seiner Seele zurück geblieben war , machte , daß diese plötzliche Veränderung seiner Miene , nicht im mindesten auf eine edle , sondern vielmehr höchst mißtrauische , gemeine , und sklavische Furcht verratende Art geschah , woraus der Direktor mit einem Blick des Zorns und der Verachtung , den er währendem Gebet auf Reisern warf , seine niedrige , gemeine Denkungsart zu schließen schien .
-- Ein solcher Blick vom Direktor war schon etwas , das allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen pflegte .
-- Da nun aber das Gebet vorbei war , so sagte er Reisern ein paar Worte über das Niederträchtige in seiner Mine , welche diesen auf einmal der Verachtung der ganzen Klasse aussetzten , den die Aussprüche des Direktors Orakel waren. H 3 Reiser getraute sich von nun an nicht mehr , seine Augen zu dem Direktor aufzuschlagen , und mußte sich in den Stunden desselben , wie ein Wesen betrachten , auf das nicht die mindeste Rücksicht genommen wurde :
denn der Direktor rief ihn niemals auf . --
Ein paar junge Leute die nach Reisern in Prima kamen , wurden über ihn gesetzt , und er mußte verschiedene Monate lang der letzte von allen bleiben .
-- Der junge R... ein vorzüglicher Kopf , der sich nachher als Maler berühmt gemacht hat , saß neben Reisern , und schien sich an ihn schließen zu wollen ; allein ein Blick des Direktors , womit derselbe ihn ansah , da er einmal mit Reisern sprach , dämpfte jeden Funken von Achtung , den er gegen Reisern zu haben schien , und machte sein Herz von ihm abgewandt .
-- Das Betragen des Direktors gegen Reisern war eine Folge von dessen schüchternen und mißtrauischen Wesen , daß eine niedrige Seele zu verraten schien ; allein der Direktor erwog nicht , daß eben dies schüchterne und mißtrauische Wesen wieder eine Folge von seinem ersten Betragen gegen Reisern war .
Dieser war nun einmal in der Achtung seiner Mitschüler gesunken , und jeder nahm sich jetzt heraus zum Ritter an ihn zu werden , jeder wollte seinen Witz an ihm üben , und nahm er es gleich mit einem auf , so waren wieder zwanzig andere , die mit einander wetteiferten , ihn zum Ziel ihres Spottes zu machen ; selbst seine Bravour , wenn er sich zuweilen mit denen , die es zu arg machten schlug , wodurch jeder andere sich vielleicht wieder in Achtung gesetzt hätte , wurde lächerlich gemacht --
Man zischelte sich nicht mehr in die Ohren : seht da des Rektors Famulus ! sondern sobald er des Morgens hereintrat , hieß es :
da kommt der Famulus ! und diese Ehrenbenennung schallte ihm aus allen Ecken entgegen .
-- Es war als ob sich alles verschworen hätte , sich auf ihn zu setzen , und ihn lächerlich zu machen .
-- Dieser Zustand wurde ihm eine Hölle -- er heulte , tobte , und geriet in eine Art von Raserei darüber , und auch dies wurde lächerlich gemacht .
-- Zuletzt trat denn zuweilen eine Art von Dumpfheit der Empfindung an die Stelle seines bis zur Wut und Raserei beleidigten Stol H 4 zes -- er hörte und sah nicht mehr , was um ihn her vorging , und ließ alles mit sich machen , was man wollte , so daß er in dem Zustande ein würdiger Gegenstand des Spottes und der Verachtung zu sein schien .
Was Wunder , wenn er am Ende durch diese fortgesetzte Behandlung wirklich niederträchtig gesinnt geworden wäre --
Aber er fühlte noch immer Kraft geung in sich , in gewissen Stunden , sich ganz aus seiner wirklichen Welt zu versetzen .
-- Das war es , was ihn aufrecht erhielt --
Wenn seine Seele durch tausend Demütigungen in seiner wirklichen Welt erniedrigt war , so übte er sich wieder in den edlen Gesinnungen der Großmut , Entschlossenheit , Uneigennützigkeit und Standhaftigkeit , so oft er irgend einen Roman , oder heroisches Drama Durchlaß oder durchdachte . --
Oft träumte er sich auf die Weise über allen Kummer der Erde hinaus , in heitere Szenen hin , wenn er vom Frost erstarrt , im Chore sang , und phantasierte so manche Stunde , wo denn gewisse Melodien , die er hörte und mitsang , seinen Traum oft fortpflanzen halfen . -- Nichts klang ihm z. B. rührender und erhabener , als wenn der Präfektus anhob zu singen :
Hylo schöne Sonne Deiner Strahlen Wonne In den tiefen Flor -- Das Hylo allein schon versetzte ihn in höhere Regionen , und gab seiner Einbildungskraft allemal einen außerordentlichen Schwung , weil er es für irgend einen orientalischen Ausdruck hielt , den er nicht verstand , und eben deswegen einen so erhabenen Sinn , als er nur wollte hineinlegen konnte : bis er einmal den geschriebenen Text unter den Noten sah , und fand daß es hieß Hüll ' o schöne Sonne , u. s. w. Diese Worte sang der Präfektus nach seiner thüringischen Mundart immer :
Hylo schöne Sonne -- Und nun war auf einmal das ganze Zauberwerk verschwunden , welches Reisern , so manchen frohen Augenblick gemacht hatte . --
Eben so war es ihm immer sehr rührend , wenn gesungen wurde : Du verdeckest sie in den Hütten , oder liege ich nur in deiner Hut , o so Schlaf ich sanft und gut -- H 5 Er wiegte sich oft so sehr in die süßen Empfindungen von dem Schutz eines höheren Wesens ein , daß er Regen , und Frost und Schnee vergaß , und sich in der ihn umgebenden Luft , wie in einen Bette sanft zu ruhen schien .
Allein von außen her schien sich alles zu vereinigen , um ihn zu demütigen , und niederzubeugen .
Da es Sommer wurde vereiste der Rektor auf einige Wochen , und er blieb nun während der Zeit allein in dessen Hause zurück , wo er die Zeit zu Hause ziemlich vergnügt zubrachte , indem er sich aus der Bibliothek des Rektors einiger Bücher zum Lesen bediente , und unter anderen auf Moses Mendelsohns Schriften , und die Literaturbriefe verfiel , woraus er sich damals zuerst Exzerhte machte .
-- Insbesondere zog er sich alles aus , was das Theater anging , denn diese Idee war jetzt schon die herrschende in seinem Kopfe , und gleichsam schon der Keim zu allen seinen künftigen Widerwärtigkeiten .
Durch das Deklamieren in Sekunda war sie zuerst lebhaft in ihm erwacht , und hatte die Phantasie des Predigens allmählich aus seinem Kopf verdrängt -- der Dialog auf dem Theater bekam mehr Reize für ihn , als der immerwährende Monolog auf der Kanzel -- Und dann konnte er auf dem Theater alles sein , wozu er in der wirklichen Welt nie Gelegenheit hatte -- und was er doch so oft zu sein wünschte -- großmütig , wohltätig , edel , standhaft , über alles Demütigende und Erniedrigende erhaben -- wie schmachtete er , diese Empfindungen , die ihm so natürlich zu sein schienen , und die er doch stets entbehren mußte , nun einmal durch ein kurzes täuschendes Spiel der Phantasie in sich wirklich zu machen -- Das war es ungefähr , was ihm die Idee vom Theater schon damals so reizend machte -- Er fand sich hier gleichsam mit allen seinen Empfindungen und Gesinnungen wider , welche in die wirkliche Welt nicht paßten --
Das Theater dünkte ihm eine natürlichere und angemeßenere Welt , als die wirkliche Welt , die ihn umgab .
Nun kamen die Sommerferien heran , und die Primaner führten , wie sie alle Jahr zu tun pflegten , öffentlich verschiedene Komödien auf -- Reiser konnte bei der allgemeinen Verachtung der er als ein sogenannter Famulus des Rektors ausgesetzt war , sich nicht die mindeste Hoffnung machen , eine Rolle zu erhalten ; ja er konnte nicht eimal von irgend einem der Mitschüler ein Billet erhalten , um zuzusehen .
Dies schlug ihn mehr , als alles bisherige nieder -- bis er auf den Einfall kam , mit zwei bis drei seiner Mitschüler , welche auch keine Rollen hatten , gleichsam eine Partie der Mißvergnügten auszumachen , und auf deren Wohnstube bei einer kleinen Anzahl Zuschauer , eine Komödie besonders aufzuführen . --
Hierzu wurde denn Philotas gewählt , wo Reiser einem anderen , der die Rolle des Philotas schlecht machte , sie mit Geld abkaufte , und also nun den Philotas spielte .
Nun war er in seinem Elemente -- Er konnte einen ganzen Abend lang , großmütig , standhaft , und edel sein , -- die Stunden , wo er sich zu dieser Rolle übte , und der Abend , wo er sie spielte , waren von den seligsten seines Lebens -- obgleich das Theater nur ein schlechtes Zimmer mit weißen Wänden , und das Parterre eine Kammer war , die daran stieß , und wo man , statt der ausgehobenen Türe , eine wollene Decke angebracht hatte , die zum Vorhang dienen mußte ; und obgleich das ganze Auditorium , nur aus dem Wirt des Hauses , der ein Töpfer war , nebst dessen Frau und seinen Gesellen bestand , und die ganze Erleuchtung nur mit Pfenniglichtern bewerkstelligt wurde , die auf kleinen an die Wand geklebten Stücken von nassen Leimen brannten . --
Zum Nachspiele wurde aus Millers historischmoralischen Schilderungen der sterbende Sokrates gegeben , worin Reiser nur einen Freund des Sokrates , und der eine von seinen Mitschülern Namens G... den sterbenden Sokrates selbst machte , welcher denn ordentlich den Giftbecher leerte , und zuletzt unter Zuckungen auf einem Bette , daß in die Stube gesetzt war , verschied .
-- Dies letzte Nachspiel war es nun , was Reisern nachher fast seine ganzen Schuljahre verbittert hat . --
Die anderen Primaner hatten nämlich erfahren , daß außer der ihrigen , von denen , welchen sie keine Rollen gegeben hatten , nach besonders eine Komödie aufgeführt worden sei -- sie sahen dies als einen Eingriff in ihre Rechte an , und als ob es gleichsam aus Trotz und Verachtung geschehen sei . --
Sie suchten sich für diese unverzeihliche Beleidigung , wofür sie es hielten , auf alle Weise zu rächen , und von der Zeit an durfte von den vieren , welche den Philotas und den sterbenden Sokrates aufgeführt hatten , keiner des Abends sicher auf der Straße gehen -- Diese viere waren von der Zeit an ein Gegenstand des Hasses , der Verachtung , und des Spottes , welcher Reisern gerade am meisten traf ; denn die anderen besuchten die Schulstunden selten -- Gegen Reisern hatte man schon vorher nichts als Verachtung bezeigt , die außer einer Art von unerklärbarer allgemeiner Antipathie gegen ihn , ihren Grund vorzüglich , in seiner erniedrigenden oder wenigstens für erniedrigend gehaltenen Situation , seiner blöden Miene , und seinem kurzem Rock haben mochte ; zu dieser Verachtung gesellte sich nun jetzt noch eine allgemeine Erbitterung gegen ihn , welche den Spott , womit man ihn überhäufte , so beißend , wie möglich zu machen suchte -- Und ob nun gleich nicht er , sondern G... die Rolle des sterbenden Sokrates in dem Nachspiel gemacht hatte ; so hieß er doch von nun an mit einem allgemeinen Spottnamen der sterbende Sokrates , und verlor diesen beinahe nicht eher , bis diese ganze Generation nach und nach die Schule verlassen hatte ; noch ein Jahr vorher , ehe er selbst die Schule verließ , war er eine lange Zeit kränklich gewesen , und gar nicht aus dem Hause gekommen , als er nun wieder einer Komödie zusehen wollte , welche die Primaner damals aufführten , ließ man ihn zwar herein , aber man sah ihn mit einem verächtlichen , höhnischen Blick an , und sagte :
da ist der sterbende Sokrates ; so daß Reiser gleich umkehrte , und traurig wieder zu Hause ging . --
Sonst pflegt doch immer bei den Menschen eine gewisse Gutmütigkeit zu herrschen , daß sie nur denjenigen zum Gegenstande ihres Spottes machen , der gewissermaßen unempfindlich dagegen ist ; Sehen sie hingegen , daß einer durch den Spott wirklich beleidigt und gekränkt wird , so treiben sie es wenigstens nicht unaufhörlich , sondern das Mitleid gewinnt doch endlich über die Spottsucht die Oberhand .
Aber das war bei Reisern der Fall nicht -- seine Gestalt verfiel von Tage zu Tage , er wankte nur noch wie ein Schatten umher ; es war ihm beinahe alles gleichgültig ; sein Mut war gelähmt -- wo er konnte , suchte er die Einsamkeit -- aber das alles erweckte auch kein Fünkchen Mitleid gegen ihn -- So sehr waren aller Gemüter mit Haß und Verachtung gegen ihn erfüllt .
-- Außer ihm war noch ein gewisser T. . . ein Gegenstand des Spottes , der zum Teil durch seine stotternde Sprache Veranlassung dazu gab . --
Dieser aber schüttete den Spott ab , wie das Tier mit der unempfindlichen Haut die Schläge . --
Indem man seiner spottet , so rechtfertigte man sich selbst damit , daß ihn der Spott nicht kränkte --
Bei Reisern nahm man darauf keine Rücksicht -- dies erbitterte endlich sein Herz , und machte ihn zum offenbaren Menschenfeinde .
Wo sollte nun wohl bei ihm ein rühmlicher Wetteifer , Fleiß und Lust zum eigentlichen Studieren herkommen ? --
Er wurde ja ganz aus der Reihe herausgedrängt -- er stand einsam und verlassen da -- und suchte nur das , wodurch er sich immer noch mehr absondern , und in sich selbst zurückziehen konnte ; alles , was er für sich allein auf der Stube arbeitete , laß , und dachte , machte ihm Vergnügen , aber zu allem was er in den Schulstunden mit anderen gemeinschaftlich arbeiten sollte , war er träge und verdrossen ; es war ihm immer , als ob er gar nicht dazu gehörte --
Das war nun die schöne Erfüllung seiner Träume , von langen Reihen von Bänken , auf denen die Schüler der Weisheit saßen , unter deren Zahl er sich mit Entzücken dachte , und mit denen er einst um den Preis zu wetteifern hoffte .
-- Der Rektor , bei dem er wohnte , kam nun auch von seiner Reise wieder zurück , und hatte seine Mutter mitgebracht , die seine Wirtschaft auf das genaueste einzurichten suchte . --
Es wurde Winter , und man dachte nicht daran , J Reisers Stube zu heizen -- er stand erst die bitterste Kälte aus , und glaubte , man würde doch endlich auch an ihn denken -- bis er hörte , daß er sich bei Tage in der Gesindestube mit aufhalten sollte . --
Nun fing er an , sich um seine äußeren Verhältnisse gar nicht mehr zu bekümmern -- Von seinen Lehrern sowohl als von seinen Mitschülern verachtet , und hintangesetzt -- und wegen seines immerwährenden Mißmuts und menscheuen Wesens bei niemand beliebt , gab er sich gleichsam selber in Rücksicht der menschlichen Gesellschaft auf -- und suchte sich nun vollends ganz in sich zurück zu ziehen .
Er ging zu einem Antiquarius und holte sich einen Roman , eine Komödie nach der anderen , und fing nun mit einer Art von Wut an , zu lesen -- Alles Geld , was er sich vom Munde absparen konnte , wandte er an , um Bücher zum lesen dafür zu leihen ; und da nach einiger Zeit der Antiquarius ihn kennen lernte , und ihm ohne jedesmalige bare Bezahlung Bücher zum Lesen liehe , so hatte sich Reiser , ehe er es merkte tief in Schulden hineingelesen , die so klein sie sein mochten , damals für ihn unerschwinglich waren .
Er suchte diese Schuld zum Teil durch den Verkaufe seiner angeschafften Schulbücher zu tilgen , die ihm der Antiquarius für ein Spottgeld abnahm -- und ihm dafür aufs neue Bücher zum Lesen lieh , bis er wieder in neue Schulden geriet , und denn wieder ängstlich auf ertilgung derselben denken mußte .
Das Lesen war ihm nun einmal so zum Bedürfnis geworden , wie es den Morgenländern das Opium sein mag , wodurch sie ihre Sinne in eine angenehme Belaubung bringen -- Wenn es ihm an einen Buche fehlte , so hätte er seinen Rock gegen den Kittel einea Bettlers vertauscht , um nur eins zu bekommen -- Diese Begierde wußte der Antiquarius wohl zu nutzen , der ihm nach und nach , alle seine Bücher ablockte , und sie oft in seiner Gegenwart sechsmal so teuer wieder verkaufte , als er sie ihm abgekauft hatte .
Es war unter diesen Umständen keinem zu verdenken , der Reisern für einen luderlichen aus der Art geschlagenen jungen Menschen hielt , welcher seine Schulbücher verkaufte , statt seine J 2 Kenntnisse zu vermehren , und den Unterricht seiner Lehrer zu nutzen , nichts als Romane und Komödien laß -- und dabei sein äußeres ganz vernachlässigte ; denn es war sehr natürlich , daß Reiser keine Lust zu seinem Körper hatte , da er doch niemanden in der Welt gefiel -- und dann wurde auch alle das Geld , was die Wäscherin und der Schneider hätten bekommen sollen , dem Bücher-Antiquarius hingebracht --
denn das Bedürfnis zu Lesen ging bei ihm Essen und Trinken und Kleidung vor , wie er denn wirklich eines Abends den Ugolino laß , nachdem er den ganzen Tag nicht das mindeste genossen hatte , denn seinen Freitisch hatte er über dem Lesen versäumt , und für das Geld , was zum Abendbrot bestimmt war , hatte er sich den Ugolino geliehen , und ein Licht gekauft , bei welchem er in seiner kalten Stube , in eine wollene Decke eingehüllt , die halbe Nacht aufsaß , und die Hungerscene recht lebhaft mit empfinden konnte . --
Indes waren diese Stunden noch die glücklichsten , welche er gleichsam aus dem Gewirre der übrigen herausriß -- seine Denkkraft war kommen wie berauscht -- er vergaß sich und die Welt -- Er laß auf die Weise nach der Reihe die zwölf oder vierzehn Bände durch , welche damals vom deutschen Theater heraus waren -- und weil er Yoricks empfindsame Reisen mit großem Vergnügen zwei bis dreimal durchgelesen hatte , so lieh er sich auch von dem Antiquarius die empfindsamen Reisen durch Deutschland von S. . . --
Nun hatte er damals schon angefangen , sich die Titel der Bücher , welche er gelesen hatte , in einem dazu bestimmten Buche niederzuschreiben , und sein Urteil dabei zu setzen , das mehrmals ziemlich richtig ausfiel ; wie er denn z. B. bei die empfindsame Reisen durch Deutschland von S. . . das Urteil schrieb : ein Exerzitium extemporaneum ; weil der Verfasser selbst gestand , daß er alle die verschiedenen Sachen in diesem dicken Buche bloß zusammengeschrieben habe , damit man urteilen solle , zu welchem Fach in der Schriftstellerei er sich wohl am besten schicken würde -- Der Verfasser dieser empfindsamen Reisen hat nachher dies Exerzitium extempe I 3 raneum durch seinen Spitzbart hinlänglich wieder gut gemacht . --
Aber nicht leicht hat Reisern bei irgend einem Buche die Zeit , welche er auf das Lesen desselben gewandt hatte , mehr gereut , als bei diesen empfindsamen Reisen -- So lernte er nun von selbst allmählich das Mittelmäßige und Schlechte von dem Guten immer besser unterscheiden . --
Bei allem aber , was er laß , war und blieb nun die Idee vom Theater immer bei ihm die herrschende -- in der dramatischen Welt lebte und webte er -- da vergoß er oft Tränen , indem er laß , und ließ sich wechselsweise bald in heftige , tobende Leidenschaft , des Zorns , der Wut und der Rache , und bald wieder in die sanften Empfindungen des großmütigen Verzeihens , des obsiegenden Wohlwollens , und des überströmenden Mitleids versetzen .
-- Seine ganze äußere Lage , und seine Verhältnisse in der wirklichen Welt waren ihm so verhaßt , daß er die Augen davor zuzuschließen suchte --
Der Rektor rief ihn im Hause bei seinem Namen , wie man einen Bedienten ruft ; und einmal mußte er einen seiner Mitschüler , der ein Sohn eines Freundes vom Rektor war , bei demselben zum Essen bitten ; und während , daß dieser des Abends bei dem Rektor speiste , mußte Reiser Wein holen , und in der Gesindestube sein , die gleich neben der Stube war , wo gespeist wurde , und wo er hören konnte , wie sein Mitschüler sich mit den Rektor unterhielt , während daß er bei der Magd in der Stube saß .
Der Rektor gab verschiedene Privatstunden -- wenn er nun etwa eine davon nicht halten konnte , so mußte Reiser bei seinen Mitschülern mit denen er doch auch an diesem Unterricht Teil nahm , herumgehen , und ihnen die Privatstunde absagen , welches den Übermut derselben gegen ihn noch vermehrte .
Diese Zurücksetzung hatte ihren guten Grund in seinem Betragen -- er war unteilnehmend an allem , was außer ihm vorging , und zu jedem Geschäft , was ihn aus seiner Ideenwelt herauszog , träge und verdrossen -- Was Wunder , da er an nichts Teil nahm , daß man auch J 4 wieder an ihm nicht Teil nahm , sondern ihn verachtete , hintansetzte und vergaß .
Allein man erwog nicht , daß eben dies Betragen , weswegen man ihn zurück setzte , selbst eine Folge von vorhergegangener Zurücksetzung war -- Diese Zurücksetzung , welche in einer Reihe von zufälligen Umständen gegründet war , hatte den Anfang zu seinem Betragen , und nicht sein Betragen , wie man glaubte , den Anfang zur Zurücksetzung gemacht .
Möchte dies alle Lehrer und Pädagogen aufmerksamer , und in ihren Urteilen über die Entwicklung der Charaktere junger Leute behutsamer machen , daß sie die Einwirkung unzähliger zufälliger Umstände mit in Anschlag brächten , und von diesen erst die genaueste Erkundigung einzuziehen suchten , ehe sie es wagten , durch ihr Urteil über das Schicksal eines Menschen zu entscheiden , bei dem es vielleicht nur eines aufmunternden Blicks bedurfte , um ihn in plötzlich umzuschaffen , weil nicht die Grundlage seines Charakters , sondern eine sonderbare Verkettung von Umständen an seinem schlecht in die Augen fallenden Betragen schuld war .
Anton Reisers Schicksal schien es nun einmal zu sein , Wohltaten zu seiner Qual zu empfangen -- Es war Wohltat , daß er ein Jahrlang bei der Frau F. . . im Hause war , und in welcher peinlichen und drückenden Lage brachte er dieses Jahr zu ! --
Es war Wohltat , daß er bei dem Rektor im Hause war , nur was für unzählige Demütigungen und Verachtung von seinen Mitschülern zog ihm dieser ihm so reizend geschilderte Aufenthalt zu ! --
Den äußeren Anschein nach konnte nun auch von Reisern niemand als schlecht urteilen -- und der Rektor sagte selbst zum Pastor M. . . es würde höchstens einmal ein Dorfschulmeister aus ihm werden .
-- Dies hielt der Pastor M. . . nachher Reisern wieder vor , und sein Mut würde durch dies Urteil des Rektors über ihn , dem er damals noch nicht viel Selbstgefühl entgegen setzen konnte , noch mehr niedergeschlagen .
Weil nun der Rektor sicher zu glauben schien , daß aus Reisern , doch nie etwas würde , so brauche I 5 te er ihn indes , wozu er noch zu brauchen war , nämlich zu allerlei kleinen Diensten , die er ihn in und außer dem Hause verrichten ließ -- und Reiser wurde nun im Grunde völlig wie ein Domestique betrachtet , ob er gleich ein Primaner hieß .
Einmal genoß er denn doch noch die Vorrechte eines Primaners , da er von dem Chorgelde , was er erhielt , seinen Teil zum Neujahrgeschenke für den Rektor mit hergab , und auch dem Aufzug mit Fackeln beiwohnte , da dem Direktor und dem Rektor , nach hergebrachter Weise zum Neujahr eine Musik gebracht , und ein Vivat gerufen wurde . --
Ob er gleich bei diesem Zuge der letzte oder einer der letzten in der Ordnung war , so erhob es doch seinen Mut außerordentlich wieder , da er sich ungeachtet der vielen Herabwürdigungen und Demütigungen , die er erfahren hatte , doch hier gleichsam wieder in Reihe und Glied mit den übrigen stehen sah , einen Degen , nebst einer Fackel tragen , und das Vivat mit rufen durfte .
Die Musik , die Zuschauer , die Erleuchtung von den Fackeln , die Anführer mit Federhüten und entblößten Degen -- das alles beseelte ihn wieder mit neuem Mnth , da er sich in diesem glänzenden Anfzuge mit befand -- Und da er am anderen Tage mit unter der Zahl der Primaner stand , und dem Recktor mit einer lateinischen Anrede an ihn , das Neujahrsgeschenk , wozu Reiser doch auch seinen Teil beigetragen hatte , auf einem silbernen Teller überreicht wurde ; so fühlte er sich einmal mit einigem Wohlgefallen wieder in der wirklichen Welt -- Er sah sich doch hier nicht ganz ausgeschlossen und verdrängt -- Allein wie sehr verbitterte ihm der Haß und Übermut seiner Mitschüler auch diese kleine Aufmunterung wieder ! --
Der Rektor bewirtete die Primaner , welche ihm das Geschenk gebracht hatten , mit Wein und Kuchen -- Diese tranken zu wiederholten malen seine Gesundheit , wobei sie denn am Ende , da ihnen der Wein in die Köpfe stieg , ziemlich laut wurden -- Reiser trank einige Gläser Wein , ohne schlimme Folgen zu besorgen -- allein die gänzliche Angewohnheit des Weintrinkens machte , daß ihn ein paar Gläser schon etwas berauschten ; nun legten es seine edeldenkenden Mitschüler darauf an , ihn gänzlich betrunken zu machen , welches ihnen teils durch List und teils durch Drohungan gelang , so daß Reiser allerlei Wirtes Zeug redete , und am Ende zu Bette gebracht werden mußte -- War nun Reiser vorher schon in dem Zutrauen und der Achtung aller derer , die ihn kannten , gesunken , so gab dieser Vorfall seinem guten Kredit , nun vollends den letzten Stoß -- Vorher war er schon ein träger , unordentlicher , und unfleißiger ; nun war er auch ein unmäßiger , und schlechter Mensch , weil er in dem Hause seines Lehrers , der zugleich sein Wohltäter war , durch sein unanständiges Betragen , zugleich das undankbarste Herz verraten hatte .
Alle diese Folgen sah Reiser dunkel voraus , da er am anderen Morgen erwachte , und indem er sich anzog , machte er sich schon auf Bitte und Entschuldigung bei dem Rektor wegen seines gestrigen Betragens gefaßt -- Er hatte seine Anrede recht gut ausstudiert , und versicherte unter anderen , daß er diesen Fle ken auf alle Weise wieder würde auszutilgen suchen , worauf ihm denn der Rektor eben nicht sehr tröstlich antworte , daß die nachteiligen Folgen von diesem Vorfall , wenn er bekannt würde , wohl schwerlich zu verhüten sein würden .
Der Rektor hatte darin sehr Recht -- denn der Vorfall wurde bald bekannt , und es hieß nun : wie !
der junge Mensch lebt von Wohltaten , selbst der Prinz wendet so viel an ihn , und da er in den Hause seines Lehrers , seines Wohltäters , der ihm Obdach gibt , gastfreundlich bewirtet wird , beträgt er sich so -- wie niederträchtig , wie undankbar !
Ungeachtet nun Reisern diese Folgen ahndeten , und er höchsttraurig darüber war , empfand er doch am anderen Tage , da er ins Chor kam , und seine Mitschüler über sein blasses und verwirrtes Ansehen , das er noch von dem gestrigen Rausche hatte , lachten , eine Art von sonderbarem Stolz , gleichsam als ob er durch das gestrige Betrinken eine gewisse Bravour bezeigt hätte , daß er sogar affektierte , als ob sein Taumel noch fortdauerte , um dadurch Aufmerksamkeit auf sich zu erregen -- Denn die Aufmerksamkeit der übrigen auf ihn , die diesmal mehr mit einer gewissen Art von Beifall als mit Spott verknüpft war schmeite ihm --
Auch betrachteten ihn die anderen so , wie man einen zu betrachten pflegt , der in denselben Fall ist , worin man selbst einmal war -- denn der Präfektus war fast immer Betrunken -- dies geheime Vergnügen , welches Reiser empfand , da es ihm zu gelingen schien , sich durch das Schlechte bemerkt zu machen , ist wohl die gefährlichste Klippe der Verführung , woran die meisten jungen Leute zu scheitern pflegen .
Indes wurde dieser Übermut bei Reisern sehr bald wieder gedämpft , da er die nachteiligen Folgen , welche ihm der Rektor prophezeit hatte , nun zu bald empfand -- allenthalben empfing man ihn mit kalten und verächtlichen Blicken -- er ließ daher die meisten Freitische einen nach dem anderen freiwillig fahren , und hungerte lieber , oder aß Salz und Brot -- ehe er sich diesen Blicken aussetzen wollte -- Bei dem einzigen Schuster S. . . ging er noch immer mit Vergnügen hin , denn hier wurde er nach wie vor mit freundlichen Blicken empfangen , und man ließ ihn hier nicht für sein widriges Schicksal büßea .
Er war damals weit entfernt , daß er sich gegen sich selbst hätte entschuldigen sollen -- vielmehr traute er dem Urteil so vieler Menschen mehr , als seinem eigenen Urteil über sich selbst , zu -- er klagte sich oft an , und machte sich die bittersten Vorwürfe , über seine Versäumnis im Studieren , über sein Lesen , und über sein Schulden machen beim Bücherantiquarius -- denn er war damals nicht im Stande , sich das alles als eine natürliche Folge , der engsten Verhältnisse , worin er sich befand , zu erklären -- In solcher Stimmung der Seele , wo er gegen sich selbst aufgebracht , und seine Phantasie noch durch ein Trauerspiel , das er eben gelesen hatte , erhitzt war , schrieb er einmal einen verzweiflungsvollen Brief an seinen Vater , worin er sich als den größten Verbrecher anklagte , und der mit unzähligen Gedankenstrichen angefüllt war , so daß sein Vater nicht wußte , was er aus dem Brief machen sollte , und für den Verstand des Verfassers im Ernst zu fürchten anfing -- der ganze Brief war im Grunde eine Rolle die Rei sehr spielte -- Er fand ein Vergnügen daran , sich selbst , wie es zuweilen die Helden in den Trauerspielen machen , mit der schwärzten Farben zu schildern , und dann recht Tragisch gegen sich selbst zu wüten .
Da er nun niemand auf der Welt und auch sich selbst nicht einmal zum Freunde hatte , was konnte wohl anders sein Bestreben sein , als sich , so viel und so oft wie möglich , selbst zu vergessen .
Der Bücherantiquarius blieb daher seine immerwährende Zuflucht , und ohne diesen würde er seinen Zustand schwerlich ertragen haben , den er sich nun in manchen Stunden nicht nur erträglich sondern sogar angenehm zu machen wußte , wenn er z. B. bei seinem Vetter dem Peruquenmacher , ein kleines , freilich eben nicht glänzendes Auditorium , um sich her versammeln , und dem mit aller Fülle des Ausdrucks und der Deklamation , die ihm nur möglich war , irgend eines seiner Lieblingstrauerspiele als Emilia Galotti , Ugolino , oder sonst etwas Tränenvolles , wie z. B. den Tod Abels von Gaßner , vorlesen konnte , wobei er denn ein unbeschreibliches Entzücken empfand , wenn er rund um sich her jedes Auge in Tränen erblickte , und darin den Beweis laß , daß ihm sein Endzweck , durch die Sache , die er vorlaße , zu rühren , gelungen war . --
Überhaupt brachte er die vergnügtesten Stunden seines damaligen Lebens entweder für sich allein , oder in diesem Zirkel , bei seinem Vetter , dem Peruquenmacher zu , wo er gleichsam die Herrschaft über die Geister führen , und sich zum Mittelpunkte ihrer Aufmerksamkeit machen konnte --
denn hier wurde er gehört -- hier konnte er vorlesen , deklamieren , erzählen , und lehren -- und er ließ sich wirklich mit den Handwerksgesellen , welche dort zusammen kamen , zuweilen in Dispute über sehr wichtige Materien , als über das Wesen der Seele , die Entstehung der Dinge , den Weltgeist und dergleichen , ein , wodurch er die Köpfe verwirrte -- indem er die Aufmerksamkeit dieser Leute auf Dinge lenkte , an die sie in ihrem Leben nicht gedacht hatten --
Mit einem Schneidergesellen insbesondere , der anfing , an seinen Grübeleien Gefallen zu finden , unterhielt er sich oft Stundenlang -- über die K Möglichkeit der Entstehung einer Welt aus Nichts -- endlich gerieten Sie auf das Emanationssystem , und auf den Spinozismus -- Gott und die Welt war eins -- Wenn dergleichen Materien nicht in die Schulterminologie eingehüllt werden , so sind sie für jeden Kopf , und sogar Kindern verständlich --
Bei einem solchen Gespräch pflegte Reiser aller seiner Sorgen und seines Kummers zu vergessen -- das , was ihn drückte , war denn viel zu klein für ihn , um seine Aufmerksamkeit zu beschäftigen -- er fühlte sich aus dem umringenden Zusammenhänge der Dinge , worin er sich auf Erden befand , auf eine Zeitlang hinaus versetzt , und genoß die Vorrechte der Geisterwelt -- wer ihm dann zuerst in den Wurf kam , mit dem suchte er sich in philosophische Gespräche einzulassen , und seine Denkkraft an ihm zu üben -- Indes wandte er doch seine Schulstunden ungeachtet der wenigen Aufmunterung , die er darin genoß , und der vielen Demütigungen , die er dann erduldete , nicht ganz unnütz an -- er schrieb bei dem Direktor neue Geschichte Dogmatik und Logik ; und bei dem Rektor die Erdbeschreibung , und einige Übersetzungen lateinischer Autoren , nach , wodurch er denn doch immer , neben seiner Komödien und Romanlektüre , noch einige wissenschaftliche Kenntnisse auffing , und ohne es eigentlich mit Absicht zu treiben , auch im Lateinischen noch einige Fortschritte machte .
-- Das war aber alles nur , wie zufällig -- manche Stunde versäumte er dazwischen , und manche Stunde laß er , während daß der Livius oder ein ander lateinischer Autor gelesen wurde , für sich heimlich einen Roman , weil er doch einmal wußte , daß der Direktor ihn nicht mehr aufzurufen würdigte .
-- Denn wenn er in den Schulstunden mitten unter einer Anzahl von sechs bis siebzig Menschen saß , von denen fast kein einziger sein Freund war , und denen er fast insgesamt ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung war , so mußte ihm dies natürlicher Weise beständig eine sehr ängstliche Lage sein , wo er sich am meisten gedrungrn fühlte , sich in eine andere Welt zu träumen , in der er sich besser befand . --
K 2 Aber auch diese Zuflucht mißgönnte man ihm -- und indem er gerade einmal noch ehe die Stunde anging , in einem Bande vom Theater der Deutschen laß , so nahm man , während daß der Rektor hereintrat , ihm das Buch weg , und legte es dem Rektor aufs Katheder hin , dem man nun auf Befragen , woher das Buch käme ? sagte , daß Reiser während den Stunden darin zu lesen pflegte --
Ein Blick voll wegwerfender Verachtung auf Reisern , war die Antwort des Rektors auf diese Anklage .
-- Und dieser Blick kostete Reisern wiederum einen Teil des wenigen Selbstzutrauens , das ihm noch übrig geblieben war ; denn weit entfernt , sich gegen sich selbst zu entschuldigen , glaubte er vielmehr diese Verachtung wirklich zu verdienen , und hielt sich in dem Augenblick eben so sehr für ein weggeworfenes verächtliches Wesen , als ihn der Rektor nur immer dafür halten konnte .
-- Er sank durch diesen Vorfall noch tiefer als vorher in der Verachtung des Rektors -- sein äußerer Zustand verschlimmerte sich daher von Tage zu Tage ; und da er einmal vergessen hatte , einen Auftrag , den ihm ein Fremder an den Reck Tor gegeben hatte , auszurichten , so bediente sich der Rektor zum erstenmal des harten Ausdrucks gegen ihn , diese Vernachlässigung eines ihm gegebenen Auftrags sei ja eine wahre Dummheit .
Dieser Ausdruck brachte auf eine lange Zeit eine Art von wirklicher Seelenlähmung in ihm hervor -- Dieser Ausdruck , und das dummer Knabe , vom Inspektor auf dem Seminarium , und das ich meine ihn ja nicht , von dem Kaufmann S. . . hat er nie vergessen können -- sie haben sich in alle seine Gedanken verwebt , und ihm lange nachher oft alle Gegenwart des Geistes in Augenblicken benommen , wo er sie am meisten bedurfte .
Ein Freund des Rektors , welcher einige Wochen bei ihm logierte , und für den Reiser auch einige Gänge tun mußte , gab der Magd und ihm , bei seinem Abschiede ein Trinkgeld -- Reiser hatte eine sonderbare Empfindung dabei , da er das Geld nahm ; es war ihm , als ob er einen Stich erhielte , wo sich der erste Schmerz plötzlich wieder verlor -- denn er dachte an den Bücherantiquarius , und in dem Augenblick war alles übrige vergessen -- für das Geld konnte er mehr K 3 wie zwanzig Bücher lesen -- sein beleidigter Stolz hatte sich noch zum letztenmal empört , und war nun besiegt -- Reiser nahm von diesem Augenblick an keine Rücksicht mehr auf sich selbst -- und warf sich in Ansehung seiner äußeren Verhältnisse völlig weg .
-- Seine Kleidung , die immer schlechter und unordentlicher wurde , kümmerte ihn nicht mehr .
In der Schule , im Chore , und wenn er auf der Straße ging , dachte er sich mitten unter Menschen , wie allein -- denn keiner war , der sich um ihn bekümmerte oder an ihm Teil nahm -- Sein eigenes äußeres Schicksal war ihm daher , so verächtlich so niedrig , und so unbedeutend geworden , daß er aus sich selbst nichts mehr machte -- an dem Schicksal einer Miß Sara Sampson , einer Julie und Romeos hingegen konnte er den lebhaftesten Anteil nehmen ; damit trug er sich oft den ganzen Tag herum .
Nichts war ihm unausstehlicher , als , wenn die Lehrstunden geendigt waren , sich beim Herausgehen unter dem Schwarm seiner insgesamt besser gekleideten , munteren und lebhafteren Mitschüler , zu befinden , von denen ihn keiner mehr an seiner Seite zu gehen würdigte -- wie oft wünschte er sich in solchen Augenblicken endlich von der Last seines Körpers befreit , und durch einen plötzlichen Tod aus diesem quälenden Zusammenhänge gerissen zu werden !
Wenn er denn etwa durch ein Gäßchen , wo niemand neben ihm ging , sich den Blicken seiner Mitschüler entziehen konnte , wie froh eilte er dann in die einsamsten und abgelegensten Gegenden der Stadt , um seinen trauernden Gedanken eine Weile ungestört nachzuhängen .
Der größte Dummkopf unter allen , welcher auch allgemein verachtet war -- gesellte sich zuweilen zu ihm , und Reiser nahm seine Gesellschaft mit Freuden an ; denn es war doch ein Mensch , der sich zu ihm gesellte -- wenn er dann mit diesem ging -- so hörte er oft hie und da einen seiner Mitschüler zu dem anderen sagen : par nobile Fratrum !
( ein edles Paar Gebrüder ! ) Mit diesem wirklichen Dummkopf wurde er also zugleich in eine Klasse geworfen -- Da nun der Rektor auch gesagt hatte , es würde höchstens ein Dorfschulmeister aus ihm werden , so kam dies alles zusammen , um Rei K 4 fern sein Selbstzutrauen gänzlich zu rauben , so daß er nun fast alles Zutrauen zu seinen eigenen Verstandeskräften fahren ließ , und oft im Ernst anfing , sich selbst für den Dummkopf zu halten , wofür er so allgemein erkannt wurde -- Dieser Gedanke artete denn aber auch zugleich in eine Art von Bitterkeit gegen den Zusammenhäng der Dinge aus -- er verwünschte in den Augenblicken die Welt und sich -- weil er sich als ein höchst verächtliches Wesen zum Spott der Welt geschaffen glaubte .
-- Wie weit das Vorurteil seiner Mitschüler gegen ihn , und ihre Überzeugung von seiner angeborenen Dummheit ging , davon mag folgendes zum Beweise dienen :
-- Der Rektor hatte ihm erlaubt , die Privatstunden welche er in seinem Hause gab , mit zu besuchen --
Unter anderen gab nun der Rektor auch eine englische Stunde -- Reiser hatte das Buch nicht , worin gelesen wurde , und konnte sich also zu Hause nicht üben , er mußte mit einem anderen einsehen ; demungeachtet begriff er in ein paar Wochen von bloßem Zuhören die meisten Regeln der englischen Aussprache ; und da ihn der Reck Tor zufälliger Weise auch einmal mit zum Lesen aufrief , so laß er weit fertiger und besser , als alle übrigen , die das Buch gehabt , und sich zu Hause geübt hatten . --
Er hörte also einmal in der Nebenstube über sich sprechen , der Reiser müsse doch so dumm nicht sein , weil er die schwere englische Aussprache sobald gefaßt hätte ; um nun diese günstige Meinung von ihm ja nicht aufkommen zu lassen , behauptete sogleich einer geradezu , Reisers Vater sei ein geborener Engländer , und er erinnre sich also der englischen Aussprache noch von seiner Kindheit her ; die übrigen waren sehr bereit , dies zu glauben -- und so war denn Reiser aufs neue zu seiner vorigen Niedrigkeit in den Augen seiner Mitschüler herabgesunken .
Man sieht aus diesem allen , daß die Achtung , worin ein junger Mensch bei seinen Mitschülern steht , eine äußerst wichtige Sache bei seiner Bildung und Erziehung ist , worauf man bei öffentlichen Erziehungsanstalten bisher noch zu wenig Aufmerksamkeit gewandt hat . --
Was Reisern damals aus seinem Zustande retten , und auf einmal zu einem fleißigen und K 5 ordentlichen jungen Menschen hätte umschaffen können , wäre eine einzige wohlangewandte Bemühung seiner Lehrer gewesen , ihn bei seinen Mitschülern wieder in Achtung zu setzen .
Und das hätten sie durch eine etwas nähere Prüfung seiner Fähigkeiten , und ein wenig mehr Aufmerksamkeit auf ihn sehr leicht bewirken können .
-- So verstrich nun dieser Winter für ihn höchst traurig -- seine kleine Ökonomie war gänzlich zerrüttet -- er hatte sich in seinem schlechten Aufzug nicht getraut , sein monatliches Geld von dem Prinz zu hohlen .
-- Bei dem Bücherantiquarius , war er für seine Einkünfte tief in Schulden geraten -- auch hatte er seine übrigen notwendigsten Bedürfnisse an Wäsche und Schuhen , von den wenigen Groschen , die er wöchentlich einnahm , und dem Chorgelde , das er erhielt , nicht bestreiten können , da er überdem dem Bücherantiquarius alles zubrachte .
Unter diesen Umständen reiste er in den Osterferien zu seinen Eltern , wo er den Degen ansteckte , mit dem er sich im Philotas erstochen hatte -- und nun seinen Brüdern täglich diese Rolle noch einmal vorspielte -- sich auch von sei einem verlaßenen Zustande , und der Verachtung worin er bei seinen Mitschülern stand , hier nicht das mindeste merken ließ , sondern vielmehr das Angenehme , und Ehrbringende , was er von sich sagen konnte , auf alle Weise heraussuchte -- daß ihm nämlich der Rektor auf einer Reise zur Gesellschaft mitgenommen , daß er in einer Privatstunde englisch bei ihm gelernt habe , daß er bei dem Aufzug mit Fackeln und Musik gewesen , und wie es dabei zugegangen sei u. s. w. Auch für sich selbst suchte er so viel wie möglich alles Unangenehme und Niederdrückende aus seinen Ideen zu verbannen --
denn er wollte hier nun einmal in einem vorteilhaften , ehrenvollen Lichte erscheinen , und sein Zustand sollte anderen beneidenswert vorkommen , so wenig beneidenswert er auch war -- In dieser angenehmen Selbsttäuschung brachte er hier einige Tage sehr vergnügt zu -- allein so leicht wie ihm diesmal geworden war , da er aus den Toren von H. . . gekommen , und er die vier Türme der Stadt allmählich aus dem Gesicht verloren hatte , so schwer wurde ihm ums Herz , da er sich diesen Toren wieder näherte , und die vier Türme wieder vor ihm da lagen , die ihm gleichsam die großen Stifte schienen , welche den Fleck seiner mannigfaltigen Leiden bezeichneten .
Insbesondere war ihm der hohe , Eckige , und oben nur mit einer kleinen Spitze versehene , Marktturm , da er ihn jetzt wieder sah , ein fürchterlicher Anblick -- dicht neben diesem war die Schule -- das Spotten , Grinsen und Auszischen seiner Mitschüler stand mit diesem Turm auf einmal wieder vor seiner Seele da -- das große Zieferblatt an diesem Turm war er gewohnt zum Augenmerk zu nehmen , so oft er die Schule besuchte , um zu sehen , ob er auch zu spät käme -- Dieser Turm war so wie die alte Marktkirche , ganz in gotischer Bauart , von roten Backsteinen aufgebaut , die vor Alter schon schwärzlich geworden waren . --
In eben dieser Gegend war es , wo den Missetätern ihr Todesurteil vorgelesen wurde -- kurz dieser Marktkirchturm , brachte alles in Reisers Phantasie zusammen , was nur fähig war , ihn plötzlich niederzuschlagen und in eine tiefe Schwermut zu versetzen . --
Er hätte in der Tat nicht schwermütiger sein können , als er es jetzt war , wenn er auch alles das vorausgewußt hätte , was ihm von nun an in diesem Orte seines Aufenthalts noch begegnen sollte --
War aber schon vor einem Jahre , da er auch von seinen Eltern nach H... wieder zurückkehrte seine Traurigkeit nicht ohne Grund gewesen , so war sie es diesmal noch viel weniger , da ihm einer der schrecklichsten Zeitpunkte in seinem Leben bevorstand .-- Ohne indes eine Ahndungskraft bei ihm vorauszusetzen , ließ sich seine Schwermut sehr natürlich erklären -- wenn man erwägt , daß seine Einbildungskraft jeden engsten Kreis , seines eigentlichen wirklichen Daseins , worin er nun wieder versetzt werden sollte , schnell durchlief : die Schule , das Chor , das Haus des Rektors -- in diesen Kreisen , wovon ihn immer einer noch mehr wie der andere einengte und alle seine Strebekraft hemmte , sollte er sich von nun an wieder drehen -- -- wie gern hätte er in diesem Augenblick seinen ganzen Aufenthalt in H... gegen den dunkelsten Kerker vertauscht , der gewiß weit weniger Fürchterliches und Schreckli Ges für ihn gehabt haben würde , als alle diese ängstliche Lagen .
Indem er nun so in schwermütige Gedanken vertieft einherging , und schon nahe am Tore war , schoß auf einmal wie ein Blitz , ein Gedanke durch seine Seele , der alles aufhellte , und wodurch sich ihm alles wieder in einem schöneren Lichte malte -- er erinnerte sich , daß er schon zu Hause bei seinen Eltern gehört hatte , es wäre eine Schauspielergesellschaft nach H. . . gekommen , die den Sommer über dort spielen würde .
-- Dies war die damalige Ackermansche Truppe , welche fast alle die jetzt hin und her zerstreuten Zierden aller Bühnen Deutschlands , in sich vereinigte . --
Mit schnellen Schritten eilte nun Reiser der Stadt zu , die ihm vorher so verhaßt , und nun plötzlich wider über alles lieb geworden war -- ohne erst zu Hause zu gehen , ( es war noch Vormittag , denn er war die Nacht an einem Orte unterwegs geblieben , von welchem er nur noch ein paar Meilen bis nach H. . . zu gehen hatte ) eilte er sogleich nach dem Schlosse , wo er wußte , daß der Komödienzettel mit dem Personenverzeichnis angeschlagen war , und laß , daß man an demselben Abend noch Emilia Galotti aufführen würde .
-- Sein Herz schlug ihm vor Freuden , da er dies laß ; gerade dies Stück , bei dem er schon so manche Träne geweint , und so oft bis ins Innerste der Seele erschüttert worden , und was bis jetzt nur noch in seiner Phantasie aufgeführt war , nun auf dem Schauplatz mit aller möglichen Täuschung wirklich dargestellt zu sehen . --
Er wäre den Abend nicht aus der Komödie geblieben , hätte es auch kosten mögen , was es gewollt hätte -- da er nun zu Hause kam , so wurde die Stube , worin er schlief , geweißt , und etwas darin gebaut , wodurch sie ganz unbewohnbar gemacht wurde -- Dieser mißtröstende Anblick des Orts seines eigentlichsten Aufenthalts , trieb ihn noch mehr aus der wirklichen ihn umgebenden Welt hinaus -- er schmachtete nach der Stunde , wann das Schauspiel anheben würde .
Wohin er kam konnte er seine Freude nicht verbergen ; da er bei der Frau F. . . in die Stube trat , war sein erstes Wort die Komödie , welches sie ihm lange nachher vorwarf -- und eben so war es , da er zu seinem Vetter dem Peruquenmacher kam , wo er nun einige Nächte auf dem Boden schlafen mußte , während das seine Stube in dem Hause des Rektors erst wieder bewohnbar gemacht wurde . --
Folgende Rollenbesetzung mag ungefähr einen Begriff davon geben , was Emilia Galotti , als das erste Schauspiel , das er in dieser Stimmung der Seele sah , für eine Wirkung auf ihn müsse gehabt haben .
Die verstorbene Charlotte Ackermann spielte die Emilia ; ihre Schwester die Orsina , und die Reinecken spielte die Klaudia ; Borgers den Odoardo ; Brockmann den Prinzen ; Reinike den Apptani , und Dauer den Conti -- Wo mag Emilia Galotti wohl je wieder so aufgeführt worden sein ?
Wie mächtig mußte Reisers Seele hier eingreifen ; da sie nun die Welt ihrer Phantasie gewissermaßen wirklich gemacht fand ! --
Er dachte von nun an keinen anderen Gedanken mehr , als das Theater , und schien nun für alle seine Aussichten und Hoffnungen im Leben gänzlich verloren zu sein . --
Was er nun irgend an Geld auftreiben konnte , das wurde zur Komödie angewandt , aus welcher er nun keinen Abend mehr wegbleiben konnte , wenn er es sich auch am Munde abdarben sollte -- Um der Komödie Willen aß er oft den ganzen Tag über nichts , wie etwas Salz und Brot , wenn ihm nicht etwa die alte Mutter des Rektors Essen auf seine Stube schickte , welches sie doch zuweilen aus Mitleid tat . --
Und weil es nun Sommer war , so genoß er auch der Wonne , auf seiner Stube wieder allein sein zu können -- welches ihm mehr wert war , als die köstlichsten Speisen , die er hätte genießen können .
-- Die Aussicht auf die Komödie am Abend tröstete ihn , wenn er am Morgen zu einem traurigen Tage erwachte , wie er denn nie anders erwachte -- Denn die Verachtung und der Spott seiner Mitschüler , und das dadurch erregte Gefühl seiner eigenen Unwürdigkeit , welches er allenthalben mit sich umher trug , dauerte noch immer fort , und verbitterte ihm sein Le L ben -- Und alles was er tat , um sich hiervon los zureißen , war im Grunde eine bloße Betäubung seines inneren Schmerzes , und keine Heilung desselben -- sie erwachte mit jedem Tage wieder , und während daß seine Phantasie ihm manche Stunde lang ein täuschendes Blendwerk vormalte , verwünschte er doch im Grunde sein Dasein . --
Die häufigen Tränen welche er oft beim Buche , und im Schauspeilhause vergoß , flossen im Grunde eben sowohl über sein eigenes Schicksal , als über das Schicksal der Person , an denen er Teil nahm , er fand sich immer auf eine nähere oder entferntere Weise in dem unschuldig Unterdrückten , in dem Unzufriedenen mit sich und der Welt , in dem Schwermutsvollen , und dem Selbsthasser wieder .
-- Die drückende Hitze im Sommer trieb ihn oft aus seiner Stube in die Küche , oder in den Hof hinunter , wo er sich auf einen Holzhaufen setzte , und laß , und oft sein Gesicht verbergen mußte , wenn etwa jemand hereintrat , und er mit rotgeweinten Augen da saß . --
Das war wieder the Joy of Griff , die Wonne der Tränen , die ihm von Kindheit auf im vollen Maße zu Teil wurde , wenn er auch alle übrigen Freuden des Lebens entbehren mußte .
Dies ging so weit , daß er selbst bei komischen Stücken , wenn sie nur einige rührende Szenen enthielten , als z. B. bei der Jagd , mehr weinte , als lachte -- was aber auch ein solches Stück damals für Wirkung tun mußte , kann man wieder aus der Rollenbesetzung schließen , indem die Charlotte Ackermann Röschen , ihre Schwester Hannchen , die Reinecken die Mutter ; Schröder den Töffel ; Reineke den Vater ; und Dauer den Christel spielte .
-- Wenn irgend äußere Umstände fähig waren , jemanden einen entschiedenen Geschmack am Theater beizubringen , so war es , Reisers Vorliebe und seine besonderen Verhältnisse abgerechnet , der Zufall , welcher diese vortrefflichen Schauspieler damals in eine Truppe zusammen brachte .
Man kann nun leicht schließen , wie Romeo und Julie , die Rache von Young , die Oper Klarissa , Eugenie , welche Stücke auf Reisern L 2 den stärksten Eindruck machten , gegeben werden mußten . --
Dies hatte nun auch so sehr alle seine Gedanken eingenommen , daß er alle Morgen den Komödienzettel gleichsam verschlang , und alles auch das der Anfang ist präzise um halb sechs Uhr , und der Schauplatz ist auf dem königlichen Schloßtheater gewissenhaft mitlaße --
Und für einen vorzüglichen Schauspieler , den er etwa auf der Straße erblicke , fast so viel Ehrfurcht , wie ehemals gegen den Pastor P. . . in B. . . empfand .
-- Alles , was zum Theater gehörte , war ihm ehrwürdig , und er hätte viel darum gegeben , nur mit dem Lichtputzer Bekanntschaft zu haben . --
Vor zwei Jahren hatte er schon den Herkules auf dem Oita , den Grafen von Olsbach , und die Pamela spielen sehen , wo Eckhof , Böck , Günther , Hänsel , Brandes nebst seiner Frau , und die Seilerin die vorzüglichsten Rollen spielten , und schon von jener Zeit her , schwebten die rührendsten Szenen aus diesen Stücken noch seinem Gedächtnis vor , worunter Günther als Herkules , Böck als Graf von Olsbach , und die Brandes als Pamela , fast jeden Tag wechselsweise einmal in seine Gedanken gekommen waren -- und mit diesen Personen hatte er denn auch bis zur Ankunft der Ackermanschen Truppen die Stücke , die er laß , in seiner Phantasie größtenteils aufgeführt .
-- Es fügte sich also gerade bei ihm , daß er , wenn jene mit diesen zusammengenommen wurden , nun alle die vorzüglichsten Schauspieler Deutschlands zu sehen bekommen hatte , die jetzt in ganz Deutschland zerstreut sind .
-- Dadurch bildete sich ein Ideal von der Schauspielkunst in ihm , das nachher nirgends befriedigt wurde , und ihm doch weder Tag noch Nacht Ruhe ließ , sondern ihn unaufhörlich umhertrieb , und sein Leben unstet und flüchtig machte .
-- Weil er ehemals Böck , und jetzt Brockmannen die Rollen spielen sah , wobei am meisten geweint wurde , so waren diese auch seine Lieblingsakteurs , mit denen sich seine Gedanken immer am meisten beschäftigten . -- L 3 Allein bei alle den glänzenden Szenen , die aus der Theaterwelt beständig seiner Phantasie vorschwebten , wurden seine äußeren Umstände von Tage zu Tage schlechter --
Er verlor immer mehr in der Achtung der Menschen , geriet immer tiefer in Unordnung -- seine Kleidung und Wäsche wurden immer schlechter , so daß er am Ende Scheu trug , sich vor Menschen sehen zu lassen -- er versäumte daher so oft er konnte , die Schule und das Chor , und hungerte lieber , als daß er irgend einen seiner noch übrigen Freitische besucht hätte , ausgenommen den bei dem Schuster S. . . , wo er auch unter diesen mißlichen Umständen noch immer gastfreundlich empfangen , und mit der liebreichsten Art bewirtet wurde . --
Da nun dem Rektor endlich Reisers inkorrigible Unordnung , und insbesondere das immerwährende späte zu Hause kommen aus der Komödie unausstehlich wurde , so sagte er ihm das Logis auf . --
Reiser hörte die Ankündigung des Rektors daß er zu Johanni ausziehen , und sich während der Zeit nach einem anderen Logis umsehen sollte , mit gänzlicher Verhärtung und Stillschweigen an -- und da er wieder allein war , vergoß er nicht einmal eine Träne mehr über sein Schicksal -- denn er war sich selbst so gleichgültig geworden , und hatte so wenige Achtung gegen sich und Mitleid mit sich selber übrig behalten , daß wenn seine Achtung und Empfindung des Mitleids , und alle die Leidenschaften , wovon sein Herz überströmte , nicht auf Personen aus einer erdichteten Welt gefallen wären , sie notwendig sich alle gegen ihn selbst kehren , und sein eigenes Wesen hätten zerstören müssen .
Da ihm der Rektor das Logis aufgesagt hatte , so zog er daraus die sichere Folge , daß nun auch der Pastor M... sich nicht weiter um ihn bekümmern würde , und so war es nun auf einmal mit allen seinen Aussichten und Hoffnungen vorbei . --
Die paar Wochen , welche er noch bei dem Rektor blieb , brachte er nach seiner gewöhnlichen Weise zu -- dann zog er bei einem Bürstenbinder ins Haus ; wo nun das Vierteljahr , welches er von Johanni bis Michaelis zubrachte , das schrecklichste und fürchterlichste in seinem ganzen L 4 Leben war , und wo er oft am Rande der Verzweiflung stand .
-- Da er nun hier eingezogen war , so fühlte er sich auf einmal aus alle den Verbindungen , die er vormals so ängstlich gesucht hatte , herausgesetzt , und zwar wie er selbst glaubte , durch seine eigene Schuld herausgesetzt -- Der Prinz , der Pastor M. . . , der Rektor , alle die Personen von denen sein künftiges Schicksal abhing , waren nun nichts mehr für ihn , und damit verschwanden zugleich alle seine Aussichten .
-- Was Wunder , daß sich durch diese Veranlassung eine neue Phantasie in seiner Seele bildete , in der er von nun an Trost suchte , und sie Tag und Nacht mit sich umher trug , und welche ihn von der gänzlichen Verzweiflung rettete .
Er hatte nämlich damals unter anderen die Operette Klarissa oder das unbekannte Dienstmädchen gesehen , und nicht leicht hätte in seiner Lage irgend ein Stück mehr Interesse für ihn haben können , als dieses . --
Der vorzüglichste Umstand , wodurch dies große Interesse bei ihm bewirkt wurde , war , daß ein junger Edelmann sich entschließt , ein Bauer zu werden , und auch wirklich seinen Entschluß ausführt -- Reiser nahm auf die Veranlassung , die ihn dazu brachte , weil er nämlich das unbekannte Dienstmädchen liebte , u. s. w. gar keine Rücksicht sondern es war ihm eine so reizende Idee , daß ein gebildeter junger Mensch sich entschließt , ein Bauer zu werden , und nun ein so feiner , höflicher , und gesitteter Bauer ist , daß er sich unter allen übrigen auszeichnet .
-- In dem Stande , worin sich Reiser begeben , war er nun einmal ganz zurück gesetzt , und es schien ihm unmöglich , sich je wieder darin empor zu arbeiten -- Allein für einen Bauer hatte doch sein Geist einmal weit mehr Bildung erhalten , als es sonst zu diesem Stande bedarf -- als Bauer war er über seinen Stand erhoben , als ein junger Mensch , der sich dem Studieren widmet , und Aussichten haben soll , fand er sich weit unter seinen Stand erniedrigt --
Die Idee , ein Bauer zu werden , wurde also nun bei ihm die herrschende , und verdrängte eine Zeitlang alles übrige . --
Nun besuchte damals eines Bauernsohn Namens M. . . die Schule , dem er im lateinischen L 5 zuweilen einigen Unterricht gegeben hatte -- diesem sagte er seinen Entschluß ein Bauer zu werden , worauf ihm dann derselbe eine detaillierte Schilderung von den eigentlichen Arbeiten eines Bauerknechtes machte , die Reisern seine schönen Träume wohl hätten verderben können , wenn seine Phantasie nicht zu stark dagegen angewirkt und nur immer die angenehmen Bilder mit Gewalt neben einander gestellt hätte .
-- Sonst kommt auch selbst in der Operette Klarissa schon eine Stelle vor , wo ein Bauer den jungen Edelmann , der ihm sein Gütchen abkaufen will , von seinem Vorsatz abrät -- und am Ende eine sehr ausdrucksvolle Arie singt , wie der Landmann gerade im besten Arbeiten begriffen ist , und auf einmal steigt ein Gewitter auf Die Blitze schießen Die Donner rollen Und der Landmann geht verdrießlich Verdrießlich zu Hause . --
das verdrießlich insbesondere war durch die Musik so ausgedrückt , daß die ganze Zauberei der Phantasie schon durch dies einzige Wort hätte zerstört werden können -- welches gleichsam das Gegengift aller Empfindsamkeit und hohen Schwärmerei ist , womit das schmerzhafte , das schreckliche , das niederbeugende , das in Zorn setzende , aber nur das verdrießlichmachende nicht wohl bestehen kann . --
Aber dies Gegengift half bei Reisern nicht -- er ging ganze Tage einsam für sich umher , und dachte darauf , wie er es machen wollte , ein Bauer zu werden , ohne doch in der Tat einen Schritt dazu zu tun -- vielmehr fing er an , sich in diesen süßen Schwärmereien selbst wieder zu gefallen -- wenn er sich nun als Bauer dachte , so glaubte er sich doch zu etwas besseren bestimmt zu sein , und empfand über sein Schicksal wieder eine Art von tröstendem Mitleid mit sich selber .
So lange ihn nun diese Phantasie noch empor hielt , war er nur schwermutsvoll und traurig , aber nicht eigentlich verdrießlich über seinen Zustand -- Selbst seine Entbehrung der notwendigsten Bedürfnisse machte ihm noch eine Art von Vergnügen , indem er nun beinahe glaubte , daß er für sein Verschulden doch zu sehr büßen müsse , und also noch die süße Empfindung des Mitleids mit sich selber behielt -- Endlich aber nachdem er zum erstenmal drei Tage , ohne zu essen zugebracht , und sich den ganzen Tag über mit Tee hingehalten hatte , drang der Hunger mit Ungestüm auf ihn ein , und das ganze schöne Gebäude seiner Phantasie stürzte fürchterlich zusammen -- er rannte mit dem Kopfe gegen die Wand , wütete und tobte , und war der Verzweiflung nahe , da sein Freund Philipp Reiser , den er so lange vernachlässigt hatte , zu ihm hereintrat , und seine Armut , die freilich auch nur in einigen Groschen bestand mit ihm teilte .
-- Indes war dies nur ein sehr geringes Palliativ -- denn Philipp Reiser befand sich damals in nicht viel besseren Umständen als Anton Reiser .
Dieser geriet nun wirklich in einen fortdauernden fürchterlichen Zustand , der der Verzweiflung nahe war . --
So wie sein Körper immer weniger Nahrung erhielt , verlosch allmählich seine ihn sonst noch belebende Phantasie , und sein Mitleid über sich selbst verwandelte sich in Haß und Bitterkeit gegen sein eigenes Wesen , ehe er nun einen Schritt zu der Verbesserung seines Zustandes getan , oder sich an irgend einen Menschen nur mit dem Schein einer Bitte gewandt hätte , unterwarf er sich lieber freiwillig mit der beispiellosesten Hartnäckigkeit dem schrecklichsten Elende .
-- Denn mehrere Wochen hindurch aß er wirklich die Woche eigentlich nur einen einzigen Tag , wenn er zum Schuster S. . . ging , und die übrigen Tage fastete er , und hielt mit nichts als Tee oder warmen Wasser , das einzige was er noch umsonst erhalten konnte , sein Leben hin --
Mit einer Art von schrecklichem Wohlbehagen , sah er seinen Körper eben so gleichgültig wie seine Kleider , von Tage zu Tage abfallen .
Wenn er auf der Straße ging , und die Leute mit Fingern auf ihn zeigten , und seine Mitschüler ihn verspotteten , und hinter ihm her zischten , und Gassenbuben ihre Anmerkungen über ihn machten -- so bis er die Zähne zusammen , und stimmte innerlich in das Hohngelächter mit ein , daß er hinter sich her erschallen hörte .
-- Wenn er aber dann wieder zum Schuster S. . . kam , so vergaß er doch alles wieder -- Hier fand er Menschen , hier wurde auf einige Augen blicke sein Herz erweicht , mit der Sättigung seines Körpers erhielt seine Denkkraft und seine Phantasie wieder einen neuen Schwung , und mit dem Schuster S. . kam wieder ein philosophisches Gespräch auf die Bahn , welches oft Stundenlang dauerte , und wobei Reiser wieder an zu atmen fing , und sein Geist wieder Luft schöpfte -- dann sprach er oft in der Hitze des Disputierens über einen Gegenstand so heiter und unbefangen , als ob nichts in der Welt ihn niedergedrückt hätte -- Von seinem Zustande ließ er sich nicht eine Silbe merken .
-- Selbst bei seinem Vetter , dem Perückenmacher beklagte er sich nie , wenn er zu ihm kam , und ging weg , sobald er sah , daß gegessen werden sollte -- aber eines Kunstgriffes bediente er sich doch , wodurch es ihm gelang sich vom Verhungern zu retten .
-- Er bat sich nämlich für einen Hund , den er bei sich zu Hause zu haben vorgab , von seinem Vetter die harte Kruste von dem Teich aus , worin das Haar zu den Peruquen gebacken wurde , und diese Kruste , nebst dem Freitische bei dem Schuster S... , und dem warmen Wasser das er trank , war es nun , womit er sich hinhielt .
Wenn nun sein Körper einige Nahrung erhalten hatte , so fühlte er ordentlich zuweilen wieder etwas Mut in sich -- Er hatte noch einen alten Virgil , den ihm der Bücherantiquarius nicht hatte abkaufen wollen ; in diesem fing er an die Eklogen zu lesen --
Aus einer Wochenschrift die Abendstunden die er sich von Philipp Reisern geliehen hatte , fing er an ein Gedicht der Gottesleugner , das ihm vorzüglich gefiel , und einige prosaische Aufsätze auswendig zu lernen -- Aber mit dem bald wieder fühlbaren Mangel an Nahrung erlosch auch dieser aufglimmende Mut wieder , und dann war die Tätigkeit seiner Seele wie gelähmt --
Um sich vor den Zustande des tödlichen Aufhörens aller Wirksamkeit zu retten , mußte er zu kindischen Spielen wieder seine Zuflucht nehmen , in so fern dieselben auf Zerstörung hinaus liefen . --
Er machte sich nämlich eine große Sammlung von Kirsch- und Pflaumenkernen , setzte sich damit auf den Boden , und stellte sie in Schlacht Ordnung gegen einander -- die schönsten darunter zeichnete er durch Buchstaben und Figuren , die er mit Tinte darauf malte , von den übrigen aus , und machte sie zu Heerführern -- dann nahm er einen Hammer , und stellte mit zugemachten Augen das blinde Verhängnis vor , indem er den Hammer bald hie , bald dorthin fallen ließ -- wenn er dann die Augen wieder eröffnete , so sah er mit einem geheimen Wohlgefallen , die schreckliche Verwüstung , wie hier ein Held und dort einer mitten unter dem unrühmlichen Haufen gefallen war , und zerschmettert da lag -- dann wog er das Schicksal der beiden Heere gegen einander ab , und zählte von beiden die Gebliebenen .
So beschäftigte er sich oft den halben Tag -- und seine ohnmächtige kindische Rache am Schicksal , das ihn zerstörte , schuf sich auf die Art eine Welt , die er wieder nach Gefallen zerstören konnte -- so kindisch und lächerlich dieses Spiel jedem Zuschauer würde geschienen haben , so war es doch im Grunde das fürchterlichste Resultat der höchsten Verzweiflung die vielleicht nur je durch die Verkettung der Dinge bei einem Sterblichen bewirkt wurde . --
Man sieht aber auch hieraus , wie nahe damals sein Zustand an Raserei grenzte -- und doch war seine Gemütslage wieder erträglich , sobald er sich nur erst wieder für seine Kirsch und Pflaumensteine interessieren konnte -- ehe er aber auch das konnte ; wenn er sich hinsetzte und mit der Feder Züge aufs Papier malte oder mit dem Messer auf dem Tisch kritzelte -- das waren die schrecklichsten Momente , wo sein Dasein wie eine unerträgliche Last auf ihm lag , wo es ihm nicht Schmerz und Traurigkeit , sondern Verdruß verursachte-- wo er es oft mit einem fürchterlichen Schauder , der ihn antrat , von sich abzuschütteln suchte .
-- Seine Freundschaft mit Philipp Reisern konnte ihm damals nicht zu statt kommen , weil es jenem nicht viel besser ging -- und so wie zwei Wanderer , die zusammen in einer brennenden Wüste in Gefahr vor Durst zu verschmachten sind , indem sie forteilen , eben nicht im Stande sind viel zu reden , und sich wechselsweise Trost einzusprechen , so war dies auch jetzt der Fall zwischen Anton Reisern und Philipp Reisern. M Allein eben der G... , welcher einst den sterbenden Sokrates gespielt hatte , wovon Reiser noch immer den Spottnamen trug , entschloß sich bei ihm zu ziehen , und war auch gerade in denselben Umständen , wie Reiser , nur mit dem Unterschiede , daß er durch wirkliche Liederlichkeit hinein geraten war -- an ihm fand also Reiser nun einen würdigen Stubengesellschafter .
Es dauerte nicht lange , so zog auch der Bauernsohn Namens M... zu diesen beiden , der ebenfalls in keinen besseren Umständen war -- Es fand sich also hier eine Stubengesellschaft von drei der ärmsten Menschen zusammen , die vielleicht nur je zwischen vier Wänden eingeschlossen waren . --
Mancher Tag ging hin ; wo sie sich alle drei mit nichts als gekochtem Wasser und etwas Brot hinhielten -- Indes hatten G... und M... doch noch einige Freitische . --
G... war im Grunde ein Mensch von Kopf , der sehr gut sprach , und gegen den Reiser sonst immer viel Achtung empfunden hatte . --
Einmal bekamen beide auch noch eine Anwandlung von Fleiß , und fingen an , Virgils Ek logen zusammen zu lesen , wobei sie wirklich das reinste Vergnügen genossen , nachdem sie eine Ekloge mit vieler Mühe für sich selbst herausgebracht hatten , und nun ein jeder eine Übersetzung davon niederschrieb -- allein dies konnte natürlicher Weise unter den Umständen nicht lange dauern -- sobald ein jeder seine Lage wieder lebhaft empfand , so war aller Mut und Lust zum Studieren verschwunden .
-- In Ansehung der Kleidung war es mit G... und M... eben so schlecht , wie mit Reisern bestellt -- sie machten daher , wenn sie ausgingen , zusammen einen Aufzug , der das wahre Bild der Liederlichkeit und Unordnung schien , so daß man mit Fingern auf sie wies , weswegen sie denn auch immer auf Abwegen und durch enge Straßen aus der Stadt zu kommen suchten , wenn sie spazieren gingen .
Diese drei Leute führten nun auch völlig ein Leben , wie es mit ihren Zustande übereinstimmte -- sie blieben oft den ganzen Tag im Bette liegen -- oft saßen sie alle drei zusammen , den Kopf auf die Hand gestützt , und dachten über ihr Schicksal nach ; oft treten sie sich , und M 2 ein jeder ließ für sich seiner Laune freien Lauf -- Reiser ging auf den Boden , und musterte seine Kirschkerne -- M... ging bei sein großes Brot , daß er sorgfältig in einem Koffer verschlossen hatte -- und G... lag auf dem Bette , und machte Projekte , die denn nicht die besten waren , wie sich bald nachher zeigte -- zwei Bücher laß doch Reiser damals , weil er kein anders hatte , zu verschiedenemal durch , indem er auf dem Boden zwischen seinen Kirschkernen saß -- das waren die Werke des Philosophen von Sanssouci , und Popen Werke nach Duschens Übersetzung , die er beide von dem Schuster S... geliehen bekommen hatte .
Diese drei Leute gingen nun auch eines Tages zusammen in einer schönen Gegend von H... längst dem Fluß spazieren , in welchem sich eine kleine Insel erhob , die ganz voller Kirschbäume stand .
-- Für unsere drei Abenteurer waren diese Kirschbäume , die alle voll der schönsten Kirschen saßen , ein so einladender Anblick , daß sie sich des Wunsches nicht enthalten konnten , auf diese Insel versetzt zu sein , um sich an dieser herrlichen Frucht nach Gefallen sättigen zu können .
Nun fügte es sich gerade , daß eine Menge Floßholz den Fluß hinunter geschwommen kam ; welches sich in der Verengung des Flusses zwischen dem Ufer und der Insel zuweilen stopfte , und eine anscheinende Brücke bis zu der Insel bildete .
Unter G. . .s Anführung , der in der Ausführung solcher Projekte schon geübt zu sein schien , wurde nun ein Wagestück unternommen , das leicht allen drei das Leben hätte kosten können -- Sie zogen nämlich da , wo das Floßholz sich gestopft hatte , ein Stück nach dem anderen aus dem Wasser heraus , und trugen es alle auf einen Fleck , wo ihnen die Passage über den Fluß zwischen dem Ufer und der Insel am engsten zu sein schien , und nun bauten sie die Brücke , worüber sie gehen wollten erst vor sich her , indem sie ein Stück Holz nach dem anderen vor sich hin warfen , um festen Fuß zu fassen -- natürlicher Weise mußtr diese Brücke unter ihnen zu sinken anfangen , und sie kamen sehr tief ins Wasser , ehe sie kaum die Hälfte ihres gefährli M 3 chen Weges zurückgelegt hatten -- endlich landeten sie denn doch , obgleich mit Lebensgefahr auf der Insel an -- Und nun bemächtigte sich aller dreier auf einmal ein Geist des Raubes und der Gier , daß ein jeder über einen Kirschbaum herfiel , und ihn mit einer Art von Wut plünderte --
Es war , als hätte man eine Festung mit Sturm erobert ; man wollte für die überstandene Gefahr , die man sich selbst gemacht hatte , Ersatz haben , und dafür belohnt sein .
Da man sich satt gegessen hatte , wurden alle Taschen , Schnupftücher , Halstücher , Hüte , und was nur etwas in sich fassen konnte , von Kirschen voll gestopft -- und in der Dämmerung wurde der Rückweg über die gefährliche Brücke , wovon indes schon ein Teil weggeschwommen war , wieder angetreten , und ungeachtet der Beute womit die Abenteurer belastet waren , mehr durch Zufall als Geschicklichkeit oder Behutsamkeit , glücklich geendet .
-- Reiser fand sich zu dergleichen Expeditionen gar nicht übel aufgelegt -- dies dünkte ihm eigentlich nicht Diebstahl , sondern nur gleichsam eine Streiferei in ein feindliches Gebiet zu sein , die , wegen des Muts der dabei erfordert wird , immer noch eine ehrenvolle Sache ist . --
Und wer weiß zu welchen Wagestücken von der Art , er noch unter G. . .s Anführung mit geschritten wäre , wenn er länger bei diesem gewohnt hätte .
-- Allein dieser G. . . gehörte denn doch im Grunde mehr zu den abgefeimten , als zu den herzhaften Parteigängern -- denn er war niederträchtig genug , selbst seine beiden Stubengesellschafter und Gefährten , Reisern und M. . . zu bestehlen , indem er ihnen ein paar Bücher und andere Sachen , die sie noch hatten nahm , und heimlich verkaufte , wie sich nachher zeigte . --
Kurz dieser G. . . mit dem Reiser so nahe zusammen wohnte , war im Grunde ein abgefeimter Spitzbube , der , wenn er den ganzen Tag über auf dem Bette lag , und nachsann , auf nichts als Bübereien dachte , die er ausführen wollte -- und der demungeachtet von Tugend und Moralität sprechen konnte , wie ein Buch , wodurch er Reisern zuerst eine solche Ehrfurcht gegen ihn eingeflößt hatte. M 4 Denn von der Tugend hatte er sich damals ein sonderbares Ideal gemacht , welches seine Phantasie so sehr einnahm , daß ihn oft schon der Nahme Tugend bis zu Tränen rührte . --
Er dachte sich aber unter diesem Namen etwas viel zu Allgemeines , und dachte dies allgemeine viel zu dunkel , und mit zu weniger Anwendung auf besondere Vorfälle , als daß es ihm je hätte gelingen können , auch den aufrichtigsten Vorsatz tugendhaft zu sein , auszuführen --
denn er dachte immer nicht daran , wo er nun eigentlich anfangen sollte .
-- Einmal kam er an einem schönen Abend von einem einsamen Spaziergange zu Hause , und der Anblick der Natur hatte sein Herz zu sanften Empfindungen geschmolzen , daß er viele Tränen vergoß , und sich in der Stille gelobte , von nun an der Tugend ewig getreu zu sein ! --
und da er diesen Vorsatz fest gefast hatte , so empfand er ein so himmlisches Vergnügen über diesen Entschluß , daß es ihm nun fast unmöglich schien je von diesem beglückenden Vorsatze wieder abzu welchen -- Mit diesen Gedanken schlief er ein -- und da er am Morgen erwachte , so war es wieder so leer in seinem Herzen ; die Aussicht auf den Tag war so trübe und öde ; alle seine äußeren Verhältnisse waren so unwiederbringlich zerrüttet ; ein unüberwindlicher Lebensüberdruß trat an die Stelle der gestrigen Empfindung , womit er einschlief -- er suchte sich vor sich selbst zu retten , und machte den Anfang , tugendhaft zu sein , damit daß er auf den Boden ging , und in Schlachtordnung gestellte Kirschkerne zerschmetterte .
-- Dies nun zu unterlassen , und statt dessen etwa in dem alten Virgil , den er noch hatte , eine Ekloge zu lesen , wäre der eigentliche Anfang zur Ausübung der Tugend gewesen -- aber auf diesen zu geringfügig scheinenden Fall hatte er sich bei seinem heldenmütigen Entschluss nicht gefaßt gemacht .
Wenn man die Begriffe der Menschen von der Tugend prüfen wollte , so würden sie vielleicht bei den meisten auf eben solche dunkle und verworrene Vorstellungen herauslaufen -- und man sieht wenigstens hieraus , wie unnütz es ist , im Allgemeinen , und ohne Anwendung auf ganz besondere und oft geringfügig scheinende Fälle , von Tugend zu predigen .
-- Reiser wunderte sich damals oft selbst darüber , wie seine plötzliche Anwandlung von Tugendeifer sobald verrauchen , und gar keine Spur zurück lassen konnte -- aber er erwog nicht , daß Selbstachtung , welche sich damals bei ihm nur noch auf die Achtung anderer Menschen gründen konnte , die Basis der Tugend ist -- und daß ohne diese das schönste Gebäude seiner Phantasie sehr bald wieder zusammenstürzen mußte .
So oft es ihm während dieses Zustandes noch möglich gewesen war , einige Groschen zusammenzubringen , so oft hatte er sie auch in die Komödie getragen -- da aber die Schauspielergesellschaft in der Mitte des Sommers wieder wegzog , so war nun eine Wiese vor dem neuen Tore nicht nur das Ziel seiner Spaziergänge , sondern fast sein immerwährender Aufenthalt -- er lagerte sich hier zuweilen den ganzen Tag auf einen Fleck im Sonnenschein hin , oder ging längst dem Flusse spazieren , und freute sich vorzüglich , wenn er in der heißen Mittagsstunde keinen Menschen um sich her erblickte . --
Indem er hier ganze Tage lang seinen melancholischen Gedanken nachhing , nährte sich seine Einbildungskraft unvermerkt mit großen Bildern , welche sich erst ein Jahr nachher allmählich zu entwickeln anfingen .
-- Sein Lebensüberdruß aber wurde dabei aufs äußerste getrieben -- oft stand er bei diesen Spaziergängen am Ufer der Leine , lehnte sich in die reißende Flut hinüber , indes die wunderbare Begier zu atmen mit der Verzweiflung kämpfte , und mit schrecklicher Gewalt seinen über hängenden Körper wieder zurückbog .
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- Rechtsinhaber*in
- Bildungsroman Projekt
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Korpus. Anton Reiser: Teil 2. Anton Reiser: Teil 2. Bildungsromankorpus. Bildungsroman Projekt. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0jc.0