1. Kapitel Peter Michels Vater war Schuhmacher in einem Dorfe .
Er hatte träumerische Augen , die sich nie mit Bewußtsein dauernd auf eine Stelle konzentrieren konnten , und einen Geist , der fortwährend grübelte , ohne an etwas Festem zu haften .
Er dachte über die abenteuerlichsten Fragen nach , ohne aber je zu einem Resultate oder zur Annäherung an ein solches zu gelangen .
Er hatte eine unbegrenzte Hochachtung für andere ; vor allem für seine Frau , welche gar keinen Maßstab an sich legte , sondern sich unbesehen für etwas ganz Bedeutendes hielt . -
Beobachtung fehlte Herrn Michel beinahe gänzlich ; doch hatte er ein gutes Auge für die Füße anderer :
er Maß einem jeden sogleich in Gedanken Stiefel an .
Einmal ereignete es sich , daß eine fremde , durchreisende Dame ihm ihr Schuhwerk zur Ausbesserung bringen ließ , kleine Stiefelchen aus feinem gelbem Leder .
Er , der gewöhnt war , pfundschwere Ware unter den Händen zu haben , fühlte sich einer so zierlichen Aufgabe nicht gewachsen .
Da war es aber seine Frau , die ihre ganze Energie einsetzte , der fremden Dame zu zeigen , daß es auch in ihrem Dorfe Leute gäbe , " welche mit der Welt in Verbindung ständen " .
Sie fuhr persönlich in das nächste größere Städtchen , kaufte feines Leder , feine Stifte , Glanzwichse , und die Schuhe wurden repariert .
Diese Dame machte auf den kleinen Peter einen großen Eindruck .
Wenn er später etwas von Prinzessinnen las , dachte er stets sogleich an gelbe Schuhe , eine Ideenverbindung , die sich erst in seinem weiteren Leben verlor .
Sein Vater war sehr beliebt im Dörfchen .
Er verdarb es mit niemandem , hörte jeden an und stimmte jedem bei , in aufrichtiger Bewunderung der fremden Größe .
Er glaubte alles , was man ihm sagte .
Der Schulze und der Pastor erprobten zuweilen die Tragfähigkeit dieses Glaubens , indem sie sich gegenseitig überboten in den plumpsten Lügenbauten .
Herr Michel übernahm alles mit der größten Ausdauer und sagte nur manchmal :
" Aber nein !
Wirklich ?
Was doch alles in der Welt vorgeht ! "
Dann steckte er die Enden seines spärlichen Schnurrbartes in die Mundwinkel und sah nachdenklich vor sich hin .
Paterchen schwieg dann erschüttert mit , blickte auf seinen Vater - und dessen gesicherte Unangreiflichkeit gab ihm selbst eine innere Festigkeit und Ruhe :
Er fühlte sich geborgen .
Solche Szenen ereigneten sich übrigens niemals im Beisein der Mutter oder des Großvaters .
Frau Michel besaß einen sicheren Instinkt , Betrügereien zu durchschauen , nachdem sie sich im ersten Augenblick hatte verblüffen lassen .
Und der Großvater - Frau Michels Vater - genoß bei dem Pastor und dem Schulzen noch dieselbe Ehrfurcht wie vor Jahren , als er den Rohrstock über ihnen schwang .
Die Erziehung des Kindes Peter lag fast ausschließlich in den Händen der Mutter .
Herr Michel war ein reines Kind , wo es sich um Lebensfragen handelte .
- Eine Eigenschaft war beiden Eltern ihrem Sohne gegenüber gemeinsam : die der vollständigen Ehrlichkeit .
Frau Michel log bloß manchmal heimlich ein wenig , wenn sie genau wußte , daß es niemand merken konnte , und wenn sie einen nicht schlimmen Zweck damit verband .
Herr Michel , welcher keine Zwecke kannte , log nie .
So wuchs das Kind im felsenfesten Zutrauen auf die Welt heran .
Mit aller natürlichen , hausbackenen Aufgewecktheit verband Frau Michel aber eine Eigenschaft , die ihr oft schadete : ihre verwundbare Stelle war die Eitelkeit .
Durch Schmeicheln konnte man alles von ihr erlangen .
Merkte sie dann aber einmal , daß man sie ausgebeutet hatte , so ging ihr Temperament vollkommen mit ihr durch .
In ihrer Kleidung war sie etwas auffallend und nicht sehr geschmackvoll .
Das eigentliche Zartgefühl ging ihr ab , und auch von Gemüt hatte sie soviel wie nichts .
Peter , der in beidem mehr dem Vater nachschlug , fand in ihm eine verwandtere Natur und schloß sich ihm mehr an als seiner Mutter .
Einen guten Vermittler zwischen beiden Eltern bildete der Großvater .
Er war , der Familientradition folgend , Lehrer geworden , und dies war der ihm ureigenste Beruf .
Er mußte ein Gebiet haben , wo er herrschen konnte .
Peter zog er unbefangen den anderen Schülern vor , und als ihm einmal der Dorfschulze , dessen Sohn die Schule ebenfalls besuchte , gelinde Vorstellungen darüber machte , brauste er heftig auf und erklärte , das wäre doch sein Recht !
Dieses Gefühl eigener Machtvollkommenheit lag in der Familie .
Er hatte es von seinem Vater , es ging zum Teil auf seine Tochter über und von dieser auf ihren Sohn Peter , bei dem es sich aber in unschuldigerer , fast gutmütig-komischer Form äußeren sollte .
Der Großvater hatte viel Einfluß auf Frau Michel .
Dieselbe Ansicht , von ihrem Manne ausgesprochen , schalt sie dumm und von Unwissenheit zeugend , im Munde des Großvaters war sie das Produkt jahrelanger , reifer Forschung .
Übrigens kamen bei ihrer Beurteilung der Menschen rein äußerliche Dinge stark in Betracht ; wenn ihr Vater mit seinem kraftvollen , schallenden Organ eine Meinung aussprach , so klang diese von vornherein ganz unumstößlich , während die schwache , zögernde Stimme ihres Mannes dessen eigenen Behauptungen auch den letzten Rest einer Möglichkeit raubte .
Peter empfand in solchen Momenten zwiespältig .
Er hatte Sinn für alles Mächtige ; in seinem Großvater sah er ein höheres Wesen , einen Giganten ; aber für seinen Vater empfand er ein unbewußtes , zärtliches Mitleid ; er sah in ihm seine eigene schwache Natur , und ihn befiel eine dunkle Beklommenheit vor der Welt und seinen einstigen Schicksalen in ihr .
Solche Stimmungen überschlichen ihn , wenn der Großvater zur Feierabendstunde herüberkam , wenn der Lärm draußen allmählich einschlief , die Dunkelheit dichter und dichter wurde , das Gespräch schließlich ganz verstummte und alle nur noch unbewußt auf jenen kleinen , auf des Großvaters Pfeife liegenden rotglühenden Kreis starrten , der trübe im Grenzenlosen zu schweben schien .
In solchen Augenblicken kam ihnen wohl allen die Schwere des Daseins deutlicher zum Bewußtsein .
Wenn dann der Großvater nach Hause ging , so mußte ihn Peter mit einer kleinen Handlaterne begleiten .
- Sie boten einen sonderbaren Anblick , diese beiden :
Peter voran , die Stirn gefaltet , während seine Augen die dämmernde Finsternis zu durchdringen suchten ; hinter ihm die hohe , hagere Gestalt des Großvaters , der in solcher Beleuchtung noch älter und verwitterter erschien .
Gesprochen wurde auf diesen nächtlichen Wanderungen kaum ein Wort .
Peter mußte auch alle Sinne anstrengen , auf den gewundenen und holperigen Pfaden stets richtig vorwärts zu kommen .
Das Bewußtsein , daß sich sein Großvater so völlig seiner Führung anvertraute , erfüllte ihn mit Stolz und Eifer .
Unter der Türe gab ihm dann der alte Mann die glatte , harte Hand und sagte liebevoll :
" Nun gute Nacht , mein Junge ! " -
Es wäre ihm wohl schwer geworden , seinem Enkel auf dessen Heimfahrten je zu folgen .
Peter wartete gerade noch den Augenblick ab , wo sich die Tür hinter seinem Großvater schloß , dann schoß er blindlings in die Finsternis hinein , die Augen weit geöffnet , ohne das Geringste zu sehen .
Die Lampe behielt er krampfhaft in der Hand , und wenn er zu Boden fiel oder ein paar Stufen hinunterkollerte , streckte er sie schnell empor , um sie vor dem Zerschmettertwerden zu bewahren .
Dann schoß er wie ein Feuerschwärmer weiter , bis er schließlich atemlos ins Haus hineinstürzte und die Tür dem etwa folgenden Gespenste vor der Nase zuwarf .
Der Türmer aber , der von seiner Höhe herab das kleine Licht in seinen tollen Zickzacksprüngen auf dem Grunde der Finsternis verfolgte , bis er es plötzlich nicht mehr sah , schüttelte den Kopf , murmelte ein Gebet und bekreuzte sich .
Das Michelsche Heim bestand aus drei Stuben , einer Küche und einer kleinen Mansardenkammer , welche Peter gehörte .
Frau Michel bewahrte überall einen hausbackenen , aber nicht unfreundlichen Geschmack .
Einige kleinere Möbel stammten aus der Familie ihres Mannes , was man ihrer Dürftigkeit sofort ansah .
Unter ihnen der Spiegel , welchen seine Mutter sehr hochgehalten hatte und der auch in seinen Augen schön und reich war .
In der Schlafstube standen grün angestrichene , buntgeblümte alte Möbel ; als Hauptstück das große , breite Ehebett , mit einem runden , gemalten Blumenstrauß .
Nach diesem gruppierte Peter stets die Blumen , die er auf den Wiesen pflückte .
Das Gärtchen bildete den Stolz des Herrn Michel .
Er hatte viel Sinn für Blumen und hübsche Anordnung ; auch einen kleinen Springbrunnen hatte er angelegt , der aber kein Wasser spie , ohne daß man recht wußte , wo der Fehler lag ; auch eine kleine Geißblattlaube gab es dort , in deren Nähe sich ein hölzerner Verschlag befand - Herrn Michel ein Dorn im Auge ; aber es ließ sich durchaus nicht anders einrichten .
Peter stand oft nachdenklich an seinem Kammerfenster , sah unverwandt hinaus auf die blauen Hügel und glaubte , da hinten sei_es nun aus mit der Welt .
Dann wurde sein Blick immer verlorener , bis mit einem Male ein Lächeln über sein Gesicht ging , wenn dort am Zaune im Garten sein Vater stand und ihm freundlich winkte herunterzukommen .
Dann polterte er eilends die schmale Holztreppe hinab .
Die beiden verstanden sich ausgezeichnet und schienen auch im Alter gar nicht so entfernt voneinander .
Herrn Michels kindliche Natur fand in Peter geeigneten Boden zu ihrer völligen Entfaltung , und Peter wiederum hatte bei aller Kindlichkeit ein Stück von der Gesetztheit seiner Mutter .
Er war wohl der einzige Mensch , der seinen Vater wirklich kannte .
Sie waren gegenseitige Vertraute .
Seine vielen Fragen beantwortete Herr Michel nach bestem Wissen .
So erkundigte sich Peter , ob wohl die Sterne drei Häuser hoch über der Erde wären , und er meinte lächelnd und mit sagenhaftem Ton : " Nein ! Hundert Meilen ! "
Oft wußte er überhaupt keine Antwort zu geben und wurde dann verlegen wie vor einem Erwachsenen .
Peter blickte dann nachdenklich in die Ferne und dachte :
Man kann es also nicht wissen .
Oder aber er erfand selbst eine Antwort , die seinem Vater meist einleuchtete , obwohl er dunkel fühlte , daß doch wohl nicht alles ganz beim Rechten war .
Im Beisein anderer führten sie solche Gespräche niemals , beide hielt alsdann eine Scheu zurück .
Frau Michel entging dies intime Verhältnis zwischen Vater und Sohn natürlich nicht ; sie hätte gern Teil daran genommen , aber sie wußte nicht , wie sie das machen sollte .
Sie war wohl liebevoll gegen ihren Sohn , aber es fehlte ihr die Weichheit .
Sie wollte ihn zu einem möglichst guten , tüchtigen Menschen machen und glaubte dies am besten dadurch zu erreichen , daß sie ihn streng erzog , ihm gegenüber stets nur Dinge sagte , die eine Nutzanwendung hatten und den Wert der Arbeit einschärften .
Derartige Reden verfehlten nun ihre Wirkung durchaus nicht , aber Peter zog sich unwillkürlich mehr von seiner Mutter zurück und suchte lieber die Gesellschaft seines Vaters , in der er sich wohler fühlte .
Jeder wußte , daß er dem anderen notwendig war .
Blieb Herr Michel auf Spaziergängen einmal stehen und sah in die Ferne , so blickte Peter erst seinen Vater an und sah dann ebenfalls in die Ferne .
Machten sie Rast im Grase und veränderte der eine seinen Platz , so rückte der andere nach , wie Spatzen auf den Dächern tun .
Der dritte im Bunde war Fanny , der Hund , ein gelbes Tier mit Teckelbeinen und biederen , treuen Augen .
Übrigens war es ein Männchen .
So lagerten alle drei einmal einmütig an einem Waldesrande , als Fanny plötzlich leise knurrte und fortgesetzt nach einer Richtung schnupperte .
Die beiden anderen bemerkten anfangs nichts , bald aber entdeckten sie am Horizont etwas Rotes , das sich rotierend in der Luft bewegte , wie eine Windmühle .
Als es näher kam , sahen sie etwas Langes , Hellgelbes darunter , und plötzlich sagte Herr Michel ängstlich :
" Ist das nicht Tante Olga ? "
- Sie war es wirklich .
In der rechten Hand drehte sie einen großen , rotwollenen Schirm , bald im Kreis , bald auf und nieder .
Sie lachte für sich , bewegte die Lippen und schien nichts um sich herum zu sehen .
Plötzlich blieb sie stehen , lauschte zu einem Baumwipfel empor und winkte einen Gruß hinauf .
Mit einem Male aber tat sie einen Sprung und lag im Grase .
Peter lachte laut auf .
Jetzt erst bemerkte sie die beiden .
" Au ! " sagte sie und rieb sich ihr Bein .
Dann streckte sie ihnen die Hand entgegen und blickte ihren Bruder geistesabwesend an .
Man half ihr auf ; sie sah nachdenklich auf ihren roten Schirm , nahm ihn unter den Arm , steckte die Hände in ihre Kleidertaschen , öffnete den Mund zum Niesen , schloß ihn aber sogleich wieder und sagte : " Also allons ! " -
Tante Olga war eine etwas jüngere Schwester von Herrn Michel .
Von ihrer frühesten Kindheit an hatte sie ein sonderbares Wesen an den Tag gelegt .
Sie war scheu , unstet , verschlossen und oft heimtückisch gewesen .
Es erfolgten zuweilen leidenschaftliche Ausbrüche gegenüber Personen , deren sie tags zuvor kaum gedacht hatte und die sie am nächsten Tag auch wieder vergaß .
Zum Lernen war sie absolut untauglich gewesen .
Nur in Handarbeiten hatte sie ein besonderes Geschick gezeigt .
- Sie wurde später schwärmerisch religiös , legte sich selbst erdachte Strafen für begangene Sünden auf , trug sich einfach und absonderlich , hatte am Halse ein schwarzes Kreuzchen hängen und verliebte sich plötzlich tätlich in ihren Geistlichen .
Dieser zeigte ihr das Sündhafte ihres Begehrens , pries Gott und begab sich schnurstracks zu ihrer Mutter , welche weinte und weder aus noch ein wußte .
Fräulein Michel aber machte das ganze Christentum für die Abweisung ihrer Liebe verantwortlich , erkannte , daß es ruchlos sei , und wurde eine aufrichtige Atheistin .
Aber auch dieser Zustand währte nicht lange .
Sie erschien wieder bei ihrem Pfarrer und erklärte , fortan die Kirche wieder besuchen zu wollen , wenn es ihr erlaubt sei , dort ab und zu etwas aus ihrem atheistischen Büchlein vorzulesen .
Jetzt begann man an ihrem Verstande zu zweifeln .
Sie aber mischte von nun an alles durcheinander und wußte bald selbst nicht mehr aus noch ein zu finden .
Sie wurde magerer , ihr Blick unstet , ihre Bewegungen eckig und fahrig , ihre Gedankengänge noch sonderbarer als früher ; sie nahm eine Burschikosität des Wesens an , die die wildesten Schößlinge trieb , wenn sie allein war .
Dabei ließ sie sich von jedem leiten wie ein Kind .
Diesem Zustand mußte ein Ende gemacht werden .
Eines Tages setzte man sie in einen Postwagen und fuhr sie zu einem Ort in der Nachbarschaft , wo sie durch Vermittlung des Pfarrers eine Stelle als Handarbeitslehrerin bekam .
Jahrelang verhielt sie sich ruhig ; aber dann holte sie aus dem Strickbeutel ihr atheistisches Büchlein und las vor , während die Kinder arbeiteten .
Die Sache wurde ruchbar , und es kam zu einem Skandal .
Vor einigen Tagen nun hatte sie öffentlich in dem angrenzenden Flüßchen gebadet und ihren intimen Verkehr mit der Natur so weit ausgedehnt , daß sie nach dem Bade nur mit einem Hemdchen bekleidet , ihre übrigen Kleidungsstücke aber am Arme schlenkernd , den Rückweg über Wiesen und Felder antrat .
So verlor sie ihre Stelle wieder , was ihr übrigens gleichgültig war .
Was sie besaß , verschenkte sie - und als wäre es selbstverständlich , machte sie sich auf den Weg zum Michelschen Dorfe .
Unterwegs verzehrte sie mit Appetit ein Stückchen Apfelkuchen , pflückte einen Strauß Blumen , den sie aber bald wieder fortwarf , und kokettierte mit den Tieren des Waldes , bis sie dann schließlich , schirmschwenkend , am Horizonte vor dem ahnungslosen Herrn Michel auftauchte .
Auf Fanny machte die Tante einen eigenartigen Eindruck :
Er stieß kurze , scharfe Belltöne aus , sah bald auf sie , bald auf Herrn Michel , bald auf Peter , jagte plötzlich über die Felder , eine Staubbahn hinter sich ziehend , kehrte um , schoß gerade auf sie zu , blieb vor ihr stehen , hob zögernd eine Pfote , näherte sich ihr , stieß ruckweise mit der Schnauze an ihr Bein , bellte von neuem , kniff wieder aus und sprang endlich wie behext um sie herum .
Peter wurde eifersüchtig :
" Das ist mein Hund ! " sagte er .
" Er gehört mir . "
Die Tante sah ihn absonderlich durchdringend an und fragte :
" Was ist das für ein Bengel ? "
- " Mein Sohn Peter ! " antwortete Herr Michel stolz und klopfte ihm die Backen .
Sie sah ihn abermals aufmerksam an , näherte sich vorsichtig auf den Fußspitzen , streckte schüchtern die Hand aus und klopfte ihm ebenfalls die Backen .
So wurde Paterchen von beiden Seiten plötzlich beklopft .
Er rollte seine verlegenen Augen und wühlte mit den Fingern in der Tasche .
Die Tante klopfte noch immer : Ihre Finger trommelten auf seiner elastischen Backe , während sich ihr Augapfel unruhig bewegte .
Mit einem Male packte sie ihn um den Leib , hielt ihn wie eine lebendige Garbe in ihren Armen und bot ihn wie ein Opfer dem Himmel dar .
Peter brüllte erschrecklich , die Tante blieb in verzückter Stellung .
Herr Michel aber war halb tot vor Angst :
" Aber liebe Olga , ich bitte dich !
Sei doch vernünftig !
Nein , das ist ja schrecklich ! "
- Der arme Mann hatte in aller Verwirrung den Hut abgenommen und drehte ihn in seiner Hand .
Sie stellte Paterchen augenblicklich auf die Erde .
Dieser umschlang die Beine seines Vaters .
Herr Michel nahm in aller Verlegenheit sein Taschentuch , um die Stiefelspuren auf dem Kleide seiner Schwester zu entfernen ; aber diese wich zurück , hielt schützend die Hände vor ihren Leib und rief hastig :
" Nein , nein !
Niemals ! "
Dabei sah sie ihren Bruder fast feindselig an .
Herrn Michel überkam eine plötzliche Angst .
Er faßte Peter beim Handgelenk und zog ihn vorwärts .
Er wagte nicht , sich wieder umzuschauen .
Anfangs hörte er ihre Schritte hinter sich , dann merkte er , wie sie zurückblieb ; und als er es schließlich über sich gewann , sich umzublicken , da war die Tante verschwunden .
Peter sah ihn scheu von der Seite an :
" Papa , was war das für eine Frau ? "
- " Es war bloß Tante Olga !
Aber sage niemandem , daß wir sie getroffen haben ; sie wohnt in einer fremden Stadt und geht nur manchmal hier spazieren . "
- Herr Michel wußte selbst nicht , warum er dies sagte .
Er hatte das dunkle Gefühl , als würde ein Unglück hereinbrechen .
Auf Peter hatte diese Begegnung den tiefsten Eindruck gemacht .
Als er abends im Bette lag , konnte er lange Zeit nicht einschlafen .
Immer schwebte ihm die gelbe Gestalt vor , mit ihren unheimlichen grauen Augen und dem roten Schirme .
Dann glaubte er sich wieder in ihren Armen und fühlte , wie sie sich mit ihm im Kreise drehte .
Und schließlich war er es selbst , der seinen Kreisel peitschte , daß er schnurrte , und da war es plötzlich wieder die Tante , die mit aufgespanntem rotem Sonnenschirm um sich selbst wirbelte , allmählich zu taumeln begann und schließlich lautlos , wie ein Stück Holz , zu Boden fiel .
Als er am anderen Morgen zur Kaffeestunde in das Wohnzimmer trat , prallte er zurück und bohrte den Kopf in den Schoß seiner Mutter , die hinter ihm das Wohnzimmer betreten wollte .
Diese blieb mit einem plötzlichen Ruck auf der Schwelle stehen ; Herrn Michel aber rührte fast der Schlag :
denn da saß in dem Lehnstuhl Fräulein Michel mit untergeschlagenen Beinen , übergeschlagenen Armen und lächelte .
" Nun , " sagte sie endlich , " was ist da weiter ? "
Dann stand sie auf und verschwand ohne ein weiteres Wort in die gute Stube , schloß hinter sich zu , schnellte sich auf das Sofa und entschlief sofort .
- Sie war die ganze Nacht hindurch ohne Ziel und Zweck umhergeirrt , hatte endlich einen Heuschober gefunden , von dem sie wieder vertrieben wurde , und war am Morgen auf rätselhafte Weise in die verschlossene Michelsche Wohnung gedrungen , wo sie drei Stunden wartend und lächelnd gesessen hatte . -
Natürlich gab es eine stürmische Szene , in der Frau Michel ihrem Manne ohne jeden Grund alle Schuld beimaß .
- Gegen Mittag wurde die Tante geweckt ; sie schien sehr gut gelaunt , erzählte ihre Geschichte , machte beim Essen allerhand Mätzchen , kicherte , als gebetet wurde , und stieß gegen Schluß der Mahlzeit fast männlich auf .
Herr und Frau Michel zogen sich darauf zur Beratung in die Geißblattlaube zurück .
Als sie das Zimmer wieder betraten , fanden sie die Tante , Paterchen in ihren Schoß geklemmt , ihn im Stricken unterweisend , Zucker kauend , den sie aus dem Schrank geholt , trotz Peters Bemerkung :
" Ich weiß genau , daß wir das nicht dürfen ! "
- " Peter , gehe Mal in den Garten ! " sagte sein Vater . -
Dann ergriff Frau Michel das Wort und teilte Tante Olga mit , sie würde für ein paar Tage im Wirtshaus wohnen , das weitere würde sich finden .
Die Tante lachte bei allem nur , fabelte noch einiges von ihren Koffern , die unterwegs wären , ließ sich von ihrem Bruder ein Geldstück in die Hand drücken , wollte ihrer Schwägerin einen Kuß geben und schwänzelte zur Tür hinaus .
Peter zog sich sogleich in den hölzernen Verschlag zurück , als er sie kommen sah .
Sie suchte ihn auch wirklich ratlos , ließ sich dann aber von ihrem Bruder weiterziehen und in das Wirtshaus bringen .
- Später wohnte sie dann bei einer alten Frau , die sie gegen ein gutes Trinkgeld bemuttern mußte .
Frau Michel schenkte ihr abgelegte Kleider , Herr Michel machte ihr ein Paar Stiefel , und Peter verehrte ihr seine alte Fibel mit Abbildungen , die sie nun abwechselnd mit ihrem atheistischen Büchlein las .
Ab und zu durfte sie zu Michels kommen , aber nie des Abends , weil dies die Stunde des Großvaters war .
Und dem war jeder Atheist ein Greuel ; wieviel mehr noch eine Atheistin !
Frau Michel verfehlte nie , sich anderen Leuten gegenüber ihrer guten Tat zu rühmen ; und so gewann sie nach und nach an einer Sache , die ihr anfänglich nur widerwärtig war , Geschmack , indem sie sich zunehmend als Wohltäterin der Menschheit fühlte .
Peter lernte nun die Tante näher kennen .
Aber so klein er war , er bemerkte sehr bald , daß er über ihr stand .
Ihre Sprunghaftigkeit gab ihm selbst mehr Festigkeit ihr gegenüber ; und wenn sie ihn in läppischster , täppischster Weise als ganz kleines Kind behandelte , so empfand er ein fast majestätisches Mitleid .
Peter besuchte die Dorfschule .
Doch während des Sommers war der Unterricht sehr dürftig bestellt , da die meisten Kinder draußen auf dem Felde helfen mußten .
So saß er jeden Morgen vorn auf dem Mistwagen und trieb das Pferd vorwärts , nur mit einem Hemd und einer blauen Hose bekleidet , auf dem Kopfe einen alten Strohhut , unter dem sein Haarschopf hervorlugte und alle Erschütterungen des Wagens mitmachte .
Für jede Fahrt bekam er vom Großvater - dem das Feld gehörte - einen Heller zum Lohne ; und er hob sie sich alle gut auf in einer alten Pomadenbüchse seiner Mutter .
Durch emsiges Reiben zwischen Gaumen und Zunge wußte er ihnen einen schönen Glanz zu geben , und der Anblick eines besonders gut gereinigten Stückes machte ihm herzliche Freude .
Mit Wintersanbruch saß er nun täglich wieder in der großen , niedrigen Schulstube und hörte auf die Worte des Großvaters , der seine Stimme weit und mächtig erschallen ließ .
Er mußte nun schon aus dem Bette , wenn draußen noch dichte .
Finsternis lag .
Drinnen aber brannte die kleine Lampe , die er liebhatte und mit zur Familie rechnete .
Lautlos schritt er dann durch den weichen Schnee , die schwarze Mütze aus Katzenfell mit den Ohrklappen fest über den Kopf gezogen .
Um diese Zeit hatte noch niemand Lust zum Schneeballen , allen lag noch der Druck des Schlafes in den Gliedern .
Dann zeigte sich das Schulhaus mit seinem finsteren First , und unter allgemeinem Getrampel bewegte sich die Schar in die dumpfe , düstere Stube , in deren Ecke ein mächtiger brauner Kachelofen glühte .
Nun packte jeder sein Lichtchen aus , entzündete es , und der Unterricht begann .
Allmählich mischten sich dann starke blaue Lichter in die gelben , und schließlich erklärte der Großvater , nun sei es so hell , daß man die Kerzen löschen könne .
Auf dem Heimwege gab es gewöhnlich ein großes Schneeballen .
Peter traf fast niemals , erhielt aber stets sehr viele Bälle ins Gesicht .
Fanny , der ihn meist von der Schule abholte und natürlich eine willkommene Zielscheibe bot , machte sich nicht viel daraus , oder vielmehr richtete er seinen Zorn nur gegen die Geschosse selbst .
Oft zuckte er auch nur zusammen , wenn ihn eines traf , und sah zerstreut in die Ferne .
Plötzlich jagte er dann wieder hinter den Bällen her , als gelte es das Leben .
- Wenn Peter allein den Heimweg machte , blinzelte er oft in die Höhe , um auszuspähen , woher denn eigentlich die Flocken kämen , und ob , man sie schon von ganz oben herab verfolgen könne .
Aber er sah stets nur einen Schwarm Millionen tanzender , grauer Punkte , ohne einen einzigen festhalten zu können - dann wünschte er so viel Jahre zu leben , als er Flocken sähe , und dann schneiten sie ihm in die Augen , und er sah schließlich gar nichts mehr .
Nachmittags machte er seine Schularbeiten im Wohnzimmer , während der Vater in der Ecke Sohlen zuschnitt .
Frau Michel nähte und flickte , und Peter lernte auf seinen Wunsch Strümpfe stopfen .
Einmal schenkte sie ihm einen Perlmutterknopf , und den trug er nun tagelang im Munde herum und freute sich an seinem Schimmer .
Die Tage wurden kürzer und kürzer , und so kam das Weihnachtsfest heran .
Schon seit mehreren Tagen war er abends sehr frühzeitig zu Bett geschickt , und ein Zwinkern in den Augen seines Vaters sagte ihm , daß sich da unten herrliche Dinge vorbereiteten .
So lief er denn freudig-erwartungsvoll die kleine Stiege zu seiner Kammer hinauf und entkleidete sich beim Sternenscheine .
Licht anzuzünden hatte ihm seine Mutter strengstens verboten , seitdem er einmal eine Gardine in Brand gesteckt und als Entschuldigung nur gewußt hatte :
" Ich wollte Mal sehen , ob das brennt ! "
Klappernd vor Kälte schloß er das knirschende Fenster und zog sich mit großer Schnelle und vielen Verrenkungen die Kleidungsstücke aus , schritt mit fast herausfordernder , langsamer Sicherheit bis zum Bettrande und vergab seiner Würde nur am Schlusse etwas , indem er plötzlich einen hastigen Sprung ins Bett tat , voller Angst , das Gespenst könne ihn noch im letzten Augenblick unter dem Bett hervor bei den Beinen erwischen .
Dann horchte er unter der Decke , ob sich nichts regte , und allmählich tauchte erst sein Haarschopf , dann sein dickes Gesicht empor , wie ein Mond über dem Horizonte .
Die gemeinsame Tätigkeit und Liebe für ihren Jungen brachte die Gatten einander näher ; sie redeten über allerhand Dinge ; er in schüchtern-zutraulichem Tone , sie etwas gönnerhaft .
Herr Michel nannte Tante Olga eine " verschrobene Person " .
Dieser Ausdruck gefiel seiner Frau ausnehmend gut , und sie lobte ihn darum .
Hierüber nun , sowie über ihre Einträchtigkeit überhaupt , freute sich Herr Michel so , daß er leise schluckte .
Schließlich hatte er sein Kleisterwerk vollendet - er pappte für Paterchen eine Burg - und sah sie mit zufriedenen Blicken an .
Frau Michel fand auch nichts daran auszusetzen und nannte ihn einen geschickten Mann . -
Dann kam das Fest , und Peter schmiegte sich an seinen Vater und sah selig-versunken in den Weihnachtsbaum .
Dann schlug er sogleich ein Loch in die Trommel .
Herr Michel meinte , man könne sie reparieren .
" Aber sie ist doch vom Himmel ?! " fragte Peter .
Worauf seine Mutter erklärte , man würde es trotzdem versuchen .
Viel später als sonst ging er müde und glücklich zu Bette .
Herr Michel durfte zur Feier des Abends eine Zigarre rauchen , und in Frieden suchte endlich auch das Ehepaar sein Lager auf .
Die Tante lag seit drei Tagen zu Bette .
Eines Abends trieb sie das Bedürfnis , sich einmal im Weltall aufgehen zu lassen , aus den Federn .
Sie trat ans offene Fenster und schaute verzückt und betend in den funkelnden , kalten Sternenhimmel über sich .
Am nächsten Morgen hatte sie eine tüchtige Erkältung und schalt auf die göttliche Bosheit .
Bald nach Weihnachten nahte sich ein anderes Fest , der siebzigste Geburtstag des Großvaters , der auf Silvester fiel .
So war dieser Tag ein doppeltes Fest für die Familie und das ganze Dorf .
Die Bewohner gratulierten , und die Dorfkinder sagten ein Sprüchlein her , das der Kantor verfaßt hatte .
Dann gingen sie der Reihe nach vor und küßten ihm die Hand .
Das neue rote , gewürfelte Seidentuch , mit dem sich der Großvater die Augen wischte , die sorgfältig gekämmten und gescheitelten Haare , der Sonntagsrock und die große schwarze Halsbinde - das alles gab ihm eine besondere , feierlich-fremde Weihe und ließ in Peter alle zärtlichen Gefühle fast zurücktreten vor dem einzigen großen einer unbegrenzten Verehrung . -
Auf besonderen Wunsch des Großvaters durfte er an der Abendgesellschaft , die er gab , teilnehmen .
Herr Michel bat ihn schüchtern , doch auch seine Schwester einzuladen , da diese sonst ganz allein wäre .
Der Großvater sah ihn an .
Er dauerte ihn , und er willigte ein .
Fräulein Michel war glücklich .
Ihr Bruder schärfte ihr ein , sich recht zusammenzunehmen , was sie als etwas Selbstverständliches versprach .
Peter sah mit Hochachtung auf die vielen Gedecke und Gläser .
Bald erschien der Pastor , sehr freundlich und etwas pathetisch , der Kantor , der Apotheker und der Schulze .
Die beiden letzteren hatten ihre Frauen mitgebracht , die alsbald die Toilette der Frau Michel musterten und ihrerseits gemustert wurden .
Man unterhielt sich etwas feierlicher als sonst , und schließlich fragte Frau Michel :
" Aber lieber Vater , warum gehen wir denn nicht zu Tische ? "
- " Olga ist noch nicht da ! " entgegnete dieser .
- " Olga ?
Olga Michel ? "
Sie schoß einen Blick auf ihren Mann , der es feige vermied , sie anzublicken , während die Damen kicherten .
Aber Fräulein Michel kam nicht , und endlich setzte man sich ohne sie zu Tische .
Der Pastor hielt das Gebet .
- " Großpapa " , sagte Peter plötzlich , " Großpapa !
Tante Olga sagt , es gäbe keinen lieben Gott und das Tischgebet wäre ein Mastgebet .
Was ist das , ein Mastgebet ? " -
Herr Michel versank beinahe unter dem Tisch , seine Frau trat ihren Sohn mit dem Fuß , die Damen warfen sich vielsagende Blicke zu , und der Großvater blickte finster drein .
- " Aber meine Lieben ! " sagte der Pastor endlich , " lassen wir uns durch diesen unliebsamen Zwischenfall nicht stören , sondern genießen wir weiter die gesegneten Speisen ! "
Peter sah verschüchtert auf seinen Teller .
Herr Michel aber war nur noch des einen Gedankens fähig :
Hoffentlich kommt sie nun nicht mehr .
Bei jedem Geräusch schreckte er auf , ihm schmeckte kein Bissen mehr .
Richtig !
Es klingelte , und sogleich darauf schwebte die Tante herein , seltsam angetan .
Sie bat um Entschuldigung , daß sie so spät erscheine , sie wisse selbst nicht , wie es sich zugetragen , es würde ihr aber schon wieder einfallen .
Dann gratulierte sie dem Großvater ganz normal .
Als aber der Pastor eine Rede über die Güte Gottes hielt , erinnerte sie sich , daß sie ja Atheistin war , und sagte :
" Wenn man Gott als Materie faßt " - aber da fiel Peter plötzlich mit einem Krach unter den Tisch .
Alle schrien auf .
Und die Tante vergaß ihre erste Rede und hob an zu erzählen , wie sie sich einst in der Klasse auf die Stuhllehne gesetzt hätte , hintenübergefallen wäre und eine Gehirnerschütterung abbekommen habe , damals , als sie noch Lehrerin war .
- " Meine Herrschaften ! " sagte der Großvater plötzlich , " es ist elf vorbei ; ich denke , wir beginnen mit dem Punsch ! " -
Peter durchschauerte es bei diesem dunklen Worte .
Die Gesellschaft begab sich ins Wohnzimmer , wo ein freundliches Kaminfeuer brannte .
Fräulein Michel hatte sich in den Lehnstuhl niedergelassen , schnellte aber sogleich in die Höhe und überließ ihn voller Ehrfurcht dem Großvater .
Man sprach über das verflossene Jahr , über Leid und Freude , die es gebracht , und Fräulein Michel begann plötzlich bitterlich zu weinen .
Frau Michel , die sich gerade vom Apotheker den Hof machen ließ , sah unzufrieden zu ihr hinüber .
Sie aber lächelte gleich wieder und versicherte , es sei nichts von Bedeutung .
Plötzlich verlangte sie , Peter auf den Schoß zu nehmen .
Dieser drückte sich noch tiefer in die Arme seines Vaters , auf dessen Knien er saß .
Der gab ihm einen leichten Anstoß und sagte : " So gehe nur ! "
- So saß er auf der Tante hagerem , hartem Schöße .
Sie hielt ihn so , daß er sie immer ansehen mußte , und ihre Augen tauchten zärtlich in die seinen .
Dabei schnurrte sie wie eine Katze .
Endlich nahte der große Moment .
Die alte Kirchenuhr schlug langsam und nachdrücklich die zwölfte Stunde .
Die Fenster wurden geöffnet , und während die kalte Luft hereindrang , erwartete man unter lautloser Spannung den letzten Schlag .
Dann drückte man sich die Hände , küßte sich und wünschte sich ein gutes neues Jahr .
Peter mußte herumgehen und " Prosit Neujahr ! " sagen , was er widerwillig und mit einer gewissen Nachsicht tat , indem er nicht verstand , was es bedeutete .
- " Was ist denn das da draußen für ein Gemurmel ? " fragte der Schulze plötzlich .
Alle eilten ans Fenster , während der Kantor schnell das Zimmer verließ .
Da zeigte sich ihnen ein buntes , strahlendes Bild .
Auf dem glitzernden Schnee standen etwa dreißig kleine Gestalten , eine jede mit einem farbigen , sanft leuchtenden Lampion , während der klare Vollmond und alle Sterne das Ganze mit einem träumerischen Glanze überschimmerten .
Ein leichter Windhauch trieb einen feinen weißen Sprühregen von den Dächern , der leise niederrieselte .
Als der Großvater am Fenster erschien , erscholl ein lautes Hurra , und dann stimmten sie erst langsam , aber bald energischer , einen Choral an , und unter lautem " Prosit Neujahr ! "-Rufen sprangen sie endlich auseinander .
Der Großvater dankte dem Kantor gerührt für diese Ovation .
Er hatte seine armschwenkende , schwarze Gestalt wohl bemerkt drunten auf dem weißen Schnee .
Jetzt dankte man dem Großvater für den schönen Abend und verabschiedete sich .
Fräulein Michel nannte ihn einen " heiligen Mann " .
Peter aber träumte diese Nacht von Weinflaschen , Punschgläsern und farbigen Laternen .
2. Kapitel Einmal trat der Großvater ins Zimmer und fand Peter , wie schon oft , mit seinen Helleren beschäftigt .
Er zählte sie zusammen , indem er in einer langen Reihe alle Jahreszahlen untereinanderschrieb , dann subtrahierte er von der ganzen enormen Summe jede einzelne wieder und war jedesmal erstaunt , wenn am Ende null übrigblieb .
Sein Großvater fragte ihn , ob er nicht Lust habe , Rechenlehrer zu werden , und Peter nickte ohne Überlegung und sah die Kinder schon im Geiste .
" Aber ich bin ja viel zu klein ! " meinte er .
" Ja , bis dahin mußt du noch viel lernen " , erwiderte der Großvater .
" Ich habe auch nicht angefangen zu lehren , wie ich so klein war wie du !
Ich habe auch erst viel lernen müssen ! "
- Darüber hatte Peter noch niemals nachgedacht , daß Menschen nicht gleich vollkommen als das , was sie später sind , auf die Welt kommen .
Jetzt eröffnete sich ihm eine neue Perspektive .
Allein ihm wurde etwas beklommen zumute , wenn er bedachte , daß die Welt auch von ihm einst sein Stück Arbeit verlangen würde .
Aber der Gedanke , daß ihn der Großvater gleichsam sein Erbe antreten lassen wollte , erfüllte ihn mit Stolz . -
Dieser hatte schon seit langem mit den Eltern über Peters Zukunft geredet .
Herr Michel hatte stets die dunkle Idee gehabt , daß Peter einst sein Schusterhandwerk übernehmen würde .
Er war freudig überrascht , als jemand etwas Besseres wußte .
Frau Michel aber ging der Sache tiefer auf den Grund .
Als sie hörte , der Großvater meine , Peter solle später einmal die Lehrerstelle des Ortes übernehmen , erklärte sie sich gegen den Plan .
Sie habe es ihren Eltern nie verziehen , daß sie ihr nicht eine bessere Bildung gegeben hätten , als sie selbst genossen , und ihr Sohn solle ihr nicht einst ähnliches vorwerfen ; er solle eine " städtische " Bildung bekommen .
Dem Großvater war dies eigentlich auch mehr zu Sinn , und da die Kosten teuer sein würden , erklärte er sich bereit , sie mit der Familie zu teilen .
- " Vorerst muß er eine Realschule besuchen ! " erläuterte er .
" Alles andere wird sich später finden . "
Man sprach den Plan noch hin und her , und eines Tages wurde Peter geholt und über sein Schicksal aufgeklärt .
" Unterrichtet da auch der Großvater ? " fragte er sogleich .
Nun wurde ihm auseinandergesetzt , daß er hier nicht mehr bleiben könne , sondern in eine fremde Stadt käme , jedoch bei einem guten Manne wohnen würde .
- Er sagte gar nichts und schluckte nur .
- " In den Ferien kommst du natürlich einmal nach Hause ! " tröstete der Großvater .
" Und Briefe schreibst du auch , wenn du willst .
Du sollst einmal sehen , wie lustig es wird ! "
- Es schien ihm vorläufig zwar noch gar nicht lustig , aber die Zuversichtlichkeit , mit der der Großväter sprach , flößte ihm etwas Mut und Zutrauen ein .
Er fragte :
" Wann muß ich reisen ? " und sah ihm fest und resigniert in die Augen .
- " Ich werde einem Freunde von mir schreiben , bei dem wirst du dann wohnen ! "
Und so geschah es .
Eines Tages wurden ihm ein paar neue Hosen gekauft - er begriff anfangs nicht , wozu .
Aber dann wurde es ihm klar .
Zum erstenmal sah er sich der Notwendigkeit gegenüber .
Am nächsten Morgen erschien die Tante in aller Frühe , überreichte ihm ein seltsames Ding von einem Hütchen , das sie für ihn entworfen und genäht hatte , gab ihm tausend Küsse , warnte ihn vor den Verführungen der Großstadt und eilte trostlos wieder nach Hause .
Nun setzten sich die Eltern , der Großvater und Peter in einen Mietwagen und fuhren nach dem nächsten Dorfe , welches Postverbindung hatte .
Die Wagenfahrt dünkte ihm das Traurigste , was er je erlebt hatte .
Alle saßen schweigsam , jeder mit seinen Gedanken beschäftigt , die auch die Gedanken des anderen waren .
Dann hielt der Wagen ; Peter wurde in die Postkutsche gepackt , und seine Mutter schärfte ihm noch ein , stets ihrer guten Lehren eingedenk zu sein .
Er hörte wie im Traume zu .
Aber als ihn sein Vater in die Arme nahm , da brach sein zurückgehaltenes Gefühl sich Bahn , und er weinte unaufhaltsam .
Und auch Herrn Michel war , als habe er nun alles in der Welt verloren .
Er hielt ihn fest und starrte mit jammernswerten Augen in die Leere .
Aber die Zeit drängte .
Der Wagen setzte sich in Bewegung .
Fanny , der dem ganzen Vorgang ratlos und angstvoll zugesehen hatte , zog Strafe und leidenschaftlich an der Leine und ließ ein anhaltendes Winseln vernehmen .
- " Der gute Junge ! " sagte der Großvater , als sie sich zum Heimweg wandten .
" Wie es ihm wohl in der Fremde ergehen mag ! " -
Nach langer Fahrt kam Peter in dem Städtchen an , wo er von nun ab wohnen und sich weiterbilden sollte .
Die Kutsche setzte ihn vor einem großen , dreistöckigen grauen Hause ab , das ihm ein Riesenbau dünkte .
Aber schon trat ihm eine Frau entgegen , die ihn im ersten Augenblick an seine eigene Mutter erinnerte .
Er sah sie scheu von unten an .
- " Nun , nun , " sagte sie gutmütig , " du brauchst dich vor mir nicht zu furchten , kleiner Peter !
Komme nur mit herauf , wir haben mit dem Mittagessen auf dich gewartet . "
Dann gingen sie zusammen die Treppe hinauf , bis zum dritten Stock .
Da seufzte die Frau Kantor vergnügt und sagte : " Gott sei Dank , daß wir oben sind .
Das ist jedesmal eine kleine Arbeit ! "
Sie ließ Peter zuerst in den Vorplatz treten .
Eine gegenüberliegende Tür wurde ein wenig geöffnet , und ein kleines Mädchen , ein paar Jahre jünger als Peter , schaute ernsthaft und neugierig durch den Spalt .
Die schwarzen Haare hingen ihr fast in die Augen .
" So , nun Ruhe dich erst etwas aus von der Reise ! "
Die Frau Kantor setzte ihn auf das Sofa , von dem er sich sogleich wieder herunterarbeitete , um sich lautlos und stumm wie ein Fisch auf einen Rohrstuhl zu setzen .
- " Du bist Mal ein kleiner wohlerzogener Junge !
Aber setze dich nur wieder auf das Sofa !
Du bist doch gewiß müde von der Reise , nicht wahr ? " -
Er schüttelte den Kopf .
" Aber du bist doch lange unterwegs gewesen ? " -
Er nickte .
" Nun , dann wollen wir dir gleich etwas zu essen geben !! " -
Damit ging sie zur Tür hinaus , und Peter war allein .
Da saß er nun mäuschenstill und wagte nicht , sich zu rühren .
Plötzlich öffnete sich eine andere Tür , und ein großer , breiter Mann mit schmächtigem schwarzem Vollbart trat herein .
- " Na , da ist ja der kleine Herr Michel endlich angekommen ! " -
Er streckte Peter seine große Hand entgegen .
" Nun laß dich Mal anschaun !
Nein , das ist ja wunderbar !
Sieh nur , Annette " , wandte er sich an seine Frau , die soeben mit der dampfenden Suppenschüssel eintrat , " sieht er nicht ganz genau aus wie sein Großvater ?
Ja so , den kennst du nicht - nein , aber es ist wirklich auffallend ! "
Er holte ein mächtiges Schnupftuch aus der Tasche und schnaubte sich posaunenartig die Nase .
- " Meine Frau kennst du ja wohl schon " , fuhr er fort , mit der einen Hand auf sie deutend , mit der anderen sich die Stirn wischend .
" Aber wo bleibt denn die Liesel ? "
Er sah sich energisch nach allen Seiten um .
" Empfehlungen von meiner Mutter ! " sagte Paterchen plötzlich .
" Wie ? " fragte der Kantor .
" Wie ?
Ich habe dich nicht verstanden ! "
Peter wiederholte es und wurde rot dabei .
" Ja so , ach so , danke schön !
Nein , auch das Organ hat er von seinem Großvater .
Es ist wirklich auffallend .
Aber wo steckt denn die Liesel ? "
Er ging gewichtig auf die Tür zu , steckte den Kopf hindurch und rief mit etwas unterdrückter Stimme : " Na , so komme doch ! "
Dabei griff er zur Tür hinaus und zog einen kleinen nackten Kinderarm herein , der seinerseits den übrigen Körper nach sich zog : ein kleines Mädchen im rosa Kleid , mit aufgeweckten , sehr schwarzen Augen und dunklem Haar , das ihr in langen Strähnen etwas wirr um den Kopf hing .
" Hier ist Peter Michel , und dies ist meine Tochter Liesel !
So .
Nun gebt euch einmal die Hand . "
Peter sah zu Boden , während ihn das kleine Mädchen scheu , aber neugierig von der Seite anblickte .
- " Nun kommt zu Tische , sonst wird die Suppe kalt ! " rief die Mutter .
Peter glaubte sich von allen Seiten beobachtet und aß fast gar nichts .
" Nur nicht genieren !
Das gibt es bei uns nicht ! " rief der Kantor .
" Weißt du wohl , daß ich , wie ich klein war , bei deinem Großvater in die Schule ging ? "
Peter sah ihn überrascht an .
Er wurde ihm menschlich nähergerückt .
- " Jawohl !
Und habe manche Hiebe von ihm bekommen ! " -
Er lachte , daß es schallte .
- " Aber er ist ein prächtiger Mann , und wenn du Mal so wirst wie er , dann können deine Eltern wohl zufrieden sein ! "
Peter sah stolz-beschämt zu Boden .
Nach dem Essen sagte die Frau Kantor : " So , ihr beiden !
Nun kennt ihr euch ja und könnt Mal in den Hof hinuntergehen und mitsammen spielen ! "
Das kleine Mädchen nahm ihre Puppe unter den Arm und ging zur Tür hinaus .
Beide stiegen schweigend die Treppe hinunter ; er bemühte sich , möglichst leise aufzutreten , während sie leicht und graziös hinuntertrippelte .
Sie setzte sich sofort in ein Kellerfenster und begann ihre Puppe auszukleiden .
Peter stand verlegen daneben und gab sich Mühe , beschäftigt auszusehen .
Sie warf ihm zuweilen einen Blick zu , sah aber sofort zur Seite , wenn er sie ebenfalls ansah .
Da fiel der eine Schuh der Puppe zu Boden .
Peter hob ihn sogleich auf .
Beide lachten sich etwas unschlüssig an .
- " Wie findest du sie ? " fragte Liesel endlich .
- " Wundervoll ! " versicherte er aufrichtig .
- " Echte Haare ! "
- " Wie heißt sie denn ? "
- " Fanny ! " -
Peter sah sie etwas fassungslos an .
- " Was du für ein Gesicht machst !
Ist das ein so wunderbarer Name ? "
Er gestand nun zögernd , daß er daheim einen Hund habe , welcher ebenfalls Fanny heiße .
- " Pfui !
Wie kann man einen Hund so nennen ! "
Peter sagte gar nichts .
Ihm fiel plötzlich auf die Seele , daß er Fanny ja gar nicht Lebewohl gesagt habe und daß dieser sich nun um ihn gräme .
" Komme ! " sagte Liesel .
" Wir wollen Strick springen . "
Sie band ein Ende an den Türgriff und schob das andere Ende Peter in die Hand .
Er wußte durchaus nicht , was er nun tun mußte .
" So drehe doch ! " rief sie .
- " Wie denn ? "
Sie zeigte es ; er begriff sofort .
Aber er machte es ungeschickt ; ihre Beine fingen sich fortwährend in der Schnur .
- " Ach , du kannst es nicht ! " rief sie endlich .
" Warte , ich will Mal allein springen ! "
Sie band das eine Ende los , nahm Peter das andere aus der Hand , faßte beide kräftig mit ihren Fingern und setzte die Schnur selbst in Bewegung ; sie sprang erst langsam , dann schneller und immer schneller .
Ihre schwarzen Haare flogen im Winde , der Strick kreiste schnurrend durch die Luft , sie schien den Boden kaum zu berühren ; er war wie elastisch unter ihren Füßen .
Peter sah ihr staunend zu .
Sie schien unermüdlich .
Plötzlich hörte sie mit einem Ruck auf und rief : " Ach , ich kann nicht mehr ! "
Sie war feuerrot geworden , warf ihre Haare zurück , machte matte Augen und atmete schnell :
" Nun mußt du aber auch Mal springen ! "
Peter erklärte , er habe es noch nie versucht und wüßte auch bestimmt , daß er es nicht könnte .
- " Ach was , probiere nur Mal ! "
Sie band das eine Ende sogleich wieder an den Türgriff .
" So komme doch !
Ich drehe ganz langsam , dann kannst du es lernen . "
Beim ersten Male kam er auch richtig hinüber .
Er sprang mit beiden Beinen zugleich in die Höhe .
Das zweite und dritte Mal ging es ebenso .
Beim vierten Mal nicht mehr .
- " Noch Mal ! " rief sie , und der arme Peter wurde abermals in Bewegung gesetzt .
Er begann zu keuchen , aber er hielt sich tapfer .
Dann wurde die Bewegung schneller , und schließlich beschleunigte sie das Tempo dermaßen , daß er nur noch sinnlos und wie rasend in die Luft sprang .
Dabei machten seine eisenbeschlagenen Stiefel einen so heillosen Lärm auf dem Pflaster , daß die Nachbarn aus den Fenstern schauten .
Der Strick drehte sich schon lange nicht mehr , aber Peter sprang noch immer , mit krampfhaft zugekniffenen Augen .
Endlich merkte er es und hörte auf .
Liesel hatte ihn ausgelacht , und er schämte sich vor ihr .
Um sich zu beschäftigen , band er den Strick los , wickelte ihn zusammen und reichte ihn ihr .
" Du hast ja abgebissene Nägel ! " rief sie .
Er wurde blutrot .
" Oh , ich habe auch welche !
Sieh nur ! "
Sie hielt ihm alle zehn Finger unters Gesicht und sah ihn funkelnd an .
Aber sie hatte sie zierlicher abgebissen als er die seinen .
- " Liesel ! " rief in diesem Augenblick die Mutter .
" Ja ? " rief sie zurück und blinzelte in die Höhe .
- " Ihr könnt jetzt wieder heraufkommen ! "
- " Wir wollen einen Wettlauf machen , komme !
Eins , zwei , drei ! "
Wie der Sturmwind war sie davon , Haare , Röcke , Beine flogen .
Peter folgte langsam .
Er wollte in dem fremden Hause keinen Lärm machen .
Sie stand schon lange oben .
" Ätsch ! " rief sie und zeigte ihm alle ihre spitzen , weißen Zähne .
Inzwischen hatten sich die Kantorsleute über Peter ausgesprochen .
Beide waren über den ersten Eindruck sehr befriedigt .
" Nur etwas schüchtern scheint er noch zu sein " , meinte Frau Annette .
- " Ich werde ihn heute Mal etwas prüfen " , sagte ihr Gatte .
" Sehr weit scheint er mir noch nicht zu sein .
Sein Großvater ist ja ein prächtiger Mann , aber viel Ahnung von dem , was hier auf Realschulen verlangt wird , wird er wohl doch nicht haben ! "
" So , Liesel !
Nun mache du Mal deine Schularbeiten ; sonst mußt du wieder nachsitzen , wie gewöhnlich ! "
Liesel warf Peter einen schnellen , etwas verlegenen Blick zu und lachte .
Dann machte sie ein Geräusch mit der Nase .
- " So nimm doch dein Taschentuch ! "
- " Habe keins . "
- Die Mutter gab ihr ihr eigenes .
" Nun , Peter , die Liesel hat dir wohl etwas zu schaffen gemacht ?
Sie ist ein arger Wildfang !
Du scheinst mir aber ein vernünftiger kleiner Mann , du mußt etwas acht auf sie haben , daß sie nicht zu tolle Streiche macht ! "
- Liesel machte ein etwas schnippisches Gesicht .
Jetzt forderte ihn der Kantor auf , mit in sein Arbeitszimmer hinüberzukommen , er habe etwas mit ihm zu bereden .
Peter folgte ihm mit dem dunklen Gefühl , man würde ihn auch von hier wieder fortschicken , in eine fremde Stadt .
Aber so schlimm sollte es nicht kommen .
- " Wie weit bist du denn in Geographie ? " fragte ihn der Kantor .
" Was ist das ? " sagte Peter sehr ernsthaft .
Der Kantor sah ihn etwas erstaunt an .
- " Was weißt du in Geschichte ? "
- Schweigen .
- " Kannst du schreiben ? " fragte er plötzlich .
Peter nickte und malte alsbald langsam , aber sicher seinen Namenszug , und als er fertig war , überreichte er das Blatt dem Kantor mit einem Abschiedsblick darauf .
- Peter Michel - stand da auf dem Papier in deutlichen , deutschen Lettern , mit keulenartigen Strichen und kürbisartigen Ausbuchtungen .
Er wurde nun in Religion geprüft , und da zeigte sich , daß er sehr gut beschlagen war .
Auch im Rechnen , Deutsch und Naturgeschichte wußte er genug .
- " Wenn ich dir nun einen guten Rat geben soll " , sagte der Kantor , " so lege dich heute frühzeitig zu Bett , dann kannst du tüchtig ausschlafen und bist morgen frisch beim Examen ! "
Peter sagte sofort zu Frau Annette , er wolle frühzeitig zu Bette gehen , damit er tüchtig ausschlafen könne , um morgen frisch zu sein beim Examen .
" Nun , das ist vernünftig " , antwortete sie .
Dann nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn in seine Kammer , zeigte ihm alles Nötige und sagte ihm gute Nacht .
Peter reckte unwillkürlich den Köpfe in die Höhe .
- " Ach so !
Das hätte ich beinahe vergessen . "
Sie gab ihm einen herzhaften Kuß .
Vor dem Zubettgehen wollte er noch seinen Koffer auspacken .
Aber beim Anblick all der bekannten Sachen aus der Heimat wurde ihm traumhaft zumute .
Ihm war , als sei er wieder im Reisewagen und höre das eintönige Getrappel der Pferde .
Die Anstrengung der letzten Tage , die neuen Erlebnisse und Eindrücke äußerten jetzt ihre Wirkung .
Er ließ alles liegen , legte sich zu Bett und verfiel alsbald in einen festen , traumlosen Schlaf .
Am nächsten Morgen wunderte er sich , daß sein Bett so lang war .
Dann fielen ihm die fremden Möbel in die Augen , und jetzt wußte er wieder , wo er sich befand .
Er lauschte .
Unten fuhr ein Wagen über die Straße .
Nebenan tickte eine Uhr .
Er erhob sich leise und kleidete sich an .
Unter seinen Sachen entdeckte er plötzlich ein Bildchen in goldenem Rahmen , das Porträt eines Mohren , wie ihm schien . -
Er drehte und wendete es im Licht , und auf einmal erkannte er seinen eigenen Großvater .
Er stellte es auf die Kommode und versenkte sich in seinen Anblick .
- " Nun sieh einer Mal an !
Du bist schon fix und fertig , und die Liesel , der Faulpelz , liegt noch im Bette und hat doch nicht eine solch lange Reise hinter sich wie du !
Gehe nur vorn ins Wohnzimmer , wir kommen gleich zum Kaffee . "
- Peter nahm den Kuchen mit , den ihm seine Mutter gebacken hatte , und stellte ihn mitten auf den Tisch .
Dann besah er ein Bilderbuch , das in der Ecke lag .
Allen Damen hatte die Liesel Bärte gemalt .
Er sah sie nachdenklich an und dachte :
Aber das ist doch nicht recht !
Ein furchtbares Fauchen ertönte im Nebenzimmer .
Es war der Kantor , welcher sich die Zähne putzte .
Er wuchs in Peters Augen an Männlichkeit .
- " Gehört der Kuchen dir ? " fragte Liesel , die jetzt ins Zimmer trat .
- " Ja ! Aber ihr sollt auch was davon abhaben ! "
- Sie eilte sogleich zu ihrer Mutter , der sie flüsternd den Sachverhalt mitteilte .
Sie lobte ihn wegen seiner Freigebigkeit , aß aber selbst sehr wenig davon .
Auch der Kantor lobte ihn und wütete nach Kräften in dem Kuchen .
Peter saß kauend in der Mitte , und er begann Zutrauen zu diesen Menschen zu fassen und etwas freier in die Zukunft zu sehen .
Liesel trat ihn unter dem Tisch mit ihren Füßen und war beleidigt , als er diese Tritte nicht erwiderte .
- Die Prüfung fiel für Peter so aus , wie der Kantor es erwartet hatte ; er wurde in die unterste Klasse aufgenommen , mit der Bedingung , daß er in einigen Fächern Nachhilfestunden bekäme .
Am selben Nachmittag setzte er sich hin und schrieb einen Brief an seine Eltern , in dem er ihnen alles mitteilte .
So ging er nun jeden Morgen zur Realschule .
Liesel , die denselben Weg machte , wartete meist ungeduldig auf ihn .
Er ordnete seine Bücher jedesmal nach einem sinnreichen Prinzip in seinen Tornister , und war er glücklich fertig , so packte er plötzlich alles wieder aus , weil ein Buch verkehrt stand oder weil die Hefte nicht alle beieinander lagen oder weil er fand , der Federkasten stehe da so einsam in der Ecke .
Manchmal half ihm Liesel , wenn es ihr gar zu langweilig wurde , aber sie ging dabei so blind zu Werke , daß die Sache noch viel länger dauerte .
Auf dem Schulweg trabte er geradeaus , ohne nach rechts und links zu sehen , während sie sich den Weg durch allerlei Kurzweil angenehm zu machen suchte .
Bald ging sie mit einem Fuß auf dem Fahrweg , mit dem anderen auf dem Pflaster , und behauptete , sie hinke , bald machte sie den Weg von einer Steinritze zur anderen springend , oder sie begann die Schritte zu zählen , jeden neuen Zehner laut ausrufend .
Hier fand sie bei Peter sympathische Regungen .
Er zählte mit ihr im Verein alle Einer , während sie die Zehner allein übernahm , und brüllte dann schließlich :
" Hundert ! "
Es wurde ihm nicht leicht , mit den übrigen Schülern fortzukommen .
Gegen Abend hatte er stets eine Privatstunde beim Kantor , der ihm auch seine Arbeiten nachsah .
Sehr gern vertiefte er sich in die Landkarte .
Besonders sagte ihm Afrika zu , weil er es in seiner Form so gemütlich und behäbig fand .
Den Kongo liebte er aus demselben Grunde .
Überhaupt hatte er Vorliebe für alles Runde , Ausgebogene , für Kugeln , Kuppeln und Gewölbe .
Er kannte nichts Schöneres , als mit dem Zirkel Kreise zu schlagen , und freute sich tief und behaglich , wenn der Bleistift so vergnügt und sicher herumschoß , ohne nach links und rechts abzuweichen .
Etwas Neues war ihm auch das Turnen , in dem er übrigens so gut wie gar nichts leistete .
Wenn er über eine Leine springen sollte , so nahm er gewöhnlich zunächst einen mächtigen Anlauf , dachte aber in der Folge gar nicht mehr an den eigentlichen Zweck desselben , sondern trabte nur eiligst dahin , etwa wie ein alter Herr , welcher fürchtet , den Anschluß zu verpassen , und nun in letzter Minute seine Beine tüchtig in Bewegung setzt .
An die Taue hängte er sich wie ein Gewichtstück und war absolut nicht in die Höhe zu treiben .
Nur hanteln konnte er besser als die anderen und werfen , obgleich er oft das Ziel verfehlte .
Aber er hatte Muskelkraft .
Deshalb stand er auch bei seinen Mitschülern in einer gewissen Achtung .
Wegen seiner unendlichen Gutmütigkeit und Arglosigkeit war er bei allen bekannt .
Aber wie es in der Welt geht : anstatt ihn deswegen mehr zu lieben , suchten sie diese Schwäche nach allen Richtungen hin auszubeuten , stets mit demselben vollständigen Erfolge .
" Da oben fliegt ein Adler ! " rief einer .
Während nun Peter sich die Augen aussah nach dem Tiere , erhielt er plötzlich einen Ruck von hinten unter die Beine und lag auf der Erde .
Dann stand er wieder auf , bürstete sich mit der Hand ab und sagte :
" Aber das müßt ihr doch nicht tun ! "
Darauf sah er aufs neue in den Himmel und sagte schließlich etwas ärgerlich : " Ja , nun ist er weg ! "
Furchtbar böse aber konnte er werden , wenn man ihm an seinen Sachen einen ganz ersichtlichen Schabernack spielte .
Dann fuhr er auf irgendeinen los , der ihn besonders unverschämt anlachte , prügelte ihn wie rasend durch , hieb und trat um sich und war wie besessen .
Bei all den Streichen , die gegen die Lehrer ins Werk gesetzt wurden , tat er nicht mit ; doch spielte er nie den Verräter .
- Freunde hatte er so gut wie gar nicht ; sein einziger Umgang war das Liesel , an das er sich mit brüderlicher Treue angeschlossen hatte .
Sie tyrannisierte ihn auf das furchtbarste .
Er mußte ihr die Stiefel zuknöpfen , auf dem Schulweg verlangte sie plötzlich , er solle so schnell wie möglich nach einer entfernten Ecke laufen und ebenso schnell wieder umkehren , und wenn er es nicht tat , so hatte sie vor Ärger Tränen in den Augen , worauf er sich dann doch in Bewegung setzte und das Verlangte nachholte .
Dann schmollte sie , warum er es nicht gleich getan habe .
Ihr Spiel mit dem Zahlenausrufen ließen sie mit der Zeit , als es ihnen kindisch vorkam .
Sie machte nun wie eine kleine Dame ihren Weg .
Peter mußte ihr oft die Mappe tragen .
Einmal wollte sie ihm das Bildchen des Großvaters fortnehmen , weil ihr der kleine Rahmen so gefiel .
Peter aber behielt es fest in seiner Hand , sie drehte und krallte an seinen Fingern , ohne sie öffnen zu können .
Schließlich warf sie sich mit ihrem ganzen Kopf über seine Faust , daß die schwarzen Haare bis zur Erde hingen , und bis ihn mit ihren weißen , spitzen Zähnen in den Daumen .
Aber er ließ nicht los .
Da kam die Mutter ins Zimmer , trat auf Peters Seite und schalt ihre Tochter .
Liesel lief hinaus , schloß sich in das Schlafzimmer ein und warf sich schluchzend auf ihr Bett , zerbiß ihr Taschentuch und starrte verzweifelt an die Decke .
Dann sprach sie mit Peter drei Tage lang kein Wort .
Am Abend , als er zu Bett ging , fand er das kleine Bild zertrümmert auf der Kommode .
Aber er sagte nichts ; das Liesel fühlte sich innerlich beschämt und war deshalb äußerlich noch viel trotziger .
Die Frau Kantor tat , als wüßte sie von nichts , und liebte Peter nur um so mehr , während sie mit Sorgen an ihre ungezogene Tochter dachte .
Peter fühlte sehr wohl , daß ihm diese Frau mehr Zärtlichkeit entgegenbrachte als seine eigene Mutter , und er empfand es wohltuend , obgleich es ihn im Grunde traurig machte . -
An seinen Vater dachte er viel und mit einem dunklen Schmerz . -
Am schönsten waren immer die Abendunterhaltungen nach Tisch .
Der Kantor arbeitete dann allein in seinem Zimmer , und Peter erzählte manches von zu Hause , von dem schönen Garten , von den Winterabenden , den Sommertagen auf dem Felde , von seinem Großvater und von anderem mehr .
Einmal erzählte er auch von Tante Olga , und von da an quälte ihn Liesel jeden Abend , er solle von Tante Olga erzählen .
Aber er tat es nicht .
Als sie jedoch eines Tages das Hütchen entdeckte , da war der Jubel vollkommen .
Sie taufte eine ihrer Puppen " Tante Olga " , erdachte sich die wunderbarsten Dinge , die sie sie verüben ließ , und man sah alsbald dem armen , zerschlagenen Wesen an , daß es ganz besondere Schicksale zu bestehen hatte .
So lebten alle friedlich dahin , als eines Tages eine neue Figur in ihren Kreis trat : ein feiner , blonder Junge , etwa zwei Jahre älter als Peter , mit sehr eleganten Manieren .
Er war fortan Pensionär beim Kantor .
Liesel , die nun schon in das Alter kam , wo die kleinen Mädchen halbe Damen werden , erwiderte seine galante Verbeugung durch einen graziösen kleinen Knicks .
Für Peter hörte die schöne , gemütliche Zeit allmählich auf .
Er mußte sein Zimmer teilen ; der fremde Knabe war vornehm und gelangweilt .
Peter behandelte er etwas nachsichtig und würde ihn noch mehr über die Achseln angesehen haben , hätte er den guten Fanny einmal zu Gesichte bekommen .
Liesel gefiel der neue Verkehr ausnehmend gut .
Er imponierte ihr .
Peter ging jetzt gewöhnlich still daneben , wenn sie ihren Schulweg machten und er ihre schwarzen Haare lobte oder von den Rennen der Großstadt erzählte .
Sie beachtete dann Peter gar nicht und befleißigte sich einer möglichst korrekten Ausdrucksweise .
- " Feines Mädel ! " sagte er einmal zu Peter .
" Hat Rasse ! "
- Darauf wußte Peter gar nichts zu antworten .
In der Schule war er ziemlich faul , da er außerhalb derselben zumeist seinen Tanzstundendamen nachlief .
Liesel wurde allmählich in ihrem Stolze gekränkt .
Sie fühlte wohl , daß Peter ein treuerer Kamerad war ; so kamen sich die beiden wieder näher , und sie nannte ihn mit besonderer Genugtuung " du " .
Doch schien das keinen großen Eindruck auf den anderen zu machen .
Die Frau Kantor sagte oft zu ihrem Mann : " Sonderbar , den einen hat man von Anfang an liebgehabt , und der andere bleibt einem stets ein Fremder ! "
So nahte allmählich die Zeit , wo Peter konfirmiert werden sollte .
Er wanderte nun mehrmals die Woche zum Unterricht und freute sich auf den Moment , wo er einmal wieder neue Hosen bekommen sollte ; denn die gegenwärtigen waren weder lang noch kurz , sondern gingen ihm gerade bis an die Waden .
Den Tag vor seiner Konfirmation kam Frau Michel angereist .
Sie hatte sich vorher brieflich angemeldet .
Liesel öffnete die Tür :
" Mama , eine fremde , dicke Frau ! "
Aber Frau Michel war bereits hinter ihr eingedrungen , machte einen städtischen Knicks und stellte sich vor .
Frau Kantor freute sich aufrichtig , Peters Mutter kennenzulernen , versicherte , daß es ihr leid sei , sie nicht beherbergen zu können , und man sah ihr an , daß es ihr wirklich leid war .
Frau Michel begann sofort über Peter zu reden und verlangte gründlichen Bescheid über seine Aufführung .
Sie sei seine Mutter , und eben darum müsse sie völlige Klarheit über ihn haben ; sie wäre durchaus nicht blind für die Fehler ihres Sohnes , wie sie ja überhaupt in ihrer Erziehung - hier lächelte sie diskret-zufrieden - stets eine sehr vernünftige Weise befolgt habe .
Die Frau Kantor ließ sie ruhig zu Ende reden und teilte ihr darauf mit , daß sie niemals Anlaß gehabt habe , über Peter zu klagen , daß er ein grundguter Junge sei und daß es bis zum Erwachsensein wohl noch eine gute Weile haben werde .
Er entwickele sich langsam ; sie fürchte , er würde später einmal nicht leicht durchs Leben kommen .
Sie hoffe auf die Zeit der Universität , wo er gezwungen wäre , selbständig zu handeln , wodurch er eine gewisse Festigkeit der Welt gegenüber gewinnen würde .
Hier sprang Frau Michel ein : Sie fand die Ansichten sehr verständig und betonte mehrere Male , sie hätte dies alles ebenfalls schon oft gedacht . -
Die Tür öffnete sich , und Peter trat herein .
Er ging verlegen auf sie zu , küßte sie auf die Backe und fragte , wie es ihr und seinem Vater ginge .
Sie klopfte ihn auf die Schultern , musterte ihn und sagte : " Nein , was bist du für ein großer Junge geworden !
Und wie gesund du aussiehst !
Nun , wie geht es dir denn ? "
- " Gut ! " versicherte er ernsthaft .
Dann ging er auf die Frau Kantor zu , gab ihr die Hand , setzte sich neben sie und sah wieder schüchtern auf seine Mutter .
Unklare Empfindungen durchzogen ihn .
Er fühlte sich zu ihr gehörig - und doch war es ihm wieder , als ob sie ihm im Grunde fremd wäre .
Dabei fühlte er ein Unbehagen , als ob er Rechenschaft über irgend etwas abzulegen hätte .
Frau Michel machte eine zurückgesetzte Miene :
sie ärgerte sich über ihn und über die Frau Kantor , welche ihm mütterlich über die Haare strich und sagte : " Jawohl , er ist groß geworden .
Weißt du wohl noch , Peter , wie du damals mit dem Wagen ankamst und Angst vor mir hattest ? "
Peter nickte .
Frau Michel aber saß mißvergnügt in ihrem Sessel :
" Nun , hast du jetzt etwa Angst vor mir ?
Weshalb setzt du dich so weit weg von mir ? "
Peter erhob sich sofort und setzte sich neben sie .
- " Dein Vater läßt dich grüßen .
Wenn du mit der Schule fertig wärest , dürftest du auf einige Zeit nach Hause kommen !
Du möchtest nicht böse sein , daß er jetzt nicht mitgekommen sei , aber er wäre des Reisens ungewohnt und scheue sich , unter Leute zu kommen .
- Sie müssen nämlich wissen " , wandte sie sich an die Kantorsfrau , " mein Mann ist etwas weltscheu ; er ist wenig herausgekommen ; es ist ja auch ganz natürlich !
Dein Großvater ist krank , liegt im Bett und ist sehr schlechter Laune .
Mein Gott , er ist ja nun schon in den Siebzigern .
Tante Olga habe ich natürlich nicht mitgenommen .
Du weißt ja , sie war stets absonderlich ; ihr Gebaren ist in letzter Zeit noch seltsamer geworden .
Aber es wird Zeit , daß ich mich empfehle ! " -
Man bat sie für das Abendessen , und sie nahm die Einladung etwas überschwenglich an .
Mit dem Kantor tauschte sie Erinnerungen aus ihrer Jugend aus ; Peter hörte andächtig zu und bekam manches zu hören , was ihm neu war .
So hörte er , wie seine Mutter den Großvater einen eigensinnigen Mann nannte , mit dem es schwer sei auszukommen ; was auf ihn einen großen und fremden Eindruck machte .
Für Liesel schien Frau Michel keine besondere Vorliebe zu haben , wie auch das Liesel nicht für sie .
Der fremde Knabe hatte sich sogleich für den Abend entschuldigen lassen .
Frau Michel war ihm zu vulgär .
Diese bedauerte lebhaft seine Abwesenheit und äußerte den Wunsch , auch dessen Vater kennenzulernen .
Peter hielt sie ihn als Muster eines guten Benehmens vor , an dem er lernen könne .
Die Kantorsfrau hatte Frau Michel bald durchschaut und richtete ihr Benehmen danach ein : Sie gab ihrer angeborenen Liebenswürdigkeit noch einen besonderen Stoß , und Frau Michel , geschmeichelt durch ihre Zuvorkommenheit , vergaß ihre frühere Eifersucht und hatte wohlwollende Blicke für sie .
Der Kantor öffnete eine der Flaschen , die für den folgenden Tag bestimmt waren , man trank auf das Wohl des Großvaters und dann auf das Wohl der Frau Michel , die ihnen die Ehre ihres Besuches angetan hatte .
- Ihr Urteil über diese Leute stand jetzt fest , und sie überlegte schon in Gedanken , mit welchen Worten sie es ihrem Vater gegenüber aussprechen wolle und wie sie nebenbei noch ihrem Manne eine Lektion erteilen könne .
Peter brachte sie darauf zu ihrem Gasthofe .
Auf dem Wege teilte sie ihm ihre Eindrücke in gewählter Sprache mit .
Peter , der noch nie im Leben auf den Gedanken gekommen war , sich Rechenschaft über seine Eindrücke zu geben , hörte andachtsvoll zu , und es war ihm , als rede sie über ganz fremde Menschen .
Am nächsten Morgen wachte er sehr früh auf .
Heute werde ich konfirmiert ! dachte er . -
Er würde nun ein Organ der christlichen Gesellschaft werden , hatte der Pastor gesagt .
Ihn befiel eine Beklommenheit , wenn er an die Zukunft dachte , die erwartete , einen Mann in ihm zu sehen .
- Was sollte er für ein Gesicht machen , wenn er nun da oben stand und aller Augen auf ihn gerichtet waren ?
Würde der fremde Pensionär nicht verächtlich zu ihm herübersehen ?
Er blickte unruhig nach dessen Bett hinüber .
Sein weißer , schöner Hals schien wie abgeschnitten durch die gestickte rote Kannte seines feinen Hemdes .
Vor seinem Bette standen ein paar Schuhe aus zartem , grünem Leder .
Seine eigene Bedürftigkeit und Niedrigkeit traten ihm recht vor Augen .
Plötzlich fiel es ihm auf die Seele , ob es auch keine Sünde sei , daß er sich konfirmieren ließ .
Denn er vermißte undeutlich in sich die nötige Weihe und Würde .
Er glaubte ja alles , was der Pastor gesagt hatte ; an den Worten Erwachsener , wenn sie ernsthaft gesprochen wurden , zweifelte er überhaupt nie - und wieviel weniger , wenn sie , wie hier , mit der feierlichsten Unumstößlichkeit vorgetragen wurden !
Und doch war es eigentlich mehr eine fremde Macht , der er sich beugte , weil sie es so verlangte , als eine Gnade , die er selbst gesucht hätte .
- Er zog die Bettdecke über seinen Kopf und wünschte sich weit , weit fort , nach Hause , zu seinem Vater .
- " Peter !
Du fauler Junge !
Willst du Mal aufstehen ?! "
- " Es geht wohl schon an ? " rief er erschreckt .
" Nein , aber wir sind schon mit dem Kaffee fertig . "
Peter zog sich in aller Eile an .
Dabei ging er sehr vorsichtig mit dem neuen langen Rocke um .
Er setzte zur Probe den neuen Hut auf und besah sich nachdenklich im Spiegel .
Da blickte ihn ein anderer Peter Michel an , ernsthaft wie ein Mann , in einem bürgerlichen Rocke .
Da fiel ihm des Pastors Wort von dem christlichen Organe wieder ein .
Er musterte sein Gegenüber und kam sich selbst so fremd und feierlich vor , daß ihm unter seinen eigenen Blicken unbehaglich wurde .
" Junge , sage Mal deine geistlichen Sprüche und Regeln her ! " sagte der Kantor , als Peter sich an den Kaffeetisch setzte .
Peter wollte gerade den Mund auftun , um herzusagen , als Frau Annette auf ihn zutrat :
" Das wollen wir jetzt lieber lassen !
Ich denke , Peter trinkt seinen Kaffee , und dann soll er seine Mutter besuchen .
Das gehört sich so für einen Jungen an seinem Konfirmationstage .
Nicht wahr , Peter ? "
Er nickte , obgleich er viel lieber daheim geblieben wäre .
Dann band er mit großer Sorgfalt eine riesige Serviette um , damit auch ja kein Tropfen auf den neuen Rock falle .
Aber es sollte anders kommen :
Dem Kantor ging nämlich die Zigarre aus , und er langte nach den Streichhölzern , die in Peters Nähe standen .
Dieser fuhr dienstfertig mit der Hand nach ihnen und riß mit dem Ärmel seine Tasse um , in der , wie gewöhnlich , der Löffel steckte .
Er machte zwar einen schnellen Ruck nach rechts , aber die Flut ereilte doch gerade noch sein linkes Knie .
Nun stand er da , und er meinte , die Welt müsse untergehen .
Der Kantor lachte aus vollem Halse , aber seine Frau holte ein Becken mit Wasser und einen Schwamm und begann die Hose sorgfältig zu reinigen .
Sie tröstete ihn und sagte , so etwas könne vorkommen .
Dann trocknete sie . die Stelle mit dem Handtuch nach und meinte prüfend :
" Nun soll mir aber einer Mal sagen , daß da ein Fleck gesessen hat . "
Frau Michel sah es sofort .
Peter fand sie beschäftigt , sich eine neue Krause in ihr bestes Kleid zu nähen .
- " Was hast du denn da auf dem neuen Anzug ?! "
Peter beichtete alles heraus .
Sie war aufs höchste empört über die leichtsinnige Unachtsamkeit ihres Sohnes , warf ihm vor , er wüsste nur so drauflos mit seinen Anzügen , und sie wisse nicht , wo das noch einmal mit ihm hinaus solle .
Dann untersuchte sie sein Gesicht und seine Ohren .
- Da war nichts auszusetzen , " Zeige Mal deine Hände ! "
Peter reichte ihr die inneren Flächen hin .
- " Nun die andere Seite ! "
Er drehte sie um und hielt die Finger gekrümmt .
- " Ausstrecken ! " -
Er tat es ängstlich .
- Pause .
- " Was ist denn das ? " fragte Frau Michel endlich , wirklich starr .
Peter versicherte , daß er schon seit drei Wochen die Nägel nicht mehr abgebissen habe , aber daß sie gar nicht wachsen wollten .
Frau Michel hörte kaum , was er sagte .
Sie ging im Zimmer auf und ab und rief , sie hätte nicht geglaubt , daß ihr Sohn so viel Unehre über sie bringen würde .
Dann ließ sie heißes Wasser bringen und bearbeitete seine Finger auf das fürchterlichste .
Schließlich hielt sie erschöpft inne und sagte : " So , nun trocken dich ab , aber bitte vorsichtig , daß du nicht auch noch den Handtuchhalter mit herunterreißt ! "
Dann wollte sie wieder den Fleck auf seinem Knie besehen , konnte ihn aber nicht mehr finden .
" Nun , das ist dein Verdienst auch nicht ! " sagte sie ärgerlich .
" Jetzt komme , wir müssen fort .
Kannst du denn wenigstens deine Sprüche und Regeln , daß du mir nicht auch noch darin Schande machst ? "
Peter bejahte .
Sie verlangte einiges aus dem Katechismus , und da er es ohne Stocken hersagte , glaubte sie , daß alles in Ordnung sei .
Draußen läuteten die Glocken .
" Wieviel Zeit haben wir nun mit diesen Dingen versäumt " , sagte sie , " und wie einträchtig hätten wir hier sitzen können ! "
Peters gänzliche Zerknirschtheit rührte sie etwas , und sie hatte das Gefühl , daß sie ihre Heftigkeit wieder ein wenig gutmachen müsse .
" Da !
Hier ! " -
Sie gab ihm ein paar Bonbons aus einer Tüte , die sie in der Stadt gekauft hatte , denn sie aß gern Süßigkeiten , ohne es jedoch wahrhaben zu wollen .
Nun machten sich beide auf den Weg .
Zwei ältliche Damen blieben stehen und sagten :
" Ach nein , was für ein freundlicher Junge ! "
Dabei sahen sie sich innig an .
" Und die Frau dabei ist gewiß seine Mutter ! " fuhr die eine fort .
- " Und noch so jung ! " sagte die andere .
Frau Michels schlechte Laune war im Nun verflogen .
Sie bezog die letzten Worte ohne Besinnen auf sich und war stolz über das Lob ihres Jungen .
Doch würdigte sie die Damen keines Blickes .
Dann schritten sie durch das Kirchtor , das mit zwei mächtigen Tannenbäumen geschmückt war .
Der Kantor präludierte auf der Orgel , und bald erscholl der einleitende Choral .
Dann folgte die Rede des Pastors ; für Peter bot sie nichts Neues , Unverständliches .
Er hatte das alles schon so und so oft gehört ; aber je mehr er sich dann dem heiligen Tische näherte , um so beklommener wurde ihm .
Er sah auf , und seine Augen begegneten denen der Frau Kantor , welche stolz und liebevoll auf ihm ruhten .
Wie im Traum bewegte er sich vorwärts , und als er nun das Abendmahl wirklich nahm , da schwindelte ihn leise .
Er vergaß , was er doch so genau wußte : daß er zu warten habe , und wollte weitergehen .
Aber der Pastor hielt ihn unmerklich am Rocke fest und sprach den Segen über ihn .
Darauf ging er zu seinem Stuhle zurück mit dem Gefühl , etwas Wirkliches genossen zu haben .
Für ihn war die Konfirmation zu Ende ; denn was nun folgte , bezog sich auf die übrigen oder war allgemeiner Teil .
Der Knabenchor sang seinen Choral , und die Feier fand ihren Abschluß .
Unter den Klängen einer freien Orgelfantasie des Kantors verließ die Gemeinde langsam die Kirche .
Peter hatte sich sogleich zu seiner Mutter gesellt , die neben der Frau Kantor auf ihn wartete .
Beide Frauen küßten ihn .
- " Mein Mann wird gleich herunterkommen ; wir wollen hier solange bleiben " , sagte Frau Annette .
Frau Michel wünschte , inzwischen mehreren Herrschaften vorgestellt zu werden : einem Rentamtskasseninspektor mit seiner Frau und einer älteren Dame ; alle drei Verwandte vom Kantor , die für den Mittag zu Tisch geladen waren , da sie es sehr übelgenommen hätten , wenn die gekauften Leckerbissen ohne sie vertilgt wären .
Frau Michel machte einen wunderbar zeremoniellen Knicks , über den das Liesel beschaulich-selbstvergessen lachte .
Inzwischen hatte sich die Kirche gänzlich geleert , und der alte Diener ging klappernd mit den Schlüsseln herum .
Da nahte durch einen der Säulengänge geschwinden Schrittes eine weibliche Figur im rosa Kleide , mit winkenden weißen Federn auf dem Hut und einem roten Schirm , den sie wie einen Feldherrenstab in der Mitte gefaßt hielt .
Hinter ihr her schoß ein gelber , dicker Hund von der Gestalt eines Dackels .
Sie stürzte auf die erstaunte Gruppe zu , breitete die Arme aus , als sie Peter erblickte , riß ihn an sich und rief in erschöpfter Ekstase :
" Also doch noch !
Also doch noch !
O mein Gott - diese Gnade ! "
Peter wußte nicht , wie ihm geschah .
Aber da sprang der Hund an ihm empor , vor Freude heulend , und nun vergaß er alles andere ; mit dem lauten Ausruf : " Fanny ! " fiel er ihm in die Arme . -
Die Tante war inzwischen erschöpft auf einen Kirchenstuhl gesunken und schloß die Augen .
Dies alles war so plötzlich und überraschend gekommen , daß niemand die Zeit gefunden hatte , ein Wort zu sprechen .
Frau Michel löste sich endlich aus ihrer Erstarrung , und ohne ein Wort stürmte sie hinaus .
Durch das Gebell des Hundes aufmerksam gemacht , hatte sich inzwischen der Kirchendiener herbeibewegt ; er kam gerade noch zur rechten Zeit , Fanny durch einen Fußtritt von der Altarecke zu entfernen .
Aber Fanny verstand keinen Spaß .
Er bellte kurz und scharf und näherte sich ernsthaft der Ecke aufs neue . -
Die Tante war jetzt wieder zu sich gekommen und warf teilnahmsvolle Blicke umher . -
Endlich nahte auch der Kantor von der Orgel her , besah sich die Szene und wunderte sich .
Jetzt ergriff seine Frau das Wort und regelte die Sache , so gut es ging : Fräulein Michel habe sich wohl bei der Konfirmation verspätet , sagte sie , und sei erst jetzt zum Schluß gekommen ; das sei traurig , man sähe , wie es Fräulein Michel angegriffen habe ; ein gutes Mittagessen würde sie erfrischen , und sie lüde sie freundlichst ein , mit ihnen zu kommen .
- Die Verwandten waren etwas entrüstet über die letzten Worte ; erstens würde ihre Portion dadurch geringer werden , und dann - na überhaupt - Frau Michel zu gewinnen gelang der Frau Kantor nur durch Aufgebot aller ihrer Liebenswürdigkeit :
Sollte Fräulein Michel wirklich die Familie kompromittieren , so sei sie doch die beste Persönlichkeit , dies nach der anderen Seite hin reichlich wieder auszugleichen ! -
Der Pensionär verspätete sich beim Essen und sah unverhohlen erstaunt aus , als er Tante Olga zu Gesicht bekam .
Er fand sofort , daß sie Ähnlichkeit mit Peter hatte , wenn dieser in Zorn geriet .
Man trank auf Peters Gesundheit , was er mit einem lauten :
" Danke ! " beantwortete .
Dann schlug der Kantor an sein Glas und hielt eine kleine Rede , in der er die Damen hochleben ließ .
Er verglich die Tafelrunde mit einem Kranz , die Männer mit den Blättern , die Damen mit den Blüten - worunter eine Rose , welche manchmal sticht ! - hier sah er launig zu seiner Frau hinüber ; - auch ein kleines Gänseblümchen hat sich mit eingeschlichen ! - dies ging auf seine Tochter Liesel , und dann trank er ein Hoch auf sie alle , die dem Leben Poesie und Duft verleihen !
Frau Michel war entzückt von diesem Manne .
In ihm sah sie nun das Ideal eines solchen , wie sie es früher in ihrem Gatten gewähnt und nicht gefunden hatte .
Wie saß er da !
Diese breiten Schultern !
Der mächtige Bart !
Und dies schallende frohe Lachen !
Auch Fräulein Michel war von ihm ergriffen .
Mit offenem Munde und verzückten Augen hing sie an seinem Blicke .
Frau Michel bemerkte , wie man darüber lachte , und sie versetzte ihr unter dem Tische einen Fußtritt , daß sie mit einem hellen Schrei in die Höhe fuhr : Sie hätte einen Ruck im Beine gespürt , das bedeute Unglück .
O Gott , und so fest !
- " Wie sind Sie eigentlich so spät in die Kirche gekommen ? " fragte der Kantor , welcher die Sachlage immer noch nicht begriffen hatte .
Tante Olga zog die Augenbrauen hoch , spitzte den Mund und sah starrvergnügt und regungslos zu ihm hinüber .
- " Meine Schwägerin wollte mich nicht mitnehmen ! " sagte sie endlich .
" Aber da " - sie legte den Zeigefinger an die Nase und schielte vorsichtig zu Frau Michel - , " da habe ich den alten Herrn bestohlen !
Übrigens Peter , gib mir einmal meinen Beutel her , dort hängt er an der Türklinke ! "
Er lag hinter ihr auf einem Tische , und Peter holte ihn .
Sie wühlte sehr lange darin und überreichte ihm endlich das abgegriffene atheistische Büchlein .
Auf der ersten Seite stand :
Dies goldene Buch dem goldenen Peter von seiner goldenen Olga .
Frau Michel riß es ihr heftig aus der Hand und stopfte es in den Sack zurück .
Die Tante zog es erstaunt wieder heraus und streichelte das also mißhandelte .
" Was ist denn das für ein Buch ? " fragte die Frau Kantor neugierig .
" Mein liebes atheistisches Büchlein ! " sagte die Tante gereizt und streichelte es aufs neue .
Sie wollte sogleich daraus vorlesen .
Aber Frau Michel riß es ihr abermals aus der Hand .
- " Oh , ich kann es auch auswendig :
» Vorrede des Verfassers .
Die größte Lüge , die je der eitle Priestertrug erfand « " - aber Frau Michel schrie sie dermaßen an , daß sie verwundert dreinschaute und sogleich innehielt .
Liesel war inzwischen aus einer Verzückung in die andere geraten .
Sie schlug mit den Händen auf den Tisch , neigte den Körper von rechts nach links und fiel mit dem Kopf gegen die Brust des neben ihr sitzenden Pensionärs , der nicht unangenehm davon berührt war .
Er faßte sie mit beiden Händen sanft um die Taille und setzte sie wieder gerade .
Die alte Dame , welche fast noch kein Wort geredet , sondern mit mächtigem Kiefer kolossale Stücke vertilgt hatte , warf Fräulein Michel entrüstete Blicke zu und murmelte etwas in ihre Bartstoppeln .
Das Rentamtkasseninspektorehepaar aber schaute eitel verdutzt drein .
Plötzlich fuhr Liesel von ihrem Stuhle auf .
Ihr war die Idee gekommen , Tante Olga mit Peters Hütchen zu konfrontieren .
Sie setzte es auf und trat auf sie zu .
" Ei , was ein feines Hütchen ! " sagte sie sogleich und lobte die artige Arbeit .
- " Aber das ist doch Peter sein Hut ! " rief Liesel , etwas enttäuscht , verwundert .
" So ? " sagte die Tante .
" Woher hast du ihn denn , Peter ? "
Er sah sie mit runden verlegenen Augen an :
" Aber Tante Olga , den hast du mir doch selbst gearbeitet ! "
Die Tante schüttelte aufmerksam den Kopf :
" Wie könnte ich ein solch feines Werkchen schaffen ! . . .
Wie sollte mir das Hütlein stehen ?! "
Liesel setzte es ihr auf den Kopf , und nun sah sie sich erwartungsvoll fragend im Kreise um , während Liesel in ohnmächtige Heiterkeit ausbrach und fast in den Armen ihres jungen Nachbars lag .
Der Wein machte seine Wirkung bei ihr geltend .
Die Tante aber äußerte beschämt den Wunsch , das Hütlein behalten zu dürfen , was ihr Peter gerne gewährte .
Da klopfte es draußen .
Die Magd trat herein und überreichte dem Herrn Kantor eine Karte .
" Ah ! " sagte dieser erstaunt .
" Bitte den Herrn in mein Arbeitszimmer zu führen . "
- Es war der Vater seines Pensionärs , der ihm mit feinen Worten die Eröffnung machte , daß er noch heute mit seinem Sohne nach dem Süden abzureisen gedenke :
Der Kantor lud ihn höflich ein , ein Glas Wein mitzutrinken ; sie befänden sich bei einem Familienfeste .
Der Sohn war nicht wenig überrascht , plötzlich seinen Papa eintreten zu sehen , und noch überraschter , als er erfuhr , daß er fort solle .
Zwar wußte er genau , daß er nicht nach dem Süden , sondern in eine bessere Pension gehen würde , um die er ihn brieflich gebeten hatte , aber nun traf es ihn doch etwas unerwartet und keineswegs erwünscht .
Sein Vater durchschaute sofort den Grund seines mühsam verhaltenen Ärgers , als er das schwarze Liesel in dem leichten weißen Wollkleid sah mit ihren heißen , verliebten Augen .
Die beiden hatten sich bei Tisch unausgesetzt die Hände gereicht .
- Er fand den Geschmack seines Sohnes nicht übel . -
Als er sah , wie Frau Michel um seine Gunst buhlte , da ließ er sich ihr gegenüber noch zu ganz besonderen Artigkeiten herbei , als ein Mann der Welt , der sich auch einmal in niedere Sphären herabläßt .
Aber er bedauerte , so wenig Zeit zu haben und sich selbst dem Vergnügen allzufrüh entziehen zu müssen ; er bestellte seinen Sohn zu sich ins Hotel und empfahl sich in liebenswürdigster Weise .
Damit gab er das erste Zeichen zum allgemeinen Aufbruch .
Der Abschied von dem Pensionär war wohlwollend , aber nicht sehr herzlich .
Dem Liesel wollte er noch Adieu sagen , aber die war verschwunden .
Sie lag auf dem Bett und weinte zornige Tränen .
So verächtlich wie er war !
Hätte er nicht seinen Vater bitten können , hierbleiben zu dürfen , wenn ihm irgend etwas an ihr gelegen war ?!
Aber sie war ihm gleichgültig ; er hatte ja so viele Mädchen , und sie war nur eine mehr .
Sie bis sich in Haare und Hände .
Dann sprang sie mit einem Ruck vom Bette , lief an den Wandtisch und tauchte ihr vom Weine , von der Aufregung , den Tränen heißes und gerötetes Gesicht ins Wasser .
Sie wollte es nicht zeigen , daß sie sich etwas daraus mache .
Nun erst recht nicht !
Überhaupt war sie froh , daß er fort war , und wenn Peter , der dumme Bauernjunge , sie etwa auslachte , so sollte er schon sehen !
Dieser begleitete inzwischen seine Mutter und die Tante in den Gasthof .
" Wo ist denn Fanny ? " fragte er plötzlich .
Alle vermißten ihn erst jetzt .
War er denn überhaupt mitgegangen ?
" Dort hinten ist er ! " rief Peter .
" Fanny !
Fanny ! " -
Fanny hob den Kopf , aber wandte sich gleich wieder fort .
Diese Stadt erschien ihm als ein Paradies .
Nie hatte er so viel Hunde auf einem Fleck gesehen .
" Sieh dich nicht um ! " herrschte Frau Michel ihren Sohn an , als sie weiterschritten .
Vor dem Eingang des Gasthofes blieben sie stehen und warteten .
Und endlich kam Fanny um die Ecke , staubbedeckt , wie ein Vagabund , und wedelnd .
Frau Michel würdigte ihn keines Blickes .
Sie lobte Peter und sagte ihm , er sei ein braver Junge .
Tante Olga hängte sich an seinen Hals und schluchzte haltlos .
- " Gott sei Dank " , sagte Frau Michel noch leise zum Abschied , " daß mit Tante Olga alles noch einigermaßen glimpflich abgegangen ist .
Es ist ein reines Wunder , daß sie nicht etwas wirklich Fürchterliches angerichtet hat ! "
- Es war schon Abend , und die Laternen brannten , als Peter nach Hause kam .
- Er saß noch still bei der Frau Kantor - und so klang der Abend schön und harmonisch für ihn aus .
Der Besuch Tante Olgas hatte noch ein Nachspiel , das sich jedoch in Peters Heimatdorf vollzog und dort großes Aufsehen erregte .
Es handelte sich im Grunde nur um eine neue Gotteshausvisite , aber die begleitenden Umstände waren rätselhafter Art .
In einem fürstlichen , reichen weißen Atlaskleid mit reichem Brokatbesatz , silberblinkend , huschte sie während der Predigt hochrot und eilig wie eine Otter durch die Reihen , indem sie sich nur manchmal nach ihrer langen Schleppe umsah .
Das Hütlein mit der goldenen Troddel stach seltsam in die Luft .
Der Pastor hielt einen Augenblick im Gebete inne und betrachtete überrascht die besondere Erscheinung .
Sie umkreiste vorsichtig , in großem Bogen die Kanzel und ließ sich endlich in gemessener Entfernung auf einem Stuhle nieder , dessen Nachbar frei war , so daß sie die beiden nach Gelüsten oft vertauschen konnte .
Ihr flacher Busen hob und senkte sich , funkelnde Blicke schoß sie nach allen Seiten , scharf und schnell sah sie zum Pastor auf , und unverweilt wühlte sie in ihrem Buche nach dem einschlägigen Evangelium , um ihn bei einer Fälschung des Textes zu ertappen .
Aber sie fand die Stelle nicht und klappte es mit dumpfem Knalle wieder zu .
Dann weidete sie sich an den erstaunten Blicken rund um sich her .
Das Schlußlied sang sie mit , leise und zurückhaltend , da sie sich einbildete , es selbst gemacht zu haben , " eine kleine Sache " , wie sie bescheiden dachte .
Als sich dann aber die Gemeinde erhob und die Frauen sie umdrängten , schnellte sie aus ihrer Zerstreutheit empor und verließ die Kirche fluchtartig .
Da es zu regnen begonnen , stutzte sie einen Augenblick , dann streckte sie dem Himmel ihre Zunge raus , nahm mit einem Ruck ihr Kleid empor , zog die Schleppe vorn zwischen den Beinen durch und eilte von dannen .
Ihre roten langen Strümpfe flackerten im Regen , ein Knäuel von Menschen sah ihr nach .
Sehr bald aber ließ sie Kleid und Schleppe wieder fahren , und wie sie zu Hause schnell aufs Bett gesprungen war und nun dort lag , streckte sie den Hals , lugte zu ihren Füßen hinunter und besah nachdenklich den Schaden .
Dann pfiff sie leise eine wilde Melodie .
- Da trat Frau Michel ein .
Anstatt von der Kirche heimzukehren , war sie , nicht so flink wie ihre Schwägerin , deren Spur gefolgt , nun stand sie kurzatmend auf der Schwelle , und keuchend tat sie ihre Frage : wie sie zu diesem Feenkleid gekommen sei .
Tante Olga sah durchdringend aufmerksam auf sie , aus ihren großen grauen Augen .
Frau Michel fragte dringender .
Lautlos und behutsam legte sie da ihre langen Hände vors Gesicht und bedeckte es vollkommen , so , wie man ein flaches Gehäuse über ein Grab tut zum Schutz gegen kommende Unbilden der Witterung .
Gewohnt an die Seltsamkeiten ihrer Schwägerin , trat Frau Michel dicht an sie heran und suchte ihre Hände zu entfernen .
Da aber stieß sie so fürchterliche , langgezogene , schrille Töne aus , daß sie erschrocken losließ und sie anstarrte .
- Unbeweglich lag Fräulein Michel , nicht einmal ihr Atem war zu hören .
Frau Michel machte kehrt und lief hinaus .
Tante Olga blieb in ihrer starren Lage , lange Zeit , ohne sich zu rühren , endlich glitten ihre Hände langsam vom Gesicht und fielen auf die Brust , denn sie war eingeschlafen .
- Als sie ihre Augen wieder öffnete , war es schon dämmrig in der Stube .
Sie setzte sich aufrecht in ihr Bett , zog die Knie unters Kinn und umschlang sie mit den Armen .
Da fiel ihr alles wieder ein , sie wandte ihr Gesicht zur Tür , streckte den Oberkörper ein wenig vor , erhob langsam , in weitem Bogen , den Finger und drohte leise in die Leere .
Dann sah sie wieder vor sich hin , stieß endlich einen langen Seufzer aus , schnellte sich vom Bett herunter und entledigte sich in größter Eile ihres Silberstaates , den sie sogleich in die tiefste Ecke ihres Schrankes stopfte .
Und da sie nichts anderes wußte , kauerte sie sich in einen Winkel neben ihrem Bett und starrte unausgesetzt zur Tür , erst ohne Grund , dann , um sie zu bewachen .
Aber alles blieb ruhig , es wurde immer dunkler , ihre Zähne klapperten leise , und sie verspürte großen Hunger .
Sie erhob sich wieder , zog ihr graues Hausröckchen an , warf den Mantel um - einen alten abgelegten Mantel des Großvaters - , stand wieder einen Augenblick bewegungslos , indem sie murmelte :
" Die Welt ist wie ein Höhnerei , erst kommt das Gelbe , dann das Weiße und dann die Schale " - dann verließ sie das Haus , um sich zu ihrem Bruder zu begeben .
Wie sie die vielen zusammengeschnittenen Sohlen auf dem Boden liegen sah , vergaß sie ihren Hunger und bezeugte großes Interesse an dem Schustertum , das sie so viele Jahre zu beobachten Gelegenheit hatte .
Sie ließ sich eine Menge Handgriffe zeigen , ohne einen Zusammenhäng zwischen ihnen zu ahnen , und machte ihrem Bruder den Vorschlag , sich mit ihr zusammenzutun , in die Hauptstadt zu ziehen , dort wollten sie gemeinsam eine Riesenwerkstätte eröffnen .
Frau Michel könne hier am Orte bleiben .
Herr Michel hatte Bedenken .
Da rief sie : " O du törichter Mann !
Wie wenig du die Welt kennst !
Hunderte von Männern trennen sich von ihren Frauen , und noch wegen ganz anderer Dinge . "
- Dann fragte sie ihn , wenn heute die Polizei alles Kupfergeschirr der Welt verhaften würde , wieviel da wohl zusammenkäme .
Und während Herr Michel einen Berg von Kesseln aufgetürmt sah , noch höher als der höchste Hügel , den er kannte , fuhr sie von ihrem Stuhl empor und sagte , sie vergäße ganz den Heimgang .
Ziellos irrte sie draußen in der Nässe .
Durch Zufall traf sie auf ihre Schwägerin .
Frau Michel war am Spätnachmittag bei der Schulzenfrau gewesen , ihrer besten Freundin , bei der sie auch noch andere Gesellschaft traf .
- " Sie liegt auf ihrem Bette und schreit ! " war alles , was sie auf die Fragen zu erwidern wußte , dann schwiegen alle und blickten grübelnd in die Lampe ; gleißend und lockend schimmerte das Kleid vor ihren Augen , und die Frau Pastor sagte endlich :
" Ich weiß es klar , der Teufel führt uns in Versuchung , weil sie den Teufel in sich hat . "
- Dieses leuchtete allen ein , und auch Frau Michel nahm sich vor , es zu glauben , wenn sie nicht einen anderen Ausweg fände .
Auf diesem Ausweg befand sie sich bereits , er schien glatt und eben , aber gerade wenn sie schon glaubte , draußen zu sein , war er plötzlich wieder versperrt .
Ihre Überlegungen waren folgende :
Daß ihrer Schwägerin das Kleid um Mitternacht in den Schoß geflogen sei , schien ihr unwahrscheinlich , denn im Prinzipe glaubte sie an keinen Teufel .
Es mußte ihr also von auswärts gekommen sein .
Was war natürlicher , als daß sie es in letzter Woche , als sie von Peters Konfirmation im fernen Städtchen heimreisten , in der Postkutsche mitbrachte .
Zwar erinnerte sie sich nicht , ein fremdes Paket erblickt zu haben , aber wie viele Pakete übersieht man nicht in seinem Leben , wenn sie einen vorläufig nichts angehen !
Seit jenem Augenblick , wo Tante Olga verspätet , überraschend , nachdem die Konfirmation bereits beendet war und die Gemeinde die Kirche schon verlassen hatte , durch die Pforte drang , seit jenem Augenblick bis zur Heimfahrt in ihr Dörfchen waren sie stets beisammen gewesen .
Sie mußte sich also das Kleid schon vorher verschafft haben . . . aber hier blieb alles dunkel .
Oft und oft machte Frau Michel diesen Gedankenweg , wie ein Tier , das eingeschlossen ist und immer wieder denselben kleinen Gang hinabläuft , da es nur diesen einzigen gibt , und an seinem Ende regelmäßig mit der Schnauze an die Wand stößt .
Argwöhnisch spähte Tante Olga jetzt auf die sich nahende Gestalt , von der sie vorläufig noch nicht wußte , was es war .
Dann aber schrie sie auf , denn Fanny , den sie in der Dunkelheit nicht sah , war über ihre Füße gesprungen , und sie hatte geglaubt , es wäre ein Mannsbild .
Frau Michel kam eine plötzliche Erleuchtung : " Olga ! " sagte sie in strengem Ton , " du hast das Kleid gestohlen ! " -
Einen Augenblick war Stille , dann fiel Fräulein Michel mit lautem , tiefem Baßton ein : " Oho !
Oho !
Halt den Dieb ! " und entwich in die Finsternis , gefolgt von Fanny , der aufgeregt und toll bald den Saum ihres flatternden Kleides , bald einen ihrer Arme zu erwischen suchte , und endlich wie fliehend ihr voraussprang .
" Halt den Dieb !
Halt den Dieb ! " verklang es in der Ferne .
Am nächsten Sonntag war die Kirche drängend voll besucht .
Fräulein Michel hatte eine dunkel-furchtbare Tat vorhergesagt für diesen Tag , an dem es , ihrem Ausdruck nach , zwischen ihr und dem Pfarrer , ja vielleicht einem noch Höheren , ein für allemal zum Austrag kommen werde .
Sie hatte hinzugesetzt :
" In voller Wehr werde ich erscheinen ! " so daß man einen noch gesteigerten Anblick erwartete .
Minute auf Minute verrann , der Pfarrer schielte ängstlich über sein Gebetbuch weg zur Kirchentür - und wirklich , da erschien das Ärgernis , aber nicht gleißend angetan oder gar noch gleißender als das letztemal , sondern in bescheiden grauem Hausrock , mit verweinten Augen .
Demütig setzte sich Fräulein Michel auf die letzte Reihe , wo sie schlicht verharrte , so daß man sie , nachdem die Kirche sich geleert , vertreiben mußte .
Eine dichte Menge umstand sie , neugierige Fragen umflogen sie , wo denn ihr Rüstzeug geblieben sei ; sie aber antwortete nicht und eilte weinend wieder nach Hause .
Nie mehr wurde das Kleid gesehen , nie wurde seine Herkunft und sein Hingang aufgeklärt , denn der einzige Mann , der davon wußte , schwieg , und das war der Großvater .
Er empfing einen Brief vom Kantor , der die Erklärung lieferte .
Eines Morgens nämlich besuchte der Kantor eine Dame , welche niemand kannte und die auch sogleich wieder in ihre diskrete Abgeschlossenheit zurücktrat .
Sie nannte sich Fräulein Minte und hatte in früheren Jahren Fräulein Michels Bekanntschaft in einer kleineren Stadt gemacht .
Bei näherem Verkehr hielt sie sie für eine gebildete und geistreiche Person , sie wurden Freundinnen und wechselten Liebesringe .
Nun hatte Fräulein Minte eine Base , die jetzt tot war , früher aber bei einer Herzogin als Kammermädchen diente .
Testamentarisch wanderte ein abgelegtes , aber immer noch recht präsentables Prunkkleid der Fürstin von der Base auf Fräulein Minte über . -
Einst , in einer weichen Stunde , zeigte sie Fräulein Michel diesen Schatz , und von da an waren deren Gedanken nur auf ihn gerichtet .
Da war ihre Freundschaft natürlich zu Ende .
Sie trennten sich , und Fräulein Michel war für sie verschollen , Jahre und Jahre hindurch , bis jetzt das Schreckliche hereinbrach :
Als sie am letzten Sonntag von einem Ausflug heimkehrte , war der Schrank geöffnet und das Kleid verschwunden .
Daß aller Wahrscheinlichkeit nach Fräulein Michel der Dieb war , ging daraus hervor , daß diese ihr gleich am folgenden Tage brieflich versicherte , sie sei gestorben - ein ganz plumpes Manöver , das den Verdacht von ihr ablenken sollte und womit sie sich nur selbst verriet .
Zu allem Überfluß begegnete ihr am selben Tag ein Junge , hinter dem ein anderer die Worte herrief und - sang : " Michel Peter , Michel Peter , Nichts versteht er , nichts versteht er . "
Auf diesen Jungen nun , den sie im übrigen ganz außerordentlich lobte , stürzte sie sich mit der Frage : " Hast du eine Tante Olga ? "
Er bejahte dieses stark errötend und erzählte , daß sie am Sonntag zu seiner Konfirmation dagewesen , aber bereits wieder abgereist sei .
Darauf begab sie sich zu seinem Pensionsvater , dem Kantor .
Der schrieb an den Großvater , und der ging hin zu Tante Olga und drohte ihr mit der Polizei und ewigem Zuchthaus .
Erschrocken wickelte sie das Kleid zu einer Kugel , trug diese nächtlich zu dem Haus des Großvaters und warf sie zu seinem Schlafzimmerfenster hinein .
Im Pakete lag ein Zettel , darauf bat sie sehr bescheiden und in ganz normalen Ausdrücken :
Fräulein Minte möge ihr doch jenes Kleid in etwa fünfzig Jahren gütigst vermachen .
Alle nach unten frei auslaufenden Buchstabenstriche ihrer dünnen , langgezogenen Schrift hatte sie nach Schluß des Schreibens verlängert , nach einem festen Punkte hin , unten auf dem Papier , wo sie sich sämtlich trafen .
Daran hatte sie einen pfeilspitzenartigen Haken gemacht , und dieser Haken traf mitten in ein schiefes Herz , in welchem " Olga " stand , welches Wort zugleich die Unterschrift des Briefes war .
3. Kapitel Peter stand an einem Wendepunkt seines Lebens :
Er sollte die Universität beziehen .
- Der Kantor sprach ihm seine Zufriedenheit über das bestandene Examen aus und schüttelte ihm derb die Hand .
Dann dachte er einen Augenblick nach , fuhr in die Tasche , holte ein Zigarrenetui hervor und hielt es ihm geöffnet hin .
- " Na , nimm nur eine !
Sind nicht schwer !
Du bist ja nun kein Kind mehr und darfst schon einmal eine Zigarre rauchen ! "
Peter wußte , daß den Kantor eine ausgeschlagene Freundlichkeit , wenn auch mit Grund ausgeschlagen , sehr verstimmte .
So überwand er sich , nahm dankend die gebotene Gabe und versuchte , die Spitze der Zigarre abzuschneiden .
Aber das Deckblatt brach und schälte sich ab. - " Ja , so mußt du es nun nicht machen ! " sagte der Kantor leise unmutsvoll .
" Paß Mal auf :
So ! "
Er schnitt kunstgerecht eine neue ab , setzte sie selbst in Brand und überreichte sie Peter .
Dann lud er ihn ein , sich mit ihm an den Tisch zu setzen und zu plaudern .
So saß der unglückliche Junge nun da und sog und sog , und die Zigarre schien in absehbarer Zeit nicht ihrem Ende entgegenzugehen .
Der Kantor blies starke Wolken ; mitunter auch gebaren seine Lippen dicke blaue Nebelringe , denen Peter höflich auswich , wenn sie ihn erreichten .
" Nun sage Mal " , begann er endlich , " Mathematik willst du studieren ?
Hm. Ja ; ein schönes Studium !
Nur wundert mich eigentlich , wie du gerade auf Mathematik geraten bist !
In der Schule warst du ja wohl genügend in dem Fache , aber recht eigentlich gut doch nicht !
Wie kommst du nun auf die Idee , Mathematik studieren zu wollen ?
Hast du dir das auch recht überlegt ? "
- Peter nickte .
- " Soviel ich von Fachleuten weiß , ist das Studium für Begabte zwar kein übermäßig schweres , aber es erfordert eben gerade diese Begabung , und ich bin mir nicht recht klar , ob sie wirklich in dir vorhanden ist .
Möchtest du nicht lieber Theologie studieren ? "
- " Nein , eigentlich nicht " , antwortete Peter bescheiden .
- " Und zu einem anderen Fache hast du auch keine Neigung ? "
Peter dachte nach und fühlte plötzlich eine leise Übelkeit .
- " Nein " , sagte er endlich , " eigentlich nicht . "
- " Ja , also dann bleibt nur die Mathematik .
Diesem Fach widmest du dich also wirklich mit Leidenschaft .
Es ist der Beruf , zu dem du dich geschaffen , wirklich » berufen « fühlst .
Nicht wahr ? " -
Peter nickte ein unsicheres " Ja ! "
- " Na dann ist ja alles gut !
Ich habe Leute gekannt , die ohne großes Talent sich der Mathematik widmeten ; die ganz gut ihren Platz ausfüllten , aber die es dann auch nie weiterbrachten als bis zum Unterricht in den niedrigsten Klassen .
Und solche Stellung möchte ich dir nicht wünschen ; und deshalb halte ich es für meine Pflicht , mich davon zu überzeugen , ob du dich der Sache auch mit Liebe und Leidenschaft widmest . "
- Peter fühlte , wie ihm übler wurde und ein leiser Schwindel seinen Kopf ergriff .
- " Aber " , fuhr der Kantor fort , " ich bin meiner Sache doch nicht ganz sicher .
Deine Antworten klingen alle etwas zaghaft .
Ich traue dir , wie gesagt , eigentlich nicht so ungeheuer viel Talent für Mathematik zu , aber ich wüßte auch wieder kein anderes Fach , für das du besonders geschaffen wärest .
Aber vielleicht irre ich mich .
Ich kann es ja nicht so genau wissen wie du selbst ! "
Er machte eine Pause und sah Peter fragend an .
Dieser hatte jetzt nur noch einen Wunsch : aus dem Zimmer herauszukommen .
Gerade wollte er es bescheiden sagen , als der Kantor fortfuhr :
" Aus deinem Schweigen ersehe ich , daß du dir selbst nicht klar über dich bist .
Es ist ja schwer , in solch jungen Jahren einen Entschluß zu fassen , der ausschlaggebend für unsere ganze spätere Existenz sein soll - aber , lieber Gott , wie die Verhältnisse im menschlichen Leben nun einmal liegen - , bitte unterbrich mich nicht , muß man sich fügen und das Beste dabei zu gewinnen suchen .
Als ich jung war , hatte ich keinen Vater , der für mich sorgte , und als es sich darum handelte , mir eine Existenz zu schaffen , da habe ich - "
Mit einem plötzlichen Ruck fuhr Peter vom Stuhle auf , riß sein Taschentuch vor den Mund und stürmte hinaus .
Erstaunt sah ihm der Kantor nach .
Bald darauf trat seine Frau ins Zimmer :
" Aber lieber Willibald , wie konntest du dem Jungen auch solch eine schwere Zigarre geben !
Er hat ja noch nie geraucht !
Es ist wirklich nicht recht von dir ! "
- Ihr Mann sah sie mit großen Augen an .
- " Ja , du lieber Gott " , polterte er endlich los , " weshalb sagt er denn das nicht gleich ?
Ich wollte ihm eine Freundlichkeit erweisen ; und wenn er das nicht vertragen kann , so soll er es doch sagen ! " -
Während er sprach , bewegte er energisch den Oberkörper , zuckte mit den Achseln , und bei den letzten Worten schlug er mit den Händen auf beide Knie , worauf er seine Frau abermals anstarrte .
Sie ging wieder hinaus , um nach Peter zu sehen . -
Er blieb zurück , stieß ein paar Töne aus und schüttelte den Kopf ; dann starrte er auf das Tischtuch , schüttelte abermals den Kopf und verließ endlich brummend und langsam das Zimmer .
Er hatte Peter noch einige Ermahnungen betreffs der Weiber geben wollen und sich dieses bis zuletzt verspart .
Um diese für den Jungen nützliche und ihn selbst befriedigende Predigt hatte ihn nun Peter durch seine dumme plötzliche Übelkeit gebracht .
Der Abschied von der Familie wurde Peter sehr schwer .
Liesel überreichte ihm eine schöne Torte , die sie selbst gebacken hätte .
- " Eigentlich hat sie nur die Rosinen in den Gossenstein geworfen ! " erläuterte ihre Mutter .
- " Aber ich habe sie alle wieder herausgefischt ! " erwiderte sie prompt .
- " Aber Liesel ! "
- " Wenn man sie abwäscht ?! " -
Peter sah sie ernsthaft an .
In den letzten Jahren hatte sie sich sehr entwickelt .
Ihre schwarzen , vollen Haare trug sie in einen großen , schweren Zopf gebunden .
Ihre Bewegungen waren sicherer geworden , ohne an Natürlichkeit verloren zu haben .
Peter liebte sie mit seiner vollen Knabenseele .
Und jetzt sollte er sie verlassen .
- Ohne daß er es hindern konnte , stiegen ihm die Tränen in die Augen , und seine Lippen zuckten .
Die Mutter ahnte den Zusammenhäng , streichelte ihn und sagte : " In den Ferien besuchst du uns später einmal , wenn es möglich ist , nicht wahr ?
Übrigens , Liesel , wo hast du denn das kleine Andenken , das du Peter gearbeitet hast ? "
Liesel spitzte die Lippen und bemühte sich , ausdrucksvoll etwas zu flüstern .
Aber die Mutter verstand absolut nichts und wiederholte ihre Frage .
Da ging das Liesel hinaus und kam mit einem kleinen Paketchen zurück .
Aus rosa Seidenpapier wickelte sie ein Buchzeichen .
Auf silbernem Grunde stand da mit grüner Seide gestickt : Pete .
" Ich habe es noch nicht fertiggemacht ! " sagte sie .
- " Aber das ist doch unverzeihlich ! " rief ihre Mutter wirklich ärgerlich ; " nun gehe Mal gleich hin und sticke noch das r hinein ; was soll denn Peter von dir denken ! "
Peter dankte Liesel und wagte gar nicht , ihr die Hand zu geben . -
Das r wurde nun noch schnell hineingestickt und sogar ein Punkt dahinter durch ein liegendes Fadenkreuzchen angegeben .
- Der Kantor hatte sich schon am frühen Morgen verabschiedet , sein Bedauern über den Vorfall des gestrigen Abends ausgedrückt und ihm noch einmal ans Herz gelegt , " erst zu wägen , dann zu wagen " .
Die Frau Kantor küßte ihn herzlich zum Abschied , und als er und Liesel sich die Hände reichten , sagte sie : " Na , ich finde , ihr beide könntet euch auch einen Abschiedskuß geben ! " -
Peter war wie erstarrt , aber das Liesel kam ihm ganz nah , und plötzlich spürte er etwas Warmes , Weiches auf seinen Lippen .
Sie war freundlich , aber ziemlich ungerührt .
Und dann rollte der Wagen über das holprige Pflaster der Stadt .
An all den bekannten Plätzen fuhr er vorbei ; teilnahmslos sah er all die bekannten Leute ihren gewohnten Beschäftigungen nachgehen ; und auch sie beachteten ihn nicht .
Unterwegs stiegen noch andere Personen ein .
Dann hörte das Rasseln auf , und man gelangte auf das freie Land . -
Am liebsten hätte er seinen Tränen freien Lauf gelassen .
Aber ihm gegenüber saß ein Mann mit seiner Frau und Tochter .
Die Blicke der Frau ruhten fast unausgesetzt auf ihm .
Sein Anzug machte ihr sehr den Eindruck der Neuheit ; sie fand den gleichmäßig gesprenkelten Stoff schön .
Dann wunderte sie sich über die breiten Schultern des Jungen .
Die Haare , fand sie , waren zu lang ; sie hingen etwas über die Ohren .
Sie taxierte ihn auf sechzehn Jahre .
Seine Hände waren bis an die kindlichen Gelenke bräunlichrot .
Peter bemerkte , wie er beobachtet wurde , und sein Blick glitt schüchtern an sich selbst hinunter .
" Sie reisen gewiß recht weit ? " schrie die Dame plötzlich , indem sie sich etwas vornüber neigte .
Peter hustete hastig und beeilte sich , Auskunft zu erteilen .
Der Mann warf ihm einen trockenen Blick zu und starrte wieder vor sich nieder , nachdem er langsam nach unten in den Wagen gespuckt hatte .
Dann schwiegen alle wieder , und Peter konnte nicht entscheiden , ob die Frau ihn ansah , oder ob sie an ihm vorbeiblickte .
- Er ließ jetzt seine eigenen Augen herumwandern ; sie blieben auf dem jungen Mädchen haften .
Das mürrische Geschöpf tat plötzlich den Mund auf und gähnte .
Er konnte ihr tief in den Rachen sehen .
Sie schloß ihn aber gleich wieder und machte Augen , als sei nichts vorgefallen .
Dann legte sie den Kopf zurück , um zu schlafen , und nun sah er ihr tief in die Nasenlöcher hinein .
Ihre Lippen erschienen in der zurückgelehnten Stellung sehr hinaufgezogen und gaben dem Gesicht einen verdrossen-hochmütigen Ausdruck .
Peter betrachtete sie nachdenklich , mit etwas gesenktem Kopf , während sein eigener Mund die tiefste Ruhelage annahm .
Die Frau bemerkte es und gab ihrer Tochter einen leichten Stoß .
- " So eine Hochzeit ist doch was Gräßliches ! " sagte diese , aus ihrer Ruhe etwas aufgestachelt .
Das war die Einleitung zu einem längeren Zwiegespräch der beiden .
- " Warum machte die Liesel von dem Kantor eigentlich keine Brautjungfer ? " fragte ihre Mutter .
" Ich denke , die ist so befreundet mit ihr ? "
- " Gewesen !
Soll ' ne furchtbar hochmütige Person sein .
Und so 'n junges Ding noch und schon verlobt ! "
- " So ? mit wem denn ? "
- " Mit dem Pensionär , der bei ihnen wohnt ! " -
Peter war dunkelrot geworden .
Er bog sich gegen das Fenster und horchte gespannt , was folgen werde .
Aber die Tochter schien wieder zu gähnen , und dann sanken beide in ihr Schweigen zurück . -
Also man sagte , er und Liesel seien verlobt !
Er errötete noch einmal bei dem Gedanken und dachte , daß sie ihn doch recht liebhaben müsse , weil sonst die Leute so etwas nicht sagen könnten .
Ein Gefühl stillen Glückes zog in seine Seele , und er versank in Träumerei .
Am nächsten Tage langte er in der Heimat an .
Von fern erblickte er den alten Kirchturm im Abendrot , und ihm war , als habe er einen langen , langen Traum hinter sich .
Dann sah er nicht hundert Schritte entfernt einen Mann stehen , und er erkannte seinen Vater .
Dieser blickte aufmerksam zu dem Wagen hinüber ; Peter sprang heraus .
- " Kennst du mich denn nicht ? " rief er ihm zu .
" Ich bin es ja ! "
Da ging eine Veränderung in Herrn Michels Zügen vor , und er schloß ihn in seine Arme .
Beide waren ein wenig verlegen .
Ihr Gespräch stockte alsbald .
Herr Michel hatte etwas Furcht vor seinem Sohn .
In Peter war ein ähnliches Gefühl , noch unklarer .
- " Wo ist denn Mama ? " fragte er endlich .
Da sagte ihm sein Vater , sie sei schon seit vier Tagen bei dem Großvater , dem es plötzlich sehr schlecht ginge .
Der Bader meine , es sei Altersschwäche .
Peter hörte auf jedes Wort und sah dabei gedankenvoll auf all die bekannten Wege , die sie gingen .
Alles war noch da wie früher .
Nur schien alles kleiner geworden .
Da stand auch noch der alte , runde Stein auf seinem Fleck , auf dem er immer " König " spielte .
- Im Wohnzimmer saß Fräulein Michel und überreichte ihm ein Sträußchen mit einem Verslein : Beterlein die Blümchen Von deiner Tante Olgalein .
Dann umarmte sie ihn heftig , sagte , sie wolle durchaus nicht stören , diesen Abend gehöre er ausschließlich den Eltern , und verschwand diskret und geschwind wie ein Wiesel .
Nach dem Abendessen sagte Herr Michel zu seinem Sohne , er möchte nun einmal hinübergehen zum Großvater .
Er habe die letzte Zeit viel von ihm geredet und würde sich freuen , ihn vor seinem Ende noch einmal wiederzusehen .
" Warte , ich zünde dir die Laterne an ! "
Herr Michel bediente ihn , wo er konnte , mit einer schüchtern-zärtlichen Hochachtung .
Anfangs ging Peter etwas ängstlich , aber allmählich erinnerte er sich genau des Weges , und schließlich ging er mit unbewußter Sicherheit , jedes Steines , jeder Senkung , jeder Windung sich entsinnend .
Des Großvaters Fenster war matt erleuchtet .
Ein fremdes Mädchen öffnete die Tür .
Im Vorplatz traf er seine Mutter .
Sie begrüßten sich fast schweigend .
" Er weiß , daß du da bist " , flüsterte sie , " und will dich sehen . " - Peter trat auf den Zehn ein .
Ein Nachtlicht erhellte matt den Raum .
Im Bett sah er einen alten Mann mit schneeweißem Bart und eingefallenem Gesicht , regungslos , mit geschlossenen Augen .
" Vater ! " sagte Frau Michel in leiselautem Ton .
" Vater !
Peter ist da ! "
Der alte Mann rührte sich etwas , drehte mühsam den Kopf zur Seite , faßte tastend Peters Hände und sagte abgebrochen :
" Ist das Kind zurückgekommen ? "
Dann suchten seine Augen in der Dämmerung , traurig bewegte er den Kopf , sank in die Kissen zurück und atmete schwer .
Frau Michel bedeutete Peter , hinauszugehen .
Er war ganz betroffen :
So hatte er sich seinen Großvater nicht vorgestellt ! -
Draußen sagte sie :
" Er wird wohl diese Nacht verscheiden . "
Dann fuhr sie sinnend fort : " Wer hätte gedacht , daß es so bald mit ihm zu Ende gehen würde ! "
Er ging beklommen die Treppe hinunter und verließ das Haus .
Nach einer Weile drehte er sich um : da lag das Fenster nach wie vor , schweigend , ein mattes Viereck .
Als er zu Bette gehen wollte , stellte es sich heraus , daß ein solcher Fall nicht vorgesehen war .
Seine Mutter hatte mit dem Großvater zuviel zu tun gehabt , um daran zu denken , und von seinem Vater war dies nicht zu erwarten gewesen .
So stand denn Peter an seinem alten Kinderbett und überlegte .
Herr Michel wußte keinen Rat .
Peter schlug schließlich vor , er wolle sich in das Bett seiner Mutter legen , da sie ja doch die Nacht beim Großvater wache .
Das fand Herr Michel dann sehr verständig .
- So lagen nun beide nebeneinander , und jeder meinte den anderen glauben zu machen , er schliefe .
Allmählich unterschied Peter in der Dunkelheit einige Gegenstände .
Alles war ihm bekannt und kam ihm doch fremd vor .
Wie seltsam war ihm zumute !
Nun war er daheim , wirklich daheim .
An seinen Vater hatte er oft gedacht ; der war weit , weit fort von ihm ; und nun wußte er ihn plötzlich neben sich , er brauchte bloß die Hand auszustrecken , so würde er ihn berühren . -
Herr Michel seinerseits wagte kaum zu atmen ; er hatte ähnliche Gedanken wie sein Sohn ; aber eine Scheu hielt auch ihn zurück .
- Den nächsten Morgen kam Frau Michel nicht .
" Wie wollen wir nun Kaffee trinken ? " sprach Herr Michel .
Peter fragte , wo die Kaffeemühle stände ; sein Vater zeigte ihm den Ort , und Peter bereitete selbst das Frühstück .
Beim Malen dachte er an die Frau Kantor und an Liesel - und ein wehes Gefühl stieg ihm im Halse hinauf .
- Nach dem Frühstück erschien Frau Michel : ihrem Vater ging es besser ; er war in tiefen Schlaf verfallen .
Nach Tisch machte Peter einen Spaziergang , besuchte all die alten Stellen und traf auf dem Rückweg einige junge Menschen , mit denen er die Dorfschule besucht hatte , die ihn mit Hallo erkannten und ihn sogleich fragten , ob er eine Braut habe .
Wie ungebildet sie aussahen !
Peter nahm unwillkürlich eine bessere Gangart an .
Zu Hause erfuhr er , daß es dem Großvater wieder schlechter ging .
Den Rest des Tages verbrachte er , indem er einen Brief an die Frau Kantor und an Liesel schrieb .
Aber diesen zweiten zerriß er wieder und fügte dem ersten nur einen herzlichen Gruß an Liesel bei . -
Den nächsten Morgen kam die Nachricht , daß der Großvater in der vergangenen Nacht gestorben sei .
Es erschütterte ihn , ohne daß es ihn schmerzlich traf .
Er dachte fortwährend : wie er wohl aussieht , und ob ich ihn noch einmal sehen werde ? -
Der Schulze nahm Frau Michel alles Geschäftliche ab .
Sie hatte sich bei der Krankenpflege wirklich aufgerieben , vor allem aus Pflichtgefühl , denn er war ihr Vater und sie seine Tochter . -
Am dritten Tage fand die Einsegnung des Toten statt .
Peter hatte ihn nicht noch einmal gesehen ; als seine Mutter ihn dazu aufgefordert , hatte er den Kopf geschüttelt und gesagt , er habe Furcht .
Frau Michel begriff das nicht , ließ ihn aber gewähren , weil sie sich sagte , in solchen Dingen dürfe man niemandem hineinreden .
Der Pastor zählte die Verdienste des Verstorbenen auf und sagte , sie trügen einen guten Mann hinaus .
Dann wurde der Sarg hinabgesenkt in das Grab , und die Schulkinder streuten Blumen über ihn , die sie draußen auf den Wiesen gepflückt hatten .
Dann sangen sie einen Choral , daß es weithin über alle Gräber schallte , während die schneeweißen Wolken oben an dem klaren Aprilhimmel dahinjagten .
Beim Leichenschmause wußte jeder eine kleine Anekdote von dem Toten zu erzählen ; dann verstummte das Gespräch , weil man es erschöpft hatte , und Fräulein Michel sagte nickend und kauend und mit Tränen in den Augen : " Ja , ja , nun ist er mausetot ! "
- Es war unausbleiblich , daß Peter in den Mittelpunkt der Unterhaltung gerückt wurde .
Er sprach mit Selbstvertrauen und Sicherheit , und was er sagte , fand man verständig und von Wissen zeugend .
Frau Michel war sehr stolz auf ihn .
Als man sich abends niederlegen wollte , trat die Bettfrage abermals an sie heran .
Aber Frau Michel ließ als praktische Frau sogleich das Bett des Großvaters herüberschaffen , überzog es neu und legte sich selbst hinein , da Peter es nicht wollte .
Als er sich entkleidete , fiel ihm der Brief an Frau Kantor in die Augen , der noch auf dem Tische lag .
Er öffnete ihn wieder und schrieb darunter , daß der Großvater nun gestorben sei .
Die Michelsche Familie war nun vor pekuniären Sorgen mehr gesichert als bisher .
Die Felder wurden zu Geld gemacht ; was der Großvater sonst hinterließ , war nicht viel , aber fast alles ging in die Hände seiner Tochter über .
Für Fräulein Michel hatte er einen Teil seiner Möbel und eine kleine Geldsumme bestimmt .
Sie wollte sofort die Möbel verkaufen und mit dem Gelde in die Hauptstadt ziehen , um sich dort ein Haus zu bauen .
Sie packte und nagelte alles zusammen , und erst als Frau Michel drohte , sie würde sie ins Zuchthaus sperren lassen , hörte sie erschrocken auf .
Dann schlug sie vor , zu Michels zu ziehen und Peters Kammer zu übernehmen ; der könne ja mit dem Großvater zusammenwohnen .
Und als ihr auch das verboten wurde , sagte sie , dann wisse sie überhaupt nicht , was sie machen solle .
Eines Tages kam ein Brief des Kantors , in dem er Peter mitteilte , welche Schritte er für die Folgezeit zu tun habe ; ein zweiter Brief , von seiner Frau , lag dabei , in welchem sie ihm mütterliche Ratschläge erteilte .
" Das Liesel " , schrieb sie , " sehnt sich sehr nach Dir , und das verstehe ich recht wohl , denn Du warst ihr ja stets ein guter Kamerad .
Den ersten Mittag kam es uns besonders einsam vor ohne Dich .
Liesel schläft jetzt vorläufig in Deiner Kammer , macht aber viel mehr Lärm und Unordnung darin , als wir von Dir gewohnt waren ! "
Peter las das alles zweimal durch und öfter .
Sie drückten ihm auch beide ihre Teilnahme aus an dem Tod des Großvaters .
Ein Beileidsbillett für Frau Michel lag ebenfalls dabei .
Diese bat sich den Brief des Kantors aus , und als sie den gelesen , verlangte sie auch den anderen .
- Peter zögerte .
- " Nun , es steht doch wohl nichts darin , was wir nicht sehen dürften ! "
Er errötete .
- " Ich will doch nicht hoffen - ja , also willst du ihn mir nun geben oder nicht ? "
Und ehe Peter ihn ihr reichen konnte , riß sie ihm den Brief schon aus der Hand .
Sie rückte näher an die Lampe und begann ihn langsam vorzulesen .
Die Schulzenfrau , welche auf Besuch da war , spitzte die Ohren .
- " Nun " , sagte sie nach dem ersten Absatz , " der Brief ist ja ganz gut geschrieben !
Allerdings ist es mehr meine Sache , dir gute Ratschläge zu erteilen , aber im übrigen begreife ich nicht , weshalb ich ihn nicht lesen sollte . "
Herr Michel hatte schweigend zugehört und sagte jetzt :
" Sie hat dich wohl recht lieb ? " -
Peter fühlte , wie ihm die Tränen in die Augen traten .
- " Wie kann man nur so einfältig sein ! " rief Frau Michel ; " ich bin deine Mutter , und ich denke , ich stehe dir am nächsten , nicht wahr ? "
Peter faßte sich und sagte ziemlich sicher :
" Ja . "
Frau Michel begab sich an die Fortsetzung ihrer Lektüre und kam an die Stelle , die von Liesel handelte .
" Ach so ! " rief sie , plötzlich erleuchtet .
" Jetzt verstehe ich , warum ich den Brief nicht lesen sollte ! " -
Sie kam ihm ganz nahe und sah ihm in die Augen : " Hast du da etwa eine Liebesgeschichte angezettelt ?
Für so anständig hatte ich die Frau wenigstens gehalten , daß sie das nicht dulden würde !
Es scheint mir die höchste Zeit , daß du da fortkämest . Dir tut die elterliche Zucht Not ! "
Peter fühlte zum ersten Male , eine wie weite Kluft zwischen ihm und seiner Mutter lag .
Sie würden sich nie verstehen .
Er blickte zu seinem Vater hinüber .
Der saß da , den Kopf gesenkt , die spärlichen Haare über die Stirn streichend , anscheinend im tiefsten Nachdenken .
- " Nun ?
Antwortest du nicht ? " rief Frau Michel , die ihren Sohn unausgesetzt im Auge behalten hatte .
Peter sah sie unglücklich an .
" So rede doch !
Reden sollst du ! "
- " Was denn ? " fragte er unsicher .
- " Ja , hast du mich denn nicht verstanden ?!
Ich fragte dich , ob du mit dem Kantorsmädchen eine Liebesgeschichte angezettelt hast ? "
Peter schüttelte den Kopf und sah sie ehrlich und traurig an .
- " Gott sei Dank , also das doch wenigstens nicht !
Na , sieh mich nicht so trübselig an !
Ich meine es doch gut mit dir .
Ich bin doch deine Mutter .
Und wenn ich nicht für dich Sorge und denke , wer soll es dann tun ?
Wenn du erst einmal auf eigenen Füßen stehst , dann kannst du meinetwegen tun und lassen , was du willst .
Aber bis dahin mußt du es dir schon gefallen lassen , daß ich deine Handlungen kontrolliere . "
- Jetzt ergriff die Schulzenfrau das Wort und redete einiges über die Verderbtheit der großen Städte und wie es nötig wäre , wenn die Mutter ab und zu einmal ein Wort der Ermahnung spräche .
" Ja , mein lieber Herr Peter , das mögen die jungen Herren nicht hören , aber Sie können sich getrost auf das Wort einer erfahrenen Frau verlassen :
Ich weiß genau , wie es in der Welt zugeht .
Schön sieht es in der Welt nicht aus !
Und nun gar die Universitätsstädte !
Was ich davon gehört habe . . . ! "
Frau Michel sah sie erschrocken an .
- " Ja , liebe Frau Michel , ich wußte ganz genau , warum ich meinen Sohn nicht habe studieren lassen ! "
Abends , als Frau Michel in ihrem Bette lag , dachte sie über das Gehörte nach .
Die dunklen Andeutungen der Schulzenfrau hatten tiefen Eindruck auf sie gemacht .
So schlimm hatte sie es sich nicht vorgestellt .
Und etwas angefault schien ihr Sohn bereits zu sein .
- Wenn er ihr nun als Vagabund zurückkehrte , als . . . sie wagte den Gedanken nicht auszudenken .
Wäre es nicht besser , ihn bei sich zu behalten , ihn ein solides Handwerk lernen zu lassen und ihn nach ein paar Jahren zu verheiraten ?
Aber das viele geopferte Geld !
Und er wurde dann auch nichts Besonderes , gerade wie der Schulzensohn .
- Plötzlich wußte sie es klar : Aus purem Neid hatte die Schulzenfrau so auf sie eingeredet .
Hintertreiben wollte sie , daß Peter mehr wurde als ihr eigener Sohn , den sie nicht hatte studieren lassen , weil er dazu zu dumm war !
Frau Michel war ganz empört und schlug mit der Hand auf die Bettdecke , daß ihr Mann fragte , ob ihr etwas zugestoßen sei .
Da erzählte sie ihm aufgeregt ihre Vermutung .
Dann schwieg sie und wartete auf seine Antwort .
Und da er nicht antwortete , sah sie im Geiste sein gedankenloses Gesicht , und mit einem irritierten Seufzer drehte sie sich auf die andere Seite . -
Herr Michel hatte gerade etwas sagen wollen ; aber nun war er verschüchtert und schwieg .
Über ihnen lag Peter im Bette .
Auch er fand keine Ruhe .
Was war es nur , das zwischen ihm und seiner Mutter stand ?
War das auch früher schon so gewesen ?
Er dachte an seine Konfirmation zurück und wie sie damals schon gereizt gegen ihn war , namentlich im Beisein der Frau Kantor .
Was hatte sie nur gegen sie ?
War sie nicht immer treu wie eine Mutter gegen ihn gewesen , und liebte er sie nicht wie ein Sohn ?
Es dämmerte ihm wie in der Ferne der Gedanke auf , daß vielleicht gerade dieses seine Mutter so erbittere .
Aber die Frau Kantor andererseits : hatte sie je anders als mit Freundlichkeit und Achtung von Frau Michel geredet , hatte sie nicht stets gern zugehört , wenn er von ihr erzählte , und hatte sie ihn beim Abschied nicht damit getröstet , daß er nun seine Mutter wiedersehen werde ?!
Hier blieb Peter in einem Dunkel .
- Wie traurig alles war !
Auch Fanny war nicht mehr der alte .
Als er ihn des Morgens zufällig auf der Straße gesehen , war der Hund zwar gleich auf ihn zugekommen und an seinen Knien in die Höhe gesprungen , aber eigentlich mehr , um etwas von seinem Butterbrote zu bekommen , als aus Freude über das Wiedersehen .
Und als ein junger Mensch ihn an sich lockte , da war er gleich gefolgt , ohne sich um Peters Pfeifen und Rufen zu kümmern .
- Fanny war ein anderer geworden ! -
Peter war recht bekümmert und fühlte doppelt seine Einsamkeit .
Plötzlich hatte er Sehnsucht nach dem Briefe .
Er zündete ein Licht an und suchte ihn .
Dann fiel ihm das Buchzeichen ein , und auch dieses holte er .
So saß er im Nachthemde auf einem Stuhl , das Licht auf dem Schoß haltend , und las den Brief wieder durch , und dann noch einmal , und dann sah er gedankenvoll auf das Buchzeichen .
Er hielt es in die Höhe :
Es warf ein dunkles Schattenkreuz gegen die Decke .
Er betrachtete es lange . -
Da knisterte etwas gegen sein Fenster und gleich darauf noch einmal ; er öffnete und sah unten Tante Olga , wie sie im Begriff war , abermals ein Steinchen hinaufzuwerfen , so daß sie ihn fast an den Kopf getroffen hätte .
- " Willst du mit mir spazierengehen ? " flüsterte sie hastig .
- " Jetzt ? " fragte Peter ganz erstaunt .
Es war tief in der Nacht .
- " Ja ! Jetzt sind wir allein .
Willst du ? "
Er schüttelte den Kopf .
- " Was war denn das für ein Kreuz ? " fragte sie gespannt .
- Peter antwortete vor Erstaunen nicht .
- " So sage es doch ! " rief sie unruhig .
- " Ein Buchzeichen . "
- " Ein gesticktes ? "
- , Ja ! "
- " Von wem ? "
- " Von Liesel ! "
- " Ach ! " sagte die Tante gepreßt .
" Bist du noch unschuldig ? "
- " Aber Tante Olga ! "
- " Liebst du sie ?
Oh , ich weiß alles ! " -
Sie zog ihr Taschentuch und weinte .
" Nie !
Nie !
Nie ! " rief sie plötzlich , und fort war sie - ihre Stimme verhallte im Winde .
Am anderen Morgen war Frau Michel sehr freundlich gegen ihren Sohn .
Sie sagte , sie habe sich am vorigen Tage übereilt , er sei ein braver Junge und würde ihr immer Freude machen .
Sie sei froh , daß er nun zur Universität gehe , um etwas Tüchtiges zu lernen .
Daß er Fanny mitnehmen wolle , fand sie sehr verständig :
" Hier taugt er doch zu nichts ; besser , wenn er stets unter Aufsicht ist .
Es ist wirklich nicht mehr zum Ansehen .
Seit deiner Konfirmation ist ein anderer Geist in ihn hineingefahren .
Da !!
Sieh nur , ist es nicht einfach furchtbar , wie das Tier aussieht ?! " -
Fanny , dem es gerade einmal eingefallen war , nach Hause zu gehen , kam soeben langsam und in sich gekehrt zum Zimmer hereingetrottet .
Als er Frau Michels Miene sah und merkte , daß über ihn geredet wurde , wollte er lautlos wieder umdrehen , aber Frau Michel sprang auf die Tür zu , warf sie ins Schloß und rief : " Nein , nun wird einmal hiergeblieben ! "
Da verkroch er sich schweigend unter das Sofa .
Peter holte ihn hervor , nahm ihn auf den Schoß und blickte ihm nachdenklich und traurig in die Augen .
Aber Fanny hielt den Blick nicht aus ; immer sah er an ihm vorbei , und als Peter ihm den Kopf festhielt , schielte er langsam zur Decke .
Da ließ er ihn los , und Fanny wanderte wieder unter das Sofa .
Eine Woche später hatte Peter ein ernstes Zwiegespräch mit seiner Mutter .
Sie hatte sich neben ihn gesetzt und seufzte so recht aus vollem Herzen .
" Eine Sorge kommt zu der anderen " , sagte sie , die Arme verschränkend und vor sich hin sehend .
" Nun gehst du zur Universität , kaum daß ich dich ein paar Wochen bei mir gehabt habe .
Mein Vater ist tot , und ich habe niemand mehr , mit dem ich mich beraten könnte .
Ich hatte geglaubt , er würde mehr Geld hinterlassen .
Ich weiß nicht recht , wie ich durchkommen soll , wenn du nun studierst . "
- " Vielleicht " , sagte Peter , " kann ich ein Stipendium bekommen . "
- " Das ist Ermäßigung oder Erleichterung ? "
- Peter nickte .
" Ja " , sagte sie ; " der Herr Kantor schrieb mir auch bereits darüber ; wenn das möglich wäre , so würde dies natürlich meine Sorge sehr erleichtern .
Unbescholten bist du ja Gott sei Dank .
- Es ist wirklich schwer " , fuhr sie nach einem Schweigen fort , " so allein auf sich angewiesen zu sein .
Mit deinem Vater kann ich über nichts dergleichen reden .
Du bist ja jetzt kein Kind mehr , und deshalb kann ich auch einmal freier mit dir sprechen . "
- Peter blickte zu Boden .
- " Neulich Nacht ließ mir deine Zukunft keine Ruhe .
Ich dachte über alles nach und sah eine solche Fülle von Schwierigkeiten , daß es mir den Atem fast benahm .
Ich wandte mich an deinen Vater , der neben mir lag , und schüttete ihm mein Herz aus .
Aber glaubst du , daß er mir auch nur mit einer Silbe geantwortet hätte ?
Nichts sagte er - gar nichts .
Hätte er mich nicht vorher nach dem Grunde meiner äußeren Unruhe gefragt - ich wälzte mich ruhesuchend in meinem Bette - , so hätte ich geglaubt , er schliefe .
Bekümmert drehte ich mich auf die andere Seite . "
- Peter schaute recht nachdenklich drein .
- " Siehst du " , fuhr sie fort , " was für eine schwere Stellung ich habe .
Es ist notwendig , daß wir zusammenhalten ! "
Sie legte ihm ihre eine Hand auf den Rücken und reichte ihm die andere .
Er sah ihr ins Gesicht .
Sie schien älter geworden in der letzten Zeit .
Ihre Augen hatten einen unruhigen Ausdruck , um die Mundwinkel lag ein nervöser Zug .
Sie zeigte deutliche Spuren von Ermüdung .
Machte das die Aufregung der letzten Zeit und die Krankenpflege ? - Langsam stand er auf und ging hinaus in den Garten , zwischen Beete und Sträucher .
Alles war in den Knospen und harrte der Wärme .
Es war ein schwerer Apriltag .
Leise begann ein Regen herabzurieseln .
Den nächsten Morgen reiste er ab. 4. Kapitel " Hier links , junger Herr , die zweite Türe !
Richtig .
Nun sehen Sie Mal , so ein schönes Zimmer !
Und so billig !
Da können Sie stundenlang in der Stadt herumlaufen und finden nichts für denselben Preis .
Und die schöne Aussicht auf den Garten !
Na , sehen Sie man Mal ' raus .
Besehen ist ja nicht kaufen ! " -
Peter trat ans Fenster : Wände gegenüber , Wände an den Seiten , oben ein Stück Himmel , unten ein Hof mit einigen Bäumen .
Schön war das nicht für den ländlichen Peter Michel .
Aber er wollte die Frau , die mit der Aussicht so zufrieden schien , nicht verletzen , darum nickte er nur und trat ins Zimmer zurück , stand unschlüssig und sah sich langsam nach allen Seiten um .
Da fiel ihm ein , daß ihm die Frau Kantor geschrieben hatte , er solle nicht gleich das erste beste Zimmer nehmen , sondern etwas herumgehen und suchen .
Mittag nahte , ohne daß er jedoch etwas Passendes fand .
Das Essen war mittelmäßig , da er ein bescheidenes Gasthaus wählte , aber der Kellner , der ihn gleich nach allem ausfragte und alles erfuhr , empfahl ihm ein Zimmer , das seine Tante zu vermieten habe .
Beim Zahlen des Trinkgeldes wäre er fast rot geworden , so neu war ihm seine Situation .
Das Zimmer der Tante war eine schmucklose kleine Kammer , aber sie war billig .
Er könnte auch mit der Familie essen , sagte die Frau , indem sie ihn von oben bis unten musterte .
Er mietete .
Als er ziemlich spät am Abend seine neue Heimstätte betrat , zündete er ein Lichtchen an und besah sie noch einmal .
Sie ist wirklich recht einfach ! dachte er .
In der Nacht plagten ihn unruhige Träume .
Plötzlich wachte er auf und verspürte ein heftiges Brennen und Jucken .
Er machte Licht und fand , daß er an Armen , Beinen und am Halse dicke Stiche hatte .
Mücken gab es um diese Jahreszeit doch nicht ; und Flöhe ?!
Fanny lag drüben auf dem Sofa .
Er löschte langsam die Kerze und lag eine ganze Weile wachend da .
Ein neuer , heftig brennender Schmerz veranlaßte ihn , aus dem Bett herauszugreifen und wieder anzuzünden .
Da erblickte er am unteren Horizonte seiner Bettdecke das davonstürmende Hinterteil eines dunklen kleinen Tieres .
Mit einer bei ihm ungewöhnlichen Geschwindigkeit machte er sich auf die Jagd und erwischte das Geschöpf im letzten Augenblick noch .
Er besah es nachdenklich bei Lichte .
Sollte dies eine Wanze sein ?
Er hatte noch nie eine Wanze gesehen , aber manches von ihnen gehört .
Dann legte er das getötete Wesen mitten auf seine Bettdecke ; vielleicht würde dies Eindruck auf die anderen machen .
Aber er fand keine Ruhe , geriet in eine stumme Verzweiflung und war fest entschlossen , am anderen Morgen auszuziehen .
- Als er seiner Wirtin die getöteten Tiere zeigte , sagte sie sogleich sehr aufgeregt , sie sei eine anständige Frau , und er müsse sie selbst mitgebracht haben .
Da verlor Peter plötzlich alle Selbstbeherrschung , schrie sie an , er zöge aus , warf die Tür hinter ihr zu , packte seine Sachen und verließ sogleich das Haus .
Die Frau rief grollend , sie würde die Polizei holen , und wenn nur ihr Mann da wäre , so sollte er schon sehen !
Aber er hörte nicht auf sie , pfiff Fanny , der der Frau das letzte Wort nicht lassen wollte , und mietete nun das Zimmer , das er zuerst besichtigt hatte . -
Am nächsten Morgen begab er sich mit seinen Papieren nach der Universität , erledigte alles Geschäftliche und erhielt auf Grund seiner Zeugnisse und einer genauen Darstellung der pekuniären Lage seiner Familie später auch das ersehnte Stipendium .
Es fehlte ihm jeder Anschluß , und er fühlte sich recht einsam .
So machte er denn bald einen Besuch bei einer Familie , zu der er von dem Kantor empfohlen war .
Klinkharte ! Richtig ; da stand der Name , im zweiten Stock einer nicht belebten Seitenstraße , und das Porzellanschild sah ihn an , als habe es schon lange auf ihn gewartet .
Ein junges Mädchen öffnete .
Nun wußte er nicht , was er sagen sollte .
- " Wünschen Sie meinen Bruder zu sprechen ?
Er ist nicht zu Hause ! "
- " Nein ; aber Frau Klinkharte ! " sagte Peter .
Die junge Dame machte eine höfliche Bewegung und führte ihn in das Wohnzimmer .
Nach einigen Minuten öffnete sich eine Seitentür , und eine kleine , ziemlich dicke Frau trat ein .
Peter hatte inzwischen überlegt :
Er überreichte der Dame augenblicklich den Brief des Kantors und sagte : " Ich heiße Peter Michel . "
Sie sah ihn , wie ihm schien , etwas ungläubig an , las den Brief aufmerksam durch , murmelte : " Hm .
Ach so ! " und blickte wieder auf .
- " Es ist mir sehr angenehm , Sie kennenzulernen ! " sagte sie plötzlich so laut , daß Peter sie erschrocken ansah .
" Sind Sie schon lange hier ? "
- " Etwa acht Tage . "
- " Dann ist es Ihnen aber ziemlich spät eingefallen , uns zu besuchen .
Waren Sie hier auf dem Gymnasium ? "
Peter sah sie verwundert an :
" Aber ich bin ja erst seit acht Tagen hier ! "
- " Was ? "
Die Dame blickte ihn mit schiefem Kopfe und offenem Munde an .
Jetzt begriff Peter endlich : " Acht Tage ! " rief er laut .
- " Ach so !
Ich verstand acht Jahre !
Sie müssen nämlich wissen , ich bin ein bißchen schwerhörig .
Also acht Tage sind Sie hier .
Nun , wie gefällt es Ihnen denn hier ? "
- " Oh , sehr gut . "
- " Ja , etwas mehr Abwechslung als bei Ihnen wird es hier schon geben !
Und die Studenten !
Neulich nachts ist hier wieder ein großer Krach passiert .
Alle Laternen vor der Universität haben sie zerschlagen .
Die Nachtwächter haben natürlich nichts gemerkt , aber am nächsten Morgen sah man die Bescherung .
Wissen Sie , was man hier vom Polizeidirektor sagt ? "
Peter schüttelte den Kopf .
" Er hat zwei Frauen !
Notorisch !! " -
Sie sah ihn an , um zu prüfen , welchen Eindruck dies auf ihn machte .
Aber Peter schwieg und blickte ziemlich unglücklich drein .
- " Wie geht es denn dem Kantor und seiner Familie ? "
- " Oh , sehr gut .
Liesel wird nun bald auch konfirmiert . "
- " Jesus , wie die Zeit hingeht !
Ich kannte ihre Mutter , als sie ein junges Mädchen war .
Damals war sie ein ganz ausgelassenes , wildes Ding , aber als sie dann ihren jetzigen Mann heiratete , war das mit einemmal vorbei .
Sie hatte noch einen Verehrer , ich glaube ein Doktor war es , der war ganz vernarrt in sie .
Warten Sie Mal , wie hieß er doch gleich : Schön - Schön - Schönwald hieß er , Doktor Schönwald .
Und der wollte sie durchaus heiraten : und es war so ein hübscher junger Mensch .
Aber nein , sie nahm ihren Kantor ; das heißt , damals war er noch kein Kantor .
Und nun sagen Sie Mal : Leben die denn glücklich miteinander ? "
- Ihre Augen sogen sich an Peters Mund fest .
Peter machte eine Bewegung mit den Lippen .
- " Wie ?? "
- Die Frau schoß mit ihrem Ohr dicht an seinen Mund , daß er eines ihrer Haare berührte .
- " Ob die glücklich leben ? "
- " Das weiß ich nicht ! " brüllte er und dachte ganz erbost :
Das ist ja eine widerwärtige Frau . -
Sie zog enttäuscht den Kopf zurück und sagte , sie wisse es auch nicht , sie kenne sie beide nicht genau , aber sie habe einen Bruder gehabt , jetzt sei er tot , der wäre ein Freund des Kantors gewesen . -
Peter erhob sich und sagte , er wolle nun nach Hause .
- " Aber Sie haben ja noch gar nicht meine Tochter gesehen ! "
Sie öffnete die Nebentür und rief :
" Mariechen ! "
Dann horchte sie eine Weile , schüttelte den Kopf und verschwand murmelnd .
Endlich trat sie wieder ein , gefolgt von dem jungen Mädchen , das ihm die Tür geöffnet hatte .
Jetzt schien sie informiert und bot ihm die Hand :
" Übrigens schreiben Sie uns doch Ihre Adresse auf , daß wir Ihnen einmal eine Einladung zuschicken können . "
- Peter tat es und suchte seinen Buchstaben einen männlichen Schwung zu geben .
Am Ende machte er sogar einen Schnörkel .
" Schön ! " sagte das Fräulein und faltete das Papier zusammen .
Peter machte einen Diener und verschwand .
Als er zur Vorplatztür heraustrat , wäre er beinahe über die Füße eines jungen Herrn gefallen , der sehr elegant gekleidet war und einen Zwicker trug .
Er sah hinter Peter Michel her , der , ohne sich aufzuhalten , die Treppe hinabeilte .
Unterwegs begegnete er einem jungen Mann , der eine bunte Mütze trug und eine eingeschlagene Nase hatte .
" Das ist ein Korpsstudent ! " sagte er sich schnell und halblaut und steuerte auf ihn zu , um ihn ganz aus der Nähe betrachten zu können .
Der Herr erwiderte seinen Blick , und als Peter an ihm vorbei wollte , blieb er stehen und bat um seine Karte .
Peter war verwundert .
- " Ich habe noch keine .
Aber ich lasse mir bald welche machen .
Was wollen Sie denn damit ? " -
Der andere sah ihn von oben bis unten an , ließ die Luft zwischen seinen Zähnen durchpfeifen und ging achselzuckend weiter .
Peter sah ihm verwundert nach , etwas aufgebracht über die Behandlung , die er nicht verstand .
Das ist ja eine widerwärtige Bande , diese bunten Studenten ! dachte er .
Er nahm sich vor , künftig keinen wieder anzusehen .
Aber noch am selben Tage stellte sich eine solche Buntmütze ihm auf seinem Zimmer vor und suchte ihn für eine Verbindung anzuwerben .
Peter saß sehr unglücklich dabei und sagte in aller Verlegenheit :
" Ich glaube , ich darf nicht . "
- " Oh , wenn es weiter nichts ist : teuer ist die Sache gar nicht .
Monatlich zehn Taler mehr .
Schreiben Sie an Ihren Herrn Vater .
Eventuell kriegen Sie auch was gepumpt ! "
Peter saß wie angegossen auf seinem Stuhle , klemmte die Daumen gegen den Sitz und verpflichtete sich halb und halb .
Als er fort war , blieb er nachdenklich im Zimmer stehen .
Plötzlich stürmte er hinaus :
" Ach bitte ! " rief er herunter .
Der Herr war schon unten auf der Diele angelangt , wandte sich zurück und erblickte Peters Kopf hoch oben über das Treppengeländer gelehnt .
- " Ach bitte , ich kann doch nicht .
Es geht wirklich nicht , ich weiß bestimmt , daß es nicht geht . " - Der andere murmelte etwas Unverständliches , dann entzog ihn das Treppenhaus Peters Blicken .
Ich muß ihm doch nachsehen ! dachte er , eilte in sein Zimmer zurück und öffnete schnell das Fenster .
Aber seine Stube ging nach dem Hofe .
Daran hatte er nicht gedacht . -
Der war doch nun ganz freundlich ! dachte er .
Aber eine Verbindung - o Gott - wie schrecklich .
Er blickte in den Hof hinunter :
Wie tief das doch hier unten ist .
Er zählte die Fenster und entdeckte hinter einem derselben ein Gesicht , das eines Mädchens .
Sie zog sich sogleich halb hinter die Gardine zurück , und Peter konnte nicht entscheiden , ob sie zu ihm hinaufsah oder nicht .
Dann besichtigte er wieder seinen Stundenplan .
Am Nachmittag begann seine erste Vorlesung .
Ein ungeheures Getrampel erscholl , daß er erschreckt herumsah .
Da entdeckte er ein dürres , kleines Männchen , das sich nickend und dankend auf den Katheder zu bewegte .
Peter , dem der Staub in die Kehle drang , hustete laut und nachdenklich .
Inzwischen begann der Vortrag .
Je mehr er zu folgen versuchte , um so weniger verstand er .
Schließlich irrten seine Gedanken ganz ab , und er wurde erst geweckt , als das Trampeln abermals erscholl .
- " Sie haben sich da einen mächtigen Stundenplan gemacht ! " sagte sein Nachbar , sich erhebend .
Peter hatte während der Stunde alles mit Bleistift Geschriebene mit Tinte nachgezogen .
" Wird Ihnen denn das nicht zuviel ? "
- " O nein , ich glaube eigentlich nicht . "
- Es stellte sich nun heraus , daß er in ein Kolleg geraten war , das nur Fortgeschrittenere verstehen konnten .
- " Sehen Sie , auf Ihrem Plan können Sie getrost über die Hälfte fortstreichen .
Darf ich_es Ihnen Mal andeuten ? "
Peter sagte eilfertig :
" Wenn ich bitten darf " , und nun wurden viele Striche gemacht , und er sah mit Bedauern , wie der schöne Plan verunstaltet wurde .
Auf den Straßen spielten die Knaben mit Kreiseln , viele Fenster waren geöffnet , man genoß den ersten warmen Tag .
Peter sah das alles nicht ; er dachte nur an seine Mathematik , nur daran , daß er nun viel Neues lernen und ganz gewaltig arbeiten müsse .
Als er aber in sein Zimmer trat , bedrückte ihn die dumpfe Luft .
Er öffnete das Fenster und schaute heraus .
Der Holunderbaum da unten treibt schon starke Knospen , dachte er .
Dann bemerkte er auch ein kleines Beet , das ihm bis dahin entgangen war , und er sah allerlei grüne Keime , die in den letzten Tagen aufgegangen sein mußten .
Eine alte Frau öffnete ein Fenster gegenüber .
Sie hatte ein schwarzes Tuch um den Kopf gelegt und lugte vorsichtig hinaus .
Das dunkle Haus zeichnete sich scharf gegen den hellblauen , reinen Himmel ab . -
Ob ich nicht einmal hinuntergehe und einen kleinen Spaziergang mache ?
Aber der Stundenplan !
- Den kann ich ja heute abend machen .
Er schloß sorgsam das Fenster , weckte Fanny , der in einer Ecke schlief , und begab sich hinunter .
- Ob es wohl recht von mir ist ? -
Er zögerte wieder .
Aber Fanny war bereits vorausgeeilt , bellte in die Luft hinein und blickte sich endlich nach Peter um , in leiser Verstimmung .
Dies gab den Ausschlag .
Die ersten Straßen waren ihnen noch bekannt , aber dann kamen sie in ein Viertel , das ihnen beiden fremd war .
Hier waren die Häuser neuer , die Straßen breiter , und ein Hauch von Frische wehte aus ihnen .
Es folgten Neubauten , kaum angelegte Straßen , untermischt mit umzäunten Wiesenplätzen , auf denen weiße Wäsche zum Trockenen hing .
Und endlich war er draußen , außerhalb der Stadt , im kühlen Winde .
Eine Anhöhe zog sich weit hinunter , grünlich schimmernd von dem matten Winterrasen , und in der Ferne eine Baumallee , kahl und einförmig , bis sie sich in braunem Rauch verlor .
Der Boden war noch weich und fettig von dem letzten Regen ; vorsichtig stieg Peter hinauf , gefolgt von Fanny , der die Schnauze am Boden hielt und ab und zu kräftig nieste .
Der Hügel mochte nicht sehr hoch sein , aber von oben hatte man doch eine gute Aussicht .
Da sah Peter , daß die Stadt viel größer war , als er gedacht hatte ; weithin dehnten sich die Häusermassen , und weit umher Flachland , unendliches Flachland .
In der Ferne Wälderzüge , kleine Ortschaften und noch weiter blauer Dunst im Umkreise .
Unten am Hange bemerkte er zwei Kinder .
Ein Knabe , der einen kleinen hölzernen Wagen zog , in dem ein kleines Mädchen saß .
Ab und zu bückte er sich und pflückte ein paar Wiesenblumen , die er dem Kinde reichte .
Peter hörte das Knarren der Räder und das Lachen des kleinen Mädchens , bis sie um die Biegung verschwanden .
- Der Tag ging seinem Ende zu .
Die Sonne flammte rot und siedend auf einer Ziegelfabrik in der Ferne .
Peter wandte sich zum Gehen .
Als er in die ersten Straßen einbog , senkte sich bereits die Dämmerung herab .
Ihn begann zu frieren .
Er steckte seine Hände in die Manteltaschen und ging schneller ; vereinzelte Lastwagen fuhren knarrend über das Pflaster .
Fabrikarbeiter kamen in Massen an ihm vorbei .
Es war Feierabend .
Hier und da brannte bereits eine Laterne .
Er drückte sich die Häuser entlang , an den lauten Scharen vorbei , und als er endlich in seiner Wohnung anlangte , war der Abend hereingebrochen .
Im Treppenhause brannte eine Öllampe mit trübem Schein .
Langsam erklomm er die dunkle Stiege , und endlich befand er sich wieder in seinem traurigen kleinen Stübchen .
- Seine Wirtin brachte ihm das Essen :
" Nun , Herr Michel , Sie sind wohl heute draußen in den Wiesen gewesen ?
Ist ja recht von Ihnen , daß Sie die frische Luft genießen , aber ein andermal putzen Sie sich hinterher hübsch ordentlich die Stiefel ab !
Unser Hausherr ist streng und sieht auf Reinlichkeit . "
- Peter entschuldigte sich und begann sein Brot in die Suppe zu brocken .
Seine Wirtin hatte sich an den Bettpfosten gelehnt und hielt die Arme untergeschlagen .
Sie schien noch etwas auf dem Herzen zu haben .
- " Ja , ja , die jungen Leute ! " begann sie endlich . -
Peter sagte gar nichts .
Ab und zu brach er ein Stück seines Brotes ab und warf es Fanny zu , der es kunstgerecht aufschnappte .
- " Komisch , daß Ihr Hund Fanny heißt !
Wissen Sie , daß sie denkt , Sie hätten ihn nach ihr genannt ? "
Peter hielt im Kauen inne und sah die Frau mit offenem Munde an .
- " Na , verstellen Sie sich nur nicht ; ich weiß alles !
Heute hat sie mir es noch gesagt . "
- " Wer denn ?
Was denn ? " fragte Peter mit runden Augen .
- " Na , die Kleine drüben im Hinterhause !
Tun Sie doch nicht so , als ob Sie nichts wüßten !
Aber vor der nehmen Sie sich nur in acht !
Hübsch ist sie , hat auch viele Studentenbekanntschaften .
Aber so 'n Leben , wie die führt !
Der Herr , der vor Ihnen hier wohnte , den hat sie ganz bankrott gemacht .
Der wollte hier studieren , aber die Weibsbilder haben ihm keine Ruhe gelassen ; na , und wie er die Fanny kriegte , da war alles aus !
Und so ein vornehmer junger Herr !
Er hatte das große Zimmer nach vorne ; damals wohnte ich noch hier in Ihrem Zimmer .
Aber er lag fortwährend hier im Fenster , und nachher wollte er sie sogar mit in die Etage nehmen und bei mir einquartieren ; aber das habe ich nicht geduldet .
Ich sitze nachher dran mit der Polizei !
Ach , war das ein hübscher junger Herr !
Warten Sie Mal , ich komme gleich wieder ; ich hole Ihnen Mal das Bild ! "
Sie ging hinaus , und Peter war allein .
- " Ach so " , sagte er plötzlich , " das ist vielleicht die , die ich manchmal hinter der Gardine gesehen habe ! "
Er schlich zum Fenster und sah hinüber , während ihm das Herz klopfte .
Endlich trat die Wirtin wieder ein .
- " Nun sieh Mal einer an !
Da ist er schon wieder am Fenster !
Aber gesehen haben Sie sie diesmal nicht .
Ich bin schnell hinübergelaufen und habe mir ihr Album geborgt .
Sehen Sie Mal hier ! " -
Die ersten Bilder schienen Familienangehörige darzustellen .
Dann kamen lauter Männer .
- " Und hier ist auch der , von dem ich Ihnen vorhin erzählte ! "
Sie deutete auf einen jungen Mann mit sehr hellem Haar und einem schönen , eleganten Kopfe .
- " Aber das ist ja " - Peter sah sprachlos auf das Bild , das er sofort als den früheren Pensionär des Kantors erkannte .
- " Ja , nicht wahr ? " rief sie .
" Wie ein Graf sieht er aus !
Aber seinen Vater hätten Sie erst sehen müssen .
Ach , war das ein feiner , vornehmer Herr !
Ein bißchen grau schon , aber noch so adrett und jugendlich !
Ja , das war ein Mann von Welt !
Als es gar nicht mehr weiterging mit dem Sohne , da kam er angereist , zahlte alle Schulden und nahm ihn gleich mit sich .
Hals über Kopf mußte er abreisen , und seine Bücher ließ er alle hier ; die brauchte er nicht mehr , sagte er , oder er würde sich neue kaufen ; ich weiß nicht mehr genau .
Die habe ich für zwanzig Taler verkauft !
Und der Herr Vater gab mir obendrein noch ein hübsches Trinkgeld !
Ich konnte mich nicht beklagen .
Ja , ja , wie es doch so geht in der Welt .
Amüsieren Sie sich nur , Herr Michel , Jugend hat keine Tugend ; - es ist ja auch recht so schließlich . "
Peter gab von nun an mehr Obacht auf das Fenster , aber vorläufig sollte er die Bekanntschaft von drüben noch nicht machen .
Eines Tages erhielt er eine Karte von einem früheren Schulkameraden , in welcher ihn dieser einlud zu einem Glase Bier .
Café Elite .
Richtig !
Da saß er schon an einem runden Tischchen und hatte vor sich einen Bierkrug stehen .
" 'n Abend , Michel !
Ich dachte schon , du kämst nicht mehr .
Rate Mal , woher ich deine Adresse weiß ! " -
Peter riet alles Mögliche und Unmögliche - " Von der alten Klinkharte !
Schauerliche Person , was ?
Hast übrigens einen guten Eindruck auf sie gemacht .
Kann ich mir denken ; bist wahrscheinlich sehr schüchtern gewesen .
Das mögen alle alten Weiber gerne ! "
- " Aber Ottmer , du redest ja so komisch ! " sagte Peter .
- " Komisch ?
Nee , ist nur mein Urteil .
Schließlich erweitert man doch seinen Gesichtskreis , wenn man die Schule verläßt und ins Leben eintritt .
Prost , Blume ! "
- " Welche Blume ? " fragte Peter unbefangen .
Aber seine Worte wurden erstickt in einem explosionsartigen Husten seines Freundes .
" Wahrscheinlich wieder der Rest des Fasses !
Da kommen einem die flüchten Bierfische in die Kehle ! "
- " Bierfische ? " wollte Peter fragen .
Aber er ließ es und wunderte sich nur .
- " Ja , also was ich noch sagen wollte : Du studierst ja wohl Mathematik , nicht wahr ? "
Peter nickte und sagte : " Und was studierst du denn ? "
- " Jura ; natürlich Jura .
Werde mich später wohl ganz und gar der Nationalökonomie zuwenden , denn das ist mein eigentliches Gebiet . Habe übrigens bis jetzt noch nicht viel in die Bücher gesehen ; hat ja auch noch Zeit .
Ehe man das Leben theoretisch studiert , muß man es praktisch studieren .
Du wirst natürlich auch vorläufig bummeln - was ? "
Peter sagte gar nichts , sondern versuchte nur , ebenso große Schlucke zu nehmen wie sein Freund .
- " Nun sage Mal , du redest ja nicht ?
Was hast du denn eigentlich ? "
Peter lächelte verlegen und wickelte langsam sein Taschentuch um seinen Zeigefinger .
Er wußte wirklich nichts , was er hätte sagen sollen .
- " Kellner !
Zwei große Münchner . "
- " Ich will nichts mehr trinken " , sagte Peter ; " ich werde sonst betrunken . "
- " Unsinn !
Heute bist du mein Gast .
Das Bier ist ja leicht . "
- Er hatte einen Plan und traf jetzt seine Vorbereitungen .
Peter trank in großen Zügen , setzte sein Glas ziemlich kräftig nieder und schmatzte , sich langsam nach rechts und links umschauend .
Es gefiel ihm hier ganz gut .
So viele Lichter , Tische und Stühle , und alle Leute wurden so höflich behandelt !
- " Sage Mal , rauchst du gar nicht ? "
- " Doch ! "
Peter fühlte , er müsse etwas tun , daß ihn der andere nicht zu sehr von oben herab ansähe , nahm die größte Zigarre , die er fand , und paffte wie ein Alter .
Er kam sich ganz neu vor in dieser Situation .
Wenn ihn jetzt seine Mutter sähe !
Würde sie ihm nicht die Zigarre aus dem Munde reißen und ihn nach Hause schicken ?
Unwillkürlich reckte er seine Schultern und trank sein Bier auf einen einzigen Zug aus .
- " Also du bist öfters hier in diesem Gasthaus ? " fragte er .
" Ich werde auch manchmal herkommen .
Das Bier ist wirklich gut , und die Kellner sind alle so freundlich ! "
- Ein neues Bier wurde auf den Tisch gesetzt .
" Prost , Blume ! " sagte er hastig .
Dann sog er sich förmlich an seinem Glase fest .
- " Aha " , rief Herr Ottmer .
" Da kommt ja die kleine Anna . "
- Ein junges Mädchen kam an den Tisch heran mit einem großen Blumenkorb :
" 'n Abend , Herr Ottmer .
Sträußchen gefällig ? "
- " Kaufen Sie nicht auch eins , Herr Doktor ? " wandte sie sich an Peter .
Peter bejahte .
- " Warten Sie Mal ! "
- Sie nahm eine Nadel von ihrer Brust und steckte ihm ein Bukett an seine Jacke :
" So !
Sehen Sie ; so sitzt es fein ! "
- " Trinke Mal ! " sagte Herr Ottmer und reicht ihr sein Bierglas .
- " Was Ihr Freund für treue Augen hat ! " meinte sie , sich den Mund abwischend .
- " Na , na , verlieb dich nur nicht in ihn . "
- Peter sagte : " Ich finde , Sie haben auch treue Augen ! " worauf das junge Mädchen das Glas mit einem Krach auf den Tisch setzte und in eine ungeheure Heiterkeit ausbrach .
Sie bekam vor Lachen ganz kleine Augen und zeigte alle ihre Zähne . , " Na , adieu ! " rief sie endlich , gab Herrn Ottmer die Hand und nahm mit leichtem Schwünge ihren Blumenkorb auf .
" Adieu , Sie Kleiner mit den treuen Augen ! "
- Sie kitzelte Peter mit einer Nelke unter der Nase und wandte sich mit langsamen Schritten weiter . -
Herr Ottmer zahlte jetzt , und Peter bedankte sich .
Als er aufstand , merkte er , daß er nicht mehr ganz sicher auf den Beinen war .
Aber das schadete ja gar nichts .
Dafür fühlte er ein großes Stück Kraft in sich .
Mit einem lauten : " Guten Abend ! " verließ er das Lokal .
Der Himmel war mit Sternen wie übersät , und alle schienen ein ganz persönliches Interesse an Peter Michel zu nehmen .
" Du ! " sagte er plötzlich .
- " Was denn ? "
- " Paß Mal auf : Eins , zwei , drei ! " -
Er warf seinen Hut in die Luft und brüllte :
" Hurra , Hurra , Hurra ! "
Dann bückte er sich und fiel auf die Erde .
- " Ist auch ganz schön !
Die lieben Sterne !
Wo ist denn bloß der Mond ?
Ach da !
Nee , das ist ja die Zigarre . "
Aber im nächsten Momente dachte er :
Das geht nicht , ich muß mich anständig benehmen .
Herr Ottmer hatte väterlich-lächelnd dabeigestanden .
Jetzt half er ihm auf und zog ihn sicher vorwärts .
" Wo gehen wir denn noch hin ? "
- " In die Illusion ! "
- " Was ist das ? "
- " Cafe-Konzert , Damenbedienung , Animierkneipe ! "
- " Damen ? "
- " Naja , Gott , Damen , was man Damen nennt ! "
- " Ach so ! " sagte Peter , verstand aber absolut nicht mehr als vorher . -
Damen !
Er dachte an seidene Gewänder und lange Schleppen .
Seine Mutter trat ihm plötzlich deutlich vor Augen .
Die hatte immer so viel von Damen geredet , wenigstens schien ihm das augenblicklich so .
Plötzlich hielten sie .
" Hier ? " sagte Peter .
Er sah ein mattrot erleuchtetes verhangenes Fenster , daneben eine ebenso verhangene Tür .
Von innen tönte Musik .
Sie traten ein .
Anfangs konnte er nichts unterscheiden vor ungeheurem Tabakdunst .
Wo war er denn ?
Mein Gott , wenn er doch lieber im Bett läge !
Ein ohrenzerreißender Lärm von Violinen und Trompeten bestürmte ihn .
Da saßen sie , die Damen !
In kurzen Kleidchen mit aufgelösten Haaren und gefärbten Backen , und musizierten .
" Bier gefällig ? "
- " Ja , Pilsener ; nicht wahr , Pilsener ? " -
Peter nickte mechanisch .
Jetzt hörte die Musik auf , und eine Dame begann zu singen .
Anfangs verstand er nichts , aber dann immer mehr , und schließlich wußte er gar nicht , was er denken sollte .
- " Prost ! "
- Eine Hand , mit einem Glase tauchte aus dem Nebel und berührte das seine .
" Prost ! " antwortete er und trank .
Da kam ein weibliches Geschöpf mit einem Teller , um Geld zu sammeln .
Sie erinnerte Peter an Tante Olga .
Wie merkwürdig !
Warum war sie es denn nicht ? "
- " Na , Kleiner ? "
Er fühlte sich von hinten gezwickt .
Eine dicke Blonde .
" Wie geht es denn seit dem letzten Male ? "
- " Wann denn ? "
- " Na , weißt du denn nicht mehr , Schätzchen ? "
Sie setzte sich Peter Michel auf den Schoß und drückte ihm Nase , Kinn und Backen zusammen .
Da regte sich in ihm ein letzter Rest von Menschenwürde .
" Das will ich nicht ! " sagte er laut und suchte die Dame von seinem Schöße herabzudrängen .
- " Na , Schätzchen , nur nicht gleich so giftig !
Hast mich doch immer gern gehabt ! "
Ihr dicker Busen umschloß ihn , sie drückte einen Kuß auf seine Lippen .
Mit einem furchtbaren Ruck brachte er sich und sie vom Stuhl herunter .
- " Ich will fort ! " -
Herr Ottmer zahlte .
- " Ich will nach Hause ! "
- " Mache keinen Unsinn !
Wir gehen noch ins Monopol ! "
- " Nein , ich will nach Hause . "
- " Ach was , komme nur mit ! "
Peter wurde unter den Arm gefaßt und ließ sich willenlos führen .
Auf einmal weinte er .
- " Nanu ?
Was ist denn los ? "
- " Ach , es war alles so schön , und nun ist alles vorbei ! "
- " Unsinn , Mensch , schäme dich . "
- " Ich bin so einsam ! "
- " Ja , ich wollte dich schon lange fragen , sage Mal - übrigens , ich kann dir nur sagen , daß es dein eigener Vorteil ist ; ich spreche aus Erfahrung , bin selbst dabei und muß es also wissen :
Sage Mal , hättest du nicht Lust , in meine Verbindung einzutreten ? "
- Bei dem Worte " Verbindung " regte sich etwas wie Verstand in Peter Michel .
Er fühlte sich plötzlich wieder auf der Erde .
" Nein , auf keinen Fall " , sagte er .
Herr Ottmer merkte , daß er zu früh begonnen .
Schweigend schritten sie weiter .
Peter verfiel in eine Art von Halbschlaf und sagte das ganze Einmaleins her .
Plötzlich fühlte er sich geblendet .
Welches Lampenfluten !
Und lauter Menschenschädel mit Augen darin , die nur ihn anblickten !
Was trank er nur eigentlich ?
Er rührte und rührte mit dem Löffel in seinem Glase und starrte ins Leere .
Das rotsamtene Sofa erschien ihm wie das Ende der Welt .
Die Lichter zuckten seltsam , und das schwirrende Getöse wurde stärker .
- " Also , um noch einmal auf unsere Frage zurückzukommen :
Hast du dich inzwischen besonnen ?
Du wirst es nicht bereuen .
Auf Ehre !
Also du willigst ein ?
Nicht wahr ?
Was ? " -
Stadt aller Antwort sank Peter Michel Herrn Ottmer an die Brust , und seine Augen schlossen sich ; er schlief .
- " Beste Frau Heinecke , ich sage Ihnen : das nächste Mal fliegen Sie ' raus ; unerbittlich !
Das ist nun so oft passiert , und ich habe jedesmal die Schererei davon .
Wollen Sie mir die Miete vom Sekretär Pickel bezahlen ?
Nee , natürlich nicht ; na , der hat nun gedroht zu kündigen .
Und warum hat er gedroht zu kündigen ?
Weil heute morgen wieder die Schweinerei auf der Treppe war !
Und warum war sie da ?
Weil wieder einer von Ihren Studenten betrunken nach Hause gekommen ist .
Mir sind die jungen Leute egal .
Aber nicht egal ist mir , wenn sie mir mein Haus verunreinigen .
Da werde ich grob .
Und nun wissen Sie es , und lassen Sie sich_es gesagt sein :
Passiert wieder was , so fliegen Sie ' raus , unerbittlich !
Haben Sie mich verstanden ? "
- " Ach , Herr Rüdenberg , unsereiner ist man auch bloß eine arme Frau ; ich bin unschuldig , das kann ich Ihnen bei Gott versichern .
Lieber Himmel , man muß doch leben !
Unsereiner hat auch seine Sorgen .
Die Wohnung kostet mich zweihundert Taler jährlich , wie soll ich denn das aufbringen ?
Und die Studenten - glauben Sie man ja nicht , daß ich 'nen großen Profit an meinen Zimmern mache , nee , das nun Mal gar nicht .
Ich setze eher noch was zu dabei .
Denn das können Sie sich wohl denken , eine Frau wie ich , ich Sorge für meine Studenten wie eine Mutter für ihre Söhne ; das ist wahr ; darauf kann ich einen Eid ablegen ; leben und leben lassen , Herr Rüdenberg .
Lieber Gott ; 'n junger Mensch muß doch auch 'n bißchen sein Leben genießen .
Und der Herr Michel , das ist ein sehr lieber junger Herr , so freundlich und still .
Na , ich werde ihm ja sagen , daß er das nicht wieder tun darf , aber deshalb brauchen Sie doch eine arme wehrlose Frau nicht gleich aufs Pflaster zu setzen ; was gut ist , ist gut , und nichts für ungut , Herr Rüdenberg , ist alles beim alten und soll nicht wieder vorkommen , habe die Ehre , mich zu empfehlen , Herr Rüdenberg , 'n Morgen , Herr Rüdenberg . "
- Sie stieg die Treppe hinauf , blieb auf dem Absatz stehen und sah in den Hof hinunter .
" Der alte Esel ! " brummte sie .
Dann blickte sie die Fenster hinauf .
Schon elf Uhr ; Herr Michel liegt noch im Bette !
Die Fanny auch noch .
Ach so , heute ist ja Mittwoch .
Wie lange der Baron wohl noch halten wird .
- " Nun hat er mir auch noch mein Schloß verdorben !
Na warte man , Halunke , dich kriegen wir schon ! "
Sie klingelte unausgesetzt mit aller Kraft .
Endlich !
Tap , tap , tap , nahte sich etwas .
Peter Michel stand auf der Schwelle , mit bloßen Füßen .
Den mittleren Teil seines Körpers hatte er mit einem Federbett umhüllt , das er mit der Linken zusammenhielt .
Seine Haare waren in wilder Unordnung , und seine Augen starrten rund und abwesend .
- " Na , Sie haben was Schönes angestellt , Herr Michel .
Nun hören Sie Mal zu ! "
Peter ließ regungslos ihren Wortschwall über sich ergehen , dann drehte er sich um , tastete nach seinem Zimmer , verschloß die Tür , im nächsten Augenblick schlief er schon wieder .
Dann sah er große blanke Augen dicht vor sich auf der Bettdecke und rundherum eine braungelbe Maße .
" Fanny ! " sagte er erstaunt .
Da aber machte Fanny - denn dieser war es wirklich - so gleißende Bewegungen mit seinem langen , aalglatten Schwanze , daß ihm augenblicklich übel wurde , so daß er die Augen rasch wieder schloß .
- Aber Fanny ließ ihn nun nicht mehr los .
Er stieß langgezogene , halblaute Fisteltöne aus und begann dermaßen auf der Bettdecke hin und her zu trampeln , daß es war , als fiele ein Steinregen darauf herab .
Durch eine Umdrehung seines eigenen Körpers warf Peter ihn vom Bett hinunter .
Er hörte das weiche Aufschlagen seiner strammen , gummiartigen Sohlen , aber im nächsten Momente schnellte sich Fanny wieder hinauf und fiel gerade auf Peters Bauch .
Da stieß er einen Seufzer aus , richtete sich halb in die Höhe und griff nach seiner Stahluhr .
Zwölf vorbei !
Das war ja entsetzlich !
Jetzt aßen sie zu Hause Mittagbrot !
Klopfte es da nicht ?
" Herein . "
Ja so .
Er stand auf und öffnete die Tür .
- " Ich wollte nur - na , vor mir brauchen Sie sich nicht zu genieren , Herr Michel !
Ich habe schon viele junge Herren im Nachthemd gesehen ; also ich wollte Ihnen nur einen Hering bringen ! "
- Bierfisch , Bierfisch , dachte er in einem fort .
Ihm war recht unglücklich zumute .
Wie hatte er doch gleich gesagt , " Prost - ? "
Er ging alle Pflanzennamen durch : plötzlich fiel es ihm ein . -
Er beendete nun seine Toilette und sah zum Fenster hinaus .
Draußen ist es wärmer als drinnen ! dachte er .
Er fühlte sich schon besser .
" Na , Herr Michel , ausgeschlafen ? " -
Peter war ganz verblüfft .
War das die Fanny ?
" Danke ! " sagte er endlich .
Das junge Mädchen fuhr mit einem Ruck zurück , im nächsten Moment wurde das Fenster von zwei Händen , die Manschetten trugen , geschlossen .
Gewiß ihr Papa , dachte Peter . -
Frau Heinecke trat herein :
" Ein junger Herr wäre hier gewesen und hat Herrn Michel sagen lassen , ob Herr Michel heute abend frei wäre und bei ihnen Abendbrot essen wollte .
Herr Klinkharte oder Klinkmann - ach so , hier habe ich ja seine Karte : Sophus Klinkharte ! "
- " Weiß er , daß ich noch im Bette lag ? " fragte Peter hastig .
- " I Gott bewahre !
Für so indiskret werden Sie mich doch nicht halten .
Ich habe ihm gesagt , Sie wären im Kolleg .
Warten Sie Mal ! "
Sie ging dicht an Peter heran , hob ihre Hand an seine Backe und zog sie mit einem Ruck zurück .
" Au ! " sagte er . -
" Sehen Sie hier !
Ein ganz langes Haar !
Ja , Herr Michel , Sie müssen nun bald anfangen , sich zu rasieren !
Ach , die jungen Leute !
Wenn die Männlichkeit beginnt , das ist immer so 'ne Übergangszeit .
Nicht Fisch und nicht Fleisch .
Sie sind nun ungefähr der fünfzigste Herr , den ich gehabt habe :
Aber so gesund wie Sie ist noch keiner gewesen .
Ach , Herr Michel , wollen Sie sich nicht Mal die Haare schneiden lassen ?
Es ist so schönes Wetter ; Sie werden sich gewiß nicht erkälten .
Und mit den langen Haaren können Sie nicht mehr herumlaufen .
Hübsch frisieren müssen Sie sich lassen , so recht schneidig , spiegelblank !
Der junge Herr von heute morgen , das war Mal ein schneidiger , flotter junger Mann !
So 'nen feschen Schnurrbart - na , das will ich ja von Ihnen nicht verlangen - , aber so adrett und sauber !
Und dann , Herr Michel , mit dem Hute können Sie eigentlich auch nicht mehr gehen .
Sehen Sie doch Mal her ! " -
Frau Heinecke ging auf den Schrank zu :
" Da !
So abgeschabt !
Und hat gar keine Fasson mehr !
Wissen Sie , so 'nen recht flotten , steifen ! "
Peter wußte gar nicht , was er sagen sollte .
Es genierte ihn , daß er so häßliche Sachen habe , eigentlich mehr um der anderen als seiner selbst Willen .
Der Hut war wirklich recht abgetragen ; er sah das jetzt zum erstenmal .
Er war von Natur nicht kritisch und betrachtete die Dinge nur als Tatsachen .
" Er ist wirklich schon sehr alt ! " sagte er .
" Ich will mir einen neuen kaufen . "
- " Dann kaufen Sie sich auch gleich einen Schlips ! "
Peter überlegte : Haarschneiden , Hut , Schlips .
Nein , das ging nicht ; eins mußte fortfallen .
Er ging wirklich zum Friseur und fand seinen neuen , gescheitelten und pomadisierten Zustand weder schön noch häßlich , sondern nur ordentlich .
Mit seinem neuen steifen Hut besah er sich in allen Ladenfenstern .
Da fiel ihm ein , daß er sich auch ja rasieren lassen sollte . -
Er dachte den Gedanken kaum zu Ende und errötete :
Ihm war ja alles noch so neu .
5. Kapitel Peter Michels Studium nahte seinem Ende .
Wer ihn jetzt wiedersah , bemerkte in seinen Zügen eine gewisse Veränderung :
sie waren fester , regelmäßiger geworden .
Doch der Ausdruck seiner Augen war derselbe .
Allen Versuchungen der Großstadt hatte er widerstanden , oder sie waren nie an ihn herangetreten .
In Gesprächen mit Kameraden hatte er sich indes die Geschicklichkeit angeeignet , eine Kennermiene anzunehmen und mit gewissen Dingen so vertraut zu scheinen wie der Christ mit dem Jenseits .
Wenn er allein war , so dachte er oft darüber nach , wie er es wohl anzustellen habe , um ebenso zu sein wie die anderen .
So verfiel er einmal darauf , jene Damenkapelle , welcher er damals mit Herrn Ottmer einen Besuch abgestattet hatte , allein aufzusuchen , heimlich , mit klopfendem Herzen .
Aber die Wirkung war nicht die erhoffte .
Einmal auch überwand er sich , der Einladung einer jener Damen , welche Spaziergänger oft unvermittelt anzureden pflegen , Folge zu leisten .
Sie mißfielen ihm durchaus nicht , diese Damen ; sie hatten alle so schöne Gesichter und rochen so vornehm .
- Durch ein Gewirr von Straßen begleitete er sie in ein Haus hinein , vier Treppen hinauf , durch einen gewundenen Gang bis in ein kleines , kahles Stübchen .
Hier wohnte die Dame .
Schon auf dem Wege aber wurde ihm beklommen zumute und noch mehr , als sie die Treppe hinaufwanderten , und wie sie sich im Dunklen den Gang entlangtastete , da wäre er am liebsten wieder umgekehrt .
Jetzt begann die Dame es sich in verblüffender Weise leicht zu machen und forderte Peter auf , ein gleiches zu tun .
Der stand in der Mitte des Raumes , des höchsten verlegen .
Sie zog ihn zu sich heran , nahm ihn aufs Knie und streichelte ihn zunächst .
Jetzt schien sie ihm nicht mehr so jung und schön wie auf der Straße durch den weißen Schleier , bei der ungewissen Gasbeleuchtung .
Deutlich unterschied er Runzeln .
Und das Rote : War das - Schminke ?
Sie mochte merken , was in seiner Seele vorging , denn ihr Gesicht wurde noch viel süßer .
Wie sie aber den Mund zu einem fragenden :
" Na ? " - öffnete , sah er , daß sie Zahnlücken hatte .
Und er starrte sie noch ängstlicher an .
Ihre Augen schienen ihm tot und glasig , das Lächeln um ihre Lippen wie eingefroren , sie war wie eine angemalte Leiche .
Aber was war denn das ?! -
In der äußersten Verwirrung sprang er auf und erklärte , er wolle nach Hause .
Sie murmelte erst mürrisch einige Worte für sich , dann sagte sie , sie wäre nicht sein Hanswurst , und schließlich verlangte sie ihr Geld , und wenn er ihr das nicht gäbe , so würde sie die Polizei holen und das ganze Haus zusammenschreien .
Er riß seine Börse heraus , gab ihr das Verlangte und stürmte die Treppen hinunter .
Einmal besuchte er auch die Fanny von drüben , aber das sollte ihm übel bekommen .
Er war nämlich fast eben in ihr Zimmer eingetreten , als draußen an der Korridortür ein Geräusch entstand und Männertritte sich dem Zimmer näherten .
Das junge Mädchen stürzte auf die Tür und verriegelte sie .
Man versuchte zu öffnen .
Dann klopfte es :
" Aufmachen ! " -
Beide schwiegen .
Es wurde stärker geklopft und an der Tür gerüttelt .
Ihm war wie im Traume .
Das war ja doch nicht möglich .
Das Mädchen starrte angstvoll auf die Tür .
Ein neuer heftiger Schlag erfolgte .
" Mein Gott , das Haus bricht ja zusammen ! " schrie eine weibliche Stimme draußen .
Türen schlugen auf und zu .
Man unterschied fremde Stimmen .
- " Nicht aufmachen will sie !
Diesmal habe ich sie ertappt .
Warte man , du Luder !
Und deinen Kerl haue ich dir braun und blau .
Willst du jetzt aufmachen ? "
- " Kriech unters Bett ! " flüsterte das Mädchen .
Peter sah sie ratlos an , aber sie ließ ihm keine Zeit und überlegte inzwischen , was sie selbst beginnen sollte .
Schnell zog sie sich halb aus und schlüpfte in das Bett .
Sie wollte sich krank stellen .
Da gab die Tür nach , und ein großer Mann stand auf der Schwelle , und als er jetzt drohend auf sie zukam , vergaß sie jede Verstellung und zog die Decke über ihren Kopf , in dem einzigen Instinkte , sich zu schützen .
Er versuchte , die Decke herabzuzerren , aber sie knäulte sich noch mehr zusammen , es entspann sich ein heftiger , wortloser Kampf .
Schließlich stieß er mit seinen Fäusten in die bewegte , zuckende weiße Maße .
Sie gab nach ; er riß die Decke hinab :
Da lag sie , halb entkleidet , mit wirrem Haar , die nackten Arme vorgestreckt , ihn anstarrend wie ein Tier .
Inzwischen hatte Peter wohl bemerkt , was vorging ; jetzt hielt er es für würdelos , in seiner Lage zu verharren .
Was kommen würde , wußte er nicht .
Aber irgend etwas mußte geschehen .
Er arbeitete sich unter dem Bett hervor .
Mit einem Wutschrei stürzte sich der Mann noch einmal auf das Bett und bearbeitete das Mädchen mit seinen Fäusten .
Sie ächzte und suchte sich zu befreien , doch vergebens .
Von hinten fielen ihm die Leute , die nach ihm ins Zimmer getreten waren , in die Arme , und Peter rief : " Sie hat ja gar keine Schuld ! "
- " Du Lumpenhund ! " brüllte der Mensch , und nun warf er sich mit solcher Wucht auf ihn , daß er gegen die Wand geschleudert wurde und umfiel .
Er raffte sich sofort wieder auf und sah keuchend auf seinen Gegner .
" Du Lumpenhund ! " brüllte der aufs neue , und Peter erhielt einen Faustschlag auf die Nase , daß er taumelte .
Jetzt aber brach er los : " Sie Kerl ! " schrie er und stürmte mit Armen und Beinen auf ihn ein , " Sie roher , kannibalischer Kerl ! "
Tisch und Stühle flogen , der Ofen zitterte , sie lagen beide in wildem Ringen auf dem Boden .
Die Fanny kauerte , angstvoll auf sie starrend , aufrecht in ihrem Bette , gegen die graue Wand gelehnt und preßte ihr Kopfkissen gegen die Nase , welche heftig blutete .
Inzwischen hatten sich noch andere Nachbarn vor der Tür versammelt .
Man rief nach der Polizei .
Die beiden lagen noch immer auf dem Boden als ein lebendiges Knäuel .
Ruckartige Geräusche und ein tierähnliches Schnaufen war das einzige , was man vernahm .
Sobald sie die Lage änderten , lief ihnen die alte Frau , die das Zimmer vermietete , besorgt um ihre Möbel , ängstlich nach , um ihnen freie Bahn zu schaffen .
Fanny aber sprang von ihrem Bette herunter und stand nun ohne Oberkleid , mit nackten Armen , das blonde Haar fast völlig aufgelöst , mit vorgebeugtem Körper vor den Kämpfenden , die grauen Augen weit geöffnet , während ihre blassen Lippen bebten .
- Jetzt hatte ihr Liebhaber die Oberhand gewonnen und hieb sinnlos auf Peters Kopf ein , während Peter blindlings in die Luft traf .
- " Gießt ihnen doch einen Eimer Wasser über den Kopf ! " schrie jemand .
- " Nee , dem Bengel geschieht_es recht ! " rief ein anderer .
" Der Karl , so 'n braver Mensch , der ist viel zu schade für das Weibsbild , um sie zu heiraten , die Person ! "
- " Aber es ist ja nichts geschehen , gar nichts geschehen ! " rief das junge Mädchen jetzt verzweifelt .
Sie packte den Mann am Boden bei den Schultern , um ihn fortzuzerren , und als das nichts half , hielt sie ihm mit aller Kraft beide Augen zu .
Wie nun Peter etwas Luft bekam und von neuem zuschlagen wollte , fuhr sie ihm mit allen zehn Fingern in die Haare und drängte ihren eigenen Körper zwischen die beiden .
Jetzt sprangen auch die Nachbarn herbei , die Kämpfenden waren ohnedies erschöpft , man hielt sie an Hals und Schultern fest , und so standen sie sich schließlich keuchend wie zwei Hunde gegenüber .
Peter Michel wurde fortgedrängt und zur Tür hinausgeworfen , da man allgemein Partei gegen den Studenten und für den Arbeiter nahm , und dieser brüllte ihm noch nach , er werde ihm den Schädel einschlagen , wenn er ihn irgendwo zu fassen kriegte .
- Oben an der Tür stand Fanny , der Hund .
Er war seinem Herrn gefolgt , hatte diesem in seiner Bedrängnis nicht beistehen können , wischte jetzt ins Zimmer hinein und bellte kurz und strafend .
Darauf erhielt er einen solchen Fußtritt , daß er mit schrillem Schrei zur Tür hinausflog .
Den nächsten Morgen prallte Peter vom Spiegel zurück , so verschwollen und unterlaufen war sein Gesicht .
Aber das Schlimmste sollte noch kommen .
Seine Wirtin nämlich machte ihm eine Szene , die er im Leben nicht vergaß : Sie war von dem Hausherrn gekündigt worden , wegen des Skandals ihres Zimmerherrn .
Nun verlangte sie eine Geldentschädigung von Peter .
Dann kramte sie alle möglichen kleinen Verbrechen aus , die er im Laufe seines Aufenthaltes bei ihr begangen haben sollte , deren keines er sich erinnerte , keines aber auch ableugnen konnte .
" Und so hinterlistig zu sein ! " rief sie schließlich :
" Mir gegenüber spielt er immer den tugendhaften Joseph , und hinter meinem Rücken treibt er die ärgsten Dinge !
Ist das erlaubt ? "
- Die Wahrheit war , daß sie ihm des öfteren Andeutungen gemacht hatte , wie gefahrvoll der Umgang mit dem jungen Mädchen sei .
Seine unschuldige Seele hatte nie gemerkt , wohin diese und deutlichere Reden zielten .
Jetzt sah er sie verblüfft an .
- " Die Polizei sollte man holen und so einen Menschen ins Loch sperren ! " rief sie .
" Für dieses Mal haben Sie wenigstens eine ordentliche Tracht Prügel bekommen ! "
- Da wurde er dunkelrot und fuhr von seinem Stuhle in die Höhe .
Aber sie warf ihm krachend die Tür vor der Nase zu .
Er blieb einige Sekunden mit brennenden Augen , dann drehte er sich langsam um .
- " Ich will mich nicht ärgern " , preßte er hervor .
Dann setzte er sich auf das Sofa und brach in Tränen aus .
In dem Hinterhause hatte man sich inzwischen wieder beruhigt .
Fanny hatte nach jenem Vorfalle Weinkrämpfe bekommen und immer gerufen , sie wollte keinen von den beiden wieder sehen .
Die alte Frau , ihre Mietgeberin , saß an ihrem Bette und redete ihr zu :
sie solle vernünftig sein und ihr Glück nicht in den Wind schlagen ; der Karl hätte sie lieb und sei ein reeller Mann .
Was denn schließlich bei den vielen Verhältnissen herauskäme , wenn sie am Ende niemand heirate und sie ihr Brot zeitlebens selbst verdienen müsse !
- " Nein , Mutter " , rief sie , " lieber will ich betteln , als den rohen Menschen heiraten .
Solange man jung ist , soll man das Leben genießen , und wenn man alt ist und nicht mehr kann , dann gibt es immer noch was anderes , und zur Not gehe ich ins Wasser , dann ist alles mit eins vorbei ! "
- Die Alte legte ihr ein frisches nasses Tuch über die Augen .
- " Kind " , sagte sie bedächtig , " glaube einer alten Frau , das ist Unsinn , was du da redest !
Ich war ja nicht viel anders als du ; aber sieh mich doch an :
Mit siebzig Jahren noch täglich Zeitungen tragen und nicht wissen , ob man den nächsten Tag was zu knabbern hat , das ist schlimmer , als du denkst .
Und so leicht geht keiner ins Wasser .
Das sagt sich so , wenn man es im Augenblick nicht braucht , aber wenn man dann hinein soll , so bedankt man sich schönstens .
Der Karl kommt heute abend und bleibt bei dir ; er hat gesagt , daß er sich mit dir versöhnen will . " - Das junge Mädchen sah sie angstvoll an .
- " Du weißt , wie er ist " , fuhr sie fort ; " und wenn du ihn nicht einläßt , schlägt er dich tot .
Sage ihm , daß du dich von jetzt an zusammennehmen willst und daß besonders mit dem jungen Menschen von drüben nichts wieder vorkommen soll ! "
- " Aber es ist ja gar nichts geschehen , Mutter , gar nichts ! " rief Fanny eindringlich .
Die Alte sah sie erstaunt an , dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht .
Sie legte ihre gelbe , magere Hand auf die schöne volle des jungen Mädchens , welche auf der Bettdecke ruhte , und sagte : " Kind , mir brauchst du doch nichts vorzulügen !
Du weißt doch , daß ich mich nur freue , wenn du ein Vergnügen hast ! " -
Fanny mochte sagen , was sie wollte , die Alte schüttelte immer nur den Kopf und sagte : " Kind , Kind , für etwas klüger hättest du die alte Hottenrott doch halten sollen ! "
Dann stand sie auf , ging leise seufzend zum Ofen und richtete das Abendessen an .
- " Nun sage dem Karl nur gar nichts mehr .
Er vergißt das schon wieder , wenn du recht freundlich zu ihm bist , wenn er heute Nacht zu dir kommt .
Nicht wahr ? " -
Das junge Mädchen sah sie nachdenklich an und nickte .
Frau Heinecke , Peters Wirtin , hatte , kurz nachdem sie sein Zimmer verlassen , einen erbosten Brief an seinen Vater geschrieben , in dem sie die Sache darstellte , wie sie sie wußte , und auch noch manches dazulog .
Dieser Brief machte in aller Stille seine Wanderung in das Michelsche Dörfchen , und der Antwortbrief von Frau Michel wanderte ebenso stillschweigend zu Frau Heinecke , die ihn triumphierend dem ahnungslosen Peter zeigte .
Auch für ihn selbst fand sich ein Zettel :
" Der Großvater würde aus dem Grabe fluchen , Peter würde seine Eltern in den Sarg bringen und selbst am Galgen endigen . "
Herr Michel hatte sich jenen Brief von seiner Frau vorlesen lassen , ohne den Inhalt völlig zu begreifen .
Auf ihre harten , zügellosen Auslassungen ging er nicht ein , aber sein Sohn stand ihm in weiter , weiter Ferne .
In seiner Angst fragte er Tante Olga , zu der er noch das meiste Zutrauen hatte , ob sie meine , daß Peter wirklich einmal am Galgen endigen würde ?
Worauf sie mit blanken Augen rief : " Oho ! Das gäbe ein rechtes Rabenfutter ! "
So zog sich Herr Michel immer mehr in sich zurück , da niemand ihn verstand .
Er hatte , wo er konnte , Dinge gesammelt , welche Peter gehörten , und sie in eine Schublade getan , wo sie warten sollten , bis ihr Eigentümer zurückkäme .
Jetzt glaubte er , Peter käme überhaupt nicht mehr , da er so schrecklich enden sollte , und nun wurde ihm die Schublade zum Reliquienschrein , der in noch größerer Stille ruhte als bisher .
Frau Michel hatte jener Brief über ihren Sohn ins Herz getroffen .
Die Worte , welche sie ihm schrieb , entsprachen ihrer tiefsten Überzeugung .
Irgend etwas mußte geschehen , um ihn dem Verderben zu entreißen .
Sie hatte die Pflicht als Mutter , ihn zu retten .
Die Schulzenfrau triumphierte natürlich innerlich , daß ihre Prophezeiungen so glänzend eingetroffen waren .
Doch war sie klug genug , Frau Michel gegenüber nur die teilnehmende Ratgeberin zu spielen .
" Mit Gewalt richten wir nichts bei ihm aus , er muß einen festen moralischen Halt bekommen .
Ich meine : Wir müssen ihn mit einem guten , braven Mädchen verloben , welches dort an Ort und Stelle ist . "
- Das leuchtete Frau Michel ein .
" Ich wüßte aber nur Mariechen Klinkharte ! " sagte sie .
- " Mag er die ? " fragte die Schulzenfrau - " denn natürlich darf es kein Mädchen sein , gegen das er einen Widerwillen hat , denn das würde ihn erst recht zur Sünde verlocken . "
- " Er hat mir manchmal über sie geschrieben ! " antwortete Frau Michel .
" Ich kann ja seine Briefe Mal herholen ! "
- So lasen die beiden Frauen alle jene Stellen durch , die sich auf Mariechen Klinkharte und deren Familie bezogen , in der Peter die letzten Jahre viel verkehrt hatte .
- " Geht vorzüglich ! " rief die Schulzenfrau .
" Das scheint ein Mädchen wie geschaffen für ihn ; etwas älter als er - was macht das heutzutage !
Hausfraulich , vernünftig , praktisch .
Geld hat die Familie auch , das weiß ich von meinem Mann . "
- " So will ich hinreisen und ihm das Mädchen vorschlagen ! "
- " Nein , liebe Frau Michel ; so müssen Sie es nicht machen !
Sie müssen das Mädchen glauben machen , daß Peter sie liebe , und Peter glauben machen , daß das Mädchen ihn liebe !
Das hat doch die Teile noch immer zusammengebracht ! " -
Frau Michel hatte noch viele Wenn und Aber , um nicht allzu beeinflußbar dazustehen , aber eines Tages reiste sie ab , und dann teilte sie Frau Klinkharte und Mariechen mit , Peter sei nunmehr bald mit seinem Studium fertig , habe Aussicht auf baldige Anstellung , sei im Begriff , ein Bürger zu werden , und da suche sie für ihn eine Lebensgefährtin ; er selbst sei zu schüchtern , um sich zu erklären ; er habe sein jugendliches Herz verloren - und nun raten Sie , an wen ? "
- " Nun ? "
Frau Klinkharte starrte Frau Michel mit offenem Munde und schiefem Kopfe an .
Diese deutete auf das ihr gegenübersitzende Mariechen .
- " Ich ? " rief Fräulein Klinkharte , und über ihr Gesicht ging eine Röte der Freude .
" Aber wie ist denn das möglich !
Davon habe ich ja noch nie etwas gemerkt ! "
Frau Klinkharte aber sagte : " Oh , das habe ich mir immer gedacht !
Ich höre zwar nicht mehr so gut , aber auf meine alten Augen kann ich mich doch , dank unserem Herrgott , immer noch verlassen .
Na , ich erteile meinen Segen dazu !
So ein kreuzbraver Mensch . "
- Frau Michel wurde etwas schwül zumute .
Hatte sie nicht zuviel gesagt ?
- " Dann soll er gleich heute kommen und sich erklären ! " sagte Frau Klinkharte .
" Wir wollen ihn nicht lange zappeln lassen .
Heute abend kommen Sie mit ihm , und dann feiern wir Verlobung . "
Frau Michel wurde immer ängstlicher ums Herz .
Aber da trat Sophus ins Zimmer , man teilte ihm unverweilt die Neuigkeit mit , daß Peter sich mit Mariechen verloben wolle , und auch er war entzückt .
- " Ja , so weit ist es nun noch nicht ! " sagte Frau Michel zurückhaltend .
" Ich muß ihn erst noch vorbereiten . "
- " Nun ja !
Was steht denn noch im Wege ? " -
Frau Michel ging , und Peter wurde brieflich durch einen Dienstmann benachrichtigt , heute abend zu Klinkhardts zu kommen .
Frau Michel aber empfand plötzlich die ganze Schwere ihrer Verantwortung :
Also heute nachmittag mußte sie ihn aufklären .
Sie hatte ja viel zuviel gesagt .
Wie um Gottes Willen war sie nur dazu gekommen !
Ihr Temperament war wieder einmal mit ihr durchgegangen .
Aber nun war es zu spät .
Sie läutete bei Peter , traf ihn nicht , und als sie fort war , kam er nach Hause , fand die Einladung , zog seinen schwarzen Rock an , und da das Wetter schön war , wollte er noch vorher einen Ausflug machen .
Seine Wirtin sah von oben aus dem Fenster : " Herr Michel !
Ihre Mutter läßt Sie grüßen , und Sie sollen nur warten ! "
- " Unverschämte Person ! " rief Peter hinauf , da er nicht anders glaubte , als sie wolle ihn verhöhnen .
Frau Michel aber klingelte bald darauf zum zweiten Male in seiner Wohnung an , hörte , er sei vor einigen Minuten ausgegangen , und beschloß diesmal zu warten , bis er heimkehren würde .
Sie visitierte nun seine Sachen , zunächst den Kleiderschrank .
Das sah ja soweit ganz sauber aus !
Dann las sie langsam mit halblauter Stimme die Titel seiner Bücher , die sie nicht verstand .
Auch seine Hefte blätterte sie durch .
Das war alles sehr fleißig und ordentlich geschrieben .
Dann kam sie an seinen Schreibtisch , rüttelte an den Laden , und je mehr sie sich vergebens mühte , um so sicherer vermutete sie , daß in diesen Laden dasjenige sei , was sie suchte .
Und was suchte sie denn eigentlich ?!
Sie hatte eine unbestimmte Vorstellung von unerlaubten Dingen , Gegenständen , Blättern , sie wußte selbst nicht was .
Endlich setzte sie sich erschöpft in das Sofa .
Warum wohl Peter nicht kam ?
Die Frist wurde kürzer und kürzer .
Was wollte sie ihm eigentlich sagen ? -
Und wenn er sich nun sträubte ?
- Sie war bisher gewohnt , ihn als Kind zu betrachten .
Aber die Vorgänge der letzten Zeit hatten ihr gezeigt , daß das Kind allmählich herangewachsen war .
Und der Herrenhut dort in der Ecke !
Und das Rasiermesser auf dem Waschtisch !
Hätte sie doch nie auf den Rat der Schulzenfrau gehört !
Und wenn er nun gar nicht mehr nach Hause kam und sie ihn abends erst bei Klinkhardts traf ?
Die Einladung hatte er bekommen ; sie lag offen auf dem Tisch .
Erschöpft von der Anstrengung der Reise und der Aufregung schlief sie endlich ein .
Als sie wieder erwachte , war es dunkel im Zimmer , Peter war immer noch nicht da , und es war die höchste Zeit , zu Klinkhardts zu gehen .
Peter saß indes vor einer kleinen Wirtschaft auf der Landstraße .
Er war tüchtig marschiert .
Drinnen feierte man eine Hochzeit .
Ein Mädchen im Sonntagsstaat brachte ihm sein Bier hinaus .
Er saß auf der niedrigen Bank an der weißgekalkten Hinterwand des Hauses , von wo man über die Stoppeln und Wiesen hinweg nur unabsehbare Ebene vor sich hatte .
Einige kleine blasse Blumen blühten noch zwischen den Furchen , gelbe und weiße .
Er pflückte sie und steckte sie ins Knopfloch .
Dann sah er wieder den Blättern zu , die in der Ferne wehten , und horchte in die Pappelbäume , die mit ihrem Laube klapperten .
Der summende Lärm im Gasthause hörte plötzlich auf , und er unterschied eine einzelne Stimme .
Jemand hielt eine Rede .
Dann hörte er lautes Gebrüll und Gläserklingen , und dann verlief wieder alles in eintöniges Gemurmel .
Ein halbvergessenes Bild kam ihm in die Seele : wie das Liesel an seiner Konfirmation sich den Wein über ihr Kleid goß und ihn halb in Laune , halb in Verlegenheit mit ihrem schwarzen Haare trocknete .
- Wenn er nun später käme und sie bäte , ihn zu heiraten , würde sie ihn nehmen ?
Warum hatte er ihr eigentlich nie geschrieben ? -
Der Wind trug ferne Glockentöne herüber . -
Er war mit einem Male traurig geworden .
Die Dämmerung brach herein , er stand langsam auf und begab sich auf den Rückweg .
Der Wind wehte heftiger : seine Hände wurden starr vor Kälte , unter seinen Füßen knisterte es .
Der Regen der letzten Tage hatte sich in leichtes Eis verwandelt und füllte die Geleise und Vertiefungen der Landstraße .
Die Dunkelheit senkte sich herab , und mitten im Geheul des Windes unterschied er plötzlich deutlich Musik .
Er blieb stehen und horchte zurück ; aber in der Ferne glomm nur das gelbe Licht des Gasthauses , und der klagende Ton des Windes verschlang jedes weitere Geräusch .
Bei Klinkhardts richtete man indessen die Abendtafel her .
Vor Peters Gedeck stand eine kleine Vase mit Blumen ; vor Mariechens ein Veilchenstrauß .
" Er wird dir wohl noch ein Bukett mitbringen ! " sagte Frau Klinkharte ; " dann haben wir drei , und deines bekommt Frau Michel .
Eine sehr liebenswürdige Frau ; findest du nicht ?
Herr Gott , da kommen sie ! "
Mariechen stürzte zur Vorplatztür und öffnete .
Da stand Peter Michel auf der Schwelle und zog seinen Hut : " Guten Abend , Fräulein Klinkharte ! "
Dann sah er sich um , als ob er jemand erwartete .
" Aha ! " sagte Mariechen , im ersten Augenblick etwas verdutzt über die trockene Begrüßung , aber dann schnell gefaßt :
" Es kommt wohl noch jemand ? "
Sie glaubte , Frau Michel habe sich auf der Treppe versteckt und wolle erst sie beide sich allein begrüßen lassen .
Jetzt hörte sie auch etwas wie das Klappern eines Armbands .
Im nächsten Augenblick kam Fanny , mit gesenktem Kopfe , langsam um die Ecke heraufgetrottet .
Peter bat um Entschuldigung ; er habe den ganzen Nachmittag einen Spaziergang gemacht und nachher keine Zeit mehr gehabt , Fanny nach Hause zu bringen .
Fräulein Klinkharte war noch erstaunter :
" Waren Sie denn den ganzen Tag allein , Peter ? "
- " Ja , natürlich " , antwortete er , etwas verwundert über die intime Anrede .
" Wer sollte denn bei mir gewesen sein ? "
- " So ! " sagte sie gedehnt .
- Sie ahnte , daß Peter , durch einen sonderbaren Zufall , seine Mutter noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte und folglich auch noch nicht wußte , daß sein süßes Geheimnis verraten war . -
Weshalb sah sie ihn nur so sonderbar an ?
- " Kommen Sie herein , Peter ! " sagte sie und zog ihn in den Vorplatz .
Da stand Frau Klinkharte , in ihrem schönsten Kleid , und rief sehr laut :
" Nun kommen Sie herein , mein lieber Sohn ! "
Dabei drückte sie ihm beide Hände .
Peter wußte gar nicht , was er denken sollte .
" Ja , sind Sie denn allein gekommen , lieber Peter ?
Wo ist denn - " , aber Mariechen fiel ihr ins Wort und machte ihr ein schnelles Zeichen , daß sie sogleich verstummte .
Frau Klinkharte glaubte richtig zu verstehen .
" Ach so ! " sagte sie , machte ein diskretes Gesicht und fragte halblaut :
" Das Lämpchen brennt doch wohl ? "
Das war wieder so geheimnisvoll für Peter .
Mariechen aber zog ihre Mutter ins Nebenzimmer und sagte ihr , sie glaube , daß Peter durch eine seltsame Verknüpfung tatsächlich von dem Hiersein seiner Mutter noch nichts erfahren habe und von allem , was für ihn und sie alle daraus folgte .
" Das wollen wir doch gleich sehen ! " sagte Frau Klinkharte und ging wieder ins Nebenzimmer .
" Nun sagen Sie Mal , Peter " , wandte sie sich an ihn und sah ihn pfiffig an , " was haben Sie denn eigentlich für Nachrichten von Ihrer Mutter ? "
Peter blickte sie erstaunt und verwirrt an , da er nicht anders glaubte , als daß sie auf jenen schrecklichen Brief anspiele und auf den damit in Verbindung stehenden Skandal .
Frau Klinkharte aber warf ihrer Tochter einen bedeutungsvollen Blick zu und fuhr fort : " Na , ist die Nachricht denn so schlimm ?
Ich habe gehört , daß Sie hier irgendwo Ihr Herz verloren haben sollen ?! "
Peter wurde bis an die Ohren rot und wollte widersprechen .
" Mama ! " rief Mariechen ebenfalls errötend , aber ihre Mutter fuhr fort : " Laß mich doch , Kind ; ich sage ja nur , was ich gehört habe ! " -
Dann sah sie erwartungsvoll zu Peter herüber .
Dieser aber war unfähig zu antworten .
Scham und Ärger über die Dreistigkeit der Frau kämpften in ihm .
Im selben Augenblicke jedoch läutete es heftig .
Mariechen fuhr zur Tür hinaus , Peter hörte draußen jemanden hastig sprechen .
Die Stimme kam ihm bekannt vor .
Jetzt trat seine Mutter herein .
Er starrte sie an wie eine Erscheinung .
Sie begrüßte ihn sehr freundlich und etwas unsicher .
Ihm war , als träumte er .
- " Ja , denken Sie nur " , wandte sie sich bedeutungsvoll an die anderen :
" Wir haben uns den ganzen Tag verfehlt !
Peter wußte nicht einmal , daß ich hier bin .
Er sieht mich zum ersten Male ! "
Dann trat sie wieder auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand .
Er blickte sie mit großen Augen an .
" Nun , redest du gar nicht ? " sagte sie endlich , da das Schweigen peinlich wurde .
- " Ja - wie kommst du denn hierher ? " sagte er .
Und Frau Michel antwortete etwas verlegen , wie eine Mutter doch zuweilen Sehnsucht nach ihrem Sohne bekäme , wenn er in der Fremde Weile . -
Dann betrachtete sie ihn neugierig und scheu .
Er war jetzt einen ganzen Kopf größer als sie selbst ; sein Gesicht war breit und ebenmäßig , und sein Blick war ernst . -
Später ergriff sie eine günstige Gelegenheit , den Damen mitzuteilen , daß sie erst morgen ihre Rücksprache mit ihm nehmen würde , und als Frau Klinkharte meinte , man könne ihm doch auch ohne eine solche die Eröffnung machen , daß seine Liebe erwidert würde , beteuerte sie eifrig , daß er durchaus erst vorbereitet werden müsse ; auf einen Tag komme es ja gar nicht an .
Ihrem Sohne wiederum gab sie heimlich Anweisungen , er solle doch Mariechen mehr den Hof machen ; sie sei ein so liebes , prachtvolles Mädchen , und es sei doch klar , daß sie in ihn verliebt sei !
Er solle dankbar und froh sein !
Peter war sehr erstaunt und schielte bei Tisch , wo er konnte , zu Mariechen hinüber , um zu sehen , ob das wirklich wahr sei , was seine Mutter sagte .
Seine Blicke wurden wohl bemerkt .
Auch wollte er seiner Mutter zeigen , daß er sehr wohl mit feinen Damen umzugehen wisse und gewiß nicht dem Bilde entspräche , das sie sich ihrem Briefe nach von ihm machte .
So sagte er Mariechen alle Artigkeiten , die er wußte , und löste plötzlich die Feldblumen , die er noch im Knopfloch trug , von seiner Jacke und überreichte sie ihr mit der Bemerkung , er habe sie des Nachmittags für sie gepflückt .
Frau Michel warf ihm einen lobenden Blick zu und dachte :
Es kann alles noch gut werden .
Mariechen aber nahm die Blumen , errötete und lächelte .
Jetzt ging die Tür auf , und Sophus , der Sohn , erschien auf der Schwelle .
Er machte Frau Michel eine exquisite Kommisverbeugung , dann wandte er sich mit jugendlich-feurigem Blick zu Peter und streckte ihm mit kühner Bewegung seine Rechte entgegen : " Freut mich , Junge , freut mich !
Hätte gar nicht gedacht , daß du Weiberherzen erobern könntest ! "
Frau Klinkharte machte ihrem Sohne fortwährend Zeichen , die er endlich bemerkte .
" Was ist denn los ? " fragte er , während die Damen verlegen dreinschauten .
Er beugte den Kopf zu Mariechen herab , die ihm längere Zeit etwas ins Ohr flüsterte .
Peter aber saß in tödlichster Verlegenheit und drehte seine Serviette zu einem Tau zusammen .
Jetzt fing der auch sofort von der Skandalgeschichte an !
Wie um Gottes Willen hatten sie das alle erfahren ?
War das denn stadtbekannt geworden ?
Durch seine Mutter ?
Weshalb war die überhaupt hier ? -
Herr Sophus hob jetzt sein Haupt wieder in die Höhe und machte ein tadelloses Gesicht .
Nach Tisch aber zog er seine Mutter beiseite und bestand darauf , daß der Wein " trotzdem " zu trinken sei .
Überhaupt sehe er gar nicht ein , weshalb man die Verlobung nicht feiern wollte .
Peter sei nur zu schüchtern , man müsse ihm helfen .
Wenn er erst ein paar Gläser Wein getrunken habe , dann würde er schon gesprächig werden , und einmal " müsse das Eis ja doch gebrochen werden " .
Frau Michel wäre eine zimperliche Person , ihre Einwände seien ja ganz verrückt !
- " Das finde ich auch ! " sagte seine Mutter , die sich schon den ganzen Abend geärgert hatte ; aber Mariechen kam hinzu und widersprach , und als ihr Bruder sie eine dumme Gans nannte , weinte sie und sagte , sie würde sofort zu Bett gehen .
Peter müsse sich freiwillig und ganz von selbst erklären , sonst hätte sein Geständnis keinen Wert ; und es sei so unpoetisch ! -
So ließ man die Sache gehen .
Nun strengte Herr Sophus seine ganze Liebenswürdigkeit an , die etwas herabgedrückte allgemeine Stimmung wieder zu heben ; er erzählte eine Anzahl Witze aus den Blättern , machte Kunststücke mit dem Serviettenringe und deklamierte zum Schlusse die Schillersche Glocke .
So ging der Abend leidlich hin .
Als man aufbrach , erbot er sich sofort , die Nacht auf dem Sofa zuzubringen und Frau Michel sein Zimmer abzutreten , was sie nach vielem Zögern jedoch nicht annahm .
Ihrem Sohn sagte sie , sie würde ihn am nächsten Morgen besuchen ; sie habe etwas mit ihm zu bereden .
Peter hatte der sonderbare Empfang bei Klinkhardts beunruhigt , und die Anwesenheit seiner Mutter erschien ihm rätselhaft .
Was hatte sie bei Klinkhardts zu tun ?
Irgend etwas mußte da vorgegangen sein .
Er grübelte und grübelte und kam zu keinem Schlusse .
Auch die Andeutungen über sein Erlebnis mit dem jungen Mädchen von drüben waren in so befremdlicher , fast heiterer Weise gemacht .
Stimmte das zu den gewöhnlichen Anschauungen der Familie ?
Stimmte das zu dem Briefe seiner Mutter ?
Stimmte deren Benehmen gegen ihn zu ihrem Briefe ?
Und was hatte sie denn mit ihm zu bereden ?
Er fühlte , daß irgend etwas gegen ihn im Werke war , ohne zu ahnen , was es sein könne . -
Er schlief sehr schlecht , stand den nächsten Morgen ziemlich spät auf und war gerade beim Kaffeetrinken , als seine Mutter eintrat .
Sie hatte inzwischen ihren Plan gemacht .
Sie setzte sich zu ihm aufs Sofa , nachdem sie Hut und Mantel abgelegt hatte , und plauderte von dem Leben auf der Universität ; alle Studenten sähen so adrett und sauber aus , und sie freue sich , daß ihr Sohn keine Ausnahme mache , wie sie gefürchtet habe .
Dann ging sie auf sein Studium über und sprach die Hoffnung aus , daß er nun bald fertig sei und selbst sein Brot verdienen würde .
Gott sei Dank sei sie dann wieder um eine Sorge leichter !
Dann schwieg sie und wußte nicht , welchen Weg sie nun einschlagen sollte .
Peter sah sie von der Seite an :
Jetzt mußte es doch bald herauskommen , was sie eigentlich wollte .
- " Peter ! " begann sie endlich von neuem und legte ihre Hand auf die seine .
" Du kannst dir denken , wie mich deine Aufführung letzthin betrübt hat !
Ich war außer mir , ich konnte mir nicht erklären , wie unser Sohn auf solche Abwege geraten war .
Wir zu Hause haben dich stets zum Guten angehalten , und wenn du das in der Pension gelernt hast , dann gnade Gott den Leuten , denn sie haben es dermaleinst vor ihrem Schöpfer zu verantworten ! "
Peter wollte etwas erwidern , allein sie drückte ihm das Handgelenk und fuhr fort : " Wie dem auch sein mag ; genug , es ist einmal so , und es läßt sich nicht mehr ändern .
Ich habe nun lange über dich nachgedacht und mir schließlich gesagt :
Wenn ihn sein Herz einmal zum Weibe drängt , so ist es meine Pflicht als seine Mutter , diesen Trieb auf die richtige Bahn zu lenken und meinem Sohn mit Rat und Tat beizustehen .
Peter , ich habe daran gedacht , ob es nicht gut wäre für dich , wenn du dich bald verlobtest ! "
- Er sah seine Mutter starr an und wußte nun genau , welcher Name folgen würde .
- " Ja " , fuhr sie etwas beunruhigt fort , " das meine ich wirklich .
Und ich wüßte so ein nettes , liebes Mädchen für dich !
Und sie hat dich auch sehr lieb :
ich meine Mariechen Klinkharte .
Eine bessere Frau würdest du gar nicht finden können , sie ist ein junges hübsches Mädchen , nicht zu jung , also auch nicht so unerfahren und unpraktisch wie die meisten Mädchen , wenn sie in die Ehe treten .
Sie ist hausfraulich und verständig und hat ein so warmes , liebevolles , Herz ! "
- Sie machte eine Pause - Peter schwieg noch immer .
Frau Michel nahm das für ein gutes Zeichen .
Sie sagte sich , daß ihr Sohn immer noch das Kind von früher sei , das keinen eigenen Willen habe , und mit einem Male schwamm sie wieder obenauf :
" Du schweigst , und ich sehe daraus mit Freuden , wie du noch immer deiner Mutter das alte Vertrauen schenkst , dessen sie würdig ist .
Ich habe mir die Sache nun so ausgedacht :
Zieh du nachher deinen guten Rock an , kaufe einen Blumenstrauß und mache dem Mariechen deinen Antrag .
Sie hat dich gern und wird dich ganz gewiß nicht abweisen .
Mache es so , nicht wahr ? " -
Jetzt sah Peter seine Mutter an und schüttelte langsam den Kopf .
- " Ja , wie willst du es denn machen ? "
- " Gar nicht !
Ich will sie nicht heiraten ! "
- " Du willst sie nicht heiraten ?
Ja , mein Gott , weshalb denn nicht ? "
- " Weil ich sie nicht liebe . "
- " Aber ich sagte dir doch eben , daß ich sie für das beste und liebste Mädchen der Welt halte !
Hat dir deine Mutter jemals zum Schlechten geraten ? "
- " Nein ; aber ich will sie nicht heiraten . "
- " Nun sehe mir einer den Starrkopf !
Er will nicht und weiß selbst keinen Grund dafür !
Ich sage dir aber , du sollst ; und dann mußt du doch einfach . "
- Sie glaubte wieder vollkommen festen Boden unter den Füßen zu haben . -
Peter stand langsam auf .
" Mama !
Bist du jetzt fertig ?
Ich sage dir :
Ich will sie nicht heiraten , und ich heirate sie nicht .
Du magst mir Vorschriften machen , wo du willst , und ich will dir folgen .
Aber wenn du sagst , ich soll ein Mädchen heiraten , das ich nicht mag , so tue ich es nicht ! " -
Frau Michel war sehr rot geworden und erhob sich ebenfalls :
" Ich sage dir aber , du sollst !
In der Bibel steht : Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren , auf daß es dir wohlgehe und du lange lebest auf Erden !
Und wenn du mir jetzt nicht gehorchst , so bist du mein Kind nicht mehr ! " -
Peter atmete schwer :
" Das bin ich nie gewesen ! " stieß er hervor .
" Wie dein Kind hast du mich nie behandelt .
Was habe ich denn von meinem Elternhause gehabt ?!
Von meinem Vater suchtest du mich zu trennen , und mich selbst schicktest du in die Fremde .
Und später machte es dir Freude , die Frau , die mich in der Fremde liebte wie ihr Kind , vor meinen Ohren zu beschimpfen , wo du nur konntest !
Du gönnst mir keine Liebe !
Vertrauen zu mir hast du nie gehabt , anderen Leuten glaubtest du immer mehr als mir , und wenn dir eine fremde Person Briefe über mich schreibt , so hältst du es nicht einmal der Mühe wert , mich selbst zu fragen , sondern glaubst einfach alles Schlechte , was sie von mir schreibt .
Und nun kommst du und willst mich verheiraten , weil dir das gerade so einfällt , und hast nicht einmal soviel Interesse für mich , daß du auf den Gedanken kämest , ich könnte selbst bereits ein anderes Mädchen lieben .
Aber damals , Oh , ich weiß es noch ganz genau , wie ich aus der Pension kam , wie hast du da über Liesel geredet , als wäre sie ein schlechtes Mädchen und als wäre ihre Mutter eine durchtriebene Person , nur weil du wußtest , wie lieb ich beide hatte .
Wenn ich einmal heirate , dann heirate ich Liesel und niemand anders ; und wenn du das nicht willst , so kann ich es nicht ändern .
Es ist mir ganz egal , ob du es willst oder nicht ! "
- Seine Hände zitterten , seine Lippen bebten .
Frau Michel hatte ihn sprachlos angeblickt , während er redete .
Jetzt brach sie in Tränen aus und hielt ihre Hände vors Gesicht .
- " Ich unglückliche Frau ! " rief sie .
" Ich hätte mein Kind nicht liebgehabt !
Das sagt mir mein eigenes Kind !
Womit habe ich das verdient !
Wie habe ich stets nur für mein Kind gelebt , gesorgt , daß es gut und glücklich werde !
O Peter , das ist doch nicht wahr , daß ich mein Kind nicht liebhätte !
Nein , das ist nicht wahr , ich habe ja niemand anders auf der Welt als dich ! "
- Sie ergriff seinen Arm und schluchzte laut .- Er sah sie erschüttert an .
Es war das erste und einzige Mal , daß er seine Mutter weinen sah .
- " Niemand habe ich , gar niemanden !
Ich stehe allein auf der Welt , auch mein Kind liebt mich nicht mehr , mein eigenes Kind lehnt sich gegen mich auf ! "
- " Das ist nicht wahr " , sagte Peter bestimmt .
" Ich werde mich gewiß niemals gegen dich auflehnen ! " -
Frau Michel trocknete sich die Tränen .
- " So gehe und heirate das Mädchen . "
- " Aber ich habe dir doch eben gesagt , daß ich das nicht will !
Sei doch nun nicht gleich wieder so ! "
- " Peter , ich bitte dich , höre auf mich !
Es ist zu deinem Besten , was dir deine Mutter rät !
Du bist so jung und unerfahren und bedarfst einer Stütze , und welche natürlichere Stütze gibt es für einen jungen Mann als seine Braut , die er liebt , die er hochhält , die - "
- " Mama , ich habe dir schon einmal gesagt , wenn ich heirate , so heirate ich Liesel , und wenn Liesel mich nicht will , so heirate ich überhaupt nicht ! "
Frau Michel trocknete sich die Augen und starrte ins Leere .
Es schnürte ihr beinahe den Hals ein .
Mußte sie ihm etwa doch noch beichten , was durch sie bereits geschehen war ?
Das wäre schrecklich !
Und wenn er sich auch dann noch weigerte ?
Es war nicht auszudenken ! -
Sie versuchte darum noch einmal auf das eindringlichste , ihn umzustimmen .
Aber er blieb standhaft .
Da rief sie :
" Peter , auf den Knien flehe ich dich an , heirate sie ! "
Jetzt wurde er doch stutzig .
- " Du redest ja gerade so , als hinge alles Heil der Welt davon ab , daß ich dies Mädchen heirate .
Liebt sie mich etwa so , daß sie sich das Leben nimmt , wenn ich nein sage ? "
- " Sie liebt dich , ja , und sie erwartet dich mit Bestimmtheit ! "
- " Wie kann sie das ?
Ich habe ihr ja nie gesagt , daß ich sie liebte , und von anderen kann sie es nicht wissen , denn es ist ja einfach gar nicht wahr ! " -
Peter sah seine Mutter mit einem so vollen , ruhigen Blicke an , daß ihr letztes Restchen Hoffnung hinschwand .
Was sollte sie tun ?
Abreisen und der Sache ihren Lauf lassen ?
Sie wäre öffentlich dem Hohne preisgegeben und der Verfolgung der Familie !
- " Peter " , begann sie von neuem , ohne ihn anzusehen , " Mariechen liebt dich , und sie erwartet heute morgen deinen Besuch ! "
- Sie versuchte ihn anzuschauen , blickte aber gleich wieder zu Boden .
- " Du irrst dich , Mama ! " sagte Peter plötzlich in einem so freundlichen Tone , daß sie überrascht aufsah .
" Ganz gewiß , du irrst dich .
Daß wir uns heiraten sollen , das scheint nun einmal so eine Idee von dir zu sein , Gott weiß warum .
Ich habe ihr aber nie , nie gesagt , daß ich sie liebe , und es ihr auch nie gezeigt , weil es ja gar nicht der Fall ist .
Und nun soll sie heute morgen dasitzen und auf mich warten ! "
- " Sie erwartet dich dennoch ! " sprach seine Mutter tonlos .
" Sie hat es mir gestern abend gesagt ! " -
Peter sah starr zu ihr herüber .
" Mama ! " sagte er mit verhaltener Stimme , " da liegt noch etwas anderes , etwas , wovon ich nichts weiß .
Von selbst kann sie nicht auf die Idee gekommen sein .
Irgend jemand , der mir böse will , muß ihr das eingeredet haben .
Weißt du etwas davon ? " -
Frau Michel hielt noch immer den Blick am Boden geheftet und atmete wie unter einem Alpdrücken .
- " Wer hat ihr das gesagt ? " wiederholte er dringend , fast heftig .
Sie sah ihn fassungslos an , öffnete den Mund und sagte : " Ich ! "
- " Du ? " -
Frau Michel nickte und vergrub das Gesicht in ihre Hände .
Ein langes Stillschweigen folgte .
- " Wie kamst du dazu ? " fragte er endlich tonlos .
- " Ach ! Ich wußte ja weder aus noch ein ! " rief seine Mutter , von neuem in Tränen ausbrechend ; " irgend etwas mußte ich doch tun , um dich zu retten , und allein ' wäre ich ja auch nie auf den Gedanken gekommen , aber die Schulzenfrau , die gab mir den Rat , und ich weiß selbst nicht , wie ich ihn nur gut finden konnte , denn er ist ja schrecklich - schrecklich - schrecklich !
Oh , verzeih mir , Peter ! "
- Sie schluchzte heftig ; dann faßte sie sich und erzählte nun mit abgebrochener Stimme alles , wie es sich zugetragen hatte vom Anfang bis zum Ende .
Peter hörte unbeweglich zu .
- " Und nun steht es bei dir , ob du deine Mutter der Schande und der Schmach preisgibst oder nicht ! "
Peter focht einen schweren Kampf durch .
- " Nein ! " sagte er endlich .
" Mama , ich kann sie nicht heiraten .
Ich kann nicht !
Ich will zu ihr hingehen und ihr sagen , daß ich es nicht kann !
Vielleicht kann man es ihr so sagen , daß sie es nicht übelnimmt . "
- Seine Mutter hob den Kopf .
Etwas wie Hoffnung zeigte sich ihr .
- " Ich kann ihr ja sagen , ich hätte noch lange keine Aussicht auf Anstellung ! "
- " Dann wird sie sagen , ihr könntet ja mit dem Heiraten auch noch lange warten . "
- " Und bis dahin ist sie dann noch älter ! " rief Peter bitter .
- " Nein " , sagte sie , " so geht es nicht , aber vielleicht läßt sich doch alles noch in Ehren rückgängig machen !
Laß uns nachdenken , Peter , vielleicht gelingt es uns , einen Ausweg zu finden . "
- So sannen beide im Vereine nach , und die Frucht ihrer gemeinsamen mühsamen Anstrengung war schließlich , daß Peter an Fräulein Klinkharte schrieb , das Ganze sei ein unseliges Mißverständnis .
Diesen Ausdruck fand Frau Michel besonders glücklich .
Seine Mutter habe von ihm nur brieflich von seiner Neigung zu einem jungen Mädchen erfahren , welches unglücklicherweise den Namen Mariechen trage , und sie habe seine Andeutungen ohne weiteres auf Fräulein Klinkharte bezogen , von der er ihr immer viel erzählt .
Er habe ihr geschrieben , er glaube , seine Liebe sei aussichtslos , und da sei sie heimlich angereist gekommen , um ihm die Wege zu bahnen , in der besten Absicht , für ihn sowohl als für das Fräulein .
Er bedauere diesen Irrtum auf das höchste und bäte sie auf das innigste um Verzeihung .
- " Und nun , Peter " , sagte Frau Michel , " laß uns ordentlich zusammenhalten .
Wir haben gesehen , was dabei herauskommen kann , wenn Mutter und Sohn sich fremd werden !
Fremde Leute sollen nicht wieder zwischen uns treten !
Wir wollen uns künftig recht liebhaben ! "
Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und reckte sich ein wenig .
Peter umarmte und küßte sie .
Wie vorauszusehen , nahmen Klinkhardts jene lahmen Ausführungen nicht so ohne weiteres hin .
Mariechen war sehr traurig und glaubte alles .
Ihre Mutter aber sägte :
" Kind , dahinter steckt noch etwas anderes ! "
Und der ritterliche Sophus versicherte , er würde die angetastete Ehre seiner Schwester wiederherstellen .
Er schrieb an Peter Michel , er verlange von ihm , daß er an seine Schwester einen Brief schreibe des Inhaltes , daß sie in Charakter und Betragen eine vollendete Dame sei .
Anderenfalls würde er sich mit ihm schießen .
Er möchte nicht persönlich kommen , da man ihn nicht annehmen würde .
Peter schrieb den verlangten Brief und versicherte noch einmal auf das bestimmteste , alles sei nur ein unseliges Mißverständnis .
Frau Michel verschob ihre Abreise noch etwas .
Sie hatte das Bedürfnis , jetzt , wo alles , was sie gegenseitig bedrückte , von der Seele gespült war , noch einige Tage innigen Beisammenseins mit ihm zu verleben .
Sie erzählte ihm auch manches von zu Hause .
Von Tante Olga sagte sie , daß es nun nicht mehr lange dauern könne , daß sie in ein Irrenhaus gebracht würde : " Denke nur , was sie tat , als ich abreiste !
Sie hätte doch so gerne mit mir gehen wollen , aber wir hatten es natürlich nicht erlaubt .
Darüber war sie nun ganz unglücklich , und als sie mich zum Wagen begleitete , rief sie in einem fort , wie du dich dann verloben könntest , wenn die Braut daheim bliebe !
Und als ich endlich abfuhr , tanzte sie neben dem Wagen her und rief : » Ich bin die Galgenbraut , ich bin die Galgenbraut ! «
Dann pfiff sie auf der Pistole des Großvaters , die durch einen Zufall in ihre Hände gekommen sein muß , so daß die Pferde scheu wurden und immer schneller liefen .
Schließlich konnte sie nicht mehr mitkommen ; da feuerte sie einen Schuß hinter uns drein !
Es ist ein Wunder , daß wir so mit heiler Haut davongekommen ! "
- Mit seinem Vater , fuhr sie fort , stände es sehr traurig , er würde zunehmend schwermütiger .
Den Grund wisse man nicht :
" Ich fürchte , ich fürchte , daß es einmal ein schlimmes Ende mit ihm nimmt !
Peter , wenn wir alle beide allein sein werden , dann wirst du mich zu dir nehmen , nicht wahr ? "
Peter nickte und drückte ihr liebevoll die Hand . -
Er wußte nicht , daß es in seiner Seele trübe war . -
Aber als sie fort und er allein war , da wußte er es plötzlich .
Mitten in der Nacht stand er auf .
Seine dunklen Gedanken beklemmten ihn .
Er öffnete das Fenster und sah hinaus .
Über ihm war Nacht .
Kein Stern auf dem fast schwarzen Himmelsgrunde .
Er hatte sich getäuscht !
Er hatte sich die Hoffnung gemacht , alle würde sich zum Guten lenken , aber jetzt wußte er es : Seine Mutter würde ihm immer fremd bleiben , sie würden sich nie verstehen .
Vor ihm lag die Welt im Dunkel , und ein Gefühl öder Vereinsamung überkam ihn .
- " Es nützt ja doch alles nichts ! " sagte er halblaut zu sich selbst .
" Wenn ich nur jemand hätte , der mich liebhaben könnte . "
6. Kapitel Als Peter die Nachricht von seiner Anstellung als Lehrer erhielt , war er wie gelähmt , obgleich er durch Jahre immer nur auf dieses Ziel hingestrebt hatte .
Er fühlte sich unfähig zu irgendeinem Posten , der ihm Verpflichtungen gegen die Welt auferlegte , der ihn zum Gliede in einer großen Kette machte .
Er war nach Haus gereist , und eines Tages schüttete er seiner Mutter das Herz aus .
Frau Michel begriff nichts von allem , was er sagte .
- " Du bist doch ein erwachsener Mensch und willst dich vor Kindern fürchten ?
Was willst du denn tun ?
Hast du etwas anderes gelernt als dein Lehrfach ?
Willst du wie dein Vater , der nie Sinn für Höheres hatte , Schuhe flicken ?
Ihr Michels seid alle Taugenichtse .
Früher glaubte ich , wie ich ihn kennenlernte , dein Vater wäre ein Dichter ; aber nachher sah ich , daß nichts , rein gar nichts von einem Dichter in ihm ist .
Wenn ich dich in kindlicher Weise Gesichter zeichnen sah , glaubte ich , du würdest ein Maler , und ich sah im Geiste schon ein neues Altarbild in unserer Kirche .
Dann hoffte ich , du würdest ein großer Rechenmeister ; aber auch damit scheint es nichts zu sein , denn du willst nicht einmal den ersten Schritt tun und furchtest dich vor Kindern ! " -
Herr Michel hatte bis jetzt stillschweigend in einer Ecke gesessen und aufzuhorchen versucht ; immer wenn er glaubte , er hätte den Faden , verlor er ihn wieder ; nur so viel merkte er , daß Peter gescholten wurde .
Er erhob sich und ging still hinaus .
Tante Olga hatte gesagt , ihn würden die Galgenvögel verschlingen , denn er sei ein Teufelsbraten .
- " Er versteht überhaupt nichts mehr ! " sagte Frau Michel , als Peter sie fragend ansah .
" Manchmal denke ich , ich bin in einem Irrenhause .
Dein Vater ist so trübsinnig , daß man meinen sollte , er lebe überhaupt nicht mehr , Tante Olga in steter Bereitschaft , ein Unglück anzurichten - neulich wartete sie oben in deiner Kammer , bis unten jemand vorbeiging , und ließ dann einen Backziegel hinabfallen - und jetzt du mit deiner kindischen , blödsinnigen Angst .
Es sollte mich gar nicht wundern , wenn du was von deiner Familie geerbt hättest .
Und das schlimmste ist :
Ich selbst bin meiner nicht mehr sicher .
Es ist oft , als ob mein Gehirn mir den Kopf sprengen wollte - ich habe oft Angst , ohne zu wissen , vor was ; es würde mir wohl niemand glauben , aber ich habe schon manchmal vor der Frage gestanden , ob es nicht besser wäre , diesem Leben gewaltsam ein Ende zu machen .
Doch Selbstmord ist die schlimmste Sünde , Peter , denn sie ist die einzige , die man nicht bereuen kann .
Und dann habe ich ja auch Pflichten .
Ich muß für deinen Vater sorgen . "
Als Peter den letzten Abend vor seiner Abreise seine Kammer betreten , sich bereits entkleidet hatte und im Begriff war , ins Bett zu steigen , fuhr er erschrocken zurück , denn das helle Mondlicht zeigte ihm bereits jemanden darin .
Tante Olga !
Sie rührte sich nicht .
Sie hatte vorgehabt , diese einzige und letzte Nacht mit ihrem Neffen das Lager zu teilen , war aber während des Wartens eingeschlafen .
Jetzt erhob sie sich sehr mürrisch und gänzlich schlaftrunken , warf ihm einen leeren Blick zu , tappte zur Tür hinaus und die Treppe hinunter .
Aber unten fiel ihr ein , was sie vergessen hatte , und flugs kehrte sie wieder um .
Peter hatte sich zum Fenster hinausgelehnt , um sie unten aus der Tür heraustreten zu sehen .
Wie sie nun gar nicht kam , dachte er , sie müsse wohl schon vorbeigegangen sein , ehe er ans Fenster trat . -
Wie kalt und geisterhaft sie ihn angesehen hatte !
Es schauerte ihn leise .
Er drehte sich langsam um , legte sich nieder , und da stand sie vor ihm , lang und hager .
Sie hob die Arme , und mit einem Male hatte sie ihn beim Kopf gepackt .
Er war wie gelähmt vor Schreck .
- " Was willst du ? " keuchte er endlich .
Er suchte sich aufzurichten , aber sie war über ihm und hielt seine Kehle umspannt .
- " Küsse mich ! " rief sie .
" Küsse mich , oder ich beiße dich !
Küßt du mich nicht , so verhex ich dich ! "
Wie ein zotteliger Nachtalp kauerte sie im Mondlicht auf dem Bette über ihm .
" Peter !
Um Gottes Willen , was ist geschehen ! "
Es war Frau Michel , die von außen rief .
Im Nun schnellte sich die Tante vom Bett hinunter , zum Fenster hinauf und verschwand , indem sie sich ihrer Körperlänge nach daran herunterließ .
Frau Michel trat mit einem Licht ins Zimmer .
Peter lag keuchend auf dem Bette .
" Was ist geschehen ?
Um Gottes Willen , wie siehst du aus !
Hast du mit einem Tier gekämpft ? "
Sie leuchtete ihm ins Gesicht .
Dann sah sie sich erstaunt in der ganzen Kammer um .
Er deutete auf das Fenster ; sie blickte hinaus , aber draußen flimmerte Baum und Strauch im Mondlichte , alles lag still .
Peter kämpfte mit sich selbst , aber endlich sagte er doch alles , wie es sich zugetragen .
- " Nun hat es ein Ende !
Das hat ja noch gefehlt !
Morgen kommt die Polizei : Entweder ins Irrenhaus oder ins Gefängnis !
Und verhexen will sie dich !
Ja , wahrhaftig , ich habe zuweilen ein rechtes Grauen vor ihr !
Gott weiß , ob sie uns nicht noch einmal alle miteinander verhext . "
Als sie sich trennten , ging Frau Michel zum Fenster , um es zu schließen .
Da fühlte sie ein Hindernis .
" Was ist denn das ? " fragte sie , sich niederbeugend .
" Finger ? "
Im selben Augenblick lösten sich diese , und man hörte drunten einen dumpfen Fall .
Beide sahen sich mit leisem Schauder an , und Frau Michel schloß mit schnellem Ruck das Fenster .
In derselben Nacht wurden die Dorfbewohner aus ihren Betten gerüttelt , denn Tante Olgas Häuschen stand in Flammen .
Die Leute , die es bewohnten , wurden gerettet , und mit großer Anstrengung schließlich auch Fräulein Michel selbst , die bis zum letzten Augenblicke in ihrem Zimmer ausgeharrt hatte . -
Bei dem Falle vom Fenster herab hatte sie sich einen Fuß verrenkt ; sie litt an argen Schmerzen ; zugleich hatte sie auch eine namenlose Angst vor den Dingen , die ihr Frau Michel anzutun gedachte ; und wie sie da in ihrem Bette saß , mit hochgezogenen Beinen , das Kinn auf ihr Knie gestreckt , da kam ihr plötzlich ein Gedanke , wie sie ihrer Schwägerin ein Schnippchen schlagen und zugleich sich selbst diesem heiklen Handel entziehen könne ; und sie lächelte listig in die Leere .
Dann stand sie auf , goß vorsichtig das Öl ihrer Lampe auf einen Stuhl , zündete diesen an und legte sich wieder in ihr Bett , von wo aus sie dem wachsenden Feuerbrande mit Interesse zusah .
Da sie vergessen hatte , das Fenster zu schließen , so zog der Rauch für eine Weile ab .
Aber als es dann heißer und heißer im Zimmer wurde , Vorhänge und Decken vom Feuer ergriffen wurden , fing sie an zu weinen wie ein kleines Kind und spuckte schließlich mit aller Gewalt in die Flammen .
Dann versuchte sie das Zimmer zu verlassen , aber es gelang nicht mehr .
Mit Mühe und Gefahr wurde sie vom Fenster aus gerettet .
Jetzt war sie vor Dankbarkeit fast sinnlos .
Alle Haare waren ihr vom Kopfe gebrannt ; wie ein junger Sperling umhüpfte sie auf dem gesunden Bein den Mann , der sie aus den Flammen getragen .
Aber am nächsten Tage lag sie fieberkrank im Bette .
Frau Michel , welche sie aus Pflichtgefühl bei sich aufgenommen hatte , lief oft ein kalter Schauer über die Glieder , wenn das kahlköpfige Fräulein sich plötzlich funkelnd emporrichtete , einen schwarzen Pastor aus einer Ecke hervorzitierte oder unvermittelt mit tiefer Männerstimme ungesehene Armeen kommandierte .
Dann schrie sie auf einmal :
" Hui das Öl .
Hui hui hui hui hui hui hui ! " schnalzte mit der Zunge , schlug mit den Armen und blies mit vollen Backen , bis ihr die Augen aus dem Kopfe quollen und sie sich jählings in das Bett zurückwarf .
Von diesen letzten Dingen wurde Peter gemeldet , wie er schon in seiner neuen Stelle war .
Als er über den Schulhof schritt , um dem Direktor einen Besuch zu machen , wurde ihm ganz eigen zumute : als solle er selbst dort zur Schule gehen , nicht als Lehrer , sondern als Schüler .
Wie oft würde er den Platz noch überschreiten und schließlich gar nicht mehr wissen , daß es je anders war !
Dann erfuhr er , daß er sich in dem Schulgebäude geirrt hatte , kehrte um , fand das rechte und schritt nun ohne jede Betrachtung quer über den Hof auf das Rektoratshaus zu .
Vor der Tür saß ein kleiner Knabe .
Er reichte Peter wortlos seine Peitsche hin und sah ihn ernsthaft an .
Peter verstand sogleich , was der Kleine wollte , und brachte sie in Ordnung .
Der Direktor , ein ziemlich hochgewachsener , jovialer Herr , empfing ihn sehr freundlich .
Peter durfte oder mußte vielmehr rauchen ; er dachte an die Ermahnungen seiner Mutter , er möge stets dem Großvater nacheifern und sich einbilden , daß dessen Geist in ihm selbst wäre , und so sagte er denn alsogleich , daß das Städtchen trefflich gelegen sei und daß einer hier wohl sein Auskommen haben könne .
Dann sah er sich mit etwas schüchternen Augen um .
Die Tür ging auf , und eine mittelgroße , ebengewachsene Dame trat ins Zimmer .
Sie sah Peter an , als ob sie ihn schon kenne , sagte aber : " Ach , ich störe wohl " , und wollte sich zurückziehen .
- " Nein , Ottilie , bitte , tritt nur näher !
Ich stelle dir hier einen jungen Herrn vor , der von jetzt ab unserem Schulverbande angehören wird : Herr Michel - meine Frau . "
- " Habe ich Sie nicht vorhin an der Tür gesehen ? " fragte sie errötend .
Peter sah sie völlig verwirrt an .
- " Nun ja !
Sie haben doch meinem Kleinen die Peitsche zurechtgemacht !
Du mußt nämlich wissen , Theodor , Herr Michel hat dem Maxel die Peitsche wieder zurechtgemacht ! "
Sie blickte ihn wieder an und fragte :
" Nicht wahr , Sie haben meinen Maxel gerne ? "
Peter sah nach wie vor in äußerster Verwirrung auf sie .
Das war ja Liesel !
Und Ottilie hatte sie ihr Mann genannt .
- " Aber warum setzen Sie sich denn nicht wieder ? "
In ihren Augen stand unverhohlenes Wohlgefallen .
- Warum nannte sie ihn denn nicht du ?! -
Ihr Mann hatte ihr indes mehrfach Blicke zugeworfen , die sie nicht verstand oder nicht verstehen wollte .
Jetzt sagte er plötzlich mit Betonung :
" Nun , Herr Michel , Sie werden wöchentlich so gegen sechzehn Lehrstunden zu geben haben .
Sehen Sie , da haben wir zunächst die Arithmetik ! "
- " Ach , wenn ihr von Geschäften redet , da zieh ich mich zurück .
Adieu , Herr Michel ! "
Und ehe er sich ganz erhoben hatte , war sie schon hinaus und hatte die Tür hinter sich geschlossen .
- " Und zweitens haben wir hier die Geometrie ! "
Der Direktor sah Peter mit einem Blicke an , welcher sagen sollte :
Wir ignorieren das , was uns nichts angeht ! -
Aber Peter sah und hörte gar nichts :
Es war am Ende doch nicht Liesel .
Hatte Liesel nicht dunkleres Haar gehabt ?
Nein , sie hatte dasselbe Haar !
Natürlich war sie es .
- " Ob Sie mich verstanden haben ? "
Peter fuhr aus Träumen und " Ja ! "
- " Bitte , wiederholen Sie , was ich eben gesagt habe ! "
bat der Schulmonarch .
Peter konnte es nicht , und der Rektor wiederholte es selbst .
- " Vor allem arbeiten , arbeiten und noch einmal arbeiten !
Das Arbeitsfeld ist ein so großes !
Der Lehrerberuf ist ein heiliger Beruf !
Von uns hängt die Zukunft des Staates ab !
Wir geben dem Staate das Geistesmaterial ! "
Als Peter das Haus verließ , stand Frau Ottilie mit ihrem Jungen vor der Tür :
" Sage adieu , Maxell "
Sie führte ihn zu Peter .
- " Sind Sie - Sind Sie - ich meine , ob Sie - heißen Sie nicht eigentlich Liesel ? "
Sie errötete über und über und sah ihn ganz verwirrt an .
Im selben Augenblick aber brach ihr kleiner Knabe in lautes Weinen aus ; er lag auf der Nase und konnte nicht wieder aufstehen .
Sie eilte auf ihn zu , und da er ein wenig blutete , hatte sie für nichts anderes mehr Sinn .
" Auf Wiedersehen ! "
Und ehe es sich Peter versah , hatte sie ihren Jungen über die Schulter genommen und war verschwunden , Er aber starrte ihr nach wie im Traume .
Warum verbarg sie sich vor ihm ?
Wollte sie , als Frau eines Rektors , ihren Freund von früher nicht mehr kennen , weil der nur ein armer Kandidat war ? -
Mit scheuem Blicke musterte er die Fenster , ob ihn vielleicht jemand beobachtete , dann entfernte er sich , in tiefes Nachsinnen verloren .
Er suchte jetzt die beiden im Geiste zu vergleichen , sich genau die Züge der Liesel vor die Seele zu bannen , so wie er sie zuletzt gesehen .
Über fünf Jahre waren seither verflossen .
Ihr Bild hatte sich ein wenig verwischt .
Und doch glaubte er jetzt Unterschiede zu bemerken .
Liesel hatte größere Augen gehabt .
Aber hatte diese nicht auch große Augen ?
Große , dunkle .
Und Liesel hatte einen kleineren Mund und vollere Lippen .
Aber konnte , mußte sie sich nicht in den fünf Jahren auch verändert haben ?
Deutlich erinnerte er sich ihrer feinen Schultern .
Jetzt waren sie voller , weicher .
- Und die Haare - das waren nur Liesels Haare !
Solche Haare hatte nur Liesel !
Und wie hübsch sie sie jetzt trug ; aufgesteckt , und kleine Locken an den Schläfen ! -
Aber weshalb nannte sie ihr Mann Ottilie ?
Fand er , daß " Liesel " sich nicht für eine Rektorsfrau eignete ?
Elise oder Lisbeth würde sie sich niemals haben nennen lassen , das wußte Peter .
Andererseits hatte sie aber immer Sinn für Vornehmes gehabt .
Da konnte sie sich ihrem Mann zuliebe schon diesen Namen ausgewählt haben . -
Sollte er nicht einfach an den Kantor schreiben und ihn um die Sache befragen ?
Aber wie sollte er das begründen ? -
Er fühlte sich unglücklich , um so mehr , als sein Unglück so dunkel war .
Am nächsten Morgen kleidete er sich in seinen schwarzen Rock und ging zur Schule .
Noch fern vom Schulhaus konnte man ihn wohl für einen Spaziergänger halten , aber je mehr er sich ihm näherte , um so mehr , glaubte er , müsse man merken , daß er ein Lehrer war oder ein Kandidat , wie man sie nannte .
Und als er die Aula betrat , als sein Name genannt wurde , als er sich erhob , als die Vorstellung , er sei sein Großvater , nicht mehr wirkte , und tausend Augen auf ihn gerichtet waren , da war es ihm , als sei er inmitten dieser Versammlung ganz einsam irgendwo im Walde .
Am selben Tage wurde er noch in die neuen Klassen eingeführt .
Jetzt sollte er seine Stunde halten .
Der Rektor blieb im Zimmer , um , wie er sagte , auch etwas mitzulernen :
" Denn man lernt nie aus im Leben , und manches Gelernte vergißt sich wieder .
Repetitio est mater studiorum ; heißt ? "
Und einer der Schüler sagte es .
" So , Herr Michel , fangen Sie an .
Machen Sie den Schülern die Grundzüge der Buchstabenrechnung klar . "
Peter brachte dies in einer leidlich guten Ausdrucksweise zuwege .
Wenn er nicht recht weiter konnte , so half der Rektor ein , indem er stets hinzufügte :
" Merkwürdig , wie einem alles bei Gelegenheit wieder einfällt !
Ja , ja , das Gedächtnis ist wie eine Scheuer , in der nichts verlorengeht , wenn auch manches den Blicken sich entzieht , da der Körner zu viele sind ! "
- In solchen Momenten wartete Peter bescheiden , aber er runzelte die Stirn , als ihm der Rektor einen Fehler nachweisen wollte , den er gar nicht gemacht hatte .
Da wurde er sehr gesprächig und lauter , als seine Art war .
Schließlich sah der Rektor seinen Irrtum ein und sagte ihm , er möchte seine Buchstaben deutlicher schreiben .
" Welche ? " fragte Peter unschuldig .
Da wurde der Rektor nervös und sagte : " Bitte , rechnen Sie nur weiter . "
So ging diese Stunde hin , und es folgte eine zweite .
In vier Klassen hatte er zu unterrichten , und als er erst einmal alle seine Schüler kannte und gelernt hatte , sich unter ihnen zu bewegen , da sah er , daß die Sache nicht so schlimm war , wie er sie sich vorgestellt hatte .
Nur mit dem Mathematikprofessor stand er sich nicht gut .
Dieser suchte sofort ihm gegenüber eine gönnerhaft-nachlässige Stellung einzunehmen , und das war etwas , was Peter gar nicht vertragen konnte .
Er hatte einen großen Stolz bei aller äußeren Bescheidenheit .
Bei Zensurverteilungen war er sehr nachsichtig und ließ sich zuweilen von den Schülern selbst bestimmen , eine Note etwas aufzubessern .
Manchmal jedoch blieb er hart , verweigerte jedes Entgegenkommen und sah dabei wahrhaft ehern aus .
Oft gaben Tränen seiner heimlich schon längst in Bewegung gesetzten Gutmütigkeit den letzten Stoß , er zog langsam seinen Blaustift und verbesserte die Note .
Auch Schmeicheleien war er nicht unzugänglich , doch stets nur in ganz naiver Weise .
So sagte einst ein Schüler in einer plötzlichen Anwandlung unglücklichen Humors :
" Sie haben auch einen so schönen Schlips ! "
- " Wirklich ? " fragte Peter überrascht und erfreut .
Und dann gingen die Erweichungsversuche von neuem vor sich , und diesmal mit Erfolg .
Hier zeigte sich ein Zug , den er wohl von seiner Mutter hatte , jedoch mit dem Unterschiede , daß diese alle Schmeicheleien persönlich nahm , während Peter sich nur über die Sache selbst freute und darüber , daß er so glücklich war , sie zu besitzen .
- Alle die kleinen und allerkleinsten Quälereien , denen die Lehrer zum Opfer fallen , ertrug er mit Ruhe .
Sehr selten kam es vor , daß er sich vom Zorne hinreißen ließ , und immer nur in Fällen , wo man systematisch untergeheizt hatte .
Dann konnten aber auch Ausbrüche heftigster Art erfolgen .
Er teilte Ohrfeigen aus , warf zur Tür hinaus und war ganz außer sich .
Nachdem ihn dann die steinerne Ruhe der Mathematik etwas ins Gleichgewicht zurückgebracht hatte , holte er den Hinausgeworfenen persönlich wieder herein , und nun begann eine Szene , die sich mit Regelmäßigkeit wiederholte und an deren Ende Peter fast immer unterlag .
Weinen des Gemaßregelten , Zwischenhandeln von Seiten Unbeteiligter , Anstürme auf seine Milde und Versprechen der Besserung - welch letzteres Mittel jedoch manchmal die schon zur Ruhe gehende Erbostheit von neuem aufrührte .
- " Das hast du schon zehnmal gesagt ! " platzte er dann los .
Worauf wohl jemand aus einer sicheren Ecke heraus , in dem Gefühl seiner eigenen unangegriffenen Persönlichkeit und der mählich wiederkehrenden Sonne in Peters Gesicht , rief :
" Dann sagte er es zum elften ! "
- Sein Zorn war plötzlich ganz verraucht , hatte einer frischen Entrüstung Platz gemacht , und sein ganzes Wesen bewegte sich in einer neuen Richtung .
Er stellte Untersuchungen an , mit einer Schärfe , die seiner Mutter Ehre gemacht haben würde .
Doch zerschellte seine Findigkeit zumeist an der noch größeren Verschlagenheit der Schüler , die ihn oft irreleiteten .
Manchmal aber erwischte er den Täter doch , nahm eine ausgiebige Rache und erließ freiwillig und fast mit Genugtuung dem ersten Bösewichte seine Buße . -
So wurde er von seinen Schülern geliebt , gequält und verzogen .
Außerhalb der Schule und der häuslichen Arbeit lebte er still dahin ; Interessen hatte er nicht , oder sie waren nie geweckt worden .
Jeden Tag machte er einen Spaziergang und kam dann stets in heiter-trüber Stimmung heim , denn er ging jedesmal an des Rektors Haus vorbei , um Frau Ottilie zu sehen .
Bald aber fand er einen Gefährten .
Auf seinen Spaziergängen begegnete ihm nämlich mit Regelmäßigkeit ein junger Lehrer seiner eigenen Schule , namens Lottermeier , ein stiller und bescheidener Mann , der im Lateinischen unterrichtete ; klein , mit einem schwarzen Zwicker , schwarzen Nägeln und einem spitz aufgerichteten , ebenfalls schwarzen Schnurrbärtchen .
Seine mausartigen Augen hatten den Ausdruck steter kluger Wachsamkeit .
Mit diesem nun verband Peter Michel sich durch Zufall .
Sie machten ihre Spaziergänge von nun an zusammen und besuchten sich auch öfter in ihren Wohnungen .
Peter erfuhr unter anderem , Herr Lottermeier habe eine Braut , mit der er schon seit seinem ersten Studentenjahr verlobt sei und die er auch in kurzem heiraten werde .
" Sind Sie auch schon verlobt ? "
- " Nein . "
- " So .
Aber Sie werden sich bald verloben ? "
- " Nein . "
- " Aber wollen Sie denn niemals heiraten ?
Nun , das ist ja allerdings nicht meine Sache ; aber ich meine , wenn man sein gutes Auskommen hat , was steht denn da noch im Wege ? " -
Herr Lottermeier wunderte sich anfangs , weswegen Peter jeden Abend den Umweg an des Rektors Haus vorbei machte ; und Peter antwortete , es sei , weil er sehen wolle , ob er nicht einmal die Knaben erwischen könnte , die an des Rektors Hause immer die Rosen umbrächen .
Der Rektor habe sich schon mehrmals darüber beklagt .
Das leuchtete Herrn Lottermeier sehr ein , und er war ganz bei der Sache .
So stellten sie sich an den Sommerabenden oft an dem gegenüberliegenden Gitter auf , und der eine beobachtete die Straßengänger , soweit sie aus Knaben bestanden , der andere die Fenster , die hinter den Rosen lagen .
Manchmal gewahrte er Frau Ottilie oder ihren Schatten , und ein wehes Glück zog dann durch seine Seele .
- " Da sind sie ! " flüsterte Herr Lottermeier einmal erregt .
Peter fuhr erschreckt empor , wie aus einem Traume .
Da standen in der Tat ein paar Knaben vor dem Gitter , regungslos , und schienen etwas Böses vorzuhaben .
Mit einem Male fuhren sie alle auseinander , bis auf einen , der zurückblieb , in gebückter Stellung , die Hände vors Gesicht gehalten , wie ein heftig Weinender .
Die beiden Lehrer waren sehr erstaunt .
Besorgt gingen sie auf den Knaben zu .
" Hundert ! " rief er plötzlich mit glockenklarer Stimme - und im nächsten Momente war er davongestürmt .
- " Diese Jungen haben einen doch immer zum besten , auch wenn sie einen nicht zum besten haben wollen ! " sagte Herr Lottermeier säuerlich .
Peter aber , in plötzlicher Erschütterung vor diesem Ausbruche des Lebens , hatte Tränen in den Augen . -
Er wünschte nun Herrn Lottermeier stets fort .
Einmal gelang es ihm auch wirklich , ohne ihn seinen Spaziergang anzutreten .
Gerade vor des Rektors Hause aber sah er ihn von der anderen Seite daherkommen .
Halb ohne zu wissen , was er tat , trat er seitwärts in den Garten und drückte sich in die Blumenbüsche , horchte atemlos und spähte heimlich nach seinem Freund , der vor dem Hause stehenblieb , um zu warten , bis Peter auf seinem gewöhnlichen Spaziergang dort vorbeikäme .
Schließlich , nach einer Viertelstunde , schien er sich zu entfernen , und Peter wollte gerade aus seinem Versteck heraustreten , als er Stimmen vernahm , und da erkannte er den Rektor selbst mit seiner Frau .
Sie trug ein faltiges , feines Wollkleid , das ein schmaler Gürtel umschlossen hielt !
- " Hast du Herrn Lottermeier bemerkt ? " fragte sie ihren Mann .
Ihre Stimme war voll und biegsam .
Er antwortete mit einem halbgepreßten " Ja ! " und stemmte sich dabei gegen die Gartentür :
" Wenn ich Mal einen von den Buben packe , die mir hier Holz in das Schlüsselloch stopfen . . .
Ob ich wen gesehen habe ?
Lottermeier ?
Nein .
Wo ist er denn ? "
- Sie ging langsam zum Gartentor zurück und sah zu , wie er sich mit der Tür mühte .
" Ach so !
Lottermeier .
Ja !
Der geht ja hier jeden Abend mit Michel vorbei .
Was wollen die beiden nur hier ? " -
Er schloß noch ein paarmal auf und zu , das Schloß schnappte wieder , und beide wandten sich dem Hause zu .
Peter wartete noch eine geraume Zeit , ehe er sich aus seinem Verstecke hervorwagte , schließlich kletterte er hastig über das Gitter .
Als er nach Hause kam , saß Herr Lottermeier auf seinem Sofa .
Ihm war , als müsse er gleich wieder umkehren .
- " Wo steckst du denn eigentlich ? " -
Seit geraumer Zeit duzten sie sich .
- " Ich . . . war heute woanders . "
- " So .
Na , diesmal hast du was versäumt ! " sagte der andere , gereizt über die ausweichende Antwort .
" Ich sage dir :
Ich habe vor der Schule auf dich gewartet , und gerade als ich fortgehen will , sehe ich , wie ein Junge was in das Gartentürschloß steckt .
Ich springe darauf zu , packe ihn , und da kommt auch schon der Herr Rektor nach Haus ; hat mich schön gelobt ! " -
Dies gab Peter zu denken ; aber er sagte kein Wort darüber , daß er es besser wußte .
- " Ein andermal läßt du mich nicht so warten , lieber Freund .
Hat doch übrigens ein reizendes Frauchen , findest du nicht ? "
Peter hätte leicht ihn oder einen seiner Kollegen fragen können , welchen Mädchennamen Frau Ottilie vor ihrer Verheiratung geführt habe .
Aber eine Scham hielt ihn zurück .
Es war ihm , als gäbe er damit sein Geheimnis preis . -
Am nächsten Morgen fragte der Rektor Lottermeier wie zufällig , was er denn da jeden Abend mit Herrn Michel treibe .
- " Ich passe auf , Herr Rektor , ob ich nicht einmal den erwischen kann , der Ihnen immer Holz in das Türschloß steckt und Ihnen immer die Rosen abknickt ! "
- " Na , das machen Sie mir nicht weiß " , lachte der Rektor . -
Herr Lottermeier wurde sehr erregt :
" Ganz gewiß , Herr Rektor ! " sagte er und nahm seinen Zwicker ab ; " ich passe jeden Abend auf , und es würde mich riesig freuen , so einen Jungen Mal zu fassen und dem Herrn Rektor zu überweisen ! "
Er war vor Aufregung ins Lispeln geraten , und seine Zungenspitze huschte hin und her zwischen den gelblichen Zähnen , wie ein Mäuschen .
Dabei sah er dem Rektor rot und emsig ins Gesicht : " Herr Michel sagt , hier würden immer Rosen umgebrochen ! "
- " So ?! " fragte der Rektor ganz erstaunt ; " das sagt Herr Michel ? "
- Er hatte schon öfter bemerkt , daß Peter ein etwas sonderbares Wesen gegen ihn an den Tag legte .
Jetzt dachte er :
Sollte bei dem irgend etwas nicht ganz richtig sein ?
- » Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen , Herr Lottermeier , aber es ist fernerhin nicht nötig ! « " - Triumphierend erzählte dieser nun seinem Freunde , der Rektor habe ihn zu sich rufen lassen und habe ihn noch einmal gelobt .
- " Nun wollen wir aber nicht mehr dort vorbeigehen , denn der Rektor hat mir auch gesagt , daß ihm jetzt keine Rosen mehr abgebrochen würden .
Er sagte : " Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen , Herr Lottermeier , aber es ist fernerhin nicht nötig ! " -
Peter fiel ein Stein vom Herzen , denn er hatte sich seit einiger Zeit vorgenommen , aber nie den Mut dazu gehabt , selbst einmal ein paar Rosen abzuschlagen , um so die Notwendigkeit fortgesetzter Wachsamkeit darzutun .
Dessen war er nun überhoben .
Gleichzeitig aber machte es ihn traurig .
Und doch war es im Grunde wiederum gleichgültig , denn allein seine Gänge machen , das wußte er , ging nicht an .
Wenn er auch einmal etwas früher von zu Hause fortging als gewöhnlich , um allein zu sein , gleich tauchte irgendwo das gelbliche Gesicht mit dem Bärtchen und dem schwarzen Zwicker auf , und Herr Lottermeier sagte :
" Ich habe unten auf dich gewartet , weil ich dachte , du gingst heute vielleicht schon etwas früher fort . " - Oft blieb Peter zu Hause , manchmal auch ohne Licht , um seinen Freund irrezuführen .
Aber es half alles nichts .
Das " guten Abend , alter Mathematiker " war so unvermeidlich , daß Peter sich schließlich darein ergab , wie in ein unheilbares Leiden .
Nun gingen sie wieder durch die Felder ; oft ganz schmale Wege , daß einer hinter dem anderen gehen mußte .
Herr Lottermeier pfiff auf einem Blatte das Lied Gaudeamus igitur , und Peter sah nur den schwarzen Rücken seines Freundes mit den geschweiften Linien und dachte nur immer :
Da steckt nun der Mensch drin !
Wenn er sich jetzt umdreht , so sehe ich sein Gesicht .
Soll ich ihn Mal anrufen ?
Derweil drehte sich Herr Lottermeier schon von selbst herum und sagte : " Na , was machst du denn für Augen ? " -
Peter versuchte mehrmals von ihm loszukommen .
Aber da sagte Herr Lottermeier eines Tages : " Sage Mal , es scheint ja fast , als ob du mir ausweichen möchtest ? " -
Peter betonte eifrig , daß das ein Irrtum sein müsse .
- " Ich wüßte auch nicht , wann ich dir irgendwie Gelegenheit gegeben hätte , dich über mich zu beklagen ! "
Peter ging jetzt auch jede Woche mit ihm auf den " Verein " .
Dieser versammelte jeden Samstagabend die Lehrer in einem Lokale an der Landstraße .
War das Wetter gut , so machte man am Nachmittag einen Ausflug , an dem auch die Frauen teilnahmen ; abends wurden sie jedoch nach Hause geschickt , denn : die Frau gehört in die Familie !
Frau Ottilie hielt sich jedoch diesen Spaziergängen stets fern .
- " Meine Frau macht nicht gerne Spaziergänge ! " sagte der Rektor , " sie hat noch nie eine Partie gemacht - bis auf eine ! " fügte er jedesmal hinzu und sah sich im Kreise um und lächelte diskret , und dann lächelte man ebenfalls diskret .
Ein solcher Ausflugstag war wieder einmal herangekommen .
Man war gerade im Begriffe loszumarschieren , als sich Herr Lottermeier und Peter Michel eilends von ferne nahten .
Herr Lottermeier schwang seine kurzen Beine mit einer wahrhaft sklavenmäßigen Behendigkeit , während Peter , der nicht so schnell zu Fuß war , die Daumen an die Schultern gelegt , nebenhertrabte .
Der Rektor hatte gerade seinen Witz gemacht , Herr Lottermeier hörte noch die letzten Worte und grinste keuchend .
- " Ja ja , meine Herren , Sie sind zum Teil noch Muli , was die Ehe anbetrifft , aber hier sehen Sie sich Herrn Lottermeier an , in ihm haben wir einen , der demnächst sein Mulustum abstreifen wird ! "
Herr Lottermeier sah sich strahlend im Kreise um und sagte : " Ja , nächsten Monat , Herr Rektor ! "
Nun ordnete man sich nach Gruppen .
An der Spitze schritt der Rektor mit dem ältesten Professor , dann kamen die Oberlehrer , die Doktoren , und schließlich die Kandidaten , wie man sie nannte .
Von Zeit zu Zeit blieb der Zug stehen ; dann explizierte der Rektor irgendeine besondere Form des Gesteines , eines Baumes oder einer Blume .
- " So sollte jede Wissenschaft gelehrt werden , meine Herren !
Spielend , beiläufig !
So etwas bleibt im Gedächtnis .
Ja , ja , spielender Unterricht !
Das sollten sich unsere Jungen hinter die Ohren schreiben !
Der alte Basedow war doch kein so verächtlicher Mann !
Nur bemerkte er leider nicht , daß sich die Praxis oft nicht mit der Theorie verträgt .
Er schoß übers Ziel !
Was sollte wohl aus unseren Schülern werden , wenn wir lediglich spielenden Unterricht erteilten !
Dazumal mag es noch anders gewesen sein .
Aber wie hat sich seitdem das Material gehäuft !
Will man es bewältigen , so reichen unsere neun Schuljahre knapp dazu aus !
Da heißt es exakt und mit Methode arbeiten ! "
- Die Hinterstehenden hörten von solchen Reden meist nichts oder beinahe nichts ; aber sie spitzten die Ohren und warteten geduldig , bis man weiterschritt .
Mitunter tönte auch ein herzhaftes Gemecker durch die Luft : das war das Korps der Oberlehrer , das sich über einen Witz erlustigte . -
Peter hatte es zuwege gebracht , daß er nicht neben Herrn Lottermeier zu gehen brauchte .
Dafür schritt er hinter ihm und sang halblaut und schnarrend , indem er Peter auf die Fersen trat :
" Nur immer langsam voran , nur immer langsam voran , daß unser alter Mathematiker mitkommen kann . "
- Jetzt war der Zug stehengeblieben .
Der Rektor deutete mit dem Stock in die Ferne : dort stände ein alter Turm , er sei bald nach dem Jahre 1653 gebaut worden .
Der älteste Professor aber , der nicht mehr gut sehen konnte , bestritt es und sagte , dort stände kein alter Turm .
Er sei nun sechzig Jahre am Ort , und da hätte noch nie ein alter Turm gestanden .
Peter hatte den Streit gehört und sah jetzt scharf in die angegebene Richtung .
Er hatte sehr gute Augen .
" Da ist wirklich einer ! " rief er .
- " Wer hat ihn gesehen ? " fragte der Rektor von der Spitze herab .
" Herr Michel ! " antwortete das Korps der Kandidaten .
- " Kommen Sie Mal ' rauf , Herr Michel ! "
Peter leistete der Aufforderung Folge und beschrieb die Richtung .
Es stimmte genau mit den Angaben des Rektors .
Ein Oberlehrer glaubte ihn auch zu sehen , war aber seiner Sache nicht so sicher , daß er einen Eid darauf hätte ablegen oder sein Ehrenwort geben können .
- " Ich sehe , wir beide haben die besten Augen " , sagte der Rektor . -
Peter wollte wieder hinunter zu seiner Abteilung , aber der Rektor hielt ihn am Ärmel fest und meinte :
" Nun , haben Sie nur keine Angst .
Bleiben Sie Mal ein bißchen bei uns .
Ein Tropfen junger Wein ist gar nicht vom Übel zwischen so vielen alten Jahrgängen .
Freilich : was sich soll erklären , das muß erst gären !
Na , zu den ganz alten Jahrgängen gehöre ich ja nun zwar auch noch nicht .
Aber ausgegoren hat es bei mir schon lange , wollen wir hoffen ! "
- Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus , daß der alte Professor mit Peters Großvater bekannt gewesen war .
Er lobte ihn als einen würdigen Mann der alten Zeit .
- " Aber da steckt Ihnen ja das Lehrertum im Blute ! " rief der Rektor .
" Wo waren Sie eigentlich auf der Schule ? "
Peter nannte die Stadt , und der Rektor sagte :
" So ?
Da ist meine Frau auch ortsangehörig !
Nun weiß ich auch , weshalb sie sagt , Sie erinnerten sie immer an die Heimat ! "
Peter gab es einen jähen Schlag aufs Herz .
Jetzt war es entschieden !
Sie war es .
Wenn er noch der Bestätigung bedurft hätte , so war sie hier gegeben .
Seine Sehnsucht , die seit Wochen einem dumpfen Weh gewichen war , zitterte in schmerzlich-dunklen Schlägen .
Seine Aufregung war so groß , daß die anderen es bemerkten .
" Was haben Sie denn ?
Was ist Ihnen denn geschehen ? "
Peter war stehengeblieben und sah ins Leere .
Man umringte ihn , bot ihm Erfrischungen an , aber er sagte , es sei schon vorüber .
Doch war er von diesem Augenblicke an teilnahmslos und beachtete nichts von dem , was um ihn her vorging .
Abends verabschiedete er sich , ehe die anderen gingen .
Er war erschöpft , das Gedonner der Kugeln , der Tabaksqualm , das Bier , das Gebrüll der Oberlehrer betäubte ihn .
Allein ging er nach Hause .
Es war im Hochsommer , zu einer Zeit , wo die Nächte so warm sind wie die Tage .
Halb bewußtlos schritt er die Allee hinunter , die zu seinem Hause führte .
Oben in seinem Zimmer setzte er sich auf einen Stuhl , starrte in den Himmel und dachte nur immer an sie , regungslos , mit klopfenden Schläfen ; in der Ferne glaubte er vielstimmiges Gemurmel zu vernehmen ; es war sein Blut , das ihm in den Adern sang .
Eine leuchtend-goldene Furche durchschnitt still den Himmelsrand ; ihre Bahn erlosch , fast ehe er sie wahrgenommen . -
Er vergrub den Kopf in seine Hände .
- Soll ich noch einmal zu ihrem Garten gehen ?
Er blieb regungslos , nicht fähig zu irgendeiner Bewegung , lange , lange .
Aber endlich erhob er sich , und während er noch überlegte , schritt er schon hinaus , in die stille Sommernacht hinein , die dämmernde , duftende , blütenschwere Allee hinunter .
Er hörte seine Schritte nicht .
Niemand begegnete ihm , alles war im Schlummer .
Nur am Himmel schwärmten still die weißen Sterne .
Da lagen vor ihm die Rosenbüsche - ein dunkel-leuchtendes Dickicht .
Der Duft betäubte seine Seele .
Leise warme Wellen fluteten in fernen Tönen an sein Ohr .
Da sah er vor sich eine weiße schimmernde Gestalt !
" Liesel ! " rief er und streckte die Arme nach ihr aus .
- " Peter ! " - - - und da saß er daheim auf einem Stuhle , in der Dunkelheit , und draußen fiel ein warmer Sommerregen .
7. Kapitel Nach solchen Tagen traumhaften Umherwandelns sollte Peter endlich die Lösung seines Rätsels erfahren .
Durch eine geschäftliche Arbeit zurückgehalten , verließ er das Schulhaus eines Tages später als gewöhnlich .
Wie er über den Hof schritt , erblickte er die helle Gestalt Frau Ottilies in ihrem Garten .
Sie sah ihn ebenfalls , und plötzlich hielt sie eine große , dunkle Blume empor , wie um sie ihm zu schenken .
Schwindelnd ging er auf sie zu , sie streckte ihren schönen Arm über das Gitter , und er konnte sie nur ansehen und immer wieder ansehen , ängstlich , selig zitternd .
- " Warum wollen Sie mich nicht mehr kennen ! " preßte er endlich hervor .
" O Liesel ! " -
Er drückte beide Hände fest gegen seine Augen . -
Sie sah ihn ganz erschrocken an .
- " Warten Sie ! " sagte sie endlich .
" Ich hole meinen Hut , und Sie gehen unten an die Allee ; hier kann ich nicht mit Ihnen reden . " - Peter ging wie im Traume ; sie kam sogleich .
- " Jetzt sagen Sie mir , was Sie von mir wollen ! " sagte sie mit voller Stimme und sah ihn unruhig an .
Sollte ihr Mann recht gehabt haben , als er sagte , Peter Michel sei nicht gesund im Kopfe ?
Sie hatte ihn gern , lieber als alle anderen Lehrer .
- " Sie nannten mich vorhin Liesel ; Sie nannten mich schon einmal so .
Ich kann Ihnen versichern , daß ich Ihre Liesel nicht bin ! "
- " Nicht ? " rief Peter und starrte sie traumhaft und ungläubig an .
- " Nein .
Überdies heiße ich Ottilie . . .
Sie haben Ihre Liesel wohl recht liebgehabt ? "
- Sie errötete etwas bei den letzten Worten .
- Peter konnte nicht antworten .
Er blickte nur in diese dunklen Augen .
Das Bild der Liesel und das Frau Ottilies waren im Laufe der Zeit in seiner Seele zu einem einzigen verschmolzen ; jetzt wurden sie gewaltsam auseinandergerissen , und jedes von ihnen drohte zu versinken .
Von seinem eigenen , ursprünglichen Bilde konnte er fast nichts mehr fühlen , denn seine ganze Seele hing hier an dem lebendigen .
Gleichzeitig aber empfand er eine Abneigung , fast einen Haß gegen diese Frau , als habe sie ihn betrogen und ihm sein Liebstes geraubt .
Und hatte sie ihm nicht stets zugelächelt , als hätten sie ein Geheimnis mitsammen ?
War sie nicht sogar errötet , wenn sie ihn sah ? -
Er blickte sie an , und für einen Augenblick noch mischten sich in seiner Seele beide Bilder .
" Warum haben Sie mich immer so angesehen ? " stieß er leise hervor .
- " Wie angesehen . . . ? "
- " Als ob - als ob Sie Liesel wären ! "
- " Habe ich das ? "
Eine liebliche Röte überflog ihre Züge .
- " Das wissen Sie doch sehr gut !
Weshalb taten Sie das ? "
- " Nun - weil ich Sie - , ja , weil ich Sie gern habe !
Aber so habe ich Sie doch nicht angesehen , als ob ich Liesel wäre ! " sagte sie rasch und sah ihn fast ein wenig schelmisch von der Seite an - " wir zu Hause sind freier erzogen als manche andere in anderen Kreisen - mein Mann wirft es mir immer vor , ich sei zu offen im Verkehr mit den Menschen .
Aber ich meine , es ist doch nichts Böses dabei , wenn man den Menschen zeigt , daß man sie gern hat ?! " -
Peter wußte hierauf nichts zu antworten .
Nach einer Weile sagte er : " Ja , nun kann ich Sie nicht mehr liebhaben ! "
- " Warum denn nicht ? " rief sie beinahe erschreckt .
- " Weil Sie Liesel nicht sind ! "
- " Und wenn ich Liesel wäre ? "
- " Dann gehörten Sie mir ! " -
Frau Ottilie war nachdenklich geworden .
" Erzählen Sie mir doch von ihr ! " sagte sie zögernd .
" Ich habe ja nun ein gewisses Anrecht darauf ! "
- Aber Peter war es , als sei ihm diese Frau ganz fremd , als wollte sie sich in sein Geheimnis eindrängen und als müsse er es um so sorgsamer verschließen .
Gleichzeitig stieg ihm das Bild der echten Liesel , wie er sie als Kind gesehen , mit einer Deutlichkeit vor seine Seele , daß er jetzt auch sah , wie sehr sich Frau Ottilie von ihr unterschied .
Diese war in eine etwas peinliche Lage geraten .
Sie merkte , daß sie hier eigentlich nichts mehr tun könne .
Und doch wußte sie nicht , wie sie der Unterredung ein Ende machen sollte .
- " Wir können aber doch immer gute Freunde bleiben , nicht wahr ? " sagte sie endlich .
Peter nickte .
Sie reichte ihm die Hand , und als sie sie ihm entzog , da war es ihm , als schwände mit ihr alles Glück von ihm .
Dann starrte er ihr nach , die grüne , dämmernde Allee hinunter .
Es dauerte lange , bis ihm klar wurde , daß er sich ja im Grunde freuen müsse :
Liesel war nicht mit dem Rektor verheiratet , und er konnte hoffen , daß sie ihm einst noch gehören könne .
Aber es war sonderbar : dieser Gedanke gab ihm nichts von der erhofften Seligkeit , es war , als sei er plötzlich leer und blutlos geworden .
Peter befand sich vor einem Nichts .
Er konnte sich für Momente vergessen .
Mit Glück dachte er dann an Liesel , in Wahrheit jedoch an Frau Ottilie .
Im nächsten Augenblick aber verlosch das schöne Bild , und er befand sich wieder in unruhevollem Halbdunkel .
Ihm war , als habe er sein Glück leichtsinnig verscherzt .
Er kam sich vor wie ein ganz schlechter , gefühlloser Mensch .
Alle Vernunftgründe halfen nicht dagegen ; er war sich selbst zum Rätsel geworden .
Frau Ottilie vermied zunächst , ihm zu begegnen .
Sie fragte sich sehr gründlich , ob sie ihrem Manne diese ganze Sache mitteilen müsse , und fand schließlich , daß sie diese Pflicht nicht habe .
Sie wußte , daß er ihre Mitteilung verständnislos aufnehmen , daß er nur das Tatsächliche an ihr begreifen würde , ja , daß er vielleicht darüber lachte .
Und das wollte sie nicht .
Aber noch ein anderes hielt sie zurück :
Ein derartiger Schritt wäre ihr , Peter Michel gegenüber , als ein Vertrauensbruch erschienen , als etwas Unzartes , Rohes , auch wenn er selbst nie davon erfuhr .
- Ihr Gefühl zu ihm hatte fast etwas Mütterliches angenommen ; sie hätte ihm gerne etwas Gutes angetan und wußte doch nicht was .
Er kam ihr schutzbedürftig , hilflos vor , und sie , die zierliche Frau Ottilie , sie fühlte sich so stark und glücklich ! -
" Nicht wahr , Maxel " , rief sie und faßte mit ihren geschmeidigen Händen ihren Jungen mitten um den Leib , hob ihn im Schwünge hoch empor , daß er über ihrem Kopfe wie ein Frosch im Wasser zappelte , " nicht wahr , Maxel , wenn du deine Mutter nicht hättest ?! "
Dann schüttelte sie ihn , daß er laut aufjuchzte .
- " Theodor , komme Mal herein ! -
Sieh Mal : könnte man ihn nicht ganz genau so als einen kleinen Engel oben an die Decke malen ? "
Peter sollte seinen Freund Lottermeier verlieren .
Die Einleitung zu ihrem Bruche war eine ganz harmlose .
Herr Ohlmüller nämlich , ein schöngeistiger , junger Lehrer , welcher in Peter Michel einen stillen Dichter witterte , schlug ihm eines Tages vor , ob sie nicht einen Verein gründen wollten von nur ganz wenigen Personen : solche , die Gesinnungsgenossen sind , nur ganz besondere Menschen .
- " Wen ? " fragte Peter .
- " Ja , ich weiß auch eigentlich nicht viele außer uns beiden .
Aber wir müssen unbedingt noch jemand finden ; denn sonst ist es ja kein Verein .
Was meinen Sie : Selch ?
Der redet prachtvoll über Geschichte !
Solche Leute brauchen wir .
Jeder soll wöchentlich einen Vortrag halten aus dem Gebiete , welches ihm eigen ist .
Das kann sehr interessant werden .
Denken Sie doch , wir können über manche Dinge ganz universell reden !
Nehmen Sie die Belagerung von Syrakus !
Selch gibt das Geschichtliche nach genauen Quellen , Sie demonstrieren die Pläne des Archimedes , und ich , nun ja , man hat mir ja hier leider Religion und Turnen aufgebürdet - aber ich könnte zum Beispiel das Philosophische dazu geben , höhere Gesichtspunkte andeuten , Völkerpsychologie und dergleichen .
Was meinen Sie ? " -
Peter war dieser Vorschlag sehr unbequem .
Aber er wollte nicht widersprechen - " Lottermeier könnte dazu aus einem lateinischen Schriftsteller die betreffenden Stellen übersetzen ! " sagte er .
- " Lottermeyer ?
Nein , den wollen wir nicht .
Der Mensch - ich weiß nicht , der kriecht immer so am Boden .
Es fehlt ihm jeder Sinn für Höheres . "
- " Dann kann ich auch nicht eintreten ! " sagte Peter sehr bestimmt .
" Er würde mir das furchtbar übelnehmen . "
- Herr Ohlmüller fügte sich nach einigem Widerstreben .
Für den nächsten Nachmittag berief man die Mitglieder zur Vorbesprechung .
- " Kommt noch jemand ? " fragte Lottermeier , während er Peter und Ohlmüller seine etwas klebrige Hand reichte .
- " Ja , Selch . "
- " Selch ?
O du mein Himmel , den wollen Sie doch nicht mit aufnehmen ? "
- " Warum denn nicht ? "
- " Aber ich bitte Sie , der hat ja eine Kebse ! "
- " Eine was ? "
- " Eine Kebse !! "
- " Ach so ! " sagte Herr Ohlmüller etwas verächtlich .
" Nun , das ist doch nicht so schlimm ! "
- " Und das sagen Sie , ein Religionslehrer ? " -
Jetzt trat Selch herein .
An dem plötzlichen Verstummen und den verlegenen Gesichtern merkte er sogleich , daß man über ihn geredet hatte .
Er entschuldigte sich , daß er so spät käme ; er habe eine Abhaltung gehabt . -
Aha ! dachte Herr Lottermeier und suchte einen verständnisvollen spöttischen Blick mit Peter auszutauschen , der steif an ihm vorbeisah .
Selch hatte den Blick aufgefangen und errötete bis an die Ohren .
" Weshalb haben Sie eben gelacht ? " fragte er mit sehr starker Stimme .
Lottermeier fuhr erschreckt zusammen .
- " Bitte - ich weiß nicht , es war gewiß nicht mit Absicht , es kam ganz aus Versehen . "
- " So !
Na , wenn ich Ihnen Mal ein paar hinter die Ohren schlage , dann können Sie meinetwegen auch annehmen , es käme aus Versehen ! "
- Hierauf herrschte ein allgemeines peinliches Stillschweigen ; Herr Lottermeier war sehr blaß geworden , und um sich zu beschäftigen , putzte er sich die Nase ; einmal , zweimal , dreimal .
Als er fertig war , sagte Selch :
" So .
Jetzt sagen Sie mir : Worüber haben Sie gelacht ? " -
Herrn Lottermeier griff es kalt ans Herz :
" Aber ich habe bestimmt nicht gelacht .
Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort , daß ich nicht gelacht habe ! " -
Jetzt hielt sich Peter nicht länger , er sagte Lottermeier ins Gesicht , daß er ihn für einen Feigling halte .
Da fuhr Lottermeier auf ihn los , zischte , stotterte , lispelte und wisperte und verließ mit einem :
" Pfui ! " sehr schnell den Ort .
Selch schlug Peter auf die Schulter :
" Das haben Sie brav gemacht ! "
Peter aber war die Sache unendlich peinlich , obgleich er sich sagte , daß sein Verkehr mit Lottermeier nun abgebrochen war .
- " Wissen Sie " , sagte Ohlmüller , sich an Selch wendend , " was er vorhin für einen prachtvollen Ausdruck gebrauchte ?
Sie hätten eine Kebse ! " -
Selch verstand nicht gleich , aber dann brüllte er vor Lachen ; das Wort gefiel ihm dermaßen , daß er es akzeptierte , und zwar für Lottermeier selbst , den er fortan nur " die Kebse " nannte .
- Die Vereinsfrage löste sich nun wieder .
Selch war auch eigentlich nur gekommen , um zu sagen , daß er nicht mittun wollte .
- " Er hätte auch gar nicht dazu gepaßt ! " sagte Herr Ohlmüller zu Peter später .
" Er hat so etwas Geschorenes , so etwas :
ich möchte sagen Männchenhaftes ! "
Als Peter denselben Abend nach Hause kam , fand er einen Brief von Lottermeier vor , welcher folgenden Wortlaut hatte : " Lieber Freund , Du wirst mein Betragen von heute nachmittag vielleicht etwas sonderbar gefunden haben .
Ich kann Dir aber versichern , daß alles von mir wohlberechnet war .
Als Feigheit mochte erscheinen , was in Wirklichkeit eine Überlegenheit war .
Dadurch , daß ich auf die Beleidigung Selch nicht einging , erhob ich mich moralisch über meinen Gegner .
Ich sagte mir :
» Wer Kot anfaßt , besudelt sich . «
Und demgemäß handelte ich auch .
Ich habe für Selch nur ein mitleidiges Lächeln übrig .
- Daß ich mich Dir gegenüber hinreißen ließ , magst du dem Umstande zugute halten , daß ich all meinen Zorn , meine gerechte Entrüstung zurückhalten mußte und daß diese sich nun gewaltsam einen anderen Ausweg bahnte .
Ich kenne Dich gut genug , um zu wissen , daß Du mir nichts übelgenommen hast .
Wenn Du es jedoch verlangst , so revoziere ich hiermit alles , was ich gegen Dich geäußert habe .
Damit ist die Sache , hoffe ich , abgetan .
Heute abend gegen neun Uhr werde ich zu Dir kommen , dann wollen wir die Angelegenheit noch einmal sine ira et studio mündlich besprechen .
Lottermeier " Peter war des höchsten erschreckt über diesen Brief .
Es hatte sich ihm bereits die Schärfe dieses Bruches etwas abgeschliffen , und der Umschwung , den er für ihn bedeutete , war ein so großer , daß ihm allein die paar Stunden , die er jetzt , nach jener Szene , mit der Aussicht auf eine freie Zukunft , ohne seinen Freund verbracht hatte , wie eine festliche Ewigkeit erschienen waren .
Und nun sollte alles wieder zusammensinken ?
Er war fest entschlossen , unter keiner Bedingung den Verkehr wieder aufzunehmen . -
Er setzte seinen Hut auf , um nicht zu Hause zu sein , wenn Lottermeier käme .
Aber er überlegte sich , daß das feige erscheinen könne - und außerdem würde er ihn ganz bestimmt auf der Straße treffen .
So blieb er .
Um sich zu zerstreuen , wollte er ein wenig lesen , und wie er so in seinen Büchern kramte , da fiel ein kleines Kreuz zur Erde .
" Peter " leuchtete ihm durch die Dämmerung entgegen .
Er starrte lange daraufhin , und seine Seele verlor sich in ferne Vergangenheit .
Sie flog hinüber zu Frau Ottilie - ihre große Blume war inzwischen längst verwelkt - , wieder hörte er ihr helles Lachen , und dann sah er nur noch ihre - Liesels glimmrige schwarze Augen .
Es läutete .
Alles Blut lief ihm zu Herzen .
Und dann kam Lottermeier mit tadellosen kleinen Schritten auf ihn zu und sagte : " Freut mich sehr , daß du mich erwartet hast .
Ich sehe daraus , daß alles zwischen uns beim alten ist . "
- Peter konnte im ersten Augenblick kein Wort hervorbringen .
" Nein " , sagte er endlich , " es ist nicht alles beim alten . "
- " Nun ja " , erwiderte Herr Lottermeier , " gewiß nicht ; leider nicht .
Aber ich bin ja nun auch gekommen , um alles , wenn du es verlangst , auch noch einmal mündlich zu revozieren .
Aber ich denke , damit ist die Sache dann auch abgetan ! "
- " Nein " , sagte Peter , " damit ist sie nicht abgetan .
Ich kann nicht mehr mit dir verkehren ; meinetwegen revoziere , was du willst ; was ich gesagt habe , revoziere ich nicht ! "
- " Aber lieber Freund , hast du denn meinen Brief nicht gelesen ?
Darin habe ich mich doch genug verteidigt !
Und eigentlich sollte man das einem Freunde gegenüber gar nicht nötig haben !
Aber es ist ja wahr ; ich erschien vielleicht in der Angelegenheit in einem etwas schiefen Lichte .
Aber nun weißt du ja auch den Grund dafür , und das sollte dir genügen !
Du bist doch so aufgeklärt , daß du weißt :
es gilt nicht ein und derselbe Ehrenkodex für alle Fälle !
Es wäre mir ein leichtes gewesen , dem Menschen ein paar um die Ohren zu hauen , aber erstens liebe ich dergleichen Tätlichkeiten nicht , und dann heißt es bei mir auch : » odi profanum vulgus et arceo ! «
Und außerdem , bedenke doch , was das für einen Skandal gegeben hätte !
Denn das wäre doch natürlich herumgekommen ; und was wäre das für ein Beispiel , das man der Jugend gäbe !
Das alles habe ich sehr wohl überlegt .
Ich wußte wohl , was ich tat .
Ich habe mich selbst bezwungen .
Ich gebe dir mein Ehrenwort darauf ! "
- " Das hast du heute schon einmal gegeben , als du sagtest , du hättest nicht gelacht ! " sagte Peter und wunderte sich , wie schlagfertig er war .
- " Nun ja - das ist ja wahr .
Das war nicht recht von mir .
Ich habe es auch hinterher bereut .
Aber gerade daraus , daß ich dies Opfer brachte , kannst du sehen , wie schwer es mir geworden sein muß , mich zu überwinden . "
- Peter wurde stutzig .
Sollte er sich wirklich in Lottermeier getäuscht haben ?
Hatte er wirklich mit voller Überlegung gehandelt ?
War das alles Selbstüberwindung gewesen ?
Er sah zweifelnd in das Gesicht seines Kameraden , dessen Mäuseaugen ihn durch ihre runde schwarze Umrahmung aufmerksam anblickten .
Aber er schwieg .
Lottermeier erhob sich :
" Also adieu " , sagte er ; " nichts für ungut . "
Dann ging er auf den Tisch zu , um seinen Hut aufzunehmen .
" Was ist denn das ? " fragte er und nahm das Buchzeichen auf , welches noch dort lag .
" Na , na , ich will es dir ja nicht stehlen ! " -
Er dachte noch einen Moment nach , bis an seinem Schnurrbärtchen und sagte plötzlich :
" Übrigens , könnte ich nicht deinen schwarzen Spazierstock mit dem Horngriff mitnehmen , den du mir neulich versprochen hast ? "
Peter holte ihn , und Lottermeier bedankte sich .
" Also adieu , Schlaf gut ! "
Peter seufzte tief , wie jemand , der meinte , eine Bürde los zu sein , und der nun sieht , daß sich der Weg , den er sie zu tragen hat , noch endlos in die Weite dehnt . -
Aber es sollte anders kommen .
Am nächsten Morgen erhielt er einen zweiten Brief von Lottermeier , folgenden Wortlauts :
" Ich bereue , einen Schritt getan zu haben , von dessen Erfolglosigkeit ich von vornherein hätte überzeugt sein müssen .
Ich habe Ihre Freundschaft auf die Probe gestellt , und sie hat sich nicht bewährt .
Da Sie die Qualitäten nicht besitzen , die mir an einem Freunde unerläßlich scheinen , so spreche ich Ihnen hiermit meine Absicht aus , unsere Beziehungen , welche seit gestern abgebrochen sind , nicht wieder zu erneuern .
Gleichzeitig rate ich Ihnen , jeden Wiederannäherungsversuch zu unterlassen , da ein solcher nur von einem vollständigen Mißerfolg begleitet sein würde .
Kuno Lottermeier " Peter schoß das Blut zu Kopfe .
Sein erstes Gefühl trieb ihn , hinzugehen und den Menschen durchzuprügeln .
Das also war das Ende !
Nun war er der Abgewiesene !
Der andere hatte den Spieß umgedreht !
Durch Mogelei umgedreht !
Dieser Feigling , dieser Schuft ! -
All sein Gleichgewicht hatte ihn verlassen .
Er schrieb einen wütenden Brief zurück .
Aber wie er ihn überlas , da war es ihm , als sähe er seine eigene Karikatur vor sich ; er wurde ruhiger , bedachte sich und zerriß ihn wieder .
Es war das beste , dem Lumpen in keiner Weise zu antworten .
- Und nun hörte ihr Verkehr in Wirklichkeit auf .
- Hiermit war die Sache aber noch nicht abgetan :
Lottermeier schrieb einen Brief an den Rektor :
Er hielte es für seine Pflicht , ihn von einer Sache in Kenntnis zu setzen , deren Geheimhaltung er nicht länger vor seinem Gewissen verantworten könne , da sie bereits auf die moralische Führung der Schüler ihre Schatten werfe und die Jugend wenigstens vor sittlicher Verseuchung bewährt bleiben müsse .
Selch habe ein illegitimes Verhältnis , die Schüler seiner Klasse wüßten dies und sprächen darüber in wollüstiger Weise .
Material zum Beweis stände ihm zu Gebote .
- Der Rektor wußte nicht recht , wie er sich zu dieser Sache stellen sollte .
Einerseits war er ein Mann der Aufklärung , der einen weiteren Blick zu haben glaubte als seine Umgebung , andererseits empfand er es als seine Pflicht der Schule und der Obrigkeit gegenüber , hier einzuschreiten .
Das Verhältnis Selch war ihm längst bekannt .
Aber was übersieht man nicht alles , solange man es noch nicht offiziell weiß .
Wenn das jedoch der Wahrheit entsprach , was Lottermeier über die schädlichen Folgen geschrieben hatte , so war es allerdings die höchste Zeit , hier einzuschreiten und das Feuer zu ersticken , solange es noch kein Brand war . -
Er lud also die beiden Herren zu einer privaten Besprechung in seinem Gemache ein .
Selch warf Lottermeier schmetternde Blicke zu , denen dieser bescheiden auswich .
Er gab ohne weiteres zu , ein illegitimes Verhältnis zu haben .
- " Sehen Sie " , sagte der Rektor , " an der Tatsache für sich nehme ich ja . . . natürlich ebenfalls Anstoß , aber Herr Lottermeier behauptet , auch die Schüler wüßten darum , und ihr moralisches Gefühl würde verwirrt . "
- " So ! "
- knurrte Selch .
" Was haben denn die Schüler gesagt ? "
Herr Lottermeier nahm seinen Zwicker ab und sagte :
" Erstens führt Herr Selch den Spitznamen Philippine . "
- " Ist das wahr , Herr Selch ? "
" Jawohl , Herr Rektor . "
- " Heißt die Dame so ? "
- " Nein , Herr Rektor . "
- " Das ist ganz gleichgültig " , fuhr Herr Lottermeier emsig fort .
" Das zeigt um so mehr , daß es sich in dieser Sache nicht um einen einzigen speziellen Fall , sondern um ein ganzes Gebiet handelt !
Daß die Schüler durch diesen Namen einfach seinen Hang zum Niedrigen bezeichnen wollten . "
- Jetzt nahm Selch das Wort und erklärte folgendes :
" Ich habe in meinen Geschichtsstunden immer mit Vorliebe die rührende Geschichte von König Ferdinand und Philippine Welser erzählt und die Schüler stets darauf aufmerksam gemacht , wenn das bekannte Stück im Theater aufgeführt wurde .
So kam es , daß mich die Schüler untereinander erst Philippine Welser nannten und später der Kürze wegen einfach Philippine .
Das ist blödsinnig , aber es ist so .
Sie können von den Schülern fragen , wen Sie wollen , ein jeder wird es Ihnen bestätigen .
Jeder Lehrer hat einen Spitznamen , und Herr Lottermeier wird wohl auch wissen , warum er » die Ratte « heißt . " - Lottermeier wollte ihm ins Wort fallen , aber Selch ließ es sich fürs erste nicht nehmen und erzählte jetzt dem Rektor seinen Vorfall der letzten Tage , um die Handlungsweise Lottermeiers ins rechte Licht zu setzen .
Dieser verteidigte sich mit der ganzen Mäusehaftigkeit seines Wesens , sagte ziemlich wörtlich den Brief her , den er an Peter geschrieben hatte , und schloß damit , daß Herr Michel , ehe er ihn einen verächtlichen Menschen nenne , lieber selbst bei sich zusehen möchte , ob seine Sache so rein stände ; gewisse Damen könnten wohl auch ein Wortlein darüber aussagen .
- " Was , wer ? " fragte der Rektor .
- " Nun , ich will gar nichts gesagt haben . "
- " Bitte , sprechen Sie sich deutlicher aus . "
- " Nun , ich meine , es war ja wohl schließlich klar , weswegen er immer auf Ihre Rosen aufpaßte .
Ganz so dumm bin ich ja nun auch nicht , wie er denkt .
Und dann habe ich sie ja auch zusammen gesehen . "
- " Wen ? "
- " Herrn Michel und - nun ich meine , es war ja ganz offenkundig , daß er - daß er- daß er - eine so schöne Dame !
Er hat sich wohl nichts Böses dabei gedacht . "
- " Zum Teufel , jetzt reden Sie ! " fuhr der Rektor auf , während Selch große Augen machte .
- " Nun also , da Sie mich so drängen - Herr Michel ist ja mein Freund nicht mehr - also ich will sagen - daß des Herrn Rektors Frau Gemahlin - daß er sie immer angesehen hat , und daß er immer vor ihrem Fenster gestanden hat . "
- Der Rektor war völlig sprachlos .
- " Und was wollen Sie damit sagen ? " fragte er endlich .
- " Um Gottes Willen , auch nicht den Schein eines Verdachtes gegen Ihre Frau Gemahlin aussprechen " , lispelte die Kebse , " Gott behüte mich !
Aber auf der Allee , da haben sie ganz lange zusammen gesprochen ! "
- " So " , sagte der Rektor .
" Wissen Sie , was ich von Ihnen denke ?
Ich will es lieber für mich behalten ! "
- " Ein Schuft ist er " , rief Selch , " ein Schuft und ein Kriecher ! "
- Der Rektor mahnte ihn zur Ruhe und verbat sich solche Ausdrücke .
- " Jetzt sagen Sie mir , Herr Lottermeier , was wissen Sie von der anderen Sache ?
Sie schreiben da in Ihrem Briefe , die Schüler hätten unsittliche Äußerungen getan über Herrn Selch .
Erinnern Sie sich dieser Äußerungen ? "
- " Ja , Herr Rektor ; ich habe sie mir sogar wörtlich gemerkt und aufgeschrieben .
Hier , Herr Rektor , hier , in meinem Notizbuche !
Am 25. August , Montag , morgens in der Pause zwischen 9 und 10 Uhr , als die Schüler der dritten Klasse Coetus b das Zimmer verließen , sagte der Schüler Morsbach zu dem Schüler Schulz :
» Der kam gewiß wieder von seiner Paula ! « "
- " Heißt die Dame Paula , Herr Selch ? "
- " Nein , Herr Rektor . "
- " Woher wissen Sie denn , daß mit » er « Herr Selch gemeint war ? "
- " Nun , es war doch nach der Geschichtsstunde bei Herrn Selch , und die Schüler kamen gerade aus der Klasse !
Und der Schüler Morsbach sagte das mit einem Gesichte , Herr Rektor , mit einem Gesichte !
Und mit dem Tone ! "
- " Welche Äußerungen sind Ihnen noch bekannt ? "
- " Keine , die ich wörtlich zitieren könnte " , sagte Herr Lottermeier zögernd .
- Der Rektor schwieg eine Weile , dann ergriff er das Wort zu einer längeren Rede .
" Nun passen Sie Mal auf ! " hob er an .
" Ich sitze nun zweiundzwanzig Jahre im Amt , mein Lieber ; das heißt , ich bin seit zweiundzwanzig Jahren an der Schule tätig ; vor drei Jahren wurde ich Rektor , und jetzt bin ich fünfundvierzig !
Na , da können Sie sich denken , es ging nicht immer alles so glatt , wie ich es wünschte .
Es gab hier Reibereien , es gab da Reibereien , ich hatte hier zu tun , ich hatte da zu tun ; hier Mißhelligkeiten zu beseitigen , dort zu verhüten , daß Mißhelligkeiten entständen ; hier sah ich die Personen sich entzweien , dort wieder sich versöhnen ; man rief mein Urteil an , und ich gab mein Urteil ; das heißt :
ich ließ mir den Fall vortragen , unterzog das Material einer kritischen Prüfung und entschied erst dann , wenn ich die Sache Punkt für Punkt auseinandergenommen und sie darauf ebenso wieder Punkt für Punkt zusammengesetzt hatte .
Vor allem stellte ich aber die berechtigte Forderung :
» Wenn ihr meine Zeit in Anspruch nehmt , so tut dies nicht für nichts und wieder nichts , sondern gebt mir eine Sache , die Hand und Fuß hat . «
Und Ihre Sache , mein Lieber , sehen Sie , hat nun weder Hand noch Fuß .
Sie kommen hierher , erheben planlos Beschuldigungen , die sich in nichts auflösen , bis auf die eine Tatsache , die wir alle längst wußten , daß Herr Selch eine Liaison hat .
Mein lieber Freund :
Herr Selch wird die Dame wohl heiraten - nicht wahr , Herr Selch , Sie werden die Dame heiraten ? "
Selch zuckte die Achseln und knurrte ein undeutliches " Ja . "
" Nun sehen Sie wohl , mein lieber Freund .
Herr Selch wird die Dame heiraten .
Herr Selch ist mit der Dame verlobt , nicht wahr , Herr Selch ? "
- " Nein , Herr Rektor . "
- " Nein ?!
Aber dann ist es allerdings die höchste Zeit , daß Sie sich mit ihr verloben .
Na also , Herr Selch wird sich verloben , wird die Dame heiraten , und Sie , Herr Lottermeier , können meinetwegen dann zu ihren Kindern Gevatter stehen .
Und Ihre Paula wird wohl eine Tanzstundenliebe von irgendeinem Schüler sein , und nun ersuche ich Sie beide , mich zu verlassen , da ich beschäftigt bin . "
Draußen stand Selch und wartete auf Lottermeier , welcher sich noch lange in dem Vorplatze zu schaffen machte , um endlich mit gespitzten Ohren ins Freie zu treten , forschend , ob die Luft rein sei .
" Lassen Sie mich vorbei ! " sagte er verzweifelt-bissig .
Selch verabreichte ihm zwei schallende Ohrfeigen , die er geduckt über sich ergehen ließ .
- " Schleiche dich , Kebse ! "
Der Rektor war am Tische stehengeblieben und dachte über das Gehörte nach .
Sollte Michel wirklich seiner Frau wegen immer vor dem Fenster gestanden haben ? -
Es fiel ihm ein sonderbares Betragen bei ihrer ersten Begegnung ein .
Das hatte er sich damals als übergroße Schüchternheit ausgelegt .
Und was hatten sie auf der Allee zu bereden ?
Denn daß Lottermeier dies rein erfunden habe , glaubte er keinen Augenblick .
Dann überlegte er :
Wie bekomme ich das wohl am besten heraus ?
Und schließlich dachte er , am klügsten würde er tun , wenn er sie ganz aus heiterem Himmel danach fragte .
Als sie nach dem Abendessen auf dem Sofa saßen , sah er sie plötzlich fest an und sagte : " Was hast du denn mit Michel auf der Allee zu bereden gehabt ? "
- " Auf der Allee ? "
Sie überlegte schnell , ob sie Peter Michel kürzlich auf der Allee gesprochen habe , und dann wußte sie , daß ihr Mann jenes eine Mal meine .
- " Wann ? "
- " Wann ?!
Nun , ich meine , was habt ihr denn so Wichtiges zu bereden gehabt ? "
- " Wer hat dir denn das gesagt ? "
Sie war ganz rot geworden .
- " Das kann dir ja ganz egal sein .
Es braucht mir überhaupt niemand gesagt zu haben . "
- Sie aber hatte das sichere Gefühl , daß er es von Lottermeier wisse , der des Nachmittags bei ihm gewesen war , der es durch irgendeinen Zufall erfahren und es ihm aus irgendeinem Grunde mitgeteilt haben mußte .
Er sah sie noch immer an .
" Nun ? "
- " Mein Gott , was sollen wir miteinander geredet haben !
Geschwatzt haben wir halte !
Du weißt doch , daß ich ihn gern mag . "
- Diese letzte freimütig-unbefangene Äußerung beruhigte ihn etwas .
Aber er war seiner Sache doch noch nicht ganz sicher .
- " So !
Geschwatzt habt ihr .
Nun , worüber habt ihr denn geschwatzt ? "
- " Gott , über allerlei ; aber was interessiert dich denn das so ? "
- " Höre , Ottilie , dahinter steckt noch etwas !
Worüber habt ihr geredet ?
Ich will es wissen ! "
- Sie wußte gar keinen Ausweg .
- " Nun ? "
- Sie faßte ihn an seiner Weste : " Frage doch nicht so viel , ich weiß ja gar nicht , was ich dir antworten soll ! "
Jetzt wurde er sehr ernst : " Willst du es mir nun sagen oder nicht ? "
- " Nein ! " sagte sie ganz kläglich .
- " Warum nicht ? "
- " Weil - weil es eine Vertrauenssache ist !
Ja , eine Vertrauenssache . "
- " Eine Vertrauenssache ?
Wie kommst du denn dazu , mit Michel Vertrauenssachen zu haben ? "
- " Ach , das ist so lang zu erzählen , und dann habe ich ihm auch versprochen , mit niemandem darüber zu reden ! "
- " Ottilie !
Hat er dir vielleicht irgendwelche unehrenhafte Anträge gemacht ? "
- Da fing sie aber an dermaßen zu lachen , daß er ein ganz verlegenes Gesicht machte .
" Nun ja ! " sagte er etwas gereizt , " du weißt nicht , was es alles in der Welt gibt ! "
- Sie lachte noch immer .
" Michel mir unehrenhafte Anträge machen !
Das ist zu komisch . "
- " So , na , dann hat er wohl nur den schüchternen Liebhaber gespielt , wie ? "
- " Nein !
Du bekommst gar nichts zu wissen .
Männer müssen nicht so neugierig sein ; ich kann auch einmal ein kleines Geheimnis haben ! "
Er fragte noch ein paarmal , aber sie ließ nur noch kleine , klingende Gelächter hören , sagte , er sei ein alter Bär , und sah stillvergnügt und zufrieden vor sich hin . -
Er sah , daß da nichts zu machen war .
So viel aber fühlte er doch , daß die Ehre seines Hauses noch aufrecht stand .
So ging der Sommer hin .
Peter war durch seine Schultätigkeit so in Anspruch genommen , daß ihm nicht viel Zeit zum Träumen übrigblieb .
Und wenn er hinüberdachte zu Liesel-Ottilie , so geschah es mit einer stillen Trauer .
- Und so kam der Herbst herbei , und dann war es ganz spät im Herbste , aber an einem Tage , wo der Sommer sein letztes , leuchtendes Fest zu feiern schien .
Peter war viel in Wald und Feld herumgestreift , er wandte sich dem Heimweg zu , und da erblickte er plötzlich Frau Ottilie , welche einen Hang herab gerade auf ihn zu kam .
Sie trug ein schmalstreifiges , weiß und hellviolettes leichtes Kleid , das ihren schönen Hals frei ließ , ihr dunkles Haar hatte sie umkränzt mit rostrotem und gelbem Blätterwerk ; die Abendsonne leuchtete in ihren Augen und übergoß ihr Gesicht mit einem braungoldenen , warmen Schimmer , und hinter ihr lag der gründunkle Fichtenwald , und über ihr blaute der tiefe , stille Herbsthimmel . -
So schön hatte er sie noch nie gesehen .
Er verzögerte seine Schritte .
Ihre Gestalt hob sich leicht und elastisch , ihre Augen lächelten ihn an , und jetzt stand sie vor ihm .
Ihr Körper war durch das schnelle Gehen in eine sanfte Erregung geraten , ihre Nasenflügel bebten leise . -
Wie kann man nur so schön aussehen ! dachte er , so schön und glücklich !
Sie streckte ihm wortlos ihre Hand entgegen , und er sagte : " Sie sind wunderschön ! "
Und sie antwortete : " Ja , das gehört sich auch an einem solchen Tage !
Sie sollen sich auch schmücken , kommen Sie ! "
Sie beugte sich zur Erde nieder , pflückte eine rote Sommerblume , die sich dort verspätet hatte , und steckte sie ihm vor die Brust .
- " Gehen Sie ein Stück mit mir herunter ?
Ich bin vorausgelaufen .
Mein Mann wird wohl gleich da herauskommen ! "
Sie deutete auf den Wald .
" Sehen Sie , da kommt er schon ! " -
Da kam in der Tat der Rektor aus dem Wald geschritten .
Er hatte den Hut seiner Frau und seinen eigenen in der Hand , seine Schläfen schmückte ein Kranz von Eichenlaub , den er mit Würde trug .
- " Nun sieh Mal einer an ! " rief er .
" Ich gehe da ahnungslos und gemächlich im Walde spazieren , und derweil vergnügt sich meine Frau hier mit jungen Herren ! "
Er wollte ihr zeigen , daß er keineswegs der schwerfällige Pedant sei , für den sie ihn vielleicht halten konnte .
- " Haben Sie schon gemerkt , Herr Michel " , fuhr er fort , indem er stehenblieb und sich langsam im Kreise umschaute , " daß sich hier ganz andere Bäume befinden als innerhalb der Stadt ?
Hier gedeihen die Tannen .
Bei uns können sie nicht leben ; das macht die verdammte schwefelige Säure , die unsere Kohlen entwickeln ! " -
Peter bedauerte höflich , daß dies so sei , aber Frau Ottilie rief :
" Wenn ihr von Chemie redet , so laufe ich davon !
Ich bin keine gelehrte Frau . "
Am Tore der Stadt , dort , wo die Verlängerung der Hauptstraße ausmündete und neuangelegte , jungbepflanzte Seitenalleen im Bogen abzweigten , wollte sich Peter verabschieden ; aber der Rektor war in besonders jovialer Laune :
" Begleiten Sie uns doch noch ein Stück , Herr Michel .
Warum wollen Sie denn schon davonlaufen ? " -
So gingen alle drei in die Stadt hinein .
Der Rektor redete noch einiges über die Schönheit der Natur , die nur von den Menschen verunstaltet würde » er deutete auf die beschnittenen Bäume am Wege - , über die geringe Eigenart der modernen Architektur , die er an den Häusern demonstrierte , und über die Lohnverhältnisse der Arbeiter .
Nun wußte Peter nicht recht , wie und wo er sich verabschieden sollte ; auch konnte er den Rektor nicht wohl unterbrechen .
So kam es , daß sie schließlich alle drei vor dem Schulgebäude anlangten .
Peter hatte hie und da ein paar Bemerkungen eingeworfen , die dem Rektor recht wohl gefielen , da sie genau mit seinen eigenen Ausführungen übereinstimmten .
Jetzt dachte er einen Augenblick nach , als ob ihm ein besonderer Gedanke gekommen wäre , dann nahm er seine Frau beiseite und flüsterte etwas .
Sie brach aber diese Heimlichkeit sogleich ab und wandte sich an Peter :
" Wir würden uns sehr freuen , wenn Sie heute den Abend mit uns verbrächten ! "
- " Bei einem frugalen Schmause ! " erläuterte ihr Gatte . -
Peter erschrak vor Angst und Freude .
So saß er bald darauf wirklich im Wohnzimmer der Rektorsfamilie und wußte fast nicht , wie er da hineingekommen war . -
Frau Ottilie hatte sich sogleich zurückgezogen und war in der Küche beschäftigt .
Der Rektor saß auf dem Sofa , rauchte und entwickelte Peter seine Ideen über das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern und Lehrern und Rektor einerseits und zwischen den Lehrern und Schülern unter sich andererseits , so wie er es sich dachte , wie es aber leider nicht der Wirklichkeit entspräche .
Peter hatte hierbei einen leichten Stand , denn er brauchte nicht viel zu sagen , und wenn er etwas redete , so nahm ihm der Rektor den Faden alsbald mit Liebenswürdigkeit und Nachdruck aus der Hand und spann ihn selbst mit Ernst und Umsicht weiter , kein Nebenfädchen übersehend , ja sogar scheinbar abgelegene Dinge mit in den Bereich seiner Beobachtungen ziehend , auf solche Weise seinen Ausführungen Gründlichkeit und verschiedene Beleuchtung und seinem Faden wechselreiche Farben gebend .
Dazwischen trat einmal Frau Ottilie ins Zimmer , in einer leuchtend-weißen Schürze , geradewegs vom Küchenherde kommend .
Und dann erschien sie abermals , ohne Schürze , frisch und heiter , und erklärte , das Essen stände auf dem Tische .
Der Rektor verlangte durchaus , Peter solle seine Frau zu Tische führen , was ihn in die größte Verlegenheit setzte .
Und da er sich nicht rührte , faßte ihn Frau Ottilie leicht und fast unmerklich , unter den Arm und führte ihn zu Tische .
- Das Söhnchen saß bereits auf seinem hohen Kinderstuhle und schaute mit erhobenem Löffel ernst und wartend drein .
Der Rektor meinte , das Kind hätte wohl vom Tische entfernt werden können , aber Frau Ottilie sagte , Herr Michel würde das wohl nicht übelnehmen , sie hätten ihn doch zu einem Familienabendessen eingeladen , und zur Familie gehöre auch das Kind !
Dabei strich sie über ihres Jungen Backen .
Der Herr Rektor fand dann auch alles in Ordnung und lud Peter ein , tüchtig zuzugreifen .
So aßen sie denn alle ; der Rektor mit Behagen und sichtlichem Wohlgeschmack , Frau Ottilie mit Zierlichkeit und in einer Art , daß man eigentlich kaum merkte , daß sie aß , und das Kind mit der Regelmäßigkeit einer kleinen Maschine .
Da Peter sah , wie es sich alle schmecken ließen , so schwand seine Befangenheit , er benahm sich mit Takt und Umsicht und wußte bald hier ein Brötchen , bald da ein Stückchen Butter oder eine Scheibe Schinken ohne Aufsehen zu erreichen .
Für die Unterhaltung sorgte Frau Ottilie , die allerhand Neuigkeiten wußte und sie in einer spielenden Art vortrug .
- Das Kind fühlte sich durch den ungewohnten Gast beunruhigt .
Es schielte ab und zu von seiner Suppe zu Peter hinüber und erwiderte dessen freundliches Lächeln mit ernsten Blicken .
Frau Ottilie bemerkte dies und sagte : " Nun , Maxel , Herrn Michel kennst du doch !
Der hat dir doch damals deine Peitsche so schön zurechtgemacht !
Ach , das weiß er nun nicht mehr ! " -
Aber der Rektor meinte , er wisse doch nicht , ob Herr Michel so geheuer sei .
Er habe schon manchmal von Räubern gehört und von Menschenfressern ! -
Maxel hielt mitten im Essen inne , den Löffel im Munde behaltend , und sah Peter mit erschrecktem Blicke an .
- " Sieh dich nur vor ! " fuhr sein Vater mit erhobenem Zeigefinger warnend fort .
" Paß auf , gleich kommt er und frißt dich : eins - zwei - "
Aber ehe er drei gesagt hatte , warf sich Maxel mit einem lauten Schrei seitwärts auf den Schoß seiner Mutter .
Da ihm die große , umgebundene Serviette zugleich als privates Tischtuch diente , so gingen die auf ihr befindlichen Gegenstände mit .
Frau Ottilie rettete durch einen schnellen Ruck ihr Kleid vor dem Verderben und verschwand mit dem Kinde , das gewaltig schrie , im Nebenzimmer .
Ihr Mann war verblüfft und etwas aufgebracht .
- " Siehst du wohl " , sagte er , als sie wieder eintrat , " ich habe es dir doch gleich gesagt :
Das Kind paßt nicht an einen Tisch mit Gästen !
Da sieht man wieder , was dabei herauskommt , wenn die Frau klüger sein will als der Mann ! "
Frau Ottilie aber lachte nur , legte ihre Hände auf sein Haar , sagte , er habe immer recht , und es solle nicht wieder vorkommen .
Bald nach dem Essen klingelte es , und der älteste Professor trat ins Zimmer .
Er hatte das Vorrecht , ohne Einladung zu erscheinen .
Peter wurde in die Geheimnisse des Kartenspieles eingeweiht , aber da er sich ungelehrig bewies , gab man es wieder auf .
" Ihr spielt doch sonst allein ! " sagte Frau Ottilie .
" Ihr braucht euch wegen Herrn Michel nicht zu genieren .
Der nimmt auch ganz gern einmal mit mir allein vorlieb ! "
- Sie ging mit Peter in das Wohnzimmer , damit der Gang des Spieles durch ihre Unterhaltung nicht gestört würde .
So saßen sie beide nebeneinander auf dem Sofa .
Ihm klopften die Schläfen .
Jetzt war er mit ihr allein !
Das nahm ihm fast den Atem .
- Sie stellte die Lampe auf einen Schrank hinauf .
- " So taten wir zu Hause immer " , sagte sie .
" Das Licht hoch oben , und dann noch ein buntes Papier herum - aber das Papier hat mir mein Mann verboten .
Er findet es unpraktisch und phantastisch .
Aber heute wollen wir uns das doch einmal leisten . "
- Sie kramte in einer Lade und holte ein großes dunkelrotes Seidenpapier hervor , wand es um die Lampe , und im Nun war das Zimmer in ein Purpurmeer getaucht .
Dann holte sie Krachmandeln und Früchte , schälte ihm eine Orange , und er mußte ihr Nüsse knacken .
- Das war eine gänzlich neue Situation für ihn .
Er war glücklich-still .
Von Zeit zu Zeit warf er einen scheuen Blick zu ihr hinüber , sah aber gleich zur Seite , wenn sie ihn ebenfalls anblickte .
Frau Ottilie war nicht ganz so unbefangen , wie sie erschien .
Was steckte eigentlich in diesem Peter Michel , der so wenig sagte und so viel für sich zu behalten schien ?
Was war ihr an ihm so tief sympathisch ?
Sein Gesicht war kein schönes .
Nur in seinen Augen , ja , in denen lag etwas Seltenes . -
Sie sah ihm unwillkürlich voll ins Gesicht ; er wollte den Kopf zur Seite wenden , aber es ging nicht mehr , und so lächelte er sie hilflos an .
Nun war es wieder für sie zu spät geworden , ihren Blick ohne weiteres von ihm fortzuwenden , Und deshalb erwiderte sie sein Lächeln .
So saßen sie eine kleine Weile .
Sie sah , er litt an einem dumpfen Unglück .
- " Kann ich Ihnen helfen ? " sagte sie plötzlich , fast unwillkürlich .
Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und sah ihm voll und eindringlich in die Augen .
Da saß er ganz still , in heftigster Anstrengung , aber endlich zuckte es um seine Lippen - er entzog ihr seinen Arm , erhob sich und kehrte langsam von ihr ab .
Es folgte ein kleines Schweigen .
- " Habe ich Sie gekränkt ? " -
Er schüttelte den Kopf .
- " Ich möchte so gerne , daß Sie glücklich wären ! " sagte sie nach einer Weile ; " sehen Sie , halten Sie mich nicht für unzart , aber ich möchte so gerne , daß Sie - daß ich einmal ganz frei und herzlich mit Ihnen reden könnte .
Sie sagten mir damals , daß Sie ein Mädchen lieben ; es sind Monate darüber verflossen .
Damals waren Sie traurig , und Sie hatten einen Grund dazu .
Sie glaubten , jenes Mädchen gehöre einem anderen .
Dann erfuhren Sie , daß dies nicht der Fall sei , es sind Monate darüber vergangen , und jetzt sind Sie noch immer in Ihrer schweren , gedrückten Stimmung .
Wie kommt das ? " -
Peter schwieg und sah zu Boden .
- " Hat sie Ihnen geschrieben , daß sie Ihre Liebe nicht erwidert ? "
- " Sie hat mir überhaupt nicht geschrieben . "
- " Nicht ? "
- " Nein , warum hätte sie mir denn schreiben sollen ? "
- " Aber sie mußte Ihnen doch wenigstens antworten ! "
- " Auf was denn ? "
- " Haben Sie ihr denn nie geschrieben und ihr gesagt , daß Sie sie lieben ? " -
Er schüttelte den Kopf . -
Frau Ottilie war sehr erstaunt .
- " Aber das war doch das erste , was Sie hätten tun müssen !
Weshalb taten Sie es denn nicht ? " -
Peter blickte in ihre dunklen , dämmernden Augen und sagte hilflos :
" Ich weiß es nicht ! "
- " Was sind Sie für ein Kind ! " sagte sie fast zärtlich .
" Natürlich hätten Sie schreiben müssen , denn sonst erfährt sie ja nie , daß Sie sie lieben , und dann heiratet sie vielleicht einen anderen , und dann ist es für immer zu spät für Sie !
Schreiben Sie ihr !
Wollen Sie mir versprechen , daß Sie ihr schreiben wollen ? "
Peter stand wieder vom Platze auf , machte langsam einige Schritte von ihr weg und blieb dann unbeweglich .
- " Ich kann ihr nicht schreiben ! " sagte er endlich .
- " Warum können Sie nicht ? "
- Er rang mit sich selbst .
- " Ach , ich weiß ja gar nicht , ob ich sie liebe ! " -
Frau Ottilie fühlte plötzlich , daß hier etwas lag , was sie nicht kannte .
- " Sie wissen es nicht ? " fragte sie etwas unsicher .
" Aber damals , als wir uns in der Allee sprachen , als Sie Ihren Irrtum erkannten , da wußten Sie es doch ?
Was hat sich denn seitdem geändert ? "
- Peter fühlte , wie ihm das Atmen schwer wurde , als , würde er über Stromschnellen fortgerissen .
- Sein Blick brach sich in ihren Augen .
- " Alles ! " stieß er hervor und drückte sein Gesicht gegen die Wand . -
Jetzt verstand sie ihn ; sie war sehr erschrocken .
- " Kommen Sie ! " sagte sie nach einer Weile , " setzen Sie sich zu mir auf das Sofa ! " -
Er wandte ihr den Kopf zu , vor seinen Augen schwamm eine nebelhafte dunkle Röte , aber dann tauchten ihr Gesicht und ihre Gestalt wieder vor ihm auf .
Sie reichte ihm die Hand .
Er ergriff sie und preßte sie gegen seine Stirn .
- " Ich glaube , daß Sie sich selbst nicht genau kennen ! " sagte sie leise und zart .
" Was Sie mir damals sagten , war gewiß das tiefe und echte Gefühl in Ihnen , und wenn auch manches dazwischengekommen sein mag , so glaube ich doch , daß es mit Ihrer Liebe nicht ein für allemal vorbei ist .
Sie werden sehen , das Gegenteil ist der Fall .
Sie haben das junge Mädchen jetzt lange Zeit nicht gesehen , Sie haben sich ein verändertes Bild von ihr gemacht , und Sie werden sehen , daß sie dieses Bild in Wirklichkeit bei weitem übertrifft !
Sie müssen es auf irgendeine Weise möglich machen , daß Sie mit ihr zusammentreffen .
Reisen Sie in den Ferien zu ihr hin ; oder vielleicht kommt sie mit ihrem Vater hierher .
Das kann man ja alles nicht wissen .
Aber jedenfalls tun Sie doch alles , was Sie können , um sie wiederzusehen .
Wenn sie Ihnen dann nicht mehr so viel ist wie früher , so ist das traurig für Sie ; aber jedenfalls haben Sie doch dann Gewißheit , und die ist unter allen Umständen Ihrer jetzigen unklaren Stimmung vorzuziehen , die Sie nur unglücklich macht ohne jeden wirklichen Grund !
Tun Sie es !
Nicht wahr ? " -
Peter starrte vor sich hin und fühlte , wie ihre Augen auf den seinen ruhten .
Was sie gesagt hatte , war ja nicht ganz unmöglich , und wenn er es auch nicht glaubte , so konnte er ja doch einen Versuch machen , das war das einzige , was überhaupt Aussicht für ihn hatte .
Er nickte langsam .
Aber ein Gefühl großer Trauer senkte sich auf seine Seele .
Ihm war , als habe ihn Frau Ottilie in eine Einsamkeit begleitet und ließe ihn nun plötzlich stehen , allein und ohne daß es ihr weh tat .
Aber das verminderte nichts von seiner Liebe , es gab ihr nur etwas noch Stilleres und versenkte sie noch tiefer in sein Inneres .
Aus dem benachbarten Zimmer ertönten jetzt Geräusche .
Die Tür öffnete sich .
- " Ja , was ist denn das ?!
Sehen Sie nur , Hannemann , was sieh die beiden für eine Illumination gemacht haben ! "
Professor Hannemann schüttelte den Kopf : " So habe ich mir immer die Hölle vorgestellt !
Die Hölle habe ich mir so vorgestellt , die Hölle ! "
Der Rektor entfernte das rote Papier , und das Zimmer lag wieder im fahlen Lampenlichte .
" Ja , aber wenn uns dort Teufel in so artiger Gestalt aufwarten " , fuhr der Professor mit einer Verbeugung gegen Frau Ottilie fort , " so will ich mir die Hölle schon gefallen lassen . "
- " Sie alter Don Juan ! " rief der Rektor , " Sie alter Don Juan ! " und lachte aus vollem Halse .
Dann entdeckte Herr Hannemann die Krachmandeln und wollte durchaus ein Vielliebchen mit Frau Ottilie essen .
Um sich zu beschäftigen , begann Peter sie alle aufzuknacken , aber es zeigte sich , daß auch nicht eine einzige doppelte Mandel unter ihnen war .
So meinte denn Herr Hannemann , dies sei eine Lektion des Himmels , und empfahl sich . -
Bald darauf ging auch Peter Michel .
" Worüber habt ihr denn miteinander geredet ? " fragte der Rektor Frau Ottilie .
- Sie schwieg , dann antwortete sie :
" Über seine baldige Verlobung . "
8. Kapitel Peters Reise verzögerte sich bis zum Sommer .
Er schrieb dem Kantor , er gedächte in den Osterferien ihn und seine verehrte Familie zu besuchen , und der Kantor schrieb in liebenswürdigster Weise zurück , er habe geglaubt , Peter sei schon lange tot , da er nie etwas von sich habe hören lassen , und er und seine Frau würden sich eine Freude daraus machen , ihm ihre Gastfreundschaft anzubieten - allerdings nicht für Ostern , da seien sie alle nicht daheim , aber für die großen Ferien , wo er bei ihnen wohnen könne , so lange er wolle .
Die Pensionäre wären alsdann fort - " ja ja , Herr Peter - ich darf Sie doch noch so nennen ? - , in Ihrem alten Bette haben , seit Sie fort sind , manche Pensionäre geschlafen ! "
- und somit sei das Zimmer dann unbewohnt und stehe für ihn bereit , und dann hätten sie wieder , wie in alter Zeit , ihre beiden Kinder , Peter und Liesel .
So erfuhr er , daß Liesel unverheiratet war und noch bei ihren Eltern wohnte .
Frau Ottilie riet ihm , die Sache nicht so lange aufzuschieben , sondern sich einfach ein paar Tage Urlaub geben zu lassen und hinzureisen .
Aber das wollte er auf keinen Fall .
Der tiefe und ihm selbst unbewußte Grund seines Aufschubes war , daß seit jenem Abend , wo er sich mit Frau Ottilie ausgesprochen hatte , die Gestalt der Liesel ihm wieder in den Hintergrund getreten war .
Von dem Augenblick an , wo Frau Ottilie durch ihn erfahren hatte , daß er sie liebte , war es , als sei ein Bann von ihm genommen ; seine dunkle Unruhe war gewichen , sein Verhältnis zu ihr ein ruhiges geklärtes , fast heiteres geworden , und ein melancholisch-stilles , wunschloses Glück füllte seine Seele .
Er wurde jetzt öfters in das Haus des Rektors geladen und sonnte sich an Frau Ottilies heiterer Nähe .
Er wußte , wie auch er ihr liebgeworden war und daß sie ihn ungern entbehrte .
So fühlte er denn dunkel voraus , jene Reise werde ihn aus seinem Frieden reißen und alles das , was langsam in ihm zur Ruhe ging , von neuem wecken .
Doch sprach er hierüber mit ihr nicht .
Und je näher der Zeitpunkt seiner Reise rückte , um so mehr hing er an der Gegenwart , fürchtete er die Zukunft , um so mehr fühlte er , wie die Ferne an ihm sog , wie die verblaßte Vergangenheit nicht tot war , sondern lebendig und mit erneuter Kraft vor seine Seele trat .
" Nein , wie prachtvoll Sie aussehen , Peter , wirklich prachtvoll !
Willibald , sage Mal aufrichtig , hast du je so einen prachtvollen Menschen gesehen !
Und immer noch das alte , liebe Kindergesicht ! "
Frau Annette streichelte ihm die Backen und gab ihm plötzlich einen Kuß :
" Ich weiß , das mögen die jungen Herrn nicht , wenn alte Leute sie küssen , aber von mir müssen Sie es sich wohl gefallen lassen , Peter .
Ich bin ja so eine Art Mutter von Ihnen ! "
- " So laß mich ihn doch auch Mal anschauen , Annette ! " sagte der Kantor , legte Peter seine beiden gewichtigen Hände auf die Schultern und blickte ihm mit etwas durchbohrender Herzlichkeit in die Augen .
" Alter Junge ! " sagte er und schüttelte ihn .
" Alter Junge !
Nein , das freut mich , daß Sie uns einmal wieder aufgesucht haben . " - Peter wurde es weich ums Herz .
Das waren dieselben Leute wie früher , unverändert in ihrer Liebe .
Ja , es schien fast , als ob der Kantor jetzt eine herzlichere Zuneigung zu ihm habe als ehedem , wenigstens gab er ihr einen viel freieren Ausdruck :
" Peter , mir als einem alten Freunde darfst du es wohl erlauben , daß ich dich wieder du nenne !
Und ich bitte dich darum , daß du mich auch du nennst und Onkel Willibald !
Und du , Annette , du sagst natürlich auch du zu ihm , und er soll dich Tante nennen . "
- Aber dagegen protestierte seine Frau :
" Dann soll er mich lieber Mutter Annette nennen , denn das paßt viel besser als Tante ! " -
So saßen sie wieder wie in alter Zeit beisammen , und Peter bemerkte mit nachdenklicher Freude , daß der Kantor noch ebenso wild in das Essen hieb wie früher .
Er war etwas dicker geworden ; an den Schläfen zeigten sich graue Haare , und mit einem Male sah Peter , daß er jetzt eine Brille trug .
Das war ihm vorher gar nicht aufgefallen .
Dann sah er zu Frau Kantor hinüber , deren Blicke mit mütterlichem Wohlgefallen auf ihm ruhten .
Auch sie war etwas rundlicher geworden , schien aber , wie er allmählich bemerkte , nicht mehr ganz so frohgemut wie früher .
- " Wo ist denn Liesel ? " fragte er endlich nach langem Zögern und fühlte , wie seine Stimme nicht ganz sicher war .
- " Liesel ? "
Der Kantor blickte von seinem Braten auf .
" Die wird wohl gleich kommen .
Sie weiß natürlich , daß du hier bist , aber sie verspätet sich immer beim Mittagessen . "
- " Sie ist nicht verheiratet oder verlobt ? " fragte Peter weiter , und eine heiße Welle schlug ihm über Stirn und Wangen .
" Nein " , sagte Frau Annette , indem sie aufmerksam zu ihm hinüberblickte .
" Das ist sie nicht .
Ich glaube , da ist sie ! "
Sie horchte hinaus .
Da ging die Tür auf , und eine elegant gekleidete junge Dame trat herein .
Peter war aufgestanden , sein Blut rann ihm jäh zu Herzen , er blickte auf sie hin .
Es war , als solle dieser eine Blick ihm Jahre voller Fragen und Angst beantworten .
- Aber er empfand nichts von der überquellenden Freude , die er sich oft und oft ausgemalt hatte , wenn er an ein Wiedersehen mit ihr dachte . -
Sie sah ihn durch einen hellen Schleier mit neugierigen , erstaunten Augen an .
" Peter ! " sagte sie halblaut und hielt ihm ihre behandschuhten Finger hin .
" Nein !
Bist du es wirklich ? "
- " Ja " , sagte er und ergriff ihre Hand ; " und du , du hast dich auch verändert ! "
- " Nein , aber furchtbar ! " fuhr sie fort , ohne ihn zu beachten , " ein ganz anderes Gesicht hast du bekommen .
Hübsch bist du geworden ! "
- Sie legte Hut und Schleier ab und setzte sich zu Tisch . -
Wie konnte er nur jemals Frau Ottilie mit ihr verwechseln !
Dies war ja ein ganz anderes Gesicht !
Er sah fast gar keine Ähnlichkeit mit ihr .
Ihr Haar zeigte ein rabenglänzendes Schwarz , Frau Ottilie erschien fast blond dagegen ; ihr Mund war voller und roter geworden ; ihre Gesichtsfarbe matter , aber schön und fleckenlos , und ihre Hände hatten die Beweglichkeit von früher ; sie waren kleiner als Frau Ottilies ; auch ihre Figur war zierlicher und schmaler .
Und es fehlte ihr ganz und gar jene wundervolle Ruhe , die durch Frau Ottilies Wesen ging , bei aller Lebendigkeit .
Dafür hatte sie etwas Zähes , Stumm-Geschmeidiges .
" Da , natürlich !
Da hat sie wieder ihre Handschuhe in die Suppe gelegt .
Liesel , wo soll das noch hinaus , wenn du so mit deinen Sachen umgehst ! "
- " Papa , du weißt , daß du mich nicht Liesel nennen sollst ! " sagte sie mit einem Tone , als habe sie den anderen Teil der Bemerkung nicht gehört .
- " Also Elise ! " sagte er etwas gereizt .
- " Ja , sie mag ihren alten Kindernamen von früher nicht mehr hören " , sagte die Frau Kantor .
" Er ist ihr nicht mehr gut genug ! "
Dann seufzte sie und ermahnte Peter , beim Essen ordentlich zuzugreifen .
Der sah fast unverwandt zu Liesel hinüber und fing gerade einen Blick ihrer Augen auf .
Sie hatten sich doch verändert .
Sie hatten etwas verloren und dafür etwas Neues bekommen .
Was dies war , wußte er nicht ; aber es machte ihn gespannt , unruhig und beklommen .
Man fragte ihn nun , ob er eine größere Reise vorhätte , und bat ihn , doch recht lange zu bleiben .
Hierauf wußte er nichts Rechtes zu antworten , aber Liesel sagte : " Bleibe nur ein bißchen hier ; man kann sich hier ganz gut amüsieren . "
Dabei sah sie ihn wieder aufmerksam an mit ihren unpersönlichen Augen , daß es ihm fremd zumute wurde .
Er spürte etwas wie Angst vor ihr , ohne sich erklären zu können , woher das kam .
Gleichzeitig aber wurde er von ihr stark angezogen , in einer seltsamen , ihm unbegreiflichen Weise , und dieser Gegensatz in seinen Gefühlen machte ihn nach außen hin unsicher und verwirrt .
Er fühlte sich als doppeltes Wesen .
Ich habe sie nicht lieb !
Sie ist nicht die Liesel von früher ! sagte der eine traurig und mit Bestimmtheit .
- Sie ist eine neue Liesel ! sagte der andere , und es trieb Peter das Blut zu Herzen .
- Und die Nacht darauf hatte er den Traum , daß sie ihn lachend und im Scherz in den Abgrund hinunterstieß .
- Ich will meinen Koffer packen und wieder abreisen ! sagte er zu sich .
Weshalb bleibe ich denn hier ?
Bin ich nicht ganz enttäuscht von ihr !? Habe ich denn irgendwelche Freude gefühlt , als ich sie wiedersah ?
Und bin ich ihr denn nicht ganz gleichgültig ?
Ich reise ab ! -
Aber wenn ich hierbleibe , kann sich nicht vielleicht manches ändern ?
- Und er reiste nicht ab , sondern blieb .
Im Hintergrunde seiner Seele stand das Verlangen , dasjenige kennenzulernen , was ihn auf eine rätselhafte Weise zu ihr hinzog und von ihr abstieß .
Doch war er sich dessen gar nicht bewußt und schob die Schuld seines Zögerns auf seine mangelhafte Energie , einen entscheidenden Schritt zu tun , und dann :
Es konnte sich ja " manches ändern " - worunter er sich gar nichts vorstellte .
Die Frau Kantor hatte inzwischen ein langes Gespräch mit ihrem Manne gehabt .
Daß Peters Besuch mit Liesel im Zusammenhäng stand , war für sie außer Zweifel .
Dem Kantor war das erst unglaubhaft , aber als sie ihm ihre Beobachtungen mitteilte , leuchtete es ihm ein .
Beide waren sehr erfreut .
Das Liesel nämlich hatte sich zu einem sehr lebenslustigen jungen Mädchen entwickelt , bald hier , bald da Verbindungen angeknüpft und ihre Eltern in steter Angst und Besorgnis gehalten , da bei ihrem Temperamente nicht abzusehen war , wie weit sie sich würde hinreißen lassen .
- Aber die Dinge lagen in Wahrheit noch weit schlimmer , als sie dachten .
Denn Liesel führte in aller Stille eine gänzlich außermoralische Lebensweise , sie griff zu , wo etwas zuzugreifen war , und genoß , wo sie genießen konnte .
Dabei hatte ihre Ursprünglichkeit und Natürlichkeit nicht das mindeste verloren , und alles , was sie tat , geschah so , daß im Grunde niemand dagegen hätte etwas einwenden dürfen , denn sie tat nur Selbstverständliches .
Aber so dachten wenige oder niemand , und deshalb lästerte man über sie , was ihr im übrigen gleichgültig war .
Anfangs erhielt ihre Mutter wohl Besuche von älteren , wohlmeinenden Damen , die ihre Tochter auf den Weg der Tugend zurückführen wollten und von ihrer eigenen Jugend , Tugend , Verlobung und Ehe erzählten .
Aber die Frau Kantor hatte jene Besuche unsanft abgebrochen und erklärt , sie verbäte sich alle fremden Einmischungen in ihre Familienangelegenheiten .
Darauf hatte sie mit ihrer Tochter ein eindringliches Verhör angestellt , Liesel leugnete schlankweg mit der größten Offenheit alles und bat ihre Mutter , sich doch nicht um den dummen Stadtklatsch zu kümmern :
Sei einmal jemand da , der etwas freier wäre als die anderen , so dichte man ihm auch gleich die tollsten Dinge an . -
Diese große Selbstverständlichkeit und Unbefangenheit hatte die Frau Kantor wieder beruhigt , denn daß ihr eigenes Kind sie so skrupellos und ruhig anlügen konnte , auf den Gedanken kam sie nicht .
Sie teilte das Ergebnis ihres Verhöres ihrem Manne mit , der ohne weiteres zu seiner Tochter sagte :
Käme ihm Unehrenhaftes zu Ohren , so würde er sie verfluchen und enterben .
Das hörte das Liesel ebenfalls mit Ruhe an und antwortete :
Daran würde er dann sehr recht tun .
Gottlob sei ja ein solcher Fall auch ausgeschlossen . -
Etwas Angst hatten ihr aber diese Worte doch gemacht , da sie wirklich nicht wußte , was sie hätte anfangen sollen , wenn man sie aus dem Hause warf .
Aber alsbald bekam sie ihre alte Zuversicht wieder ; sie sagte sich , daß ihr Vater ein leicht aufbrausender Mann sei , den man im Grunde lenken könnte , wie man wollte .
Und so bereitete sie sich für den äußersten Fall , indem sie sogleich anfing , Geld zu sparen , das für eine Woche etwa zum Lebensunterhalte für sie hinreichen sollte .
In der zweiten Woche würde ihr Vater sie wohl wieder heimholen .
Sich im Notfall zu einem ihrer Freunde zu begeben , auf den Gedanken kam sie nicht ; auch hätte ihre Selbständigkeit darunter gelitten .
Das Geld wanderte Stück für Stück in eine Sparbüchse ; ab und zu klapperte sie mit dem Ding , prüfte die wachsende Schwere und machte sich ein unbestimmtes Bild von einem kleinen Häuschen mit einer Dachkammer , in der sie sich Kaffee kochen würde .
- Ihre Freundinnen hatten sich alle von ihr zurückgezogen .
Sie verachteten , haßten und beneideten sie .
Denn die Freunde der Liesel waren stets auch begabte und anziehende junge Männer , die fast alle der Zufall in ihr Städtchen verschlagen hatte .
Bei dieser Lage der Dinge war es begreiflich , daß ihre in steter Unruhe schwankenden Eltern den neu ankommenden Peter Michel mit Freude begrüßten .
- " Sieh , Willibald , es ist ein Glück für uns alle !
Wenn sie sich auch wirklich nichts Unehrenhaftes hat zuschulden kommen lassen , so wissen wir doch :
» Die Welt urteilt nach dem Schein ! «
Und das ist ja wahr , daß Liesel nichts , aber auch gar nichts tut , um alle die über sie umlaufenden Gerüchte zu zerstreuen .
Wenn man , wie sie , frei und natürlich ist , so sollte man um so mehr an sich halten , um auch den Schein des Unrechtes zu vermeiden ; - ach , wir haben das alles ja schon soundso oft durchgesprochen und wissen , wie nutzlos es ist , darüber zu reden ; aber das ist sicher :
Es wird ihr schwer werden , einen guten Mann zu bekommen .
Denn jeder sagt :
» Etwas daran muß doch wohl wahr sein ! «
Einen besseren Schwiegersohn als Peter könnten wir uns gar nicht wünschen .
Aber ich fürchte , ich fürchte , Liesel selbst wird uns einen Strich durch die Rechnung machen , denn ich glaube , daß sie zu Peter gar keine Neigung hat . "
- Ihr Mann zuckte unglücklich mit den Schultern und meinte , das könne man nicht wissen .
Dann raffte er sich auf und sagte , schließlich seien doch auch die Eltern da , die ein Wort mitzureden hätten ; - " ich meine nicht , daß wir sie zu der Heirat geradezu zwingen wollen , aber wir wollen doch den nachdrücklichsten Einfluß auf sie ausüben .
Das Leben mit ihr hier im Hause wird nachgerade unhaltbar ; schon der Pensionäre wegen möchte ich sie fort haben ; und ich glaube , Peter ist der rechte Mann für sie ; er hat so etwas Ruhiges , Bestimmtes ; wenn er einmal etwas will , dann setzt er es auch durch .
Er wird ihr schon die Flügel beschneiden ! "
- Seine Frau machte ein Gesicht , als ob sie nicht ganz zustimmte , aber sie schwieg .
Das konnte sich ja später finden ; es würde sich schon alles gut machen .
Wenn er sich nur bald erklären wollte ! -
Aber Peter erklärte sich nicht , sondern wurde zunehmend unruhiger und aufgeregter .
Dem Liesel aber machte der Kantor jetzt die Mitteilung , daß Peter sie liebe und wie sie dankbar sein solle , daß sie noch zu einem solchen Glücke käme .
Darauf lachte sie , aber er runzelte die Stirn und sagte , er habe ernsthaft mit ihr zu reden .
Da lachte sie noch mehr und lief hinaus , während er ihr nachstarrte .
Sie hatte es schon längst bemerkt , daß sie Peter beschäftigte .
" Du , Peter , sage Mal , liebst du mich ? " fragte sie unvermittelt .
Er wurde dunkelrot ; sie blickte ihn mit Augen an , in denen Neugier , Überlegenheit und Interesse lag .
Aber im selben Augenblick trat ihre Mutter ein , und damit war das Gespräch abgebrochen .
Bei Tische überlegte sie sich , ob sie sich wohl in ihn verlieben könne , und musterte unbekümmert seine Züge , so daß er zur Seite sah .
Sie hatte sich diese Frage gleich nach ihrem ersten Wiedersehen gestellt und gedacht : Eigentlich nein .
Aber jetzt fand sie , er sei gar nicht so übel , und daß er sich in sie verliebt hatte , das fand sie sehr hübsch .
Aber er war doch ein schwerfälliger Mensch , daß er es ihr gar nicht zeigte !
Sie wollte es aber !
- " Wir müssen sie allein lassen ! " sagte die Frau Kantor zu ihrem Mann .
" Ich kam heute gerade dazu , wie die beiden Kinder etwas mitsammen zu bereden hatten , und ich merkte , wie ich störte ! " -
So überließ man denn Peter und Liesel sich selbst .
Er stand am Tisch und trat mit dem Fuß gegen einen Stuhl .
- " Wie lebt man denn in deinem Ort ? " fragte sie .
" Sind viele junge Mädchen dort ? "
- " O ja . "
- " Und lebt sich es dort hübsch ? "
- " O ja . "
- " Hast du dich schon oft verliebt ? "
- " Nein ; - du dich ? " setzte er hinzu , da er fühlte , daß seine ewige Einsilbigkeit sie langweilen mußte .
- " M-ja-ja " , antwortete sie in etwas gleichgültigem Tone und spitzte geringschätzig den Mund .
" Hast du dich denn noch nie in deinem Leben verliebt ? " fragte sie ihn wieder und sah ihn erwartungsvoll an . -
Er warf ihr einen Seitenblick zu .
Weshalb fragt sie ihn das ?
- " In wen hast du dich denn schon verliebt ? " fragte sie beharrlich weiter ; immer in kleinen Tönen und wie nebenbei .
- " Ach Liesel !
Es interessiert dich ja doch nicht . "
- " Sieh Mal den schönen Ring , den ich habe ! "
- " Du bist doch nicht verlobt ? " fragte er erschreckt .
- " Gott bewahre - den habe ich bloß so bekommen .
Schön , nicht wahr ? "
- Sie stand ganz dicht vor ihm und lachte ihm unter die Augen .
Herr Gott !
War er ein schüchterner Mensch !
Das war ja schrecklich !
- " Weißt du noch , wie wir uns adieu sagten , als du damals von uns fortfuhrst ?
Da gabst du mir einen schönen Kuß ! " -
Das klang fast wie eine Aufforderung .
Er sah sie brennend an .
" Nun ? " sagte sie und dachte :
Ja , wenn er mich liebt , warum packt er mich nicht ?!
Da waren ihre Augen dicht vor ihm , wie er sie im Traum gesehen .
- " Warum küßt du mich nicht ? "
- Wortlos schlang er seine Arme um ihren Hals , drückte seine Lippen auf ihren Mund und umfaßte sie mit beiden Händen .
" Liesel ! Wußtest du nicht , daß ich mich immer nach dir gesehnt habe ? " sagte er leise und ohne es zu wollen .
Er drückte sie fester an sich , sein Körper fühlte ihren Körper , ihm war , als strömte etwas von einem zum anderen über .
- " Laß mich " , flüsterte sie , " laß mich !
Es kommt jemand ! "
Sie standen horchend .
Sie hatte sich von ihm losgemacht .
- " Ach Gott , wie heiß ist es hier ! " sagte sie und öffnete ein Fenster .
Peter öffnete das andere .
Beide schauten hinaus , eine ganze Weile .
Da ging die Tür auf .
" Nanu ? " rief die Frau Kantor .
" Was seht ihr denn da so Interessantes im Hofe ? "
- Liesel wandte sich vom Fenster fort .
- " Ja-a , weißt du , Mama , ich habe Peter die Stelle gezeigt , wo wir als Kinder immer mit der Springschnur spielten , und Peter erinnert sich gar nicht mehr daran .
Nicht wahr , Peter ? " -
Sie sah ihrer Mutter unbefangen in die Augen .
" So ?! " sagte diese mit einem prüfenden Blick auf die beiden .
" Aber Peter , ist das wahr ?
Ich dachte , du hättest ein so gutes Gedächtnis ? "
- " Habe ich auch ! " rief er , ohne sich umzusehen , " aber das weiß ich nun doch nicht mehr ! " -
Er wollte Liesel zeigen , daß er sich ebenso sicher benehmen könne wie sie , ohne jedoch recht zu wissen , warum sie sich so benahm .
Gleichzeitig aber drückte er seine Finger so fest gegen den Steinsims , daß sie knackten .
Liesel schloß jetzt ihr Fenster und ging darauf zu dem , aus welchem Peter sich lehnte .
" Komme !
Ich will es schließen ! "
Sie bog sich nieder und kroch unter seinem erhobenen Arme durch , geschmeidig wie eine Katze , und wie er sie so unter sich sah , den schimmernden Hauch ihres Nackens , den Duft ihrer Haare spürte , da stieg in ihm ein unwillkürlicher Ärger gegen die Frau auf , die ihn von hinten so beschaute .
Er machte eine ungeduldige Bewegung mit den Schultern und sagte : " So ; na also , nun sind die Fenster ja geschlossen . "
Frau Annette sah ihn etwas erstaunt an .
Das klang ja gar nicht wie Peter Michel ! -
Bei Tische war er schweigsam und sah fast unausgesetzt zu Liesel hinüber , welche unbefangen und gesprächig war wie immer .
Er suchte nach einer Verständigung mit ihr , und plötzlich kam ihm der Gedanke , mit seinen Füßen unter dem Tisch zu ihr hinüberzutasten .
Es war derselbe Tische an welchem sie einst als Kinder gesessen , unter dem ihn Liesel mit ihren kleinen Füßen stieß und dann beleidigt war , daß er auf ihr Spiel nicht einging .
Sie begriff ihn augenblicklich und erwiderte seinen Druck auf eine heftige und unmittelbare Weise .
Aber dann behielt er ihren Fuß zwischen den seinen geklemmt .
Sie bis sich auf die Lippen und sah fast drohend zu ihm herüber .
Aber er hatte Kraft . -
Nun konnte sie sich doch in ihn verlieben . -
Man redete über dies und jenes , aber Peter gab einsilbige und zerstreute Antworten .
Sie hat ihm einen Korb gegeben ! dachte die Frau Kantor und warf ihrer Tochter einen bekümmerten Blick zu .
Diese deutete ihn falsch , indem sie meinte , ihre Mutter habe von dem heimlichen Spiel unter dem Tisch etwas bemerkt , und deshalb erwiderte sie ihn durch ein geringschätziges Zurückwerfen ihres Kopfes .
Nun meinte die Frau Kantor vollends auf der richtigen Fährte zu sein .
Auch Peters sonderbares Benehmen , seine Einsilbigkeit , seine auffällige Antwort von vorhin erklärte sie sich auf diese Weise .
Sie blickte teilnahmsvoll zu ihm hinüber , und er senkte den Kopf .
Da seufzte sie tief und erhob sich langsam .
- In der folgenden Nacht fand Peter sehr wenig Schlaf .
Jetzt liebte er Liesel , und es war nicht mehr die alte Liesel von früher , sondern die neue ; seine Liebe hatte nichts mehr von der Schwärmerei von ehedem .
In seiner Phantasie wiederholten sich die Vorgänge des Tages , er küßte sie von neuem , er hielt sie in seinen Armen , er fühlte ihren warmen Nacken .
Liesel aber hatte am selben Abend noch eine Unterredung mit ihrer Mutter .
- " Hat er sich dir erklärt ? "
- Liesel hatte sich Peter Michel betreffend noch gar keinen Plan gemacht und antwortete blindlings :
" Ja natürlich . "
- " Und du ?
Was hast du ihm geantwortet ? "
- " Ich habe ihm gesagt , daß ich ihn nicht will ! "
Ihre Mutter nickte wie traurig-bestätigend vor sich hin .
- " Nun , dann wird er wohl morgen wieder abreisen ! "
- " Abreisen ? " -
Auf den Gedanken war Liesel noch gar nicht gekommen .
" Nein , abreisen soll er nicht ! " sagte sie sehr schnell ; " er soll noch hierbleiben ! "
- " So ?
Was soll er denn hier noch ? "
- " Ich freue mich , wenn er noch hierbleibt .
Ich habe ihn ja doch so gerne !
Und dann , überhaupt - " fuhr sie plötzlich fort , indem ihr ein neuer Gedanke durch den Kopf schoß - , " wenn ich ihn heiraten soll , so muß ich ihn doch erst einmal näher kennenlernen ! "
- " Dazu hast du Zeit genug gehabt ! "
- " Nein , er war einmal hier , einmal da ; und dann kamt ihr immer dazwischen , und so war ich nie recht mit ihm allein ! "
- Inzwischen war ihr Vater ins Zimmer getreten .
Er hielt seine großen , schwarzen Augen auf seine Tochter geheftet und wartete , bis sie ausgeredet hatte .
- " Ich dächte , wir hätten euch heute nachmittag lange genug allein gelassen !
Nein .
Zeit genug hast du gehabt !
Und das ist es auch nicht , weswegen du ihn nicht willst .
Du willst ihn nicht , weil du es lieber hast , wenn alle dir den Hof machen , weil du ein kokettes Mädchen bist , weil du keine Tiefe des Gefühles hast und weil du deine Eltern nicht liebst .
Aber du hast ganz recht !
Peter ist viel zu gut für dich .
Er ist viel zu gut für ein - für eine - "
- " Aber Willibald ! "
- " Papa , wenn du so reden willst , so wollen wir lieber gleich alles abbrechen . "
- Ihr Vater wischte sich die Stirn mit dem Taschentuch .
Seine Tochter warf ihm einen kalten Blick zu .
" Wenn ihr schon so über mich redet " , fuhr sie fort , " wie sollen dann erst die Leute über mich reden ? "
- " Kind , ich habe ja gar nichts gesagt " , sagte Frau Annette .
" Dein Vater hat sich etwas hinreißen lassen .
Du kennst doch deinen Vater .
Du weißt doch , er meint es nicht so schlimm , wie er es sagt !
Sei doch etwas vernünftig , und denke nicht immer nur an dich allein !
Komme , Willibald , wir wollen sie in Ruhe lassen .
Überlege es dir noch einmal , Kind !
Wir raten dir zu deinem Besten ! "
Am nächsten Morgen hatte Liesel ihren Plan fertig .
Sie sagte zu ihrer Mutter , sie glaube wirklich , sie liebe Peter Michel , sie habe sich mit ihrem Entschluss übereilt , sie nähme alles zurück und hoffe , daß es zwischen ihr und ihm noch zu einem guten Ausgang kommen würde .
- Ihre Mutter war überrascht und glücklich und stimmte freudig zu , als Liesel bei Kaffee vorschlug , sie wollten alle mitsammen einen großen Ausflug machen .
Der Kantor , welcher von der neuen Wendung noch nichts wußte und nur vom Ausflug hörte , brummte mürrisch , Liesel denke immer nur an Ausflüge .
Jetzt trat Peter Michel herein , blaß und etwas nervös ; er wünschte allen einen guten Morgen und setzte sich .
Es war fast , als vermiede er Liesel anzublicken .
Man unterrichtete ihn von dem Plane , er errötete , schwieg zuerst und sagte dann , er habe sich überlegt , daß er lieber abreisen wolle . -
In Wahrheit war auf die Erregung des gestrigen Abends ein Niederschlag erfolgt .
Liesel war ihm plötzlich gleichgültig geworden , ja , er spürte fast eine Abneigung gegen sie .
Sie warf ihm einen raschen , erstaunten Blick zu :
" Wieso willst du denn abreisen ? "
In ihrem Gesichte lag ein Ausdruck zwischen Enttäuschung und Verwunderung .
Gleichzeitig berührte sie ihn unter dem Tische mit ihrer Fußspitze . -
Er blickte sie unsicher an .
- " Du denkst gar nicht daran abzureisen !
Warte nur noch ein bißchen ! " setzte sie hinzu , geheimnisvoll-verheißungsvoll . -
Der Kantor , dem Frau Annette inzwischen flüsternd die neue Wendung der Dinge mitgeteilt hatte , hielt sich nicht länger .
" Da , Liesel ! " rief er , indem er sein Portemonnaie zog und ihr ein Talerstück hinwarf !
" Da !
Das ist für deine Sparbüchse .
Braves , Mädel ! "
- Liesel steckte das Geld vergnüglich ein ; aber als sie merkte , daß ihr Vater eine Art Verlobungsrede halten wollte , sprang sie auf und hielt ihm den Mund zu .
Peter begriff nichts von dem Vorgange um sich ; Liesels halb lustige , halb kokettverliebte Blicke machten ihn verwirrt , sein Vorsatz war im Nun vergessen , seine Seele geriet wieder in den Strudel .
Der Kantor aber sagte später zu seiner Frau : " Das Liesel ist doch ein verrücktes Mädel !
Diese Sache hat mir rechten Kummer bereitet .
Aber nun ist es , als seien mir Bergeslasten von den Schultern gewälzt , und jetzt sehne ich mich ordentlich danach , in Gottes freie Natur hinauszutreten und unserem Schöpfer recht aus freudigstem Herzen ein Dankgebet hinaufzusenden !
Sie ist doch im Grunde ein gutes Kind bei all ihren Härten !
Sie tut immer , als ob unsere Worte keinen Einfluß auf sie ausübten , aber im geheimen denkt sie doch darüber nach !
Das siehst du an diesem Beispiel wieder ganz deutlich ! "
- " Ich meine " , sagte seine Frau , " wir lassen die beiden sich heute noch an ihrem Geheimnis freuen , am Abend oder morgen früh reden wir dann mit Peter , und dann feiern wir Verlobung , lassen sofort die Anzeigen drucken , und alles Gerede und Geklatsche ist mit einem Male aus der Welt geschafft . "
Am Abend desselben Tages saßen die beiden wieder beisammen , aber nicht heiter wie am Morgen , sondern in ziemlicher Verstimmung .
- Peter und Liesel waren noch nicht heimgekehrt .
Sie hatten sie im Walde verloren und seitdem nichts wieder von ihnen gesehen .
Liesel war vorausgelaufen , hatte Peter aufgefordert , sie zu fangen , und bei einer Wegkreuzung einen Seitenweg gewählt , von dem sie genau wußte , daß ihre Eltern , welche auf der Biegung noch nicht sichtbar waren , ihn nicht einschlagen würden .
Dann folgte sie noch abgelegeneren Wegen , und so war sie schließlich mit dem ahnungslosen Peter in einen ganz einsamen Teil des weit sich hinziehenden Waldes geraten .
Jetzt lief sie wieder vor ihm her , und plötzlich faßte sie seinen Arm , legte ihn sich um die Hüfte und schlang ihren eigenen um seinen Körper .
" Aber Liesel !
Wenn uns jetzt deine Eltern sehen ! " sagte er glücklich , indem er sie , ohne es zu wollen , fest an sich drückte .
- " Ach was , die sind weit weg ! "
Und jetzt endlich erklärte sie ihm ihren Streiche .
- " Aber Liesel , wie konntest du das tun !
Jetzt müssen wir gleich umkehren und sie suchen ! "
Liesel aber lachte ihn aus und meinte , wenn er den ganzen Tag suchte , würde er sie doch nicht finden .
- " Kennst du denn den Weg auch nicht ? " rief er .
Sie schüttelte den Kopf :
" Gott bewahre !
Aber wenn es Abend wird , dann gehen wir nach Süden , bis wir an den Rand des Waldes kommen ; von da aus können wir uns leicht durch die paar Dörfer nach Hause fragen . "
- " Und ich habe den ganzen Proviantkorb mitgenommen ! " rief Peter plötzlich , indem er ein unförmiges Ding in die Höhe hob , das er am Arme trug .
" Nun haben deine Eltern nichts zu essen und nichts zu trinken ! "
- " Desto besser !
Um so mehr haben wir ! "
Sie schlug die Hände zusammen und tat einen Sprung , daß ihr der Streiche so gut gelungen war .
Peter sah sie halb ratlos , halb glücklich-verlangend an .
- Sie gingen weiter , durch Busch und Dickicht , und endlich hielten sie an einem Plätzchen , das besonders lieblich von hohen Farnen umstanden war .
" So .
Und nun machen wir es uns bequem . "
Sie schleuderte ohne weiteres ihr Oberkleid in einen Haselstrauch .
" Komme Peter , zieh mir meine Schuhe aus ! "
Er bückte sich nieder und tat es , und sie packte ihn beim Kopf und rief : " Nun laß ich dich nie wieder los ! "
Jetzt lagen sie dicht nebeneinander im Grase und blickten in das wogende Grün und Blau über sich .
Sie hielten sich noch immer gefaßt , und während sie ganz in den Anblick des Lichtes vertieft schienen , begannen ihre Hände unmerklich ein Spiel miteinander , ein Fragen und Antworten , ein leises Auf- und Niederfluten .
- " Nein , wir wollen Wein trinken ! " rief sie plötzlich , sprang auf , holte den Becher , trank , ließ Peter trinken , füllte von neuem , und dann blickten beide auf den dunkel-purpurnen blanken Spiegel , auf dem sie ihre eigenen Köpfe , die Kronen der Bäume in den Himmel leuchten sahen .
- " Allen Wein müssen wir austrinken ! " rief sie , " allen ! "
Sie lehnte sich zurück und setzte den Becher wieder an ihre Lippen .
Und während sie trank , kam ihm der Gedanke , wie schön es wäre , wenn jetzt der Wein zu leuchten begänne und ihre weiße Kehle von innen rubinrot erstrahle .
- Da goß sie ihm die letzten Tropfen ins Gesicht und warf ihm den Becher in den Schoß ; und er füllte sich das letzte Glas .
" Oh , die Hitze !
Liesel , ich zieh mir auch meine Jacke aus , und meinen Kragen und meinen Schlips . "
- Sie flogen den Sachen der Liesel nach , in den Haselstrauch .
- " Still !
Kommt da nicht jemand ? "
Sie horchten und spähten nach allen Seiten durch die Farne .
Aber es waren die Tannenzapfen , welche von den Bäumen fielen und mit dumpfem Geräusche auf den weichen Waldboden niederklopften .
" Hierher kommt niemand ! " sagte Liesel leise .
Er wandte sich ihr wieder zu .
Wie schön sie war ! -
Sie rüttelte ihn :
" Da !
Sieh nur ! "
Peter folgte der Richtung ihres ausgestreckten weißen Armes , und im nächsten Augenblick hatte sie mit schnellem Griff einen grünlich schillernden Käfer gefangen .
Er wollte ihn haben , aber sie hielt ihn fest .
Er erwischte nur ein Bein von ihm .
" Ich will ihn aber ganz haben ! "
- " Du bekommst ihn aber nicht ! "
- " So , das wollen wir doch sehen ! " -
Er bekam abermals ein Bein .
" Siehst du wohl ! " rief sie , während er zum dritten Male zugriff .
Diesmal war er glücklicher und erwischte das ganze Tier , das er in seiner ausgestreckten Hand besah , wie es langsam davonhumpeln wollte .
Sie packte es abermals .
Er sah sie glühend an .
" Du sollst ihn aber nicht haben ! " rief er leidenschaftlich und stürzte sich auf ihre Hand .
Und als es ihm endlich gelang , ihre kleine geballte Faust zu öffnen , da lag das harte glänzende Tierchen darin , ohne sich zu rühren !
Er riß es ganz auseinander .
" So !
Nun ist das unverschämte Tier tot ! " rief er und schleuderte es in das Gras .
Aber dann packte er Liesels Hand aufs neue und preßte sie , daß alles Blut aus ihr entwich .
- " Komme , gib mir den Rest aus deinem Becher ! " rief sie schnell atmend , indem sie sich frei machte .
" Den müssen wir noch austrinken . "
- " Wir wollen ihn zusammen auf einmal austrinken ! " rief er .
Sie lehnten ihre glühenden Wangen aneinander und schlürften den Wein bis zum letzten Tropfen , während ein kleines Rinnsal in der Mitte niederlief .
Und dann hielten sie den Becher noch immer am Munde , ihre Gesichter noch fester aneinandergepreßt , während ihr heißer Atem zu ihren Schläfen hinaufstieg .
- " Tanzen müssen wir , tanzen ! " rief sie plötzlich , glühend .
- " Tanzen ? "
Peter war verwirrt und erstaunt .
Aber sie warf den Becher in den Rasen und sprang auf .
Aus dem Boden riß sie eine lange Efeuranke und schlang sie sich dreimal um ihren schönen weißen Hals .
Da stand er denn auch im Grase , und die flimmernde Sonne , die glitzernden Blätter , die nickenden Farnen und das Liesel selbst , alles sah er wie etwas Neues , das auf ihn eindrängte , ihn überflutete .
Sie fielen sich um den Hals und drehten sich im Taumel , Bäume , Kräuter und das ganze Himmelsgewölbe tanzten mit , und dann lagen sie beide atemlos im Grase .
Sie kniete über ihm , ihre Lippen waren auf den seinen .
" Au ! " rief er plötzlich , " hast du mich gebissen ? "
Er packte sie um den Leib , es entspann sich ein heftiges , wortloses Ringen .
Aber er war stärker als sie und stemmte beide Arme gegen ihre Schultern .
Da lag sie nun unter ihm , mit geöffneten Lippen und durstenden heißen Augen .
Ihre Haare hatten sich gelöst ; der Efeu hing ihr zerzaust am Halse .
Aber die stählerne Kraft seiner Hände löste sich , und jetzt begann ein Spiel ihrer zwanzig Finger auf ihrer weichen , lebendigen Brust , ein Beben , ein Greifen , ein Tasten , ein Gleiten , von Augenblick zu Augenblick hastiger , leidenschaftlicher , wilder - da riß sie ihn mit der ganzen Kraft ihres Körpers an sich , und beide sanken in das Moos zurück .
" Sieh , wie die Sonne schon tief durch die Bäume blitzt !
Komme , wir müssen fort ! "
Liesel lehnte gegen einen Baumstamm und sah auf den am Boden liegenden Peter .
Der aber rührte sich nur eben und sagte : " So bleibe doch noch !
Wir finden schon nach Hause ! " -
Liesel ging ein paar Schritte , dann trat sie ungeduldig mit der Fußspitze ein Stück Rinde von dem Stamme .
" So komme doch ! " rief sie abermals , aber er hielt die Augen geschlossen und gab nur einen unverständlichen Ton von sich .
Da flog ihm etwas Schweres aufs Gesicht ; es war seine Jacke .
Dann folgten Kragen und Schlips .
Er erhob sich langsam und begann sich anzukleiden , während Liesel ihm zusah .
Er blickte zur Seite . -
Als er sich jetzt vollends aufgerichtet hatte und sich umsah , wie der Wald so ruhig und flammend um ihn stand , da überkam ihn ein sonderbares Gefühl : als habe er die lange Zeit mit Liesel allein zu sein geglaubt , während in Wirklichkeit tausend Augen auf sie niederschauten .
- Und Liesel stand da , als ob sie jemand zum Spazierengehen abholte und nur etwas warten müßte .
- Jetzt war er fertig .
- " Vergiß den Korb nicht .
Gott , bin ich hungrig ! "
Und sie bis tüchtig in die Brote hinein .
Er aß ebenfalls etwas .
- " Nun haben wir allen Wein ausgetrunken ; wirklich zu dumm !
Da , pack den Becher ein ! "
Er nahm ihn und sah gedankenvoll in seine Tiefe .
Aber aus dem leichtgewölbten Grunde blickte ihm eine so erschreckliche , aufgedunsene kauende Fratze entgegen , daß er ihn augenblicks in den Beutel schob .
Jetzt schritten sie nach Süden , fort und fort , Liesel voran ; Peter ihr dicht auf dem Fuße , während nur das dumpfe Geräusch ihrer Schritte auf dem weichen glatten Nadelboden die Stille unterbrach .
Sie erreichten den Rand des Waldes , und Liesel fand sich nun sehr gut zurück .
Jetzt schritten sie die hohen gelben Kornfelder entlang , immer noch wortlos .
- " Ich will noch heute mit deinen Eltern reden " , sagte Peter endlich .
" Was hast du denn mit ihnen zu reden ? " fragte sie zurück .
Er sah sie erstaunt an .
" Aber Liesel !
Ich muß ihnen doch sagen , daß wir nun verlobt sind ! "
- " Verlobt sind ? " wiederholte sie .
" Wir sind doch gar nicht verlobt . "
- " Aber Liesel ! "
Er errötete und blickte sie völlig verwirrt an .
- " Ach so ! " meinte sie .
" Deshalb braucht man sich doch nicht gleich zu verloben ! "
- " Du kannst es ja nennen , wie du willst , Liesel .
Aber ich meine , wir sind doch nun verbunden und heiraten uns ! "
- " Aber wir denken gar nicht daran ! " rief sie , indem sie stehenblieb .
- " Ja - aber , wie wollen wir es denn machen ? "
Peter war ebenfalls stehengeblieben .
- " Gar nicht ! "
- " Gar nicht ?
Ja aber - , Liesel , ich verstehe dich nicht , wir müssen doch !
Was willst du denn machen ? "
Liesel stutzte einen Augenblick .
" Ach so ! " sagte sie endlich , begreifend .
" Ja , du glaubst doch nicht etwa - " , sie zog die Augenbrauen in die Höhe und blickte ihn halb lustig-gespannt und halb verwundert an . -
Peter wurde brennend rot .
Jetzt brach sie in ein helles Lachen aus :
" Ich denke gar nicht daran !
Niedlicher Peter !
Du bist doch wirklich ein dummer Junge ! "
- " Aber Liesel , ganz gewiß , ganz gewiß ; das weißt du nur nicht so !
Möchtest du mich denn nicht heiraten ? "
Sie schüttelte energisch den Kopf .
- " Aber Liesel , hast du mich denn gar nicht lieb ? "
- " Liebe ?
Nein .
Hast du mich etwa lieb ? "
- Ihre Augen machten ihn verwirrt .
Es lag etwas darin , das ihn leise erschauern machte , abstieß und anzog ; etwas Kaltes , Grausames , Heimatloses .
Er antwortete ihr nicht , sondern starrte in die violette Dämmerung , die sich jetzt mählich herabsenkte .
So schritten sie wieder eine Weile stumm nebeneinander fort .
- " Du bist doch ein komischer Junge " , sagte sie endlich .
" Hast du denn noch nie in deinem Leben ein Verhältnis gehabt ? "
- " Nein " , antwortete er laut und bestimmt ; " du etwa ? "
Sie erwiderte nichts , und als er deshalb sein Gesicht ihr zuwendete , sah er , wie sie vielsagend in die Dämmerung lächelte , während ihre Zähne ein paar reife Getreidekörner zerbissen .
- " Hast du ? "
Er blieb wieder stehen und sah ihr erschreckt in die Augen .
Sie blickte ihn jetzt voll an und sagte lachend :
" Ist dir der Gedanke noch nie gekommen ? "
- " Nein , Liesel , niemals !
Also , ich meine : ein wirkliches , richtiges Verhältnis ? "
- " Habe ich gehabt ! " nickte sie und sah ihm triumphierend an die Nasenspitze .
- " Ja , aber Liesel , dann bist du ja - "
- " Eine ganz gemeine Person , willst du sagen .
Weißt du , Peter , mit solchen Redensarten brauchst du mir nicht zu kommen ; die haben keine Wirkung auf mich .
Ich tue , was ich mag , und kümmere mich nicht darum , ob das gut ist oder schlecht . "
- " Und deine Eltern ? "
- " Die brauchen davon gar nichts zu wissen ; das gäbe nur unnötigen Zank und Aufregung .
Und es käme doch nicht das geringste dabei heraus , denn sie würden mich absolut nicht ändern und nur sich und mir das Leben sauer machen !
Ach , Peter , du bist eigentlich ein Schaf ! "
- " Liesel " , sagte er , " du gehörst mir , und ich heirate dich . "
- " So !
Glaubst du denn , daß ich dich ewig um mich haben mag ?
Glaubst du denn wirklich noch , daß ich dich liebe ? "
" Weshalb hast du dann aber - weshalb hast du dann aber - " , er stockte .
- " Doch nicht etwa , weil ich dich liebe ?!
Du gefielst mir plötzlich - das ist das ganze Geheimnis .
Armer Peter !
Sieh nicht so dumm aus ! "
Ihm war es , als habe seine Seele einen Schlag mit einem Stock erhalten .
" Adieu , Liesel " , sagte er auf einmal und reichte ihr die Hand .
Das letzte Dorf lag hinter ihnen , vor ihnen flimmerten die Lichter der Stadt .
- " Was willst du denn machen ? "
- " Fort will ich ; ich kann deinen Eltern nicht mehr vor die Augen treten . "
- " Du kannst doch hier nicht im Freien übernachten . "
- " Das ist mir ganz egal , wo ich übernachte ; aber ich will nicht in euer Haus zurück ! "
- " So begleite mich doch wenigstens in die Stadt !
Meinetwegen kannst du ja dann in ein Hotel gehen ; aber hier mitten im Felde stehenzubleiben , das ist doch das Albernste , was du tun kannst !
Überhaupt hast du doch all deine Sachen bei uns ! "
- Sie faßte ihn unter den Arm und zog ihn vorwärts .
" Sei doch nicht so wie Blei !
Gehe doch Mal wie ein anständiger Mensch ! "
- Er ließ den Kopf hängen und schwieg .
Er war der unglücklichste aller Menschen ; was nun kommen würde , wußte er nicht .
Zu Hause empfing man sie beide mit einer Flut von Fragen .
Liesel erklärte alles , indem sie behauptete , sie hätten sich verirrt , und dann hätten sie die Eltern gerufen , laut und viele , viele Male , aber niemand habe geantwortet ; sie wären den halben Weg zurückgegangen , und dann seien sie schließlich auf eigene Faust losmarschiert .
- " Hoffentlich hat euch da niemand gesehen . "
- " Nein , Mama . "
- " Na , Gott sei Dank , daß du wenigstens mit Peter gingst ! "
Sie strich ihm mütterlich über die Backen .
" Nun , Kinder , habt ihr euch denn jetzt miteinander ausgesprochen ? "
- " Ja-a , das haben wir , Mama ; laß es dir nur von Peter erzählen !
Gute Nacht , ich bin gräßlich müde ! "
Und sie ging pfeifend auf ihr Zimmer .
" Nun ? " wandte sich die Frau Kantor etwas verwundert an Peter , " das ist ja ein komisches Benehmen für eine Braut . "
- " Ach , das ist sie ja gar nicht ; wir sind ja gar nicht verlobt ! " sagte er tief niedergeschlagen .
" Sie will mich nicht ! "
" Sie will dich nicht ? " rief jetzt der Kantor , des höchsten erstaunt ; " sie will dich nicht ?
Ja , ist denn das Mädchen reinweg von Gott verlassen ?
Ist sie plötzlich irrsinnig geworden ?
Heute morgen ist alles so gut wie abgemacht , sie zeigt ganz offen , daß sie dich liebt , dann macht ihr eine Partie zusammen ganz tête à tête , und nun liebt sie dich plötzlich nicht mehr ?
Habt ihr euch denn auf der Partie gezankt ?
Ist da etwas zwischen euch gekommen ? "
- " Nein " , sagte Peter , ohne ihn anzusehen .
- " Hat sie dir denn mit klaren Worten gesagt , daß sie dich nicht will ? "
- " Ja . "
- Der Kantor fuhr in die Höhe und durchmaß den Raum mit großen , Schritten .
" Da soll doch gleich - na , warte nur ! "
Er stürmte zur Tür hinaus , kam aber bald zurück und sagte , Liesel habe sich eingeschlossen und behaupte , sie liege schon zu Bett .
" Na , morgen früh !
Das soll ihr schön bekommen ! " -
Frau Annette war wie vor den Kopf geschlagen .
" Ich reime es mir nicht zusammen !
Ist wirklich nichts auf der Partie vorgefallen ?
Du mußt offen reden , lieber Peter .
Du hast doch Zutrauen zu uns ; und Wahrheit ist hier vor allem am Platze ! "
Sie sah ihn mit großen , forschenden Augen an .
Er wandte den Blick fort .
" Ich sehe es dir an , Peter !
Irgend etwas ist geschehen !
Willst du es mir denn nicht anvertrauen ?
Was ist es , Peter ? "
- " Nichts , gar nichts ! " sagte er tonlos und mit trockener Kehle und ging hinaus .
Der nächste Morgen brachte große Aufregung .
Liesel weigerte sich entschieden und schroff .
Ihre Mutter sprach von den Pflichten einer Tochter , von den Pflichten der Eltern und zog viele junge Mädchen zum Vergleich heran , die alle gut und glücklich verheiratet seien ; nur sie allein scharwenzle noch mit jungen Herren herum ; alle ihre Freundinnen hätten sich von ihr zurückgezogen ; und sie hätten auch recht daran getan : Ihre Führung entspräche nicht der einer Tochter aus guter Familie :
" Worauf in aller Welt bildest du dir eigentlich so viel ein ?
Bist du etwa was Besonderes ? Dir ist da etwas angeflogen gekommen , Gott weiß woher , und nun trittst du auf wie eine Komtesse .
Alles ist dir nicht gut genug , wenn wir dir etwas sagen , so hörst du nicht einmal zu , sitzt geistesabwesend dabei oder lachst vielleicht noch hinter unserem Rücken über uns - wer kann das wissen - ; und nun wartest du , daß da irgendein Prinz ankommen soll , um dich zu heiraten .
Ein guter , ehrlicher , einfacher Mann ist dir zu schlecht ! "
" Ich warte auf gar keinen ! " sagte Liesel sehr kurz ; " ich will überhaupt nicht heiraten ; aber so einen Schullehrer , den würde ich am wenigsten nehmen ! " -
Jetzt kam ihr Vater mit großen Schritten auf sie zu und nahm sie sehr unsanft beim Handgelenk :
" Du dumme Gans !
Du alberne dumme Gans :
Was verstehst denn du vom Leben ?
Hat deine Mutter mich nicht geheiratet , und war ich etwas anderes als ein Schullehrer ?
Nun sage mir bloß Mal : Was für ein Bild machst du dir eigentlich von deiner Zukunft ?
Irgendein Bild mußt du dir doch machen !
Du lebst doch nicht wie das Vieh oder wie die Lilien auf dem Felde , die der liebe Gott kleidet !
Irgendein Bild mußt du dir doch machen !
Daß dies Promenieren , das Eislaufen und der übrige Kram nicht ewig dauern kann , das wirst du dir doch an den fünf Fingern abzählen können !
Und wenn du nicht das geringste Ernsthafte in deinem Wesen hast , so werden deine sogenannten Verehrer auch endlich deiner müde werden .
Was finden sie denn eigentlich an dir ?
Ich weiß überhaupt nicht , was ein Mann an dir besonders finden kann .
Über was redet ihr denn immer zusammen ?
Sage mir bloß Mal , über was redet ihr eigentlich immer zusammen ? "
- Liesel war schon längst ungeduldig geworden .
" Papa , das verstehst du doch nicht ! "
- " Verstehst du doch nicht !
Natürlich !
Die übliche Antwort !
Ich möchte wissen , was dabei groß zu verstehen ist .
Jetzt will ich dir eines sagen : Entweder , du heiratest Peter Michel , oder wenn du das nicht willst - gut , dann müssen wir dich anderswie beschäftigen .
Dann stecken wir dich in eine Nähschule , oder du wirst Erzieherin oder sonstwas .
Es gibt da noch genügend Auswege .
Aber das sage ich dir : Irgend etwas geschieht ! "
- " Ich gehe nie in eine Nähschule ! " sagte Liesel kurz .
" Eher laufe ich euch davon . "
- " So !
Aha !
Ist ja reizend !
Davonlaufen will sie uns .
Ich möchte Mal wissen , wohin , und wovon du da leben willst !
Du hast ja nichts und bist ja nichts !
Zu wem willst du denn laufen ? "
- " Zu irgendeinem von meinen Freunden " , sagte sie sehr schnell , wie hingeworfen , ohne ihre Eltern anzusehen .
- Große Pause .
- " Also so weit ist es gekommen ! " sagte ihre Mutter mit trauriger Stimme .
" So weit , daß sie nicht davor zurückschrecken würde , etwas Unehrenhaftes zu tun .
Liesel , Liesel ; du befindest dich auf einem gefährlichen Wege :
Von dort ist nur noch ein Schritt , und du - " sie brach ab und vergrub das Gesicht in ihren Händen .
- " Aber dann bist du unser Kind nicht mehr ! " donnerte ihr Vater , " dann bist du verstoßen von uns für immer und ewig . " - Liesel war doch ein wenig erschreckt .
Gereizt durch die Reden ihrer Eltern , war sie bereits auf dem Punkt gewesen , Dinge zu sagen , die eine Katastrophe herbeigeführt haben würden .
Jetzt hielt sie an sich und schwieg .
Es schien ihr plötzlich nicht mehr so sicher , daß ihr Vater sie schon nach acht Tagen zurückholen würde , und dann hätte sie doch zu einem ihrer Freunde gehen müssen ; und wenn der sie dann satt bekommen hätte - ihr Stolz sträubte sich dagegen .
- " Gut ! " sagte sie nach einiger Überlegung , " dann gehe ich noch lieber in eine Nähschule ! " und dachte :
Das ist noch lange hin .
Jetzt trat Peter ins Zimmer ; er sah ohne weiteres , was da besprochen wurde , und wollte sich zurückziehen .
Aber der Kantor hielt ihn fest und sagte : " Du kannst ruhig dableiben , Peter .
Was hier geredet wird , geht dich gerade so an wie Liesel .
Also , um es gleich herauszusagen : Sie will dich nicht ! " -
Peter stand wie mit heißem Wasser übergossen .
- " Ich habe meine Sachen schon gepackt " , sagte er dumpf .
" Liesel , du weißt , was du tust ! "
Er sah ihr ins Gesicht , mit einem Blick , den nur sie verstehen konnte .
Doch sie erwiderte ihn mit einem sorglosen Lächeln .
9. Kapitel Peter reiste nach diesen Erlebnissen unverzüglich nach seiner Heimat .
Er hätte sich unterwegs noch umsehen können , aber es fehlte die Stimmung hierzu ; nach Hause zog es ihn allerdings ebensowenig .
Doch sehnte er sich nach Ruhe ; und die hoffte er dort zu finden .
Seine Mutter war alt geworden ; ihre Kräfte nahezu erschöpft .
- " Deinem Vater , ich muß es dir sagen , Peter , so schwer es mir wird , geht es jetzt sehr , sehr schlimm ; und das hat eine schreckliche Ursache .
Tante Olga hat ihm kürzlich mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen , nicht um ihn zu töten , sondern um ihn munter zu machen , wie sie später sagte .
Das hat dem armen Mann natürlich für immer geschadet .
Es ist zum Herzzerbrechen , seine stummen Blicke anzusehen , und ich mache mir Tag und Nacht Vorwürfe , daß ich oft so heftig gegen ihn war .
Tante Olga ist sogleich in das Irrenhaus geschickt .
Es hielt schwer , sie dort hineinzubringen .
Doch fühlt sie sich jetzt da sehr glücklich ! "
Peter sah seinen Vater :
Er saß hinter dem Ofen , nickte mit dem Kopfe und machte Bewegungen wie ein Schuster bei der Arbeit .
Er strich nun ganze Tage allein durch die Felder , legte sich ins Korn und wünschte , er könne immer so liegenbleiben .
An die Erlebnisse der letzten Zeit dachte er mit einer inneren Stumpfheit .
" Peter ! " sagte eines Tages seine Mutter .
" Mit Besorgnis denke ich an die Zukunft .
Deine Tante sitzt im Irrenhaus und muß von uns erhalten werden , dein Vater ist unfähig , Geld zu verdienen - wir müssen ihn ebenfalls erhalten - , und es ist gar nicht abzusehen , was es einmal für ein Ende mit ihm nimmt .
Du selbst hast dein kleines Einkommen , mit dem du eben knapp genug auskommst .
Wir alle leiden am Nötigsten , am Geld !
Ich habe mir seit langem überlegt , wie wir uns das Leben leichter und erträglicher machen könnten , und ich kam jedesmal zu dem Resultat :
» Peter muß eine gute Heirat machen . «
Sieh , mein Sohn - glaube nicht , daß ich dich irgendwie bestimmen will , verbrannte Kinder scheuen das Feuer ! - , aber hinleiten möchte ich dich doch wenigstens darauf .
Deine Liesel will dich nicht , das haben wir nun gesehen - und ich kann wohl sagen , und du wirst mir beistimmen : » Gott sei Dank ! «
Ich meine , das beste ist , du siehst dich hier bei uns ein wenig um .
Es sind unter uns manche wohlhabende Leute mit netten Töchtern .
Es kann dir nicht schwer werden , zu gefallen : Du bist Lehrer an einer hohen Anstalt ; wie manche Eltern wären froh , einem solchen ihre Tochter zu geben !
Jeder Mensch hat das Streben nach Bildung , nach etwas Höherem .
Hier draußen auf dem Lande ist man sozusagen entfernt von den Städten , vom Luxus und von Raffinements und wie die Fremdwörter alle heißen .
Die Mädchen sind hier einfach und anspruchslos geblieben .
Nächste Woche ist bei Schulzen Hochzeit ; da mache ich dich einmal etwas beliebt bei den jungen Mädchen !
Wie ich deinen Vater heiratete - " , aber Peter fiel ihr ins Wort , ungeduldig und nervös , wie es sonst nicht seine Art war .
" Ich kann ja hingehen ! " sagte er , " wenn mir eine gefällt und sie mich will , so kann ich sie ja nehmen ! " -
Er dachte gar nicht an die Möglichkeit und antwortete seiner Mutter nur , um die Unterhaltung zu beenden .
Und es kam genau , wie er vermutet hatte :
Er fand die Mädchen bäurisch und abscheulich und benahm sich so unhöflich , fast hochmütig , daß man ihn allgemein für einen eingebildeten Menschen erklärte und ihm dies auch ins Gesicht sagte .
Er wiederum , dem die Erinnerung an die schlanke Liesel , an die schimmernde Ottilie in der Seele stand , erwiderte ihre Grobheiten durch ausfallende Redensarten , welche durchblicken ließen , er sei andere Damen gewöhnt als diese hier .
Da fielen die Brüder der Beleidigten über ihn her , es entspann sich eine regelrechte Keilerei , bei der Peter den kürzeren zog und hinausgeworfen wurde .
Frau Michel aber verfiel in einen Weinkrampf .
Am nächsten Morgen packte Peter seine Sachen und reiste ab .
In einer letzten Unterredung sagte er zu seiner Mutter , nun sei alles aus , und er werde nie zurückkehren .
Sie schalt ihn in den härtesten Ausdrücken , nannte ihn feige , herz- und ehrlos .
Dabei erhöhte sie ihre Stimme in einem Maße , daß ihr Mann , der von dem Vorgang nichts begriff , mit den Armen heftig schusterte .
- " Sieh diesen hier ! " rief sie und zog ihren Sohn zu ihm hin ; " und sage mir noch einmal , was du gesagt hast ! "
Peter starrte mit Widerwillen auf seinen Vater : Dieser alte , blödsinnige Mann mit den verfallenen Zügen hatte nichts mehr gemeinsam mit dem Bilde , das er aus seiner Kindheit von ihm in sich trug .
" Sieh auf ihn hin ! " rief Frau Michel und zerrte ihn aufs neue . -
Er machte sich heftig los von ihr : " Hättest du ihn besser behandelt , so wäre es nie so weit mit ihm gekommen ! " stieß er fast zornig hervor .
- " Ich ihn schlecht behandelt ! " rief sie ächzend ; " ich ihn schlecht behandelt !
Peter , du bist nicht allein herzlos und undankbar : Du bist dumm ! "
Peter hatte jene Worte ohne Überlegung gesprochen ; er suchte nach einem Ausweg für seinen Ärger über diesen Auftritt und für das irritierende Gefühl seinem Vater gegenüber .
Aber ihr letztes Wort traf ihn doch , und nun blieb er bei seiner Behauptung :
Es fiel ihm ein , daß seine Mutter ihm ja selbst gesagt hatte , sie habe ihren Mann nie recht verstanden , und sie klage sich ihrer Härte wegen an .
Dies warf er ihr nun ins Gesicht .
- Hierauf war Frau Michel nicht gefaßt gewesen : Sie sprang auf und kam ihrem Sohne mit geballten Fäusten entgegen :
" Rabenkind ! " rief sie ; " Rabenkind !
Mir so die Worte zu verdrehen , nur damit du recht behältst , einerlei , ob du damit Schande über mich ausgießt !
Stelle dich hierher ; hierher !! "
Sie deutete mit steifem Finger dicht vor sich .
Er näherte sich zögernd .
" Sieh mir in die Augen .
So .
Jetzt sage mir : Wodurch ist dein Vater in das Unglück gekommen ? "
Peter schwieg .
" Antworte ! " schrie sie .
- " Weil - weil Tante Olga ihn mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen hat . "
- " So .
Und das wußtest du , und wirfst mir die Schuld an dem Unglück vor ? " -
Ehe Peter noch etwas weiteres denken konnte , fühlte er einen lauten Knall an seiner Backe .
- " Nun marsch !
Packe dich auf dein Zimmer und reise ab .
Und das sage ich dir :
Von heute ab wohnt dein Vater nicht mehr bei mir .
Er kommt in dieselbe Anstalt , wo Tante Olga ist .
Du sollst mir nicht die Schuld vorwerfen können , wenn er stirbt .
Dort mag er sich dann wohler fühlen als hier bei mir " - sie drehte sich zornig nach ihrem Manne um , der lautlos die Arme auseinanderwarf und wieder schloß , in fortwährendem Wechsel .
- Peter schlich hinaus , blieb auf dem kleinen Vorplatz stehen und trat endlich in den Garten .
Nun ist alles aus , dachte er .
Dann ging er wieder ein paar Schritte und pflückte endlich eine Rose , die er ins Knopfloch steckte .
Nun ist alles aus , dachte er noch einmal .
Und dann wurde er dunkelrot und überlegte , daß er ein erwachsener Mensch sei und daß seine Mutter nicht das Recht habe , ihn zu schlagen .
Aber adieu sage ich ihr nicht ! -
Und als Frau Michel eine Stunde später unruhig in sein Zimmer trat , war es leer und seine Sachen fort .
Da legte sie sich auf sein Bett und weinte .
Sie klagte sich an , zu heftig gegen ihr Kind gewesen zu sein , sie würde es nie wiedersehen , die Leute würden mit Fingern auf sie zeigen , man würde ihr die Schuld an dem Unglück ihres Mannes beimessen .
Wie war denn Peter darauf gekommen , das so ganz selbstverständlich zu sagen , wenn es nicht auch andere behaupteten ?
Hatte sie es ihm nicht selbst gesagt ?
Hatte sie am Ende wirklich die Schuld ?
Diese Frage peinigte sie nun Tag und Nacht .
Das Zusammenleben mit ihrem Manne fing an , sie zu bedrücken , und schließlich nahm es fast grauenhafte Formen an .
Dies begann eines Abends , als sie im Dunklen heimkehrte und die Lampe anzündete .
Da starrten seine Augen in der plötzlichen Helligkeit so seltsam fremd zu ihr hinüber , daß sie unwillkürlich einen Schrei ausstieß ; und sie gebrauchte eine Zeit , sich frei zu machen von einer ihr selbst unklaren Angst und Unruhe .
- Die Absicht , ihn in ein Irrenhaus zu geben , hatte sie nie ernstlich gehabt .
Solange sie selbst am Leben war , sollte er nur von ihr gepflegt werden .
Seine lautlosen , phantastischen Armbewegungen stellte er mit der Zeit gänzlich ein , und von nun ab saß er regungslos wie ein Toter .
Aber seine Augen blickten sie so unheimlich-rätselhaft-scheintot an , daß sie es vermied , ihn anzusehen .
Am Tage ertrug sie diesen Zustand eher , aber des Abends machte sie es so ruhelos , daß sie es schließlich nicht mehr aushielt und fortan bei Einbruch der Dämmerung das Nachbarzimmer bezog .
Aber auch dieses ging nicht auf die Dauer .
Denn das Zimmer nebenan , in dem ihr Mann in der Dunkelheit saß , erschien ihr wie eine Totenkammer , es kostete sie jedesmal eine Überwindung hineinzugehen , und wenn sie dann eintrat , so sah sie ihn dort aufgerichtet , starr , den geraden Blick genau auf sie geheftet .
Und solche Momente dünkten sie noch schrecklicher als ein dauerndes Beisammensein .
Was wollten seine Blicke ?
Waren sie tot , oder lag in ihnen etwas , dem er sonst keinen Ausdruck zu geben vermochte ?
Waren sie eine fortwährende stumme Anklage ?
Daß sie ihn ins Unglück getrieben hatte , daß sie ihm den Sohn geraubt ? -
Zuweilen warf sie einen Gegenstand laut in eine Ecke , nur um seine Augen von sich abzuziehen ; und er wandte den Kopf langsam von ihr fort .
Dann blickte sie verstohlen von ihrer Arbeit auf , und er saß noch immer in derselben abgewandten Stellung ; darauf sah sie abermals auf ihre Arbeit nieder , bis sie fühlte , wie seine Augen wieder auf ihr ruhten .
Dann wiederholte sie die Sache mit derselben Wirkung .
Aber das Mittel erschöpfte sich , und sie mußte sich nach einer anderen Ableitung umsehen .
Sie gab ihm Nadel und Zwirn in die Hand und ein großes Tuch , und das durchnähte er nun vollkommen .
Aber auch dieses war nichts für die Dauer .
- Schließlich verfiel sie auf ein Mittel , seine Blicke von sich abzuwenden , das ihr anfangs grausam erschien , indem es ihre Angst verminderte und den Kranken nicht zu beruhigen schien : Sie verband ihm beide Augen mit einem großen , grauen Tuche , das sie ihm nur am Tage abnahm .
- Hundertmal fragte sie sich , zu welchem Zwecke sie ihren Mann täglich an- und auskleide .
Jede körperliche Berührung mit diesem Schein-Lebendigen war ihr allmählich wie die mit einem Toten geworden , und wenn sie so an ihm beschäftigt war und er sie mit seinen seltsam schwimmenden Augen anblickte und jede , auch die kleinste Bewegung bei äußerlicher Teilnahmslosigkeit und Stumpfheit zu bemerken schien , da überkam sie stets ein Grauen ; ihr war , als ob ein fremdes Wesen in dem toten Körper ihres Mannes wohne , ein ferner , drohender Dämon , der jeden Augenblick hervorbrechen könne .
So saß sie auch eines Abends wieder bei ihrer Arbeit und dachte ihres fernen Sohnes , von dem sie seit seiner Abreise nichts vernommen .
Bald nach jenem Auftritte hatte sie ihr Herz der alten Freundin , der Schulzenfrau , ausgeschüttet , und diese hatte ihr mit vielen Gründen klargemacht , daß es eine Erniedrigung für sie sei , dem Sohne die Hand zu reichen .
Es sei an ihm , den ersten Schritt zu tun .
Jetzt sehnte sie sich nach ihm .
Könnte sie doch alles ungeschehen machen !
Wie oft hatte sie sich ausgemalt , nach dem Tode ihres Mannes zu ihm zu ziehen , das einzige , was sie auf der Welt noch hatte !
Und nun war sie für unabsehbare Zeit gebunden an das Leben dieses Toten , mit dem sie Wohnung und Lager teilen mußte ! -
Fast unwillkürlich blickte sie auf , im selben Augenblick aber stieß sie einen Schrei aus , denn seine Augen ruhten voll und schrecklich in den ihren .
Die Binde war ihm von der Stirn gefallen und bedeckte Mund und Kiefer .
Sie wich zur Tür zurück :
" Was willst du von mir ? " rief sie zitternd .
Aber er blieb regungslos , sein stiller Blick schien durch sie hindurchzugehen .
Im nächsten Augenblick hatte sie die Tür aufgerissen , und dann war sie draußen .
Dort stand sie eine ganze Weile , vereist vor Schrecken .
Sie horchte .
- Totenstille . -
Ob er sie wohl durch das Holz anblickte ?
Vorsichtig und langsam zog sie sich von der Tür zurück .
Jetzt schlich sie auf den Zehn die Treppe hinunter , klopfte drüben am Schulzenhaus und bat ihre Freundin , etwas zu ihr hinüberzukommen , es sei heute abend gar so einsam .
Diese ließ sich nicht lange bitten .
Vor der Zimmertür hielt Frau Michel einen Augenblick inne , dann öffnete sie und ließ die Schulzenfrau zuerst eintreten .
- " Was hat dein Mann denn für einen Maulkorb um ? " fragte sie sogleich .
" Ja , er hat manchmal sonderbare Einfälle ! " erwiderte Frau Michel mit gezwungenem Lachen , indem sie langsam auf ihren Gatten zutrat , ihm das Tuch abnahm und sich wunderte , wie leicht ihr das wurde .
Sie machte sich nun viel an ihm zu schaffen , legte ihm ein Kissen unter den Kopf , faltete ihm die Hände oder wischte ihm den Mund ab .
Als sie dann wieder mit ihm allein war , brachte sie ihn zu Bett und legte sich erschöpft und matt aufs Lager .
Seine Atemzüge waren gleichmäßig und ruhig ; anfangs blinzelte sie durch das Dunkel zu ihm hinüber ; aber er regte sich nicht , und da sie sein Profil sah , wußte sie , daß er sie nicht anblicken konnte .
Als ihr dann sein Schnarchen verkündete , daß er eingeschlafen war , da war ihre Ruhe völlig wiedergekehrt , und sie selbst würde Schlaf gefunden haben , hätte sie ihre Selbstvorwürfe beseitigen können .
Doch verließ sie der Gedanke nicht mehr , daß sie an dem Unglück ihres Mannes schuld sei .
Das untergrub ihre Gesundheit und allmählich auch ihren Geist .
Sie hatte schlaflose Nächte und ruhelose Tage und wünschte sich oft den Tod .
Nur der Gedanke , daß ihr Mann sie brauchte und daß sie durch aufopfernde Pflege etwas von dem , was sie verschuldet , wiedergutmachen könne , hielt sie aufrecht .
Peter war inzwischen an sein Gymnasium zurückgekehrt .
Er sah Frau Ottilie in demselben hellgestreiften Sommerkleide wie damals , als sie ihm über die goldige Höhe entgegenschritt .
Sie stand im Garten , hob und senkte den Oberkörper und warf in Pausen die Arme leicht nach vorwärts , die ein dunkles Paket im flachen Bogen bald zu empfangen , bald von sich fortzuschleudern schienen .
Als er näher kam , sah er , daß es eine Schaukel war , und in der Schaukel saß der Maxel , ihr ältestes , jüngstes und einziges Kind .
Wie sie ihn gewahr wurde , ließ sie die Schaukel fahren und trat an das Gitter .
" Nun , Herr Michel " , rief sie in aufrichtiger Freude , " sind Sie endlich wieder hier ?
Wie ist es Ihnen gegangen ? " fügte sie leise hinzu , indem sie ihm die Hand entgegenstreckte .
- Wie stand sie dort , hochgewachsen , voll , mit runden Schultern und gewölbtem Busen !
Ihr Gesicht schien eine einzige Harmonie , ihre Stirn spannte sich breit und eben , ihre Augen blickten voll und klar unter den frauenhaften Brauen , ihr Mund wölbte sich reif und blühend , und die Farbe ihrer Haut war von der Schönheit einer Frucht , durchglüht von einem sanften Rot , überschimmert von einem samtweichen Schmelz .
- " Nun ? " fragte sie . -
Und er hatte sich vorgenommen , so fest und männlich vor sie hinzutreten und ihre Fragen mit einigen Worten abzutun , und jetzt stand er da und fand nicht ein einziges !
- " Meine Mutter läßt Sie grüßen " , sagte er endlich .
Sie sah ihn überrascht an .
Im Augenblicke hatte sie begriffen , daß alles anders gekommen war , als sie gehofft hatte ; aber sie fühlte , daß hier nicht der richtige Moment war , darüber zu reden , deshalb lud sie ihn für einen Abend ein . -
Als Peter allein war , ärgerte er sich .
Wie dumm hatte er sich wieder benommen !
Sie hatte ihn so angeschaut , als sei ihr nichts von seinem Inneren verborgen , und das verletzte sein Selbstgefühl .
Hatte er denn nicht etwa ein großes Erlebnis hinter sich ?
Wenn er ihr nun das einmal mit klaren Worten erzählte , würde sie ihn dann noch so ansehen ? -
Und jene Szene mit der Mutter :
War er nicht höchst männlich abgereist ?!
- " Ich gehe nicht hin ! " sagte er entschlossen .
Aber als der Abend kam , da ging er doch , und als er das Haus wieder verließ , da war er ebenso gefangen von Frau Ottilie wie jemals .
Über seine Erlebnisse hatte er nur das Notdürftigste mitgeteilt , den Mißerfolg beim Liesel und den Plan seiner Mutter , ihn zu verheiraten :
Da sei er aber nicht drauf eingegangen !
Ihr entging nicht , daß irgend etwas zwischen ihn und sie selbst getreten war .
" Sind Sie nun sehr traurig ? " fragte sie .
- " O nein , im Gegenteil . "
Im selben Augenblick , wo er dieses halb in Trotz , halb in Verlegenheit sagte , fühlte er sich plötzlich ganz verlassen .
Hier verleugnete er seine Liebe , und dort wies er sie von sich . -
Er ist doch noch recht jung ! dachte Frau Ottilie , aber sie hatte ihn nur um so lieber .
Allmählich kehrte bei Peter die alte Natürlichkeit wieder ; er interessierte sich für die neuen Strümpfe , die sie dem Maxel strickte , und bewunderte eine kleine Bleistiftzeichnung , die er entdeckte und die den Maxel als ganz kleines Kind darstellte .
Sein dicker Kopf mit den geschlossenen Augen hob sich etwas mohrenhaft aus den weißen Kopfkissen und Decken .
" Das war damals , als ich noch so jung war ! " sagte sie .
" Ich hatte erst gerade angefangen mit Zeichnen . "
- Sie holte vom Schreibtisch ihres Mannes ein anderes Bildchen , das in Öl gemalt war und den Maxel in seinem jetzigen Zustand darstellte .
" Das ist schon viel besser ! " sagte sie und hielt es prüfend in Armeslänge von sich .
- " Haben Sie denn diese Bilder gemalt ? " fragte Peter ganz erstaunt .
" Ja , natürlich ! " antwortete sie .
" Ist das so etwas Sonderbares ? "
Peter sah sie beinahe bestürzt an .
Es war das erstemal in seinem Leben , daß er mit jemand zusammentraf , der malen konnte , richtig malen .
Früher hatte er bei einem Bilde nie weiter darüber nachgedacht , wie es entstanden sei , und ein Maler war ihm so unerreichbar wie der liebe Gott , der die Blumen schafft .
- " Können Sie mich auch einmal malen ? " sagte er endlich und fand seine Frage eigentlich zu kühn .
- " Gewiß !
Wenn Sie Zeit haben und mir sitzen wollen , will ich Sie gerne malen ; aber es dauert ziemlich lange ! "
- Und so wurde Peter wirklich gemalt .
Täglich wanderte er auf eine Stunde hinüber in das Rektorhaus , wo Frau Ottilie im oberen Stockwerk ein kleines Stübchen hatte , das ein wenig wie ein Atelier eingerichtet war .
Zunächst machte sie einige Bleistiftskizzen von ihm , die sie ihm sämtlich verehrte , da er sie darum bat , als er sah , wie sie sie vernichten wollte , und die er sich nun alle in sein Zimmer nagelte .
Und dann wurde er gemalt - regelrecht gemalt , und er sah von Tag zu Tag mit Staunen , wie das Bild mehr und mehr seine Züge annahm .
Nur eines hätte er anders gewollt : die Art der Farben .
Sie malte ihn in Pastell , während er fand , daß ein " richtiges " Bild in Öl gemalt sein müsse .
Aber sie sagte , jene andere Art eigene sich besser für seinen Kopf .
Dagegen durfte er nichts einwenden .
Und es war ihm ein erhebender Gedanke , daß er sich besser für Pastell eigene .
Sie hatte seinen etwas breiten Kopf genau von vorn genommen .
Seine Augen blickten , ohne auf einen festen Gegenstand zu schauen , wie aus einer Dämmerung in die Weite , sein Mund war geschlossen und gab dem Gesichte eine halb resignierte , halb trotzige Festigkeit , die nicht recht übereinstimmte mit dem verlorenen Ausdruck seiner Augen und dem weichen , etwas auf die rechte Schläfe herabfallenden braunblonden Haar .
Seine Stirn war breit und schollenstark wie die seines Großvaters .
Zu ihr paßten auch die nicht fein geformten Ohren , die in Wirklichkeit etwas weiter vom Kopfe abstanden als auf dem Bilde .
Die Nase war Frau Ottilie nicht ganz gelungen .
Sie war für sie der technisch schwierigste Teil des Bildes , weil hier Form und Verkürzung einen so heftigen Streit miteinander führten .
Und Peters Nase war so merkwürdig !
Oft schien sie breit , oft schmal .
Immer wieder änderte sie , verbesserte sie an ihr und vertiefte sich so gänzlich in ihr Studium , daß sie darüber den ganzen Peter vergaß .
Einmal warf sie die Kreide mit einem " Kreuzdonnerwetter " in die Ecke und sah dann ganz erschrocken auf ihn , der sie nicht minder erschrocken anblickte .
- " Papa war noch viel ärger ! " sagte sie lächelnd ; " wenn ihm etwas nicht gelang , so riß er zuweilen das ganze Bild mittendurch .
Sehen Sie , so " :
Sie nahm die Pappe von der Staffelei und schob die Kanten zwischen die beiden inneren Flächen ihrer Hände , als wollte sie sie zusammenbiegen .
Mit lautem Krach war Peter von seinem erhöhten Sitz herabgesprungen , auf sie zugestürzt und hatte ihr den Karton aus der Hand gerissen .
" Um Gottes Willen ! " rief er .
" Das dürfen Sie nicht ! "
- Es kostete viel Mühe , ihm begreiflich zu machen , daß sie es ja nur im Scherz gemeint habe .
Er wollte ihr das Bild gar nicht wiedergeben , er wollte es so , wie es war , mit nach Hause nehmen und es ihr aus sicherer Entfernung abkaufen .
- " Sie sind ja schlimmer als ich ! " entgegnete sie lachend .
" Sehen Sie , da haben Sie den ganzen Peter Michel auf Ihrer Weste ! "
Er hatte das Bild in der Aufregung gegen seine Brust gedrückt und war nun voller Farbenspuren .
Aber es zeigte sich , daß doch nicht so viel verdorben war , als er befürchtete .
- Die Nase wurde nun , so gut es ging , vollendet .
Peter saß regungslos und blickte unverwandt auf Frau Ottilie .
Diese hob und senkte langsam den schönen Kopf , wieder in ihre Arbeit vertieft .
Endlich legte sie die Kreide mit einem Seufzer hin :
" So .
Besser kann ich es nun nicht machen .
Kommen Sie morgen noch einmal und übermorgen , da wollen wir das Ganze überarbeiten . "
Er wußte nicht , was sie damit meinte , und sie erklärte es ihm , indem sie zum Vergleich die Musik heranzog ; wie man zum guten Vortrag viele Übung nötig habe , aber wenn man vor das Publikum träte , so dürfe man diese mühsame Arbeit nicht mehr bemerken ; und so sei es auch mit ihrem Bilde , das noch zuviel Fingerübung enthalte und die Verbindung des einen mit dem anderen noch vermissen ließe .
- So kam der letzte Tag heran ; das Bild wurde vollendet , und die schönen Stunden hatten ein Ende .
Als sie ihr Werk noch einmal halb zufrieden , halb unzufrieden mit dem Originale verglich , da bemerkte sie plötzlich , daß sie einen großen Fehler gemacht hatte :
Das linke Auge hatte sie um eine Linie höher gesetzt als das rechte , während bei Peter in Wirklichkeit das Umgekehrte der Fall war .
Sie starrte ihn ganz erschrocken an .
Peter trat vor das Bild , fand alles in schönster Ordnung und die Ähnlichkeit vollkommen .
- " Sie haben gut reden " , sagte sie .
" Wenn Sie sich in dem Spiegel sehen , dann sehen Sie natürlich die Stellung ihrer Augen wie auf meinem Bilde .
Aber in Wirklichkeit ist es anders .
Ach Gott , das ist zu fatal !
Soll ich nun noch einmal die ganze Geschichte ändern ? "
Aber Peter beschwor sie , alles zu lassen , wie es war .
Und sie ließ es wirklich .
" Vater würde mich schelten " , sagte sie .
- " Ich denke , der zerriß immer alles ? " fragte Peter , einen Teekuchen kauend , wieder von seinem erhöhten Sitz herab mit runden Augen zu ihr hinübersehend .
- " O nein " , sagte sie schnell und berichtigend .
" Das tat er nur manchmal , wenn er in schlechter Stimmung war .
Peter , Sie sitzen da oben wie ein Pascha ! "
Er errötete über und über .
Es war das erstemal , daß sie ihn beim Vornamen nannte . -
Dies war ihr ganz ohne Absicht entschlüpft ; sie merkte es erst an seiner plötzlichen Verlegenheit . -
Er war doch eigentlich wie eine Art jüngerer Bruder ; sie empfand die Anrede ganz natürlich .
Andererseits aber sagte sie sich sofort , daß sie sie aus Rücksicht auf ihren Mann und ihre Stellung nicht einführen dürfe .
- " So .
Was machen wir nun mit dem Bilde ? " fragte sie , indem sie es aufnahm und in eine andere Beleuchtung gegen die Wand lehnte .
" Wollen wir es einrahmen und ins Lehrerzimmer hängen ? "
Peter nahm diesen Spaß für Ernst und protestierte entrüstet dagegen .
- " Ja , wem wollen wir es dann geben ?
Abkaufen sollen Sie es mir nicht ; eher schenke ich es Ihnen ; aber ich möchte es am liebsten behalten ; ich glaube , es ist meine beste Arbeit . "
Dann blickte sie wieder auf das Bild und rief plötzlich :
" Nein , es ist doch schlecht .
Da , nehmen Sie es ! "
Peter stand ganz verblüfft über diese Wendung , aber sie schob ihm das Bild auf den Arm .
- " Das nächste Mal Male ich Sie besser , das sollen Sie schon sehen !
Aber das Bild bekommen Sie dann nicht ! "
- " Wann ? " fragte er .
- " Wann ich Sie wieder Male ?
Ja , das weiß ich jetzt noch nicht .
Aber gemalt werden Sie sicher noch einmal von mir ! " -
Peter zog mit dem Bilde ab und genoß für einige Minuten das Vergnügen , daß Leute , welche ihn nicht kannten , ihn für einen Maler hielten und ihm nachsahen .
So floß die Zeit dahin .
Mit seiner Mutter versöhnte er sich wieder ; und zwar war sie es , die den Anfang machte .
Er hatte oft den Wunsch gehabt , ihr zu schreiben , aber jedesmal überlegte er sich , daß er es nicht dürfe .
Damals hatte er eine Ohrfeige bekommen und war ausgewiesen ; wenn sie ihn jetzt wieder haben wollte , so mußte sie ihm schreiben .
Und so geschah es eines Tages .
Sie bat ihn förmlich um Verzeihung .
Ihre Schriftzüge waren matt und unsicher , an einzelnen Stellen aufgeregt und herausfahrend aus dem Zusammenhäng .
Da erfuhr er denn das ganze Elend , das sie zu Hause durchmachte .
Er schrieb sofort einen langen Brief zurück , in dem er das Vergangene ganz flüchtig berührte und das Gegenwärtige eingehend besprach .
Insbesondere erörterte er die Frage , ob es denn nicht anginge , seinen Vater in die Anstalt zu schicken .
Er würde sehen , noch mehr Privatstunden zu bekommen und ihr mehr Geld zu schicken als gewöhnlich .
Vielleicht würde man ihnen die Kosten auch billiger berechnen , da ja bereits Tante Olga dort sei . -
So geschah es denn eines Tages wirklich , daß sein Vater in die Anstalt überführt wurde .
Frau Michel fühlte ihre Kräfte nicht mehr der Aufgabe gewachsen , ihren Mann zu pflegen . Ihres Sohnes Brief und die dringenden Bitten ihrer Bekannten gaben endlich den Ausschlag .
Herr Michel war im Laufe der Zeit sehr dick und aufgeschwemmt geworden und ließ sich nur mit Mühe vom Fleck bewegen .
Seine Frau leitete selbst die Überführung .
Am letzten Tage kamen noch einmal sämtliche Freunde des Hauses , alle in schwarzen Röcken , und nahmen Abschied .
Frau Michel hatte ein kleines Essen veranstaltet , bei dem man in stillschweigender Übereinkunft ihrem Mann den Ehrenplatz zuwies .
Rechts und links von ihm prangte ein großer Blumenstrauß .
Sie saß an seiner Seite und schnitt ihm das Essen vor , das sie ihm mit den Fingern in den Mund schob .
Dann erhob sich der Schulze und hielt eine kleine Rede , die er weniger an Herrn Michel als an dessen Frau richtete und die auch von ihr erwidert wurde .
Hierauf verneigte man sich in einem Trunke auf das Wohl des Hausherrn , der die Heimat verließ - vielleicht um nimmer wiederzukehren .
Alle hatten sich erhoben ; nur Herr Michel saß am Tische .
Seine Frau füllte ein Glas mit Wein und gab ihm dies in die Hand .
Das hielt er nun halb ausgestreckt wie ein Leuchterarm , gravitätisch ins Leere starrend .
Man stieß rechts und links mit ihm an , so zart und leise , daß er keinen Tropfen verschüttete .
Dann traten die Herren einer nach dem anderen zu ihm hin , drückten ihm die Hand - der Pastor segnete ihn ein letztes Mal - und verließen still das Haus .
Der Wagen hielt bereits , Herr Michel wurde halb hineingeschoben ; halb getragen , seine Frau stieg ein , und fort ging es , zum Dorfe hinaus .
Die Herren in den schwarzen Röcken sahen ihnen noch nach , bis sie hinter der großen grauen Kirchhofsmauer verschwanden .
Bald darauf erhielt Peter von seiner Mutter einen Brief :
Es sei nun alles überstanden , sein Vater wäre in der Anstalt .
Er habe nicht einmal bedacht , daß sie ihm Lebewohl gesagt und zum Herzbrechen geweint habe ; sie glaube , er würde gar nicht merken , daß er unter fremden Leuten sei .
Sie habe bei der Gelegenheit auch Tante Olga sehen wollen , aber der Doktor habe ihr davon abgeraten , weil sie durch die letzten Erlebnisse mit ihrem Mann zu angegriffen sei und dieses Wiedersehen einen neuen Nervenschlag für sie bedeute .
So habe sie denn nur durch einen Türspalt in den Saal hineingesehen , und sie habe ihre Schwägerin erblickt , umgeben von einem Kreis von Frauen mit stieren Augen , denen sie irgend etwas auseinandersetzte .
Da habe die Tante einen langen Hals gemacht , und da habe die ganze Schar nach der Tür gespäht , und da habe sie Angst bekommen und die Tür schnell zugeschlagen . -
Peter Michel war musikalisch .
Frau Ottilie entdeckte es .
Sie bestand darauf , daß er Unterricht nähme .
Anfangs sträubte er sich , da ihm der Gedanke beunruhigend war , etwas zu tun , das so auffallend war , durch das er etwas von sich selbst veräußere .
Aber es gelang ihr , seine Bedenken zu überwinden , nicht zum mindesten dadurch , daß sie ihm in Aussicht stellte , wieviel Schönes sie dann zusammen genießen könnten und wie er ihr helfen könne , neues Schönes kennenzulernen , indem er sie beim Gesange begleitete .
Und er war in einem halben Jahre wirklich so weit , daß er leichte Sachen vom Blatt abspielen , schwerere sich einlernen konnte .
Als er ihr sein erstes Stück vortrug , war er so verwirrt , daß seine Hände zitterten und seine Schläfen klopften .
Später wurde er durch Gewohnheit kühner , und schließlich konnte es vorkommen , daß er sich unaufgefordert ans Klavier setzte , um ihr etwas vorzutragen . -
Frau Ottilie hatte eine schöne , nicht sehr große und nicht sehr geschulte Stimme .
Aber sie sang mit Liebe . -
So verbrachten sie viele Monate , und Peter lernte ein tüchtiges Stück Musik kennen .
- Manchmal lud ihn der Rektor zusammen mit anderen Kollegen ein , und dann bildeten ihre Vorträge den Mittelpunkt des Abends . -
Jene Herren hatten nicht die richtige Art , mit Frau Ottilie umzugehen .
Der eine wollte mit ihr über das Erhebende in der Kunst reden , der andere über die Frage , ob das Gold oder das Eisen mehr Schaden in der Welt gestiftet habe , der dritte brachte ein Album mit seinen sämtlichen Verwandten herbei , deren Verhältnis zueinander er mit Geduld und Energie explizierte , bloß weil sie einmal gesagt hatte , sie könne sich in seiner Familie nicht durchfinden .
Ab und zu erklärte wohl auch einer der Oberlehrer , er wolle Mal seine Stimme hören lassen , trat auf das Klavier zu , hob und teilte langsam die Rockschöße , ließ sich auf den runden kleinen Stuhl nieder und begann , die nasse Zigarre aus dem Munde legend , ein deutsches Bier- und Eichenlied .
Dann blickte Frau Ottilie wohl verstohlen zu Peter hinüber , und ihn erfüllte dieses stille Einverständnis so über alle Köpfe hinweg mit einer spannenden innerlichen Freude .
Doch dann kam eine Zeit , wo er glaubte , Frau Ottilie habe keine Lust mehr an der Musik .
Sie hörte plötzlich mitten im Gesange auf , sagte , Musik sei doch im Grunde nicht die rechte Kunst , und lehnte ihren Kopf auf beide Ellbogen , die sie auf die dunkle Platte stemmte .
Da wußte er dann gar nichts zu erwidern .
Sie wurde zerstreut und blickte oft verträumt in eine Ecke , ohne daß er sie zu fragen wagte , an was sie denke .
Sie wurde weicher in dem Vortrage ihrer Lieder , die sie aber nicht mehr so häufig sang wie früher .
Es fehlte die unmittelbare Frische , die sonst ihr ganzes Wesen ausströmte .
Sie wurde in ihren Bewegungen lässiger , und es schien Peter , als ob sie auch in ihrer Kleidung nicht mehr dieselbe Sorgfalt zeige wie früher .
Eines Abends - es war mitten im Juli - fand er sie allein am Tische sitzend .
Die Fenster waren weit geöffnet , ein warmer Rosenduft schlug herein , draußen an dem schwülen Abendhimmel zuckte fernes Wetterleuchten , und ein Heimchen schrillte ununterbrochen , wie rasend , sein Nachtlied . -
Frau Ottilie trug ein Kleid , das ganz aus feinen weißen Schleiern zu bestehen schien .
Ihre Haare waren wirr , ihre Hände feucht , und in ihren heißen Augen lag es wie müdes Verdursten .
Sie erhob sich nicht , sondern reichte ihm nur die Hand .
" Sind Sie krank ? " fragte er besorgt .
Sie lächelte und schüttelte den Kopf .
- " Doch , doch ! " sagte er , indem er ihr ernst ins Gesicht schaute , " ich habe es schon lange bemerkt !
Sagen Sie es mir doch ! " setzte er treuherzig hinzu .
- " Nein , Peter " , antwortete sie - es war das zweitenmal , daß sie ihn mit Vornamen anredete - , " ich bin gewiß nicht krank .
Gehen Sie nur jetzt nach Hause , damit Sie das Gewitter nicht noch im Freien überrascht . "
- Peter stand unschlüssig , während sie ihm ihre Hand zum Abschied reichte .
Da trat der Rektor ein .
" Ah ! " sagte er , erstaunt , Peter hier zu finden :
" Herr Michel , machen Sie Mal schnell , daß Sie nach Hause kommen .
Draußen fallen schon die ersten Tropfen ! " -
Jetzt erhob sich ein Wind und trieb einen feinen Staub ins Zimmer .
Der Rektor schloß die Fenster , gegen die im nächsten Augenblick schwere Tropfen klatschten .
" Ja , nun müssen Sie doch wohl hierbleiben " , meinte er zögernd .
Aber Peter wurde plötzlich sehr tätig und dankte auf das entschiedenste .
Der Rektor drückte ihm einen Schirm in die Hand und rief ihm noch nach , er möchte trocken nach Hause kommen .
- " Hast du ihm etwa irgendwas gesagt ?
Er sah so verstört aus ! " fragte er seine Frau .
" Nein ! " sagte sie .
Dann schwieg sie einen Augenblick sinnend und setzte lächelnd hinzu :
" Übrigens hätte ich es ihm wohl sagen können . "
- " Aber Ottilie ! "
In den nächsten Tagen wurde Peter nicht mehr empfangen .
Man sagte ihm , Frau Ottilie sei krank , und nicht lange Zeit darauf verkündete der Rektor im Lehrerzimmer :
" Meine Herren , ich habe Ihnen zu vermelden , daß mein Stammbaum sich um einen Sprößling vermehrt hat und daß Sie als Kavaliere galant gegen den kleinen Sprößling zu sein haben , da er weiblichen Geschlechtes ist ! " -
Peter kam diese Nachricht gänzlich unerwartet .
Da er sich sehr von den Lehrern zurückhielt , so hatte er auch nie gehört , daß dies Ereignis seit einiger Zeit allgemein vorausgesehen war . -
Bald darauf hatte er das Glück , Ottilie sehen zu dürfen .
Die Lehrer gaben ihre Karten ab , und sie hatte ausdrücklich die Weisung gegeben , Herrn Michel , wenn er käme , vorzulassen .
Ihr Mann fand das unschicklich , zumal er ein so junger Lehrer sei und nicht einmal der älteste Professor vorgelassen war .
Aber der Arzt flüsterte ihm zu , er dürfe ihr nicht zuwider sein .
Und Peter kam an einem schönen Augustmorgen .
Die gelben Vorhänge waren heruntergelassen ; draußen glühte die Sommersonne , und drinnen herrschte gedämpftes , tiefes , goldenes Licht und eine schweigende Ruhe , die durch das ferne Summen auf dem Schulhofe noch vermehrt wurde .
Undeutlich gewahrte er sie in der dämmernden Ecke in einem großen Ruhebette , welches an den Seiten halb verhangen war .
Sie erkannte ihn sogleich und streckte ihm langsam den halb entblößten weißen Arm entgegen .
Ein feiner Dunst ihres warmen Frauenkörpers umschwebte ihn , vermischt mit dem Dufte des frischen Leinens .
Unwillkürlich führte er ihre Hand an seine Lippen .
Dann nahm er die Rosen , die er mitgebracht , und legte sie sanft in ihre Finger .
Aber die Wärterin trat sogleich hinzu und entfernte sie .
Ottilie schüttelte ein wenig den Kopf und blickte wieder auf Peter .
Dann deutete sie langsam mit den Augen von sich fort .
Peter begriff nicht , was sie meine .
Aber die Wärterin hieß ihn leise auf den Zehn gehen und führte ihn an die Wiege , in der das Neugeborene ruhte .
Sie schlug die dunkelroten Vorhänge sachte auseinander , und da lag , hoch überwölbt von dem Korbgeflecht , tief in Kissen vergraben , im rötlichgoldenen Schimmer ein ganz kleines Wesen , unbeweglich in geschlossener Ruhe .
Peter starrte es gedankenlos an und gab durch ein Kopfnicken zu erkennen , daß er es verstehe , um was es sich handele .
Dann trat er wieder an das Bett zu Frau Ottilie .
Aber die Wärterin flüsterte ihm zu , er möge sich jetzt entfernen .
Eigentlich hatte er sich vorgenommen , ihr noch mitzuteilen , daß er ein schönes neues Lied für sie habe , aber er sah selbst ein , daß sie jetzt kein Interesse dafür haben werde , und halb traurig entfernte er sich , während die Wärterin bei dem Kinde saß und ganz leise ein Lied zu summen anhob .
Das Kindchen wuchs und gedieh ; es wurde Anna getauft und Annili genannt .
Obgleich Peter mit dem Maxel eine längere Zeit der Freundschaft verband , so empfand er doch für das neue Kind eine wärmere , intimere Liebe ; vielleicht weil es ein Mädchen war und er in ihm ein Stück seiner Mutter sah , vielleicht auch , weil er gerade die Zeit vor der Geburt so innig mit Frau Ottilie verkehrt hatte und ihm dieses Kind nun wie eine Verkörperung , eine festgehaltene Erinnerung jener Zeit erschien , fast wie ein gemeinsames Band , welches fest und zart zugleich war .
Die schönen Zeiten ihres Verkehrs hatten vorläufig ein Ende .
Frau Ottilie mußte sich dem Töchterchen fast gänzlich widmen , und wo dieses in den Mittelpunkt ihres Denkens und Fühlens trat , kamen andere Interessen naturgemäß zu kurz .
Sie war stolz und glücklich , daß sie dies schöne Kind geboren , das an ihrer Brust Lebenskraft und Heiterkeit zu trinken schien .
Maxel war über den plötzlichen Zuwachs der Familie froh-erstaunt ; der sonst etwas ungeschickte , sorglose Junge entwickelte eine fast zaghafte täppische Zierlichkeit in dem Verkehr mit der kleinen Schwester .
Peter konnte beinahe eifersüchtig werden , wenn er solchem Spiele zusah .
Einen etwas unsicheren Standpunkt dem neuen Kinde gegenüber nahm der Rektor ein .
Er schwankte zwischen Zuneigung und Gleichgültigkeit .
Frau Ottilie entging dies nicht , und sie fühlte sich verletzt als Mutter - und auch als Frau , wenn sie zurückdachte an die Zeit vor der Geburt des Maxel , an die Zartheit und Rücksichtnahme , die ihr Mann ihr damals zukommen ließ , während sie jetzt die sichere Empfindung gehabt hatte , daß er das zukünftige Kindchen nicht mit Freude erwartete wie ihr erstes .
Und dieses traf den zartesten Kern ihrer Seele :
Er legte zwar alle Rücksichtnahme an den Tag , aber doch nur , weil ihr Zustand dies erforderte , und nicht aus einem unmittelbaren , unbewußten Gefühl heraus , das ihn für sie wie für sich selbst handeln ließ .
Daß seine Frau schön war , wußte er wohl .
Aber er bedurfte zum Leben der Schönheit nicht , und dann war sie ihm durch die Gewohnheit nichts Neues mehr , sie kam ihm erst im Beisein anderer wieder ins Bewußtsein , indem er dann mit deren Augen sah und auch Vergleiche machen konnte .
Die Wirkung dieser Einsicht äußerte sich alsdann in einer etwas pompösen Intimität .
Von ihren Interessen teilte er keine , da ihre Instinkte zu weit auseinandergingen .
Das einzige Gebiet , auf dem sie sich wenigstens äußerlich hätten vereinigen können , wäre Literatur gewesen .
Aber erstens hatte Frau Ottilie gerade für diese wenig Sinn und Geschmack , und dann erschöpfte sich die Lektüre ihres Mannes fast gänzlich in griechischen und römischen Klassikern und einer modernen Journalmappe .
Ab und zu erhielt er auch durch seinen Freund , den alten regen Professor , ein neues Werk , das er dann gründlich durchstudierte und späterhin sogar kapitel- und titelweise im Kopfe hatte .
Sein Lebenswerk aber war eine Untersuchung über Cicero , seine Stellung zur griechischen Philosophie und seine Ideen im Lichte moderner Anschauungen .
Er hatte in früherer Zeit versucht , seine Frau in die antike Welt einzuführen ; aber lag es nun an ihr oder an ihm - seine Bemühungen waren auf unfruchtbaren Boden gefallen , und Frau Ottilie hatte ihm eines Tages erklärt , alle die schönen Bücher taugten nichts , sie seien tot und langweilig .
So ging jedes seinen eigenen Weg .
Er war Tagüber mit Schulangelegenheiten und abends mit Korrigieren von Heften oder seiner Arbeit über Cicero beschäftigt , sie hatte ihre Kinder , ihre Künste und ihre Gartenarbeiten , und so lebten sie friedlich und freundschaftlich nebeneinander , sie für seine Bequemlichkeit und Gemütlichkeit sorgend , er ihr die Mittel dazu gebend .
Peter Michel , den er anfangs als Eindringling betrachtet hatte , wurde ihm nach und nach ein gern gesehener Gast , dem er seine Frau mit Ruhe anvertrauen konnte und gerne anvertraute , da er sich auf diese Weise selbst etwas entlastet fühlte und gleichzeitig das angenehme Bewußtsein hatte , sie sei gut aufgehoben .
Durch Frau Ottilie hatte Peter Geschmack nicht nur an der Natur , sondern auch an einzelnen Pflanzen gewonnen , und wo er etwas Seltenes oder Hübsches sah , importierte er es in ihr Gärtchen .
Er legte sich auch ein Herbarium an , aber sie nahm ihm die Freude daran , indem sie sagte , sie könne diese eingesargten toten Blumen nicht sehen .
Einmal , zum Geburtstage , machte er ihr eine hübsche Freude , die er schon monatelang vorher im stillen für sich genoß .
Er hatte heimlich zu Hause in mehreren Töpfen viele Orangenkerne gepflanzt ; einige waren wirklich aufgegangen , und den , welcher das schönste Stämmchen trieb , schenkte er ihr .
Dann wurde das Bäumchen größer und trieb Knospen , und eines Tages brach sie ein paar Blütenzweige und steckte sie in ihr dunkles Haar .
- " Eigentlich sollte man diese Kerne hier bei uns nicht pflanzen " , sagte sie .
" Ihre Blüten sind wie Sonnenkinder im fremden Lande . "
So verging wieder eine lange Zeit , und eines Tages erhielt Peter von seiner Mutter einen Brief : Sie habe ihr Häuschen verkauft und alle ihre Möbel , ihr Dorf verlassen und würde übersiedeln in die Stadt , in der ihr einziges Kind lebe . -
Eine Woche später war sie da .
Peter war erschreckt über ihren Anblick .
Sie hatte sich in den Jahren ganz verändert , ihre Haare waren gänzlich weiß , sie schien kleiner geworden , ihre Züge trugen einen tief vergrämten Ausdruck , und ihre Augen wanderten ruhelos herum .
Entgegen ihrer früheren Art zeigte sie sich unsicher , ängstlich und überließ sich in allem seiner Führung , in den kleinsten Angelegenheiten unüberwindliche Schwierigkeiten sehend , sprunghaft in Worten und Gedanken , mit gespannten Augenbrauen und abwesenden Blicken .
Sie fing sogleich von seinem Vater an zu sprechen und erzählte , wie sie selbst schuld sei an dem Unglück , das über ihre Familie hereingebrochen .
Und das sagte sie in einem Tone und mit einer Miene , als ob sie Begebenheiten erzähle , die sich in der Ferne zugetragen hätten und von denen sie selbst vielleicht als Kind vernahm .
- " Du hast es damals zuerst gesagt ! " sagte sie , mit ausgestrecktem Finger langsam auf ihn deutend ; " ich weiß es noch wie heute ! "
Er beteuerte , daß es ihm nicht ernst gewesen wäre mit jener Bemerkung ; aber seine Mutter hielt daran fest :
" Du hast es damals zuerst gesagt , und ich wollte dir nicht glauben .
Jetzt sprichst du anders ; aber nun glaube ich daran .
Ich habe es die ganzen Jahre hindurch gewußt !
Ich hätte ihn besser behandeln sollen .
Ich habe ihn nicht recht behandelt .
Ich war herrschsüchtig und schlimm ; ich habe ihn nicht richtig verstanden , und das wußte er , und darum ist er in die Traurigkeit gesunken und dann in den Starrsinn . "
- Peter fühlte sich wie gelähmt .
Er war völlig ratlos , was mit seiner Mutter geschehen sollte ; sie allein wohnen zu lassen , daran war gar nicht zu denken .
Durch Ausfragen erfuhr er , daß es hauptsächlich der Schulze , aber auch die anderen Dorfbewohner gewesen waren , welche ihr geraten hatten , sich zu ihrem Sohne zu begeben .
Dort sei der natürliche Aufenthalt für eine Mutter .
- " Willst du bei mir wohnen ? " fragte er schüchtern .
- Sie wiegte den Kopf : " Wie du willst .
Wenn dir deine Mutter nicht zuviel ist , so behalte sie die paar Jahre , die sie noch zu leben hat . "
Dann verfiel sie in ein Sinnen und sagte langsam und ahnungsvoll : " So lange wird es kaum mehr sein . " - Peter wurde ihre Art unheimlich .
- " Aber Mutter ! " sagte er in künstlich-frischem Tone , " wozu denn diese Traurigkeit ?
Was vergangen ist , ist vergangen .
Daß du an Vaters Unglück keine Schuld hast , das kann ich , wenn du willst , beschwören .
Du redest ja , als wenn du hundert Jahre alt wärest und es kaum erwarten könntest , in dein Grab zu kommen !
Sei doch etwas froher , und denke , daß es dir noch sehr gut geht ! " -
Sie tat einen tiefen Seufzer und blickte um sich .
- " Ja , du hast recht " , sagte sie ; " ich muß mich davon frei machen .
Wie geht es dir denn , Peter ?
Ich habe so selten Nachricht von dir gehabt . "
Peter fing nun an , dieses und jenes zu erzählen von seinem Leben , von seinen Bekannten , von Frau Ottilie .
Sie lächelte ein wenig .
" Und du willst dich noch immer nicht verheiraten ? "
- " Nein , Mama " , entgegnete er freundlich , " noch immer nicht . "
- Sie schüttelte nachdenklich den Kopf , dann schwiegen beide , und Frau Michels Augen begannen wieder zu wandern .
Sie wohnte nun wirklich bei Peter , führte die Wirtschaft , kochte für sich und ihn , und wenn ihre Arbeit getan war , so setzte sie sich in einen Winkel und hing ihren Gedanken nach .
- Und was sollte aus ihrem Sohne werden ?
War er in seiner Lehrerstelle recht am Platze ?
Diese Frage hatte sie sich früher niemals vorgelegt .
Denn ihre Beantwortung war ganz selbstverständlich .
Aber jetzt , wo ihr Geist herumwanderte , häufte sich ein Berg von Schwierigkeiten und Sorgen in ihrer Seele auf . -
Sie hätte ihn nie studieren lassen sollen .
Er hätte daheim bleiben sollen bei seinen Eltern und ein ehrliches Handwerk lernen .
Aber das war ihr Geist der Hoffart , der immer obenaus wollte , der ihr Kind für etwas Besseres hielt als anderer Leute Kinder , die doch auch ehrlich und rechtlich waren .
Und nun hatte es sich gerächt !
Wie , das wußte sie nicht , aber es stand in ihrem Herzen mit dunkler Schwere .
Und an dem allen trug sie die Schuld , nur sie allein .
Ihren Sohn hatte sie unglücklich gemacht , ihren Mann hatte sie in die Traurigkeit gebracht , und gegen ihren Vater war sie heftig gewesen und unduldsam , noch am letzten Tage seines Lebens !
Weiter ging sie zurück und dachte ihrer Mutter , die lange tot war , ehe Peter geboren wurde .
Hatte sie nicht immer gesagt , ihr heftiges Kind wäre ein Nagel zu ihrem Sarge ?!
Noch weiter ging sie zurück und dachte an ihren eigenen Großvater , den Vater ihrer Mutter .
Der war ein ganz kleines , mageres Männchen gewesen mit blanken boshaften Äuglein und immer geballten , heftig bewegten Fäustchen .
Er wohnte bei ihr nach dem Tode ihrer Mutter , bis er , als sie erwachsen war , eines Tages , nach einem heftigen Auftritte , für immer das Feld räumte , mit flammenden Vogeläuglein und phantastischen Prophezeiungen für die Zukunft .
" Die Verstorbenen würden Rache an ihr nehmen . "
- Jenes alte Männlein nun , dessen Bild Frau Michel in der langen Reihe von Jahren in blasse Ferne gerückt war , sollte ihr jetzt plötzlich mit deutlicher Schärfe wieder vor die Seele treten ; zunächst erschien es ihr einmal , ganz unbefangen und fast possierlich , im Traume .
Sie wunderte sich darüber am nächsten Tage , dann aber kam es wieder , mit einem Hütlein angetan , wie Tante Olga einst ein ähnliches für Peter verfertigt hatte .
Und wie sie noch auf das Hütlein starrte und sich wunderte , wie es in den Besitz des alten toten Männchens gekommen sei , da tat dieses den Mund auf und hob an zu schelten und ihr Vorwürfe zu machen , wie sie sich so gänzlich seiner Führung entwunden habe und eine schlechte Frau geworden sei !
Sie habe ihren Mann gequält , bis er in Blödsinn verfallen sei .
Aber die Toten würden sich an ihr rächen !
Frau Michel erinnerte an die Tat der Tante Olga .
- " Was Hammer ! " eiferte das Männchen , " das Gerücht hast du nur verbreitet , um deine Schuld abzuwälzen auf eine unschuldige Seele , die sich nicht verteidigen konnte . "
- Es sah sie bitterböse an . -
Da sah sie , daß es Tante Olga selbst war , die mit ihr redete .
" Hier habe ich ihn mitgebracht !
Nun mag er sagen , ob ich die Wahrheit rede oder nicht . "
Da sah Frau Michel mit einem Male ihres Mannes Kopf auf einem Tische stehen ; den unteren Teil mit einem grauen Tuch umwickelt , die Augen starr und schrecklich auf sie blickend .
Mit gellem Schrei fuhr sie aus dem Schlafe .
Und nun fand sie auch in ihren Träumen keine Ruhe mehr , während sie am Tage die Angst herumtrieb und die Vorstellung an ihren gespenstischen Mann sie nicht mehr verließ .
Peter quartierte sich zu ihr ins Zimmer .
Da wurde sie ruhiger ; ihre Träume schienen einen friedlicheren Gang zu nehmen , und er dachte bereits daran , seine eigene Schlafkammer wieder zu beziehen , da wurden mit einem Male alle Überlegungen für die Zukunft jählings abgeschnitten .
Peter schlief sehr fest .
Durch seinen Schlaf hindurch hörte er wie in der Ferne ein qualvolles Ächzen und Wimmern .
Ehe er sich darüber klarwerden konnte , vernahm er plötzlich einen halberstickten Laut , Gegenstände polterten im Zimmer , und er sah seine Mutter im Halbdunkel an ihrem Bette hintaumeln .
Im Nun war auch er im Zimmer , hinter ihr her .
Sie erblickte ihn , stieß einen gräßlichen Schrei aus und warf sich mitten durch das geöffnete Fenster .
Als man sie unten fand , war sie schon tot .
10. Kapitel Peter bezog wieder seine alte Wohnung .
Der Tod seiner Mutter hatte sehr auf sein Gemüt gewirkt ; es bedurfte einer langen Zeit , ihn wieder ins Gleichgewicht zu bringen .
Es zeigte sich bei dieser Gelegenheit , daß er die Sympathie aller Lehrer seiner Schule besaß .
Sie suchten ihn mehr als früher in ihre Kreise hineinzuziehen , und er schien ihnen nicht mehr so abgeneigt wie ehedem .
Anfangs betrachtete er ihre Abende als ein Ablenkungsmittel für seinen Kummer , aber dann gewöhnte er sich an sie .
Er lernte nun Skat , Kegeln und andere gesellige Unterhaltung .
Seine Familienverhältnisse waren jetzt dunkel bekannt .
Es verlautete gerüchtweise , sein Vater wäre schwachsinnig und seine Schwester sei tobwütig und in einem Irrenhause .
Die letzten traurigen Vorgänge mit seiner Mutter waren natürlich in ihrer ganzen Furchtbarkeit bekannt , den Lehrern sowohl wie den Schülern .
Aber wie ähnliches bei Kindern oftmals geschieht , aus einem gesunden Lebensinstinkt heraus , dessen Äußerung dem Unverständigen roh erscheinen muß , so hatten die Knaben , das Seelische des Vorganges nicht begreifend , nur das Fremde und Groteske in ihm gesehen und es in ihrer Weise aufgefaßt .
Sie spielten : Michel und seine Mutter .
Einer legte sich als Michel auf einen der langen Schultische , ein anderer als Mutter .
Dann schnarchten beide , bis der eine stöhnte , schrie , aufsprang und zum Fenster lief , während der andere mit wildem Gebrüll hinter ihm dreintobte .
Es kam nun darauf an , daß die " Mutter " durch das Parterrefenster entwischen konnte , ehe es dem anderen gelang , sie festzuhalten .
Gelang dies letztere nicht , so hatte die Mutter " gesiegt " .
Frau Ottilie stand ihm in der schweren Zeit sehr zur Seite .
Sie erfuhr alle Einzelheiten der Katastrophe , aber das Ganze war ihr fremd und unfaßbar .
So milderten sich ihm allmählich die Schrecknisse der Erinnerung , und als er nach Jahresfrist an dem efeubedeckten Grabe seiner Mutter stand , da war ihm fast , als sähe er sie wieder so vor sich , wie er sie als Kind gesehen .
So lebte er still dahin , als eines Tages Liesel bei ihm erschien mit einem fremden Herrn , den sie als ihren Mann vorstellte .
Dieser machte eine Verbeugung , versicherte , daß er Treutaler heiße und sich am hiesigen Orte niederlassen würde , da seine Geschäfte dieses erforderten .
- " Er ist übrigens kein Jude ! " sagte Liesel etwas protegierend ; " sein Name kommt nicht von Treutal , sondern von Treue und Taler :
Das kann er ganz genau beweisen .
Er sieht doch auch nicht die Spur jüdisch aus ! " -
Das tat Herr Treutaler wirklich nicht .
Er hatte ein ziemlich rundes , etwas plattgedrücktes , gutmütig dreinschauendes Germanengesicht und hellblaue ehrliche Augen .
Die Augenbrauenknochen waren so stark vorgebaut , als wolle der obere Teil des Gesichtes den unteren zermalmen .
Dies gab dem Kopfe etwas gleichsam Angedonnertes , das durch den nach rechts und links gezwirbelten Schnurrbart noch ins Martialische gesteigert wurde .
Er war ein feuriger Philister .
- " Julius heißt er mit Vornamen " , fuhr Liesel fort .
" Julius , ich habe dir doch viel von Peter Michel erzählt , du weißt doch ! "
- " Ja " , sagte er .
" Soviel ich weiß , waren Sie ein Pflegekind von Papa . "
Peter sah ihn verständnislos an .
- " Von meinem Papa natürlich " , erklärte Liesel .
- " Das ist ein prächtiger alter Herr ! " nickte Herr Treutaler mit Wärme ; " prächtiger alter Herr !
Und seine Frau erst !
Prächtige alte Dame !
Wirklich zwei prächtige alte Leute !
Wohnten so hübsch gemütlich mit ihrem Kinde zusammen , bis ich es ihnen weggekapert habe .
Eigentlich grausam von mir !
Was , Liesel ? "
Er sah sie mit seinen blind-hellen , treuherzigen Augen schmunzelnd an .
Peter betrachtete ihn :
Wie mochte Liesel wohl gerade an den geraten sein ?
Sie erriet seine Gedanken und sagte ohne weiteres :
" Peter , guck nicht so unverschämt ! "
- " Aber Liesel ! " sagte ihr Mann etwas verdutzt , " was fällt dir denn ein ! "
Sie aber sprang auf :
" So !
Jetzt wollen wir wieder fort . " - Während Herr Treutaler sich etwas umständlich seine roten Glacehandschuhe anzog , stand sie hinter seinem Rücken und sah über seine wattierten Schultern zu Peter hinüber , mit Augen , die etwa sagen sollten :
Nun siehst du wohl , ich habe doch noch einen gekriegt ; etwas schofel zwar , allein was tut's ?! -
Als sie fort waren , blieb Peter noch eine ganze Zeit in Nachdenken versunken .
Wie kam es nur , daß er so gänzlich ungerührt war ?
Sie war doch immer noch sehr eigenartig !
Auch ihr Gesicht hatte an Frische nichts verloren .
Herr Treutaler blieb mit seiner Frau nun wirklich am Orte .
Er hatte eine Zuneigung zu Peter gefaßt und trug ihm seine Freundschaft in so herzlicher , fast erdrückender Weise an , daß Peter gar nicht anders konnte , als ebenfalls herzlich sein .
Und so schloß sich zwischen den beiden Männern ein Freundesbund .
Seine Frau verehrte er über alle Maßen und sah in ihr eine Art höheres Wesen .
Von ihrer Vergangenheit wußte er rein gar nichts , da er von außen zugereist kam , sie durch Zufall kennenlernte , ihre Eltern als achtungswerte Bürgersleute schätzte und es als unwürdig verschmähte , Erkundigungen hinter ihrem Rücken anzustellen .
Was Liesel nun veranlaßte , seinen Antrag anzunehmen , war folgendes :
Das Verhältnis zu ihren Eltern war im Lauf der Zeit zu einem unerträglichen geworden ; sie wollte fort von zu Haus .
Vor einer Heirat schreckte sie zwar im allgemeinen zurück , aber der Fall schien ihr hier besonders günstig zu liegen : Sie durchschaute Herrn Treutaler sofort als einen grundguten , etwas beschränkten , leicht bewundernden Menschen ; er hatte ein reichliches Einkommen und würde sie sehr gut behandeln , und diese Heirat würde ihr einen sicheren Untergrund , einen Hafen gleichsam , bieten , in den sie von ihren abenteuerlichen Ausflügen stets zurückkehren konnte .
Denn sie hatte keinen Moment daran gedacht , ihre Gewohnheiten aufzugeben .
Herr Treutaler war durch sein Geschäft zu vielfachen Reisen gezwungen .
Nach diesen hatte sie sich nun genau bei ihm erkundigt , und während er sie ihr mit dankbarer Gründlichkeit auseinandersetzte , sie in seine Interessen vertieft glaubend , kombinierte sie in Wirklichkeit diese Dinge mit ihren eigenen Plänen .
- Die Sache verlief genau , wie sie verlaufen sollte :
Herr Treutaler war ein ahnungsloser und äußerst fürsorglicher Ehemann , der nur etwas zu sehr auf Bequemlichkeit , Pantoffeln und Wärmflasche sah , gern über seine Gesundheit redete und ihr jeden Morgen die Zunge zeigte .
Als Gatte war er ihr von einer irritierenden Stumpfsinnigkeit .
Gleich seine erste Abwesenheit benutzte sie dazu , Peter Michel einen Besuch zu machen .
Sie fand ihn immer noch anziehend und zudem männlicher geworden .
Er saß bei der Lampe und arbeitete , als sie hereintrat .
Sie trug ein dunkelgrünes , hochschließendes Kleid , eigentlich etwas zu frauenhaft .
Aber sie war ja nun verheiratet .
- " Was willst du denn hier ? " fragte Peter .
- " Dich besuchen !
Ist dir das etwa unangenehm ? "
- " O nein ; wo ist denn dein Mann ? "
- Sie wollte sagen : " Verreist " ; besann sich aber und antwortete : " Der kommt bald nach !
Hast du keinen Wein ? "
Peter schüttelte den Kopf .
- " Julius wird müde sein ; er ist den ganzen Tag auf den Beinen gewesen .
Hole doch welchen ! "
Peter ging die Straße hinunter und beeilte sich , damit Julius nicht etwa vor ihm einträfe .
Als er zurückkam , fand er Liesel , eine Zigarette rauchend , auf dem Sofa liegend .
- " Aber Liesel , wenn dich dein Mann so sieht ! "
- " Tu den Kork ab ! "
- " Den Kork ab ? "
- " Natürlich ! " -
Er tat es .
Sie nahm das Glas , streckte die Beine gänzlich aus , reckte sich und ließ ihre kleinen , mit feinen schwarzen Strümpfen und Schuhen umkleideten Füße und zierlichen Knöchel sehen .
Er sah sie von der Seite an und dachte : Sie ist doch eigentlich eine kokette Frau !
- " Wann kommt denn dein Mann ? " fragte er endlich .
- " Ach Gott , laß doch den Esel ! " sagte sie laut und ärgerlich , sich mitten im Gähnen unterbrechend .
- " Höre Mal , Liesel , da hört doch wirklich alles auf .
Erstens liegst du da sehr unanständig , und dann nennst du deinen Mann einen Esel ! "
- " So !
Als wir zusammen im Grase lagen und Wein tranken , das war wohl sehr anständig ? "
- " Nein ! " sagte er , etwas nach einer Antwort suchend , " das war es nicht .
Aber damals warst du auch noch nicht verheiratet . "
- Draußen ging eine Tür .
- " Gehe Mal schnell vom Sofa , da kommt dein Mann ! " -
Aber sie blieb ruhig liegen , und die Schritte entfernten sich .
- " Sage Mal , er kommt wohl gar nicht ? "
- " Ach Gott , Peter , du bist tödlich !
Dies ewige Fragen !
Wenn er kommt , ist er da , und wenn er nicht kommt , ist er nicht da .
Ich bin froh , daß ich ihn Mal los bin , und nun stehst du da und starrst fortwährend auf die Tür und fragst , ob er käme .
Also : Er kommt nicht , er ist verreist und kommt erst morgen nachmittag zurück . "
- " Wohin ist er ? "
- " Weiß ich nicht , ist mir auch vollkommen einerlei .
Heute bleibe ich bei dir .
Sei Mal so gut und zieh mir die Schuhe aus ! " -
Peter stand versteinert .
Endlich raffte er sich auf :
" Also daraus wird auf keinen Fall etwas .
Jetzt stehe Mal sofort auf und setze dich anständig hin .
Das geht ja gar nicht mehr ! " -
Er trat auf sie zu und faßte sie am Arm .
Aber sie packte ihn mit beiden Händen und zog ihn an den Haaren zu sich nieder .
" Du dummer Junge ! " rief sie und küßte ihn , " du dummer Junge !
Anstatt dich zu freuen , daß ich da bin , stehst du da und lamentierst ! " -
Er machte sich hastig los :
" Jetzt stehst du auf und begibst dich nach Hause .
Ohne weiteres .
Und wenn du das nicht tust , so rufe ich meine Wirtin ! "
- " Das ist mir ganz egal . "
- " Und die Polizei ! "
- Liesel brach in ein lautes Gelächter aus und sprang mit einem Ruck empor .
- " Paterchen , du niedliches ! " rief sie , indem sie ihn von neuem umarmte und schüttelte , " ich wollte ja nur Mal sehen , ob du mich noch möchtest ! "
- " Ich mag dich nicht mehr ! " sagte er schmollend , mit abgekehrtem Gesichte .
- " Ich dich eigentlich auch nicht !
Aber lieber als Julius mag ich dich doch noch !
Du glaubst gar nicht , wie fabelhaft öde er ist ! "
Sie schwieg und blickte ihm ins Gesicht , mit einem Ausdruck , daß Peter sagte : " Liesel , du solltest dich schämen ! "
- " Auch noch ! " rief sie erheitert , " na , Peter , adieu !
Hoffentlich bist du das nächste Mal in besserer Stimmung . "
- " Daß du dich nicht unterstehst ! " rief er .
- " Bitte , liebes Paterchen , gegen Damen muß man immer galant sein ! " -
Damit war sie hinaus und stampfte nun mutig und leicht durch den Schmutz in ihre Wohnung zurück .
Dieser dumme Junge ! dachte sie .
Und dann dachte sie an ihren Mann .
Drei Monate hatte er sie nun schon elend gemacht , sie wäre ihn am liebsten so bald wie möglich wieder losgeworden .
- " Ein schrecklicher Kerl ! " sagte sie ganz laut . -
Sie hatte sich da eigentlich recht festgefahren mit ihrer Heirat .
Und es ergriff sie eine stille Wut gegen diesen Menschen .
- " Wenn ich nur jemand fände , mit dem ich ihm durchbrennen könnte ! " -
Dann fiel ihr Blick auf seinen Zylinder auf dem Tische , mit seiner breiten , unbeholfenen Form , und sie glaubte ordentlich das Gesicht mit dem martialischen Bart und den unausstehlich treuen , hellblauen Augen darunter zu sehen . -
Mit einem kräftigen Faustschlag trümmerte sie ihn zusammen .
Dann saß sie wieder da , und es zuckte in ihr vor Lebenslust .
Plötzlich sprang sie auf , zog sich wieder an und verließ das Haus .
Bald darauf befand sie sich in dem Saale eines Varietättheaters .
Hier wimmelte es doch wenigstens von Menschen , die sich amüsieren wollten .
Sie überflog die Tische mit ihren Augen und setzte sich in die Nähe eines Herrn , der am aufgewecktesten dreinschaute und zugleich sehr gut gekleidet war .
Sie lernten sich darauf kennen , und Liesel fand in dem späteren Verlauf ihrer Bekanntschaft , daß sie eine sehr gute Wahl getroffen habe .
Ihr Mann war aber sehr betrübt , daß seine Frau anfing , sich unliebenswürdig gegen ihn zu zeigen .
Er wagte sie kaum noch zu liebkosen , sein " herziges kleines Weibchen " .
Einmal äußerte er sich Peter Michel gegenüber und fragte ihn , ob er den Grund ihrer dauernden Verstimmung kenne .
Er habe durch seinen früheren Verkehr mit ihr vielleicht einen besseren Einblick in ihr Seelenleben .
- Peter hätte ihm am liebsten die Wahrheit gesagt , aber er scheute sich davor .
Er dachte :
Ich beunruhige ihn vielleicht ganz unnötig , denn Liesel ist gewiß nicht mehr so schlimm , wie sie tut ; und wenn Liesel es erführe , würde sie am Ende aus Ärger über mich ihrem Manne erzählen , was früher zwischen uns geschehen ist , und dann würde der Verkehr zwischen ihm und mir aus sein . -
So schwieg er .
Herr Treutaler jedoch bohrte seine treuen Augen grübelnd in eine Ecke , zwirbelte seinen Bart und schüttelte den Kopf .
Aber Liesel wurde nach und nach wieder freundlicher gegen ihn , sie war oft in einer ausgeglichenen , fast sanften Stimmung .
- " Wo hast du denn den neuen Hut her , Liesel ?
Du machst doch nicht etwa Schulden ? " fragte er sie einmal mit schäkernd-drohender Stimme .
- " Wo denkst du hin ! " antwortete sie gutgelaunt ; " alles vom Wirtschaftsgeld .
Da sieh Mal ! "
- Sie öffnete ihr Portemonnaie und zeigte ihm den Inhalt .
" Und heute ist schon der zwanzigste ! "
- Er war ganz erstaunt , und sie dachte :
Oh , ich könnte dir noch manches zeigen .
Dann lobte er seine sparsame kleine Hausfrau , und sie antwortete in Gedanken : Du Kamel ! -
Nach und nach wurde sie kühner , und bald nahm sie gar keine Rücksicht mehr auf ihn , indem sie überhaupt nicht mehr auf Gründe und Entschuldigungen sann , wenn sie fortblieb .
Dann erhielt er einen anonymen Brief :
Seine Frau halte es mit einem anderen .
Den Brief zeigte er ihr sofort , bleich vor Schrecken und Erregung .
Sie faßte sich und log ihm etwas betreten vor , den Brief habe sie selbst geschrieben , um ihn eifersüchtig zu machen , denn sie glaube , er liebe sie nicht mehr so wie früher .
Darum habe sie sich auch in der letzten Zeit von ihm zurückgezogen .
Da schloß er sie gerührt in seine Arme , zerfloß fast in Mitleid für sein " herziges , goldiges Weibchen " und widmete sich ihr nun mit doppelter Hingebung . -
Dann erhielt er eines Tages einen zweiten Brief , von derselben Hand , er möge dann und dann da und da sein , um sich mit Augen davon zu überzeugen , daß seine Frau ihn hintergehe .
Im ersten Augenblick lächelte er über sie , daß sie ihn zweimal mit demselben Mittel anführen wolle .
Aber plötzlich wurde er stutzig und dachte :
Sollte sie den ersten Brief vielleicht doch nicht geschrieben haben ?
Sollte mich meine Frau wirklich hintergehen ?
Er begab sich augenblicks zu Peter , dem er beide Briefe zeigte .
Der war des tiefsten erschreckt , doch faßte er sich und sagte , es müsse sich um eine ganz schmähliche Verleumdung handeln .
Am selben Tag begab er sich heimlich zu Liesel , sagte ihr , alles sei entdeckt , und beschwor sie , nicht zu ihrem Rendezvous zu gehen sowie überhaupt dieses unwürdige Leben aufzugeben .
- Liesel verschaffte sich den Schlüssel zum Geldschrank ihres Mannes , und am nächsten Tage war sie mit ihrem Freunde auf und davon gegangen .
Herr Treutaler setzte Polizei und Agenten in Bewegung , aber es gelang nicht , die Flüchtlinge aufzufinden .
Sie verjubelten ihr Geld , und als sie nichts mehr hatten , machte ihr Freund ihr den Vorschlag , mit ihm an ein Varietättheater zu gehen .
Er selbst gehörte der Bühne an .
Anfangs hatte sie keine Lust dazu , indem sie es unvornehm und dumm fand .
Aber als er ihr rund erklärte , sie allein sitzenzulassen , da überlegte sie sich die Sache doch , zumal er sie selbst ausbilden wollte , wenn sie bei ihm bleibe .
So geschah es denn ; in kürzester Zeit hatte sie einige Couplets auswendig gelernt , und da sie hübsch und feurig aussah , so fand sie auch bald eine Stelle und legte nun den Namen Nikita Schlimpinska an . -
Aber dieses Leben war ihr recht zuwider .
Nur der Champagner , den sie manchmal zu trinken bekam , versüßte ihr das Dasein .
Herr Treutaler war über die Flucht der Gattin tief unglücklich .
Aber er Maß sich selbst alle Schuld an dieser Sache bei .
- " Ich bin nicht der rechte Mann für sie gewesen ! " sagte er wiederholt zu Peter ; " ich verstand sie nicht , und da hat das unglückliche Wesen in seiner Verblendung diesen Schritt der Verzweiflung begangen ! " -
Gegen den Verführer war er von der grimmigsten Wut erfaßt , und er schwor , er würde den Kerl totschlagen , wenn er ihn zu fassen kriegte .
Peter redete eines Tages mit Frau Ottilie über Liesel .
Er fürchtete , sie würde in harten Ausdrücken über sie sprechen ; aber nichts davon geschah .
Sie sah eigentlich nur die praktische Seite der Sache .
- " Wenn das arme Ding nur nicht bald in Verlegenheit gerät ! " sagte sie .
" Wie ich höre , hat sie ihrem Manne heimlich Geld fortgenommen , ehe sie ihm durchging .
Aber sie soll ja aus Versehen die Hauptsache liegengelassen haben ! "
- " Ja " , sagte Peter , " und das sah ihr ganz ähnlich . "
- " Sie hätte ihn nie heiraten sollen " , fuhr sie fort ; " erstens paßte ihr Mann nicht für sie , und dann paßte sie nicht für ihn ; und überhaupt nicht fürs Heiraten .
Sie wird nie eine Frau werden .
Übrigens scheint es mir , als ob sie eine ziemlich bewegte Vergangenheit hinter sich hat .
Für Sie , Peter , ist_es ein Glück , daß sie Sie nicht genommen hat .
Sie würde Ihnen nur das Leben schwer gemacht und Sie nie verstanden haben .
Aber ich wundre mich doch , daß sie diesen letzten Schritt getan hat , denn ich hätte nicht geglaubt , daß sie so viel Kraft besäße und so viel Vertrauen in sich selbst .
Auch die ursprünglichsten Menschen werden beeinträchtigt durch die Verhältnisse , die sie umgeben ! " -
Diese letzten Worte sprach sie mit unbewußtem Bezuge auf sich selbst .
Sie fühlte , daß sie im Laufe der Zeit allmählich eine andere wurde , und zugleich die Unfähigkeit , sich diesem fast unmerklichen Einflüsse ihrer fortwährenden Umgebung zu entziehen .
Sie hatte ein drittes Kind geboren , ihre Mutterpflichten erfüllten sie fast gänzlich , und die wenige freie Zeit , die ihr blieb , widmete sie gesellschaftlichen Forderungen , denen sie sich nicht mehr gut entziehen konnte und nicht einmal mehr wollte ; denn sie waren so von Nutzen !
Das hatte sie so sehr empfunden , als bei einer gefährlichen Krankheit des Annili die befreundeten Mütter ihr mit Rat und Tat zur Seite standen , Wege für sie machten , ihr Krankengegenstände borgten und dem Kinde , als die Genesung vorwärtsschritt , manch hübsche Überraschung und kleine Freude bereiteten .
- Ihre Stimme hatte gelitten , sie sang nun gar nicht mehr , und die Gartenarbeiten fingen an , sie anzugreifen , da ihre Körperformen allmählich voller wurden .
Auch das Versprechen , das sie Peter vor Jahren gab , ihn wieder zu malen , wurde nicht gehalten .
Peter erinnerte sie wohl daran , aber sie fand nicht die Zeit dazu , und dann fehlte ihr auch etwas die Energie .
- " Es wird ja doch nichts Rechtes ! " sagte sie .
" Das Bild , das ich damals machte , war schon schlecht , aber jetzt würde ich es kaum halb so gut machen können ; ich habe ja seit Jahren alles liegenlassen !
Und wozu soll ich mir die Bitternis bereiten , mir Stück für Stück meine eigene Unfähigkeit vorzupinseln !
Sehen Sie mein Orangenbäumchen !
Da steht es und ist inzwischen groß und stark geworden und hat viele kleine Früchte bekommen ; da sieht man , wie die Zeit vergeht ! " -
Peter brach eine auf und kostete sie .
Aber sie war matt , es fehlte das Aroma . -
Und eines Tages ging das Bäumchen ein und wurde vom Fenster entfernt .
Frau Ottilie zerschnitt es eigenhändig mit einer Schere , tat es Stück für Stück in den Kamin und sah zu , wie sich die Teile krümmten und wanden unter der Flamme , bis sie schwärzlich und regungslos verglommen .
Peter sah Frau Ottilie seltener und seltener .
Denn während sie auf der einen Seite von ihren Pflichten und neuen Interessen sehr in Anspruch genommen wurde , nahm sein Verkehr mit den Kollegen und Herrn Treutaler zuviel von seiner eigenen Zeit hinweg , als daß er sich ihr mit der ganzen Innigkeit hätte widmen können ; wenn sie zusammenkamen , so war es , als stände irgend etwas Unsichtbares zwischen ihnen .
Sie entfremdeten sich leise .
Das empfanden beide und litten darunter , ohne es jedoch ändern zu können .
Sie trösteten sich mit der Hoffnung , es würde wieder anders werden , und im Grunde seien sie beide die alten geblieben .
Peter führte Herrn Treutaler in seinen Bekanntenkreis ein , der diesem sehr behagte .
" Das sind ja Männer mit goldenen Herzen ! " sagte er .
" Mit goldenen Herzen !
Wirklich mit goldenen Herzen !
Nein , Peter , was ich dir dankbar bin , daß ich die kennengelernt habe !
Mit denen müssen wir öfter zusammenkommen !
Dieser Bente , oder wie heißt er doch gleich !
Der Dicke mit der niedrigen Stirn und den Pausbacken !
Wenn der die Augen zukneift und dann lospustet vor Lachen , da muß ja jeder mit , er mag wollen oder nicht !
Na , und dann der , der schon so 'n bißchen 'ne Glatze hat ; der mit der goldenen Brille , Aman heißt er , glaube ich ; übrigens , der trieb es eigentlich ein bißchen zu toll !
Hat es dick hinter den Ohren .
Na , ist ja auch in Paris gewesen !
Und wie du gähntest und die beiden dich wie auf Kommando in die Rippen pikten , das war doch gottvoll !
Übrigens , der Kleine , das scheint mir aber doch ein bißchen ein Kaffer zu sein ! "
- " Der ist ein ganz neuer ; er ist erst seit einigen Wochen bei uns und noch sehr schüchtern . "
- " Ach so ! "
Julius nickte langsam mit dem Kopfe .
Die Sache schien ihm nun plausibel und der Mann entschuldigt .
Eines Tages erhielt Herr Treutaler einen mit " Nikita Schlimpinska " unterzeichneten Brief , in dem diese ihm mitteilte , sie ginge jetzt nach Frankreich .
Julius war nicht sogleich auf der Höhe der Situation .
- " Lebe wohl , Du kleiner Schafskopf " hieß es am Schluß , " ich fühle mich recht wohl ohne Dich .
Dein Geld ist leider alle . "
- Das war zuviel !
Herrn Treutaler erfaßte ein gerechter Zorn .
Er hatte sich so oft schon in einsamen Stunden ausgemalt , wie seine Frau voll Reue zu ihm zurückkehren und wie er ihr alsdann alles Böse mit Liebe vergelten würde !
Aber nun war es aus ! - " Schafskopf ! Jawohl , Schafskopf ! " rief er erregt ; " ich bin ein Schafskopf , wirklich ganz wahrhaftig ! "
Er sah unwillkürlich in den ovalen Spiegel über dem Sofa und begegnete seinen eigenen hellblauen Augen , die ihn mit Zorn aus ihren Hinterhalten anblickten , während der Schnurrbart , nach rechts und links gezwirbelt , ihm zuzurufen schien :
" Mache einen Strich durch diese ganze Sache , Julius ! "
- " Das will ich auch ! " rief er .
" Sie hat es nicht verdient um mich ! " -
Er setzte nun die Polizei in Bewegung , und einige Tage darauf traf das weltunkundige Liesel , das mit einer solchen Möglichkeit gar nicht gerechnet hatte , unter obrigkeitlichem Schutze wieder in der Stadt ein .
Herr Treutaler klagte auf Ehebruch und drang auf Scheidung .
- " Ich bin noch nicht fertig mit dem Leben ! " sagte er zu Peter .
" Ich bin ein Mann in den besten Jahren !
Ich will wieder heiraten !
Ich will eine Familie gründen ! "
- Liesels intimste Erlebnisse wurden nun an die Öffentlichkeit gezerrt , und Peter zitterte , daß man ihn als Zeugen vernehmen würde und daß sein früheres Verhältnis zu ihr ans Licht kommen könnte .
Aber dieses geschah Gott sei Dank nicht . -
Das Wiedersehen der beiden Gatten war sehr merkwürdig .
Wie Julius sie erblickte , richtete er sich hoch auf und begann , den linken Arm auf den Rücken gelegt , den Blick auf sie geheftet , in großen Bewegungen seinen Schnurrbart zu drehen ; sie dagegen sah ihn unter einem etwas phantastischen Hute lächelnd an , den Oberkörper ein wenig vorgeneigt , und wollte ihm ganz unbefangen die Hand reichen .
- " Bedaure sehr , Fräulein Schlimpinska " , sagte er mit einer Verbeugung und einem erregten Zittern in der Stimme .
Dann blickte er mit Genugtuung nach rechts und links .
Wie gut ihm diese Antwort gelungen war !
Die ihr zur Last gelegten Dinge gestand sie eifrig ein und willigte gern in die Scheidung .
Aber ihre Zuversichtlichkeit wurde doch etwas herabgemindert , als sie mit einem Male ihrem Vater gegenüberstand .
Sie begriff , daß man sie zum mindesten wieder in ihr elterliches Haus zurückhaben wolle .
Aber so gut kam es gar nicht :
In eine Besserungsanstalt sollte sie !
Und so wie dieses Wort gefallen war , nahm sie gar keine Rücksicht mehr .
Sie sagte , sie sei mündig und selbständig , und ihr Vater möchte sich seine Worte sparen .
Dann stand der alte breitschulterige Mann , die schwarzen Augen durchdringend auf sie geheftet , hochaufgerichtet , wie zum Äußersten bereit , vor ihr .
- " Du sollst mir nicht vorwerfen " , sagte er endlich mit schwerem Atem , " daß ich es an Selbstbeherrschung hätte fehlen lassen .
Aber von heute an ist das Band zerschnitten zwischen dir und uns .
In unserem Hause ist kein Platz für eine -
Dirne ! " -
Das waren seine letzten Worte ; schweren Schrittes verließ er den Raum . -
Die Scheidung wurde vollzogen , und Liesel reiste zu ihrer Truppe zurück , die sie mit lautem Hallo begrüßte .
Sie sollte ihre Abenteuer erzählen , aber das tat sie nicht .
- " Es war furchtbar langweilig ! " war alles , was sie sagte .
Sie dachte auch in der Folgezeit nicht mehr viel an die verflossenen Dinge ; dagegen trat ihr Herrn Treutalers Persönlichkeit in sonderbarer Weise näher .
Sie verfiel nämlich auf den Gedanken , sie in ihren Couplets zu verwerten .
Sie trat im Herrenkostüm auf , mit einem altmodischen Zylinder , mit einem martialischen Schnurrbart und breitem Männerbauch , und trug ein Lied vor , das sie selbst gedichtet und dessen Strophen mit dem Refrain schlossen : " Ach , was bin ich für ein Esel ! "
- Sie hatte eigentlich nicht viel Stimme und auch nicht viel Spiel .
Aber in ihrer Art des Auftretens , in ihrer ganzen Erscheinung , in ihrem Vortrag lag etwas so Selbstverständliches , fast Trockenes , das durch ihre innere Unbeteiligtheit noch verstärkt wurde , daß diese Nummer eine Attraktion ersten Ranges wurde und ihr stets einen rasenden Applaus eintrug .
Aber auch wenn sie eine " Dame " darzustellen hatte , zeigte sich , daß , was bei anderen ein Mangel war , bei ihr zum Vorteil wurde : Sie konnte nämlich gar keine Dame darstellen .
Ihre starke Weiblichkeit jedoch , vermischt mit der fast jungenhaften Art ihrer Bewegungen , ihre südlichen dunklen Augen , ihr knabenhafter voller Mund , den sie fast unschön öffnete , die herben Linien ihres Körpers - das alles vereinigte sich zu einem fremdartigen Ganzen , das ungemein pikant wirkte .
Der Direktor , welcher sie anfangs für ziemlich talentlos gehalten und sie fast nur wegen ihres Äußeren genommen hatte , erhöhte ihr alsbald die Gage um ein Beträchtliches , da sie ihm eine wahre Erwerbsquelle geworden war .
Sie erlangte eine Berühmtheit in Fachkreisen , und " à la Schlimpinska " wurde modern ; doch , wie es in den meisten solchen Fällen geht , all die Nachahmungen erreichten das Original auch nicht entfernt , indem was hier Natur war , dort zur Mache wurde , und nur einige äußerliche Ähnlichkeit zwischen beiden bestand durch eine gewisse Seelenlosigkeit des Vortrages . -
Auch ihr Lied " Ach , was bin ich für ein Esel " ging bald über die Bretter eines jeden größeren Varietättheaters . -
Herr Treutaler , welcher von dem Rufe seiner geschiedenen Gattin gehört hatte und eines Tages ein " à la Schlimpinska " auf einem Plakat las , beschloß , mit Peter Michel das Theater zu besuchen , um einmal diese Schlimpinskamanier kennenzulernen .
Und als dann eine Dame auftrat , die fast genau aussah wie er selber , um das berühmte Originalcouplet vorzutragen , da bedurfte es kaum noch der vor der Eingangsstrophe trocken gesprochenen Worte :
" Ich bin der treue Julius , wer es nicht glaubt , bezahlt 'nen Taler ! " - um Herrn Treutaler zu versichern , daß er selbst der Julius sei . -
Dann sang die Dame , sie sei Kaufmann und habe sich verheiratet :
" Ein herziges goldenes Weibchen " .
Es folgte der Betrug der Gattin mit dem Freunde , seine Leichtgläubigkeit und der Refrain : " Ach , was war ich für ein Esel " !
Unter atemloser Spannung , mit tadellos artikuliertem Sprechgesang und unter diskret nachgebender Klavierbegleitung erzählte er nun weiter von dem anonymen Warnungsbrief und von seiner fabelhaften Dummheit .
Dann kam der dritte und letzte Vers , in dem die Flucht und die Freuden der Liebenden erzählt wurden , die zuletzt ein Hoch auf den Ehemann von dessen Gelde trinken .
- " Ach , was war ich für ein Esel ! "
- Der Erfolg war durchschlagend , zumal man sogleich fühlte und jauchzend bestätigt fand , daß es sich um eine wahre Skandalgeschichte aus den eigenen Kreisen handelte . -
Herrn Treutalers Augen waren fest auf die Peter Michels gerichtet :
" Ein Schandeweib ! " sagte er leise , mit einer Stimme , in welcher das tiefe Pathos einer im innersten Kern verletzten Seele bebte .
" Ein Schandeweib !
Gut , daß wir hier so geborgen in einer Ecke sitzen !
Und wer kann sie denn abhalten , hier eines Tages selbst aufzutreten und ihre Lieder zu singen ? " -
Peter durchfuhr es mit tödlichem Schreck .
O Gott , dachte er , wenn sie nun auch ein Lied auf mich macht und ich dann überall aufgeführt werde ! "
Herr Treutaler bildete für einige Wochen das Gesprächsthema aller Gesellschaften .
Man hatte damals Liesel sogleich mit etwas Mißtrauen aufgenommen , als sie an der Hand ihres Mannes - der , wenn er sich bei ihnen niederließ , eine Frau aus ihrer Mitte hätte nehmen müssen - in die verschiedenen Bekanntenkreise eingeführt wurde .
Nun sah man ja , was dabei herausgekommen war , und wenn ihn seine Frau jetzt vor aller Welt bloßstellte , so war das einfach die gerechte Strafe . -
Aber dann nahmen diese Klatschereien eine andere Richtung , als Herr Treutaler eines Tages verschwand und bald darauf zurückkehrte mit einer neuen Frau aus seinem eigenen Heimatsorte .
Und diese bereitete ihm nun ein wirkliches trautes Heim .
" Peter , für dich ist die Zeit des Heiratens eigentlich auch schon längst gekommen ! " sagte er eines Tages .
" Ich wüßte ein prächtiges Mädchen für dich !
Meine Schwester Ernestine ! " -
Peter nahm den Vorschlag als einen Scherz auf , aber Herr Treutaler meinte ihn im Ernst , denn er hatte großen Familiensinn und wollte seine Schwester glücklich sehen .
Und Peter Michel auch ! -
Er kam des öfteren auf diese Sache zurück , und als seine Frau das erste Kind bekam , da war auch Ernestine da , um die Mutter zu pflegen .
Und Peter lernte Ernestine kennen .
Sie war in der Tat kein übles Mädchen und ähnelte ihrem Bruder ein wenig ; doch war sie hübscher als er .
Sie wußte offenbar schon um die geplante Sache , denn sie zeigte gegen Peter ein etwas schüchtern-linkisches Benehmen .
Sie setzte ihm sogleich Kaffee und Kuchen vor und ließ sich verlegen an einem Rohrstuhle hinuntergleiten , bis sie auf ihn zu sitzen kam .
Herr Treutaler versuchte nun ein Gespräch in Gang zu bringen , was ihm mit einiger Mühe auch gelang .
Er regte Peter an , etwas aus seiner Lehrertätigkeit zu erzählen , fragte , ob sein Beruf nicht ein sehr edler sei und Befriedigung einbrächte , und warf , als Peter :
" Doch ! " antwortete , seiner Schwester einen bedeutungsvollen Blick zu .
Diese sollte nun ihrerseits etwas zum besten geben , damit Peter ihren Charakter kennenlerne .
Sie drehte ihr Taschentuch um den Zeigefinger und sagte gar nichts .
Dann half ihr Bruder ihr etwas auf die Sprünge .
- " Wie war das doch gleich in eurer Pension , wo du den Haushalt gelernt hast , die Geschichte damals ?
Sie hat nämlich den Haushalt gelernt und ist die Beste von allen gewesen !
Na , wie war die Geschichte gleich ? "
- " Welche ? " fragte sie und hörte zu drehen auf .
- " Tu doch nicht so , als ob du mich nicht verständest !
Die mit dem Hunde natürlich und der Vorsteherin ! "
- " Ach , die kennst du doch ! "
Sie zog etwas verlegen den rechten Mundwinkel hoch und drehte wieder .
- " Ja , aber Herr Michel möchte sie auch gerne kennenlernen ! "
- Sie warf diesem einen scheuen Blick zu und sagte : " Ach Gott ! " worauf sie schwieg .
- Peter erklärte , er würde die Geschichte sehr gerne hören , worauf ihr Bruder sie noch einige Male antrieb und sie endlich den Mund auftat , erst etwas zögernd anhob , darauf freier wurde , bis plötzlich , irgend etwas in ihr einen Stoß erhalten zu haben schien und die Worte ganz von selbst aus ihrem Munde kamen , sich überhasteten und überstolperten , wobei sie den Kopf ein wenig hin und her warf und es sich herausstellte , daß sie einen kleinen Zungenfehler hatte .
- " Na , siehst du , nun hast du doch deine Geschichte erzählt ! " sagte Julius mit aufmunterndem Kopfnicken .
- " Sie macht auch Musik ! " wandte er sich an Peter .
- " Herr Michel macht auch Musik ! " wandte er sich an seine Schwester .
Sie zog die Schultern etwas hoch und kicherte .
" Worüber lachst du denn , Tinchen ? "
Sie sah sogleich wieder sehr ernsthaft aus und begann von neuem ihr Taschentuch zu drehen .
- " Moppi hat auch ein neues Halsband bekommen ! " sagte sie plötzlich mit einem Anlauf .
- " So-o ?
Moppi ist nämlich ihr kleiner Hund !
Ein gräßliches Vieh ! "
- " Pfui !
Julius , wie kannst du so etwas sagen .
Ist nämlich gar nicht wahr .
Julius neckt mich so gern .
Moppi ist ein süßes kleines Tier ! "
- Sie sprach die letzten Worte eigentlich zu Peter , aber als der ihr voll ins Gesicht blickte , tat sie , als habe sie ihn gar nicht gemeint , und sprach den Rest in die Luft .
" Tinchen , willst du wohl so gut sein und mir Mal meine Zigarren holen ?
Sie stehen auf meinem Schreibtisch . "
- Tinchen erhob sich sofort und ging hinaus .
" Nun , wie gefällt sie dir ? "
- " Oh , ganz gut " , sagte Peter etwas unsicher .
- " Du mußt natürlich bedenken , daß sie sich jetzt furchtbar geniert !
Du solltest sie Mal sehen , wenn sie so recht ausgelassen ist !
Ein prächtiger kleiner Wildfang ! "
- Er brach ab , denn Tinchen trat wieder ein .
Sie merkte , daß man über sie geredet hatte , stellte die Zigarren auf den Tisch , ohne einen von beiden anzusehen , die Nase in der Luft , und wollte sich ohne weiteres wieder hinausmachen .
Ihr Gang hatte etwas Wehendes , Sonderbares .
Ihr Bruder hielt sie an der Schürze fest :
" Auskneifen gilt nicht ! "
Aber sie zog und drehte so lange , bis er sie losließ , und eilte hinaus .
" Nun sehe einer den kleinen Racker !
Ein verrücktes Huhn !
Aber doch eine Perle , ein ungeschliffener Diamant ! "
Und dann legte er die Hand auf Peters Schulter und sagte : " Ja , ja , Peter , überlege es dir ! "
Eines Tages besichtigte Peter auch Julius ' neuen kleinen Stammhalter .
Ein strammer dicker Junge !
Sie traten in das Schlafzimmer seiner Frau ein .
Diese zog sogleich , als sie Peter erblickte , die Bettdecke bis hoch an den Hals hinauf .
" B-scht ! " sagte Herr Treutaler mit wichtiger Miene .
" Dort liegt er ! "
Sie traten an das Lager des Kindes , welches ganz den Kopf und die Augen des Vaters hatte .
Wenigstens behauptete Peter dies .
- " Wie können Sie das nur sagen ! " tönte Frau Treutaler von ihrem Bette her .
" Er hat doch ganz das Gesicht der Brettschneiders ! "
- " Aber , Emma , das ist doch gar nicht wahr !
Mir sieht er ähnlich , Schatz ! "
- " Dickchen ist so furchtbar eitel ! " tönte sie von neuem .
- " Aber das hat doch mit der Ähnlichkeit nichts zu tun ! " rief ihr Mann in ehrlichem Pathos .
- " Dickchen muß immer widersprechen ! " klagte sie weiter .
- " Nun , nun , mein Schatz , es ist ja nicht böse gemeint ! " sagte er begütigend .
" Komme , Peter , wir wollen sie jetzt verlassen ! "
Er trat noch einmal zur Wiege , sah das Kind mit seinen ehrlichen blauen Augen an , voll echten Vaterstolzes , und reichte seiner Frau die Hand zum Abschied .
Peter hatte nun öfters Gelegenheit , mit Ernestine Treutaler zusammenzukommen , und sie verlor allmählich ihre Schüchternheit .
Es zeigte sich auch bald , daß sie ihn liebte .
Er sagte einmal , seine Lieblingsfarbe sei blau , und von da trug sie täglich ihr blaues Kleid , das eigentlich nur für den Sonntag bestimmt war .
Sie wußte alsbald , wieviel Stück Zucker er in den Kaffee nahm , welchen Stuhl er am liebsten hatte , wie stark er den Tee und wie weich er die Eier liebte , so daß sich Peter bei ihr sehr wohl aufgehoben fühlte .
Aber der Gedanke quälte ihn doch , daß er sie heiraten sollte .
Liebe empfand er gar nicht zu ihr , obgleich er sie sehr gern mochte .
Sie war so hilfsbereit und dienstfertig und hatte kein böses Wort für irgendeinen Menschen .
Und als Herr Treutaler ihm erzählte , daß sie zu Hause nicht so viel gälte als ihre Geschwister und ein wenig als Aschenbrödel behandelt würde , da zeigte er in seinem Betragen eine besondere Rücksichtnahme und Freundlichkeit , die sie mit Dankbarkeit erfüllte .
Sie trat nun nach und nach auch mit ihren kleinen Talenten hervor .
Sie konnte mit viel Geschick bunte Monogramme sticken , so fein , daß auch die beste Kunststickerin nichts daran auszusetzen fände - wie Julius sagte ; und sie konnte Garnituren häkeln und die feinsten Maschen stricken .
Sie arbeitete Jäckchen für das neugeborene Kind und garnierte einen Kapottehut für die Mutter ; und dabei war alles ordentlich sauber , " als ob es gekauft wäre " .
Auch was Julius über ihre Musik gesagt hatte , bestätigte sich .
Sie wollte es allerdings anfangs nicht wahrhaben .
- " Julius ist viel zu gut gegen mich , er macht mich immer viel besser , als ich bin ! "
- " Nun , so hole doch Mal dein Instrument ! "
- Sie saß verlegen , wie angeleimt auf ihrem Stuhle .
- " Soll ich es holen ? " fragte er .
" Sage mir , wo es liegt , dann gehe ich ! " -
Aber sie antwortete nicht und wippte etwas mit dem Kopfe .
- " Sei doch nicht so eigensinnig ! " fuhr er fort .
" Tinchen hat nämlich manchmal ihren besonderen Kopf ! " wandte er sich an Peter .
" So war sie schon als Kind .
Plötzlich will sie nicht mehr , und dann ist gar nichts mit ihr anzufangen .
Ich weiß noch ganz genau , es mögen jetzt wohl so zehn bis zwölf Jahre her sein , da kam ich eines Tages Mal etwas zu spät zu Tische , und wie ich mich hinsetzte - "
- " Ich habe es in der Tasche ! " sagte Tinchen , ohne sich zu rühren .
- " Na , dann zieh es doch Mal heraus ! "
Und dann zitierte er :
" Willst du immer weiter schweifen , sieh , das Gute liegt so nah ! "
- " Ich geniere mich . "
- Peter vereinigte seine Bitten mit denen ihres Bruders .
Da fuhr sie endlich mit der Hand in ihre Tasche , durchwühlte sie unnötig lange , das Kinn verlegen auf die Brust gestemmt , und brachte endlich eine kleine Mundharmonika zum Vorschein .
Peter war hierauf nicht gefaßt , obgleich er sich gesagt hatte , eine Geige oder ein Klavier könne es nicht sein .
Sie ließ sich nun auch nicht mehr lange bitten , sondern begann sogleich ein Lied zu blasen , rein und taktsicher .
Dann blies sie noch eins , " mit Begleitung " ! wie Herr Treutaler zu Peter mit aufgehobenem , leise den Takt angebendem Zeigefinger sagte , und schließlich einen Choral , dessen langgezogene Akkorde sich besonders für das Instrument eigneten .
Und als sie den beendigt hatte , sagte sie , sie könne auch noch ein " schweres Stück " , und machte sich alsbald mit Fertigkeit daran .
Dann wiederholte sie es .
Peter wartete bis zum Schluß und fragte sie dann , wo sie das gelernt hätte ?
- " Ganz allein ! " sagte sie mit Stolz , und ehe er etwas erwidern konnte , hatte sie ein neues Stück begonnen .
" Nun höre aber auch Mal wieder auf ! " meinte ihr Bruder endlich , worauf sie sogleich ihre Musik abbrach und das Instrument wieder in die Tasche schob .
Peter lobte sie sehr , wunderte sich aber , wie sie gerade auf dieses Instrument gekommen wäre .
- " Das ist doch viel schöner als so ein Klavier ! " sagte sie , sehr angeregt .
" Ein Klavier kann man doch nicht in die Tasche stecken , und die Mundharmonika kann ich überall mit hinnehmen , wohin ich will .
Meinetwegen , ich will Mal sagen :
Also , wir machen eine Landpartie , da kommt ein Platzregen , und da sitzt man also - bums ! -
in einem Wirtshause .
Und es pladdert und pladdert .
Also neulich an meinem Geburtstage hatte Mama einen Topfkuchen gebacken , und wie wir unterwegs sind , na , ich sage also auf einmal pol - " , sie schluckte und konnte nicht weiter , denn sie hatte sich ein wenig zuviel auf einmal zugemutet .
- " Na , Tinchen , wir glauben es dir ! " sagte Julius gutmütig und klopfte sie auf die Schulter .
Aber Tinchen sagte traurig :
" Immer wenn es gerade am schönsten wird , dann geht es plötzlich nicht mehr ! " -
Peter hatte Mitleid mit ihr ; er tröstete sie und sagte , er habe alles sehr gut verstanden .
Und das tröstete sie wirklich . -
Herr Treutaler nahm mit Genugtuung die wachsende Vertraulichkeit der beiden wahr .
Aber er sagte gar nichts mehr zu ihm , sondern beschloß , die Sache sich ganz von selbst entwickeln zu lassen :
" Peter Michel muß man richtig behandeln ! " sprach er eines Tages zu seiner Frau .
" Er ist ein feiner Kopf ; ja , ja , ein feiner Kopf ! "
- Seine Frau wußte selbstverständlich um den Plan , und obgleich sie weder für den einen noch für den anderen Teil irgendwelches Interesse hatte , so tat sie doch alles , um sie zusammenzubringen , ja , sie setzte ihren förmlichen Ehrgeiz darein .
So wurden denn an Peter Michel , ohne daß es ihm zum Bewußtsein kam , all die Mittel und Mittelchen angewendet , welche von manchen Frauen der bürgerlichen Gesellschaft mit so viel Liebe und Erfolg geprobt werden und die scheinbar so harmlos sind .
Man behandelte ihn mit familiärer Selbstverständlichkeit , ließ ihn mit Tinchen stets zusammengehen und - sitzen , sorgte dafür , daß in Kaffeegesellschaften die Nachricht verbreitet wurde , sie seien heimlich verlobt , redete von Peter als einem " Ehrenmanne " und tat das Nötige , als ihm zu Ohren kam , daß seine Erklärung als etwas ganz Selbstverständliches , als eine kurze Frage der Zeit angesehen sei .
Eines Tages beschloß er , Frau Ottilie um Rat zu fragen in dieser Angelegenheit .
Er war sich selbst nicht klar und glaubte , sie würde die Frage besser beurteilen können .
Er traf sie , wie sie gerade dabei war , ihr zweites Kind , das Annili , durchzuprügeln .
- " Die Kinder wachsen einem über den Kopf , wenn man ihnen alles hingehen läßt ! " sagte sie .
Dann führte sie ihn in den Salon und fragte , ob er in einer besonderen Angelegenheit komme .
Er habe so ein feierliches Wesen .
Was sie feierlich nannte , war in Wirklichkeit eine Mischung aus Befangenheit und einer dunklen Trauer .
Sie blickten sich beide an , und jeder erwartete , daß der andere zuerst sprechen sollte .
Sie ahnte , worüber er mit ihr reden würde , denn auch ihr war die Nachricht zu Ohren gekommen .
Sie hatte Tinchen etwas kennengelernt und wunderte sich ein wenig über Peters Geschmack .
Doch hatte sie auch alsbald die guten Seiten des Mädchens herausgefunden .
- " Also , auch Sie wissen es schon ! " sagte er .
" Ja , es weiß hier beinahe jeder .
Und ich begreife nicht , wie das kommt . "
Frau Ottilie antwortete :
" Ich habe von jeher gewünscht , daß Sie recht glücklich würden , und habe mit Ihnen gefühlt , als Sie unglücklich waren .
Es freut mich also , zu hören , daß Sie auf dem Wege sind , Ihr Glück zu machen . "
- So würde die frühere Ottilie nicht geredet haben ! -
Er faßte sich ein Herz und sagte : " Ja ! " und dann wußte er nicht weiter .
Er empfand es plötzlich so nutzlos , mit ihr zu reden .
- " So meinen Sie also " , sagte er endlich zögernd , " daß ich sie heiraten soll ? "
Frau Ottilie brach in ein kleines Lachen aus , das Peter mit Wehmut erfüllte , denn es klang wie ein Gruß herüber aus vergangenen Jahren .
" Ja , das müssen Sie doch wissen ! " sagte sie .
" Sie kennen sie doch besser als ich , und kennen wohl auch ihr Herz besser als ich .
Wenn Sie das Mädchen lieben und wieder von ihr geliebt werden , so wäre es töricht , sie nicht zu heiraten .
Ich habe sie kennengelernt , zwar nicht sehr nah , aber doch so , daß ich ungefähr ein Urteil über sie habe , und es scheint mir , sie wird eine gute Hausfrau werden .
Sie ist zwar noch sehr unfertig , aber , du lieber Gott , das läßt sich von einem jungen Mädchen auch nicht anders erwarten .
Sie wird sich gewiß noch entwickeln ; und was ihren Charakter betrifft , so glaube ich , daß er ein sehr guter ist .
Ein Grundzug ihres Wesens scheint mir große Natürlichkeit und Aufrichtigkeit zu sein . " - Peter blieb noch ein paar Augenblicke unschlüssig sitzen , dann erhob er sich langsam und reichte ihr die Hand .
Eine schöne Blume fiel von ihrer Brust .
Als er das nächste Mal zu Treutalers ging , teilte man ihm mit , ein Brief sei von zu Hause angelangt , welcher Ernestine zu ihren Eltern zurückriefe .
Man sah ihn dabei auf eine seltsame Weise an , und er fühlte , daß man von ihm erwartete , er würde sich jetzt aussprechen .
So gestand er denn unter Stottern , daß er Ernestine heiraten möchte .
Endlich !
Frau Treutaler fühlte einen schönen Triumph in ihrer Seele , und Julius schloß ihn ohne weiteres in seine Arme und drückte ihm laut seine Männerlippen auf den Mund .
Tinchen wurde geholt , Julius teilte ihr das Geheimnis mit , und sie stand da , die Hände in ihre Schürze geknüllt , über und über rot und ganz verlegen .
Plötzlich blickte sie auf , und mit einem Ruck warf sie Peter ihre Arme um den Hals und küßte ihn schnell und mehrere Male . -
Er war wie im Traume , er hörte Julius ' Worte wie von ferne , ihm war , als sei er es gar nicht , der hier stände , als müsse er erwachen , ganz allein , in einem weiten , hohen Felde .
11. Kapitel Tinchen hing noch immer an seinem Halse .
In dem Gefühl , er müsse ihre Zärtlichkeit erwidern , streichelte er ihr sanft den Rücken .
Endlich machte sie sich los von ihm :
" Mamachen - gleich sagen - schreiben , meine ich , um ihren Segen bitten ! "
- Die alten Treutalers wußten selbstverständlich längst um die geplante Sache .
Man beriet über die Form des Briefes , und Julius entschied , es solle in einer humoristischen geschehen .
So setzte sie sich an den Schreibtisch , während er diktierte : " Liebe Mama , ich kann nicht kommen , denn ich sitze hier gefangen .
Doch sind die Fesseln , die mich binden , Liebesfesseln . "
- In diesem Tone ging es fort .
Dann mußte Peter als Bräutigam schreiben und noch einmal offiziell um Tinchens Hand anhalten , und schließlich setzten Herr und Frau Treutaler ihre Unterschriften darunter .
Julius umarmte Peter noch einmal und legte all sein Gefühl in das eine Wort :
" Schwagerherz ! "
Dann wurden die Verwandten geladen , und am selben Abend feierte man Verlobung .
Peter ging wie im Traum umher und nahm alle Gratulationen mit abwesendem Gesicht auf .
Man wunderte sich etwas über ihn , und namentlich die Damen machten unter sich Bemerkungen .
Herr Treutaler kam endlich auf ihn zu :
" Peter , was stehst du denn da so allein in der Ecke !
Tinchen sitzt da und wartet auf dich ! "
Dann sah er ihm väterlich in die Augen und klopfte ihm auf die Schulter :
" Dich stören die vielen Menschen , du möchtest gern mit ihr allein sein , nicht wahr ? "
Und als Peter zögernd nickte , nickte er ebenfalls , indem er schmunzelnd , wie bestätigend für einen Moment die Augen schloß und sie beim Öffnen wieder auf ihn gerichtet hielt , in stiller Zärtlichkeit .
- " Kommt alles noch , alter Junge , kommt alles noch ! " -
Er entfernte sich wieder , und Peter sah zu Tinchen hinüber , die auf einem Rohrstuhl saß und die Hände gefaltet auf dem Schoße hielt . -
Was sie wohl alle sagen würden , wenn ich jetzt heimlich fortginge und nie wiederkäme ! dachte er und sah in Gedanken blaue Täler und Hügel .
Dann fiel ihm ein , daß er ja zu ihr hingehen müsse .
Er setzte sich neben sie , und sie ergriff seine Hand , behielt sie in der ihren und drückte sie zuweilen leise .
Er drückte sie dann jedesmal wieder .
- " Ein ordentliches Brautpaar muß sich doch einmal umarmen ! " sagte eine der Damen .
" Das finde ich auch ! " rief eine andere , und schließlich riefen alle im Chor , Peter und Tinchen sollten sich Mal umarmen .
Tinchen hatte sich erhoben und wischte vorbereitend die Hände an ihrer Schürze ab .
Peter stand ebenfalls .
Dann warf sie ihre Arme , ganz in derselben eigentümlichen Weise wie bei ihrem ersten Kuß , in die Luft und darauf um seinen Nacken .
- " So ! " riefen die Damen , indem sie das " lebende Bild " mit Muße betrachteten , " nun setzt euch wieder hin ! "
Und Peter und Tinchen setzten sich .
- Sie blieb noch ein paar Tage , dann reiste sie nach Hause , um ihre Aussteuer zu besorgen .
Wie sie fort war , atmete Peter innerlich etwas auf .
Bald darauf erhielt er eine Einladung seiner Schwiegereltern , die ihn persönlich kennenzulernen wünschten .
Er erschrak des höchsten , und in seiner Angst vernichtete er den Brief , tat , als habe er ihn nicht bekommen , und erzählte niemandem darüber .
Es vergingen einige Tage , in denen er Ruhe hatte .
Aber dann kam ein zweiter Brief .
Man fragte , ob der erste nicht angekommen sei , und wiederholte die Einladung .
Peter begab sich hinaus aus der Stadt , er mußte mit sich allein sein .
Ringsumher zitterten reifende Kornfelder , und über ihm spannte sich hoch hin ein wolkenloser , dunkelblauer Himmel .
Vor einem Heere brennend roten Mohnes hielt er an .
Was soll ich tun !
Was soll ich tun ! -
Kein Mensch war weit und breit zu sehen , er war ganz allein .
- " Ich kann mich doch nicht hier verkriechen wie ein Wilder ! " sagte er nach einer Weile , indem er in das Ährendickicht starrte .
" Das geht doch nicht , das ist doch lächerlich ! "
Gleichzeitig wurden seine Gedanken aber in die Ferne gezogen , indem er sich ein solches Wildenleben vorstellte und sehnsüchtig bei dieser Vorstellung verweilte .
- " Also , das ist doch ganz einfach ! " begann er , sich aufraffend , von neuem .
" Entweder ich heirate sie , oder ich heirate sie nicht .
Von dieser Frage hängt alles ab .
Nicht wahr ?
Naja .
Und wenn ich sie heirate , dann ist doch alles gut , ich meine , dann ist doch alles in Ordnung .
Und wenn ich sie nicht heirate ?
Was geschieht denn dann eigentlich , wenn ich sie nicht heirate ?
Liebe ich sie denn nicht ? " -
Die ersten Sätze hatte er laut für sich gesprochen ; die letzte Frage dachte er nur ; sie kam ihm selber unerwartet in ihrer Unmittelbarkeit , obwohl sie schon lange im Hintergrunde seiner Seele stand .
Und jetzt wollte er sie fast vor sich selbst nicht gehört haben , er hatte Angst vor ihrer Beantwortung .
Denn wenn sie ein " nein " war , wie er schon wußte , so reihte sich eine Kette neuer Fragen daran .
Aber wie um sich selbst zu beschwichtigen , die Unbefangenheit vor sich selber aufrechtzuerhalten , wiederholte er seine Frage .
- " Ich möchte wissen , warum ich sie nicht lieben sollte " , sagte er endlich , indem er sich an die Ähren wandte , die leise im Winde schaukelten .
Aber die gaben keine Antwort , und so sah er sich wieder auf sich allein angewiesen .
- " Also von der Frage hängt alles ab ! " begann er , sich selbst antreibend , von neuem , indem er krampfhaft nachdenklich in die Ferne starrte .
- " Ich muß mir endlich über diese Frage klarwerden " , rief er , indem er fühlte , wie seine Seele sich schon wieder mit den blauen Hügeln am Himmelsrande mischte .
Und er blickte wieder auf den Mohn , der in der Sonne siedete und lohte , als eine einzige dunkle Flamme zusammenschlug .
Und er dachte an Liesel , an jenen heißen Sommertag mit ihr im Walde - und im selben Augenblick fühlte er sich auch von dem ganzen Jammer seiner Lage angepackt !
" Nein ! " sagte er .
" Ich heirate sie nicht !
Ich liebe sie nicht !
Es ist nicht wahr , daß ich sie liebe !
Wie bin ich denn in diese ganze Geschichte hineingekommen ?
Wie , um Gottes Willen , bin ich da hineingekommen ?
Wenn ich nur den ausfindig machen könnte , der mich da hineingebracht hat !
Ist sie denn hübsch ?
Nein , absolut nicht !
Ist sie klug ?
Nein , dumm ist sie !
Jawohl dumm ! " -
Er lauschte seinen Worten , als habe sie ein anderer gesprochen .
- " Das ist noch viel zuwenig ! " fuhr er fort :
" Eine Gans ist sie ! "
Doch im selben Augenblick erschrak er und verbesserte :
" Nein , eine Gans ist sie nicht .
Aber habe ich denn keinen eigenen Willen ?
Muß ich sie denn heiraten ?
Kann ich ihr nicht einfach schreiben , ich hätte es mir anders überlegt ?
Ihr sagen , ich wolle überhaupt nicht heiraten ?!
Das geht doch sehr gut !
Ich möchte wissen , warum das nicht gehen sollte ! "
- Die Gestalten des Tinchen , ihres Bruders , dessen Frau und die noch unbekannten und um so mehr gefürchteten des alten Herrn Treutalers , der sich im Kriege ausgezeichnet hatte und ein Mann in der ganzen Bedeutung des Wortes war , wie Julius sagte , und dessen Frau traten vor seine Seele wie eine dunkle Drohung .
- War es vielleicht doch nicht möglich ? -
Er stand wieder am Ende seines Wissens , wie zuvor .
Es war ein ewiger Kreislauf , in dem seine Gedanken sich bewegten .
Fast unbewußt wandte er seine Schritte endlich einem der hohen Kornfelder zu , seine Arme teilten die schwankenden Ähren , und dann lag er mit dem Rücken auf dem Boden und sah über sich den blauen Himmel und um sich herum den goldenen Schleier der Halme , die sich mit leisem , festlichem Geräusche gegeneinanderneigten .
Ein Gefühl öder Vereinsamung , trostlosesten Alleinseins kroch über seine Seele .
Und doch : War nicht im Grunde alles gut ?
Fühlte er sich nicht zu Hause hier auf dieser blauenden , duftigen Erde ?
Liebte er nicht die Sterne , die als goldene Spitzen weltenferner Himmelsähren auf die Erde Niedergrüßen !? -
Er schloß die Augen , dachte nichts mehr , blinzelte ins Licht und versank in Schlaf .
- Und im Traume fand sich seine Seele wieder ; sein ganzes unbewußtes Sein löste sich rein und fleckenlos in einem Bilde :
Er lag am Meeresstrand und starrte träumend in die dunstige , dunkel-dämmernde , niedrige Wölbung über Kopf und Brust .
Sonnenwarme , glimmende Wellen bespülten ihn und trugen leicht und leise seltsame Dinge zu den Wölbungen hinan : kleine , steinerne Figuren , Menschen , Bäume , Tiere .
In der folgenden Woche war er für ein paar Tage bei Treutalers zu Gaste .
Er gefiel allgemein recht gut .
Tinchen umgab ihn mit Liebe und Zärtlichkeit , und er legte gegen sie eine sanfte , resignierte Ruhe an den Tag .
- " Besser als die ewige Ableckerei , die man sonst gewöhnlich zwischen Brautleuten findet ! " sagte der alte Treutaler zu seiner Frau .
Peter hatte sich unter ihm einen kolossalen alten Herrn vorgestellt .
Aber er war eher klein als groß und hatte einen zierlichen weißen Ziegenbart .
Peter wurde auch viel nach Julius gefragt und nach dessen Gattin und Kinde , indem man das Glück seines Sohnes auch gern von anderen bestätigt hörte .
Auch auf Liesel kam die Rede .
Der alte Herr geriet sofort in Eifer und nannte sie :
" Die Person ! " -
Es wurde lange überlegt , wo die Hochzeit stattfinden solle .
Man entschied sich schließlich für den Ort , in welchem Tinchen ihren zukünftigen Wirkungskreis haben würde .
Die Eltern wollten sich bei der Gelegenheit das Heim ihres Sohnes ansehen und ihr Enkelkindchen kennenlernen .
Tinchen nähte nun mit ihrer Mutter Tag und Nacht an ihrer Aussteuer , und bald war alles " fix und fertig , blank und proper " .
Peter verbrachte die letzten Tage vor seiner Hochzeit gänzlich allein .
Wie ein Tier hatte er sich zurückgezogen .
Wenn ich doch krank würde ! dachte er oft .
Auch erwog er den Gedanken , ob er sich nicht das Leben nehmen solle .
Aber davor hatte er noch viel mehr Angst als vor der Hochzeit .
So wartete er denn , daß eine natürliche Krankheit kommen solle , um ihn zu beschirmen , bis die drohende Wolke wieder abgezogen wäre .
Aber die Krankheit kam nicht , und der Tag der Hochzeit rückte näher und näher .
Da mit einem Male entfaltete er eine fast fieberhafte geistige Tätigkeit .
Ein Hoffnungsstrahl , die Möglichkeit eines Ausweges aus diesem Irrsal , hatte sich ihm plötzlich gezeigt , und er arbeitete nun unausgesetzt daran , diesen Gedanken , der vorläufig noch ungeformt in seinem Geiste stand , herauszubilden , an das Licht zu bringen und ihm selbsttätige Kraft zu geben . -
Die Verlobung aufheben , das konnte er nicht .
Darüber war er sich vollkommen klar .
Nicht der leiseste Grund wäre dazu vorhanden gewesen .
Aber - und dieses war die neue Frage , deren Lösung Klarheit und Rettung bringen mußte :
War es nicht möglich , Treutalers selbst zur Aufhebung des Verhältnisses zu bringen ?!
Dieser Gedanke war vor ihm aufgestiegen , vorläufig noch als ein Lichtchen am dunklen Horizont , aber je länger er hinschaute , um so heller wurde es .
Nur wenn er sich selbst opferte , war es möglich , sich selbst zu retten .
Er mußte sich kompromittieren , und die Familie würde zurücktreten .
Nun sann er nach , ob er nicht irgend etwas Schreckliches in seinem Leben begangen hätte .
Und da tauchte alsogleich die Gestalt des Liesel vor ihm auf : Wenn Treutalers erfuhren , daß er mit der Frau ihres Sohnes Beziehungen gehabt hatte , mit ihr , der Chansonettensängerin , die so viel Skandal über die Familie gebracht hatte , so konnten sie - als streng moralische Leute - ihre Tochter ihm nicht anvertrauen .
- Der Hauptfaden war gefunden ; es kam nun noch darauf an , ihn auf die geschickteste Weise zu befestigen .
Und das war keine kleine Arbeit ! -
Er selbst konnte sich unmöglich verraten ; das stand fest .
Abgesehen davon , daß er nie den Mut dazu gehabt hätte , mußte hierdurch auch zugleich die ganze Wirkung auf das wesentlichste abgeschwächt werden .
Man würde seine Mitteilung als die Beichte eines reuigen Sünders auffassen , er würde gedemütigt werden und Tinchen am Ende vielleicht doch noch zu heiraten haben .
Er durfte nicht als Reuiger dastehen , sondern als ertappter Frevler !
- " Man muß mich denunzieren ! " murmelte er .
Aber wer ?
Wer wußte denn außer ihm und Liesel um diese Sache ?
Niemand !
Also blieb nur Liesel !
Hier stockte er wieder und verlor sich vorläufig in Gedankennebel .
- Aber die Wirklichkeit hatte ihn im Genick ; er mußte weiter .
- " Und wenn mich Liesel nun bei Treutalers denunziert , wird man ihr glauben ?
Wird man sie nicht für eine freche Verleumderin halten , die mir mein Glück nicht gönnt oder Tinchen ihr Glück nicht gönnt ?
Der kein Mittel zu schlecht ist , um dieses Glück zu zerstören ? -
Aber dann kann ich sagen : » Doch !
Alles ist wahr , alles ! «
Denn so einfach beiseite legen werden sie ihren Brief auf keinen Fall . " - Entsetzlich , entsetzlich ! dachte er , indem er sich die nächsten Folgen ausmalte , die furchtbaren Auftritte , den unvermeidlichen Bruch mit Julius und Stadtklatsch für viele Wochen .
Und vielleicht gar noch eine Disziplinarstrafe von Seiten der Schulobrigkeit !
Aber er dachte an den Selch .
Der war noch immer im Amte und noch immer unverheiratet .
- Aber wie sollte er Liesel dazu bewegen , diesen Brief zu schreiben !
Vielleicht tat sie es gar nicht , denn sie war ja so unberechenbar !
Und doch : Gewiß würde sie es tun .
Sie hatte ihn ja gerne , und dann konnte sie ja Treutalers auch damit einen Streiche spielen .
Daß sie sich selbst kompromittierte , das , wußte er , würde ihr zum mindesten egal sein .
So setzte er sich hin und schrieb einen langen Brief an sie .
Er schüttete ihr sein ganzes Herz aus , und je länger er schrieb , um so mehr fühlte er , wie nah sie ihm stand .
Sie würde für alles Verständnis haben , sie gehörte einer anderen Welt an als seine Umgebung .
Oh , könnte er zu ihr und bei ihr bleiben !
Sie war so stark und er so schwach ! -
Er legte die Feder hin und vergrub seine müden Augen in den Händen . -
Bunte Ringe drehten sich im Dunkel und wandelten sich in lohendes , brennendes Chaos .
Aber er mußte weiter ; er raffte sich empor , der Brief wurde vollendet , und er überlas ihn noch einmal .
Dann atmete er tief auf .
Eine Last war von seiner Seele genommen , dafür hatte er auf seine Schultern ein neues Gewicht gelegt , das er aber nicht lange mehr zu tragen brauchte .
Er rechnete aus :
Vier Tage waren es noch bis zur Hochzeit :
Am ersten hatte Liesel seinen Brief , am zweiten hatten Treutalers Liesels Brief , und einen Tag vor der Hochzeit würde das Unwetter auf ihn hereinbrechen .
Treutalers würden ihm einen furchtbaren Brief schreiben , und mit Julius würde die persönliche Auseinandersetzung folgen . -
So verging ein Tag nach dem anderen , und mit fiebernder Beklommenheit verfolgte er die einzelnen Stadien dieser gefährlichen , heilvoll-unheilvollen Sache .
- Am Morgen des letzten Tages , wo er die Katastrophe erwartete , lag er schon frühe wach im Bett .
Bei jedem Läuten schreckte er zusammen .
Jeden Augenblick konnte der Brief dasein .
Aber es kam kein Brief .
Also würde wohl Julius im Laufe des Vormittags zu ihm kommen .
Er überlegte , ob er ausgehen sollte .
Nein ; es war besser , der Gefahr ins Auge zu sehen ; er blieb .
Und gegen Mittag erschien Julius in der Tat . -
Peter stand blaß und regungslos am Tische .
Wenn er mich prügelt , prügele ich ihn wieder ! dachte er in grimmiger Verzweiflung .
- Aber Julius prügelte ihn nicht .
Doch war er etwas ernster als gewöhnlich .
Im übrigen war er gänzlich unbefangen .
- " Der letzte Tag ! " sagte er , indem er Peter die Hand auf die Schulter legte .
" Der letzte Tag !
Ja , Peter , du hast einen feierlichen Schritt vor , den feierlichsten , den ein Mensch zu tun vermag !
Halte mir mein Tinchen treu fürs Leben ! "
Er schüttelte ihn , und Tränen traten in seine blauen Augen .
- " Ich sehe sie als Kind vor mir - ach , welch Spanne Zeit ist doch das Leben - von der Wiege bis zum Grabe ! "
Aber dann reckte er sich männlich empor und sagte mit veränderter Stimme :
" Weswegen ich eigentlich gekommen bin :
Ich wollte dir sagen , Papachen und Mamachen kommen heute nachmittag um fünf hier an , mit Tinchen .
Du holst sie doch natürlich von der Bahn ab ? " -
Peter stotterte :
" Ja , selbstverständlich " und vermochte nicht seinem Schwager in die Augen zu blicken .
- " Peter ! " sagte dieser nach einigem Zögern ; " ich wollte dich schon lange fragen :
Was hast du eigentlich diese ganze letzte Zeit ?
Du bist so sonderbar !
Ist es die Aufregung , oder drückt dich ein Kummer ?
Sage es mir , Peter , ich habe dich ja so lieb wie einen Bruder !
Drückt dich ein Kummer ? "
Peter schüttelte den Kopf .
Julius sah ihm forschend in die Augen .
- " Hast du Schulden ? " fragte er plötzlich .
Peter hob den Kopf , den er gesenkt hatte , und sagte sehr bestimmt :
" Schulden ?
Nein ! "
- " Sonst - du weißt , das Schwagerportemonnaie ist stets zur Hilfe da !
Das versteht sich von selbst .
Also ist es wirklich nichts ? " -
Peter nahm sich zusammen , blickte ihm ins Gesicht , lächelte schwach und sagte : " Nein , gar nichts ! "
- " So !
Nun - dann ist es gut !
Dann freut es mich ! " antwortete Julius in einem Tone und mit einem Blicke , welche ausdrückten :
So ist die Sache abgetan , so habe ich mich geirrt , im übrigen :
Vertrauen gegen Vertrauen ! -
Er schüttelte ihm derb die Hand und entfernte sich .
Peter aber blieb brütend zurück . -
Also wie steht denn nun die Sache , dachte er endlich , gewaltsam sich zusammennehmend :
Julius weiß noch gar nichts , und seine Eltern kommen heute abend .
Wenigstens haben sie das geschrieben .
Inzwischen können sie Liesels Brief aber doch noch erhalten haben , ja , sie müssen ihn sogar inzwischen erhalten haben ; und dann kommen sie natürlich nicht und überlassen die Sache zunächst einer mündlichen Aussprache zwischen mir und Julius .
Das ist ganz klar .
Julius wird heute nachmittag einen Brief von ihnen haben , und dann läßt er mich zu sich kommen .
- Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken , daß es bis dahin nur mehr einige Stunden waren . -
Und wirklich erhielt er am Abend von Julius ein Billett , in dem er ihn bat , ihn sogleich aufzusuchen .
Er ging wie im Traume ; was auch kommen möge , sagte er zu sich - den Kopf kann er mir nicht abreißen .
Und , wie gesagt , wenn er mich prügelt , prügele ich ihn wieder .
- Vor dem Hause zögerte er , stieg aber schließlich die Treppe hinauf , indem er jede Stufe taktmäßig zählte ; dann ging er geradewegs auf die Klingel zu und zog sie im selben Momente , wo er sie ergriff .
Man führte ihn ins Wohnzimmer .
Julius Treutaler saß dort allein und drehte ihm den Rücken zu .
Peter blieb auf der Schwelle stehen und atmete schnell und hielt den Blick auf ihn geheftet .
- " Du könntest dich um deine Schwiegereltern und deine Braut wohl etwas mehr bekümmern ! " sagte Julius , indem er sich von seinem Sitz erhob .
- " Sind sie denn da ? " fragte Peter schnell und unwillkürlich .
- " Ob sie da sind ?! " fragte Julius erstaunt zurück :
" Wenn morgen eure Hochzeit ist , müssen sie doch wohl spätestens heute ankommen .
Außerdem habe ich es dir doch heute morgen mitgeteilt .
Warum stehst du denn da immer auf der Schwelle ? "
" Ich fühle mich sehr krank ! " sagte Peter instinktiv .
- Julius ' Gutmütigkeit gewann sofort wieder die Oberhand :
" Sieh , also das ist es !
Weshalb hast du mir das nicht heute morgen schon gesagt !
Du siehst ja auch ganz elend aus .
Warte Mal , mein lieber Junge ! "
Er schenkte ihm ein Glas Portwein ein , welches Peter auf einen Zug leerte .
- " Na , aber das kommt uns recht in die Quere !
Hoffentlich ist es nichts von Bedeutung .
- Mama , Peter fühlt sich so unwohl ! " wandte er sich an seine eintretende Mutter .
" Er konnte den ganzen Tag nicht ausgehen " , setzte er wie entschuldigend und begütigend hinzu ; " sonst hätte er euch selbstverständlich von der Bahn abgeholt . "
- Frau Treutaler fühlte Peter ohne weiteres den Puls : " Fieber hat er nicht .
Wird wohl ' ne kleine Erkältung sein .
Heute Nacht tüchtig schwitzen , dann ist morgen alles gut . " - Jetzt trat auch der alte Treutaler herein .
Auch ihm wurde die Sache vorgetragen , er verstand , daß Peter nicht zur Bahn kommen konnte , und sagte , der Fall sei erledigt .
- " Wo ist denn Tinchen ? " fragte Peter , der wohl fühlte , daß er sich nach ihr erkundigen müsse .
- " Tinchen ist draußen in der Küche und bügelt ihren Brautschleier .
Das Mädchen hat ihn schlecht eingepackt ; er ist bei der Reise ganz zerknittert .
Tinchen ! "
- " Ja , Mama ? "
- Das war ihre Stimme .
- " Tinchen , komme doch Mal ' rein ! "
- " Is so quadderig ! " rief Tinchen zurück .
- " Du kannst ihn ja nachher fertig bügeln .
Komme nur Mal herein ! "
- Draußen klangen Schritte , Peter hatte sich erhoben , Tinchen erblickte ihn , ging auf ihn zu , und er zog die Schultern hoch , sich vorbereitend auf den Schlag , mit dem ihre beiden Arme auf seinen Nacken fielen .
- " Schatz ! " sagte sie , ihn küssend , " süßer Schatz ! "
- " Na , Kinder , nun hört Mal wieder auf , rief die alte Frau Treutaler , " sonst bleibt ja für morgen nichts mehr übrig !
Überhaupt : Peter ist erkältet , nimm dich in acht , Tinchen ! "
- " Erkältet ?!
Soll ich dir einen Kamillentee machen , Herz ? "
- " Nein ! " sagte Peter sehr bestimmt .
" Ich brauche keinen Kamillentee .
Und überhaupt - " , er wußte nicht weiter und stockte .
Was soll denn nun werden ?
Der Brief war immer noch nicht angekommen .
Und wenn er auch morgen früh nicht kam ? -
Wie um Gottes Willen soll ich es machen , daß ich sie nicht heirate !
Ich bleibe morgen einfach im Bette liegen , und wenn mich jemand holt , so sage ich , ich wäre krank und stände auf keinen Fall auf .
Ja , das tue ich wirklich , was soll ich denn anders machen ?
- " Geht es dir schlechter ? " fragte Julius , der ihn beobachtete , teilnehmend .
- " Ja ! " sagte Peter mit trockener Kehle .
" Ich glaube , viel ! "
- " Das wäre aber doch ärgerlich " , brummte der alte Herr Treutaler aus seinem Lehnstuhl in der Ecke hervor , " wenn wir die Hochzeit deswegen verschieben müßten ! "
- " Ja " , sagte Peter .
" Aber ich fühle mich sehr elend . "
- " Lege dich zu Bett ! " meinte Julius .
" Morgen früh komme ich und sehe nach dir .
Wenn es dann gar nicht besser ist , so müssen wir die Hochzeit verschieben . "
- Peter erhob sich , dankte allen und ging nach Haus .
Draußen wurde ihm ein wenig freier ums Herz .
" Also das steht fest ! " sagte er laut für sich :
" Morgen bleibe ich den ganzen Tag im Bette . "
- Den nächsten Tag um acht Uhr klopfte es an seiner Türe . -
Der alte Herr Treutaler trat herein in Begleitung eines Arztes :
" Hier ist der Patient .
Nun untersuchen Sie Mal , was ihm fehlt . "
Der Arzt untersuchte , fragte , wo Peter Schmerzen habe , und Peter antwortete :
" Hier - und da ! "
Und der Arzt untersuchte noch einmal , schlug ihm endlich auf die Schulter und sagte :
" Ihnen fehlt nicht die Spur , Sie sind ganz gesund ! "
- " Kleine nervöse Verstimmung !
Weiter nichts ! " wandte er sich an Herrn Treutaler .
Dieser fragte sogleich , ob Peter aufstehen dürfe , und der Arzt antwortete :
" Gewiß , selbstverständlich . "
Peter verteidigte sich noch eine Weile , aber der Arzt schüttelte den Kopf : " Wird alles vergehen !
Stehen Sie auf , und gehen Sie etwas an die Luft , das tut Ihnen am besten . "
- " Also , an die Luft gehen ! " wiederholte Herr Treutaler .
- " Und wenn Sie Kopfschmerzen haben , so nehmen Sie ein Brausepulver . "
- " Also , ein Brausepulver ! " wiederholte Herr Treutaler .
" So , Peter , nun wissen wir alles . "
- Als Peter zu Hause war , überlegte er sich , was nun geschehen solle .
Ein Grund , die Hochzeit zu verschieben oder aufzuheben , war nicht mehr vorhanden .
Er hätte sich geradezu den Arm oder das Bein brechen müssen .
Er versuchte das auch ein paarmal auf der Treppe , aber im entscheidenden Momente fehlte ihm jedesmal der Mut , und er kam immer wieder auf beiden Füße zu stehen .
Auch wurden die Hausbewohner aufmerksam .
- " Also , heirate ich sie ! " sagte er mit matter Stimme .
" Aber mit Vorbehalt ! " setzte er heftig hinzu .
" Später scheide ich mich von ihr ! "
- Diesen letzten Zusatz aber machte er nur , um sich vor sich selbst Respekt zu geben .
Gegen Liesel erfaßte ihn eine wehe Bitterkeit .
Welche Herzlosigkeit , ihn so seinem Unglücke zu überlassen , wo es ihr so leicht war , ein Mittel wenigstens zu versuchen , das ihn befreien konnte .
Er schrieb ihr einen Eilbrief , er heirate nun doch , da er keine Rettung durch sich selbst wisse .
Sie möchte in dieser Sache nichts mehr tun , da sie nichts getan habe , solange es noch Zeit gewesen , und jetzt jeder Schritt von ihr nicht nur nutzlos , sondern direkt schädlich sein würde , da er nichts mehr ändere und alles nur verschlimmern könne .
Er habe von ihr mehr Liebe und Erinnerung erwartet , und sie habe ihm nun gezeigt , daß er ihr völlig gleichgültig sei .
In Wirklichkeit lag die Sache anders , als er wähnte :
Liesel hatte im Gegenteil sofort alles getan , was er von ihr verlangte .
Ihr Brief war unterwegs , und die Verzögerung verschuldete Peter Michel selbst , der seinen Brief mit ihrem ihm gewohnten und geläufigen früheren Vor- und Vaternamen adressiert hatte , unter welchem sie nicht offiziell bekannt war .
So bedurfte es erst polizeilicher Nachforschung , ehe es gelang , den Brief der Empfängerin auszuhändigen .
Liesel hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht , Peter recht behilflich und dienlich zu sein .
Sie sah mit Freuden , daß es mit ihm doch noch nicht so schlecht stand , wie sie befürchtet hatte , und hoffte , daß noch einmal etwas Gutes aus ihm werden könne .
Um ihn den Treutalers als einen noch möglichst warmgebackenen Sünder hinzustellen , hatte sie die Zeitverhältnisse verschoben und geschrieben , ihre nähere Bekanntschaft datiere erst von der Zeit nach ihrer Heirat mit Herrn Julius :
Nicht sie sei der schuldige Teil gewesen , sondern er ; er habe sie verführt , langsam und allmählich , wenn ihr Gatte auf Reisen war .
Dann habe sie nicht mehr gewollt , und da habe er ihr gedroht , er würde sie durch anonyme Briefe an ihren Gatten beunruhigen .
Einen solchen hätte er auch geschrieben , und sie habe in ihrer Angst ihrem Manne vorgelogen , sie selbst hätte ihn erfunden - um ihn eifersüchtig zu machen .
Dann habe Peter noch einmal geschrieben , und da sei sie in ihrer Not mit einem Dritten durchgegangen , nur um von Peter Michel loszukommen und in namenloser Furcht vor ihrem Gatten .
Aber jetzt , wo sie sehe , daß er in derselben Familie nach dem Bruder nun auch die Schwester unglücklich machen wolle , da könne sie nicht mehr zurückhalten .
Und wenn sie auch ein verworfenes Wesen sei , so seien doch ihre Worte wahr und wahrhaftig .
Sie habe Peter Michel geschrieben , ihn beim Heiligsten beschworen , von jener Ehe abzustehen , aber er habe ihr die furchtbarste Rache angedroht , wenn sie ihn verriete .
Sie würde seine Briefe schicken , wenn sie als Beweisstücke nötig wären , im Falle er leugnen sollte .
Endlich habe sie geschrieben , sie müsse reden , wenn man sie auch mit glühenden Zangen zerfleischte , und darauf habe sie den vorliegenden Brief an Treutalers abgeschickt .
Hoffentlich käme er noch zur rechten Zeit , um ein Unglück zu verhüten .
- " So ; das ist gepfeffert genug ! " sagte sie zufrieden zu sich selbst , indem sie die Feder fortlegte und den Brief spedierte .
Bald darauf erhielt sie dann Peters Eilbrief , und ohne einen Moment zu verlieren , telegraphierte sie zurück :
" Ja nicht heiraten !
Brief unterwegs !
Liesel ! " -
Aber dieses Telegramm sollte ihn nicht mehr erreichen .
Er erschien im Frack , um Tinchen zum Standesamte abzuholen .
Immer noch hoffte er auf ein Wunder .
Und das Blut gerann ihm , als Tinchen ihm entgegentrat in Schleier und Myrtenkranz .
" Wo hast du denn dein Bukett für deine Braut ? " fragte Julius erstaunt .
Das hatte Peter total vergessen , und er stürmte die Treppe hinunter , um das Versäumte nachzuholen .
Die alte Frau Treutaler hatte verweinte Augen ; und auch Tinchen sah man deutliche Spuren von Tränen an .
Peter wandte sich fragend an Julius .
- " Der Abschied zwischen Mutter und Tochter ist niemals leicht ! " sagte dieser .
Die Wagen fuhren vor , und man begab sich zum Standesamte und darauf zur Trauung .
Tinchen saß steif und feierlich auf ihrem Sitze .
Peter wagte kaum , sie anzusehen .
Denn sie ergriff dann jedesmal seine Hand und blickte ihn zärtlich an .
Und als sie in die Kirche traten , da noch immer wartete er auf das Wunder .
- Wenn jetzt Liesel hereintrat und sagte : " Mir gehört er und keinem anderen ! " -
Er würde ihr in die Arme fallen .
Ob sie ihn später zehnmal hinterging , das war ja ganz egal .
Aber Liesel kam nicht ; der Pastor hielt seine Traurede , fügte ihre Hände ineinander , und Peter sprach bewußtlos sein : " Ja . "
Das Hochzeitsmal war bei Julius Treutaler .
Außer den nächsten Verwandten waren nur noch der Rektor und Frau Ottilie geladen .
Peter saß ihr schräg gegenüber ; Julius schenkte ihm fleißig Wein in sein Glas , und er trank ihn , um sich zu betäuben .
Frau Ottilie war noch immer schön .
Sie trug ein hellblaues Kleid aus feiner Seide und eine goldene Kette um den Hals .
Sie blickte voll zu ihm hinüber und nickte ihm leise zu , als wolle sie sagen :
Nun hast du , was du wünschest !
Reden wurden gehalten , von Julius , von Herrn Treutaler , vom Rektor , und man machte Peter begreiflich , daß er ebenfalls einige Worte zu sprechen habe .
Er erhob sich und trank ein Wohl auf die ganze Versammlung , auf sich und auf " Fräulein Tinchen " , welche Bezeichnung von den Anwesenden als ein launiger Scherz belacht wurde .
Nach dem Essen traf er zufällig mit Frau Ottilie in einer Ecke zusammen .
- " Gott sei Dank , daß Sie hier sind ! " sagte er .
" Ich glaube , ich hätte es sonst nicht überstanden . "
Und als sie ihn erstaunt anblickte , fuhr er fort : " Ach , Sie wissen ja genau , daß ich sie nicht liebe .
Ich habe nur einmal jemand geliebt , und das sind Sie . "
- Sie , erhob sich sofort und sagte : " Sie scheinen nicht zu wissen , was Sie da reden .
Nehmen Sie sich doch etwas zusammen ! "
- " Und Liesel ! " setzte er lebhaft hinzu .
" Aber das ist ja eigentlich dasselbe .
Wissen Sie noch , wie Sie mich gemalt haben ? "
Diese Reminiszenz kam ihr durchaus nicht gelegen .
" Seien Sie vernünftig ! " sagte sie .
" Sie sind ein Mann und müssen wissen , was Sie tun ! "
- " Ein Mann ?! " wiederholte er ; " nein , das bin ich nicht ! " -
Aber sie drehte ihm den Rücken und ließ ihn stehen , und er merkte , daß er Dinge geredet hatte , die er nicht hätte reden sollen .
" Es ist ja doch alles eins " , sagte er für sich .
Dann packte man ihn und Tinchen in einen Eisenbahnwagen , und fort rollte der Zug , der nächsten Hauptstadt zu .
Am folgenden Morgen erhob er sich melancholisch und übel gelaunt .
Tinchen half ihm beim Ankleiden und blickte verlegen zur Seite , wenn er sie ansah .
" Gleich wieder annähen ! " sagte sie , als sie einen abgerissenen Knopf an seiner Wäsche bemerkte .
Sie holte Nadel , Zwirn und Fingerhut aus einem Kästchen und begab sich an die Arbeit .
Peter trank mürrisch seinen Kaffee .
Sie blickte zuweilen von ihrem Schoße auf und sah zu ihm hinüber .
Plötzlich warf sie ihre Arbeit hin , flog ihrem Manne um den Hals und brach in lautes Schluchzen aus .
- " Was hast du denn ? " fragte er verwundert .
- " Ach , Peter !
Süßer !
Ich kann es ja immer noch nicht fassen , daß wir nun verheiratet sind !
Uns angehören für immer und ewig ! " -
Peter starrte schwermütig über ihre Schulter .
- Nach dem Kaffee schlug er ihr vor , ein wenig in der Stadt mit ihm zu spazieren und sich die interessanten Denkmäler und Museen anzusehen .
Sie war sofort mit Eifer bereit , und während er seine Toilette beendete , holte sie ihre Mundharmonika und begann ein Stück zu blasen , den Choral , den er schon kannte .
Aber mitten in ihren Tönen wurde sie durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen .
- " Telegramm für Herrn Michel ! " meldete der Kellner .
Peter nahm es , Übles ahnend , und erbrach es unverweilt - " Sogleich zurückkehren , notwendige Umstände .
Treutaler . "
- Er sagte sich sofort , dies Telegramm müsse in Beziehung zu Liesels Briefe stehen , der nun wider Erwarten doch noch eingetroffen war .
" Wir gehen nicht zurück !
Ich kann mir absolut nicht denken , was da passiert sein soll . "
- Aber Tinchen meinte , Papachen sei immer kränklich gewesen , er könne vielleicht plötzlich todkrank geworden sein .
- " Unsinn ! " antwortete er .
Aber sie begann zu weinen und beschwor ihn , sofort mit ihr zurückzukehren :
" Mamachen hat gestern noch gesagt :
» Wenn du nur deinen Vater glücklich und lebendig wiedersiehst , Tinchen ! «
Oh , ich weiß es ganz gewiß ; gestern , der viele Wein , die Aufregung , das ist er ja alles nicht mehr gewohnt , und nun hat er die Anstrengung nicht ertragen können !
Peter , fahre mit mir zurück ! "
- Er wurde schwankend .
" Meinst du ? " fragte er .
" Gut !
Ich werde anfragen , was passiert ist ; dann werden wir es ja erfahren . "
- Sollte es sich wirklich nicht um Liesels Brief handeln ?
Es konnte sehr wohl sein .
Ja , bei Lichte betrachtet , war es gar nicht so unwahrscheinlich .
Er telegraphierte zurück :
" Ist Papa krank ? "
Und erhielt die Antwort :
" Ja ! "
So nahm er denn unverzüglich zwei Billetts , und dann saßen sie wieder Hand in Hand im Eisenbahnwagen .
- Und wenn dies zweite Telegramm nun eine List war ?
Diese Idee schoß ihm mit einem Male durch den Kopf .
Er suchte im stillen ein herausfordernd-hochmütiges Gesicht zu machen , aber es gelang ihm nicht recht .
Und überhaupt , wenn es wirklich der Brief war , war denn das ein Unglück ?
Kam es dann nicht doch noch so , wie er gewünscht hatte ?
Konnte er sich nicht immer noch von Tinchen trennen ?
Er würde alles eingestehen , alles !! -
Aber der Gedanke an die nächsten Stunden schnürte ihm die Kehle zu . -
Tinchen konnte es nicht erwarten , ihren Vater zu sehen .
Sie stolperte die Treppe hinauf , fiel ihrer Mutter an der Türe um den Hals und rief : " Ist er tot ?
Ist er tot ? "
- " Nein " , sagte sie .
" Dein Vater lebt und ist gesund .
Komme hier mit herein , Tinchen , in mein Zimmer .
Peter , mein Mann erwartet dich vorn . "
Peter lief alles Blut zu Herzen .
Es kann nichts helfen ! dachte er , und mechanisch öffnete er die Tür .
Der alte Herr Treutaler saß im Lehnstuhl und erhob sich nicht bei seinem Eintritt .
Julius stand neben ihm und blickte unbeweglich auf seinen eintretenden Schwager .
Herr Treutaler deutete auf einen Stuhl sich gegenüber und sagte : " Setze dich . "
Peter tat es .
Es entstand eine Pause ; der alte Herr schaute , wie nach einem Anfang suchend , auf den Boden , während Julius voll und unverwandt auf Peter blickte .
- " Nun " , begann der alte Herr endlich , " errätst du wohl , weshalb wir dich rufen ließen ? "
- Peter fühlte , wie alles Blut zu seinem Herzen strömte , und er sagte : " Nein . "
Sein Blick tastete auf Herrn Treutalers Gesicht , senkte sich aber sogleich , als er dessen Augen begegnete , die voll auf ihn gerichtet waren .
Herr Treutaler zuckte verächtlich mit den Achseln :
" Nun gut , so will ich meine Frage anders stellen :
Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen ? "
Peter atmete immer schneller .
Ihm war , als ertränke er .
" Zu meiner Verteidigung ? " sagte er endlich tonlos .
- " Eine solche Unverschämtheit ist doch unerhört ! " fuhr da der alte Herr mit einem plötzlichen Ruck vom Stuhle auf , und Julius schüttelte mit einem Laute der Entrüstung seinen Kopf und begann im Zimmer auf und ab zu wandern .
- " Was hast du zu deiner Entlastung zu sagen ? " schrie ihn der alte Herr von neuem an .
- " Ich weiß ja gar nicht , was sie alles geschrieben hat ! " rief da Peter , gänzlich in die Enge getrieben .
- " Also jede Spur eines Zweifels beseitigt ! " wandte sich Herr Treutaler an seinen Sohn .
- " Du weißt nicht , was sie alles geschrieben hat ?
Das weißt du nicht ?
Von wem ist denn überhaupt die Rede , he ?
Wer ist denn diese » sie « , he ?
Wenn du weißt , daß » sie « über dich geschrieben hat , so wirst du vermutlich auch wissen , was sie geschrieben hat !
Du bist ein verkommener Mensch !
Ein verkommener Mensch !!
Aber die Person hat immer noch mehr Ehre im Leibe als du !
Sie fürchtet sich nicht vor deinen Drohungen !
Du hast sie zur Untreue gegen ihren Gatten verführt ! "
Peter wollte protestieren , aber der alte Herr brüllte : " Schweige !
Du hast sie auf die abschüssige Bahn gebracht , und jetzt , wo sie sieht , daß du ein zweites Mädchen unglücklich machen willst - was sage ich : zweites Mädchen ?
Gott weiß , die wievielte es ist ! -
da hat ihre bessere Natur in ihr gesiegt !
Kannst du leugnen , daß du ihr Rache angedroht hast , wenn sie dich verriete ?
Er glaubte sie einzuschüchtern , der Patron , durch seine albernen Drohungen , und doch hat er von Stunde zu Stunde , von Minute zu Minute gezittert , der Brief könne doch noch eintreffen !
Er wurde krank vor Angst , der Feigling !
Er steckte sich ins Bett vor Furcht !
Und dann dampfte er mit unserem Kinde ab und lachte uns aus , daß ihm der Streiche doch noch gelungen war , daß er sie und ihr Geld doch noch gekapert hat , gerade vor Torschluß .
Kriegt noch im letzten Augenblick ein Telegramm von der Person . "
- " Das ist nicht wahr ! " rief Peter verzweifelt .
- " Ja , gelesen hat er es natürlich nicht , der Bube , denn er war mit unserem Kinde schon über alle Berge - aber hier steht es , hier , hier ! "
- Er zog mit zitternder Hand ein Telegramm aus der Tasche :
" Ja nicht heiraten !
Brief unterwegs !
Liesel ! "
Da - da steht es , Monsieur , da steht es !
Und du bist festgenagelt und kommst nicht mehr los von deiner Schande , trotz aller Ausflüchte , die du machen möchtest ! "
- " Ich habe sie nicht verführt ! " rief Peter wie taumelnd . -
Der alte Herr stürmte auf ihn ein :
" Da-a , lies deine Schande schwarz auf weiß , und dann sage noch , wenn du den Mut hast : » Ich habe sie nicht verführt ! « " -
Er schlug mit dem Rücken seiner Hand heftig und viele Male auf den Brief der Liesel , den er in der Linken hielt .
" Lies ihn ! "
- Er hielt ihn Peter dicht unter die Nase , und der sah nur eine Flucht hinwirbelnd Buchstaben ; der alte Herr ließ ihm auch gar keine Zeit zum Lesen :
Im nächsten Augenblick schlug er ihm Hand und Papier mitten aufs Gesicht .
Das war zuviel für Peter .
- " Ich verbitte mir das !
Das ist eine Unverschämtheit ! "
- " Unverschämtheit !? " rief der alte Herr und wollte von neuem auf ihn zu .
Aber Julius hielt ihn zurück .
- " Überhaupt " , rief Peter wütend , " alles ist nicht wahr , was sie geschrieben hat .
Gar nichts davon ist wahr ! "
- " Bravo ! " rief der alte Herr , " bravo ! "
Und Julius sah Peter mit einem Blicke tiefster Verachtung an und sagte :
" Wenn es der Mühe verlohnte , dir eine Antwort zu geben , so möchte ich dich fragen :
Bist du nicht kreidebleich wie ein armer Sünder gewesen , als du zur Tür hereintratst ?
Wußtest du nicht sofort , wovon die Rede war , ehe wir nur ein Wort gesprochen hatten ?
Kann uns Liesel nicht deine Briefe schicken , in denen du sie bedrohtest , falls sie dich verriete ?
Hast du nicht damals die beiden anonymen Briefe an mich geschrieben ?
Haben wir hier nicht das Telegramm , in dem sie dich beschwört , nicht zu heiraten ? " -
Peter flimmerte es vor der Seele .
Seine Gedanken waren ein wildes Chaos .
Er atmete schwer und schwieg einige Augenblicke .
- " Also ! " begann er endlich , " jetzt sehe ich , ich muß euch geradeheraus sagen , wie sich alles zugetragen hat :
Ich habe Tinchen nie geliebt ; ich wollte sie nicht heiraten :
ich wußte keinen Ausweg ; ich schrieb an Liesel , sie möchte mich bei euch verdächtigen ; ich wollte alles eingestehen ; ich hoffte , ihr würdet die Verlobung darauf von selber lösen ; dann war ich kompromittiert und nicht Tinchen ; Liesels Brief kam nun zu spät an ; ich war bereits verheiratet ; weshalb soll ich jetzt noch Dinge eingestehen , die nicht wahr sind ?
Ich schrieb ihr in letzter Stunde , ich heirate nun doch , weil ich glaubte , daß sie den Brief an euch nicht geschrieben hätte .
Und das Telegramm , das ich nicht mehr erhielt , ist die Antwort auf meinen letzten Brief ; ich sollte nicht heiraten , denn der Brief an euch wäre unterwegs ! " -
Dies trug Peter aufgeregt und hastig vor .
Es herrschte einen Augenblick Pause höchsten Erstaunens .
Dann schlug der alte Herr wahnsinnig Beifall klatschend in die Hände , und Julius rief höhnisch :
" Wahrhaftig , Peter , ich hätte dir niemals zugetraut , daß du so kunstvoll lügen könntest !
Wirklich geistreich .
Direkt erfinderisch !
Geradezu genial !! "
- Er trat auf ihn zu und durchbohrte ihn mit seinen Augen : " Kannst du mich gerade anblicken und mir meine Frage beantworten :
Hast du keinerlei Beziehungen zu meiner früheren Frau gehabt ? " -
Diese Frage kam Peter , wenigstens in solcher Form , unerwartet .
Er wollte reden , aber er fand die Worte nicht ; Julius wandte sich von ihm ab ; es herrschte ein Moment der Stille .
Dann sagte Julius , " ich glaube , die Frage ist nun entschieden . "
- " Schurke !! " zischte der alte Herr .
Aber da kochte es in Peter plötzlich auf .
" Nein ! " rief er ; " die Frage ist nicht entschieden .
Ich habe mir zuviel gefallen lassen !
Ich habe allerdings Beziehungen zu Liesel gehabt , aber das war lange , ehe sie verheiratet war , ehe Julius sie überhaupt gekannt hat .
Ihr habt gar keine Veranlassung , mich von Tinchen zu trennen .
Aber das sage ich euch :
Jetzt trenne ich mich von ihr , für eure Unverschämtheit ! "
- " Hinaus !! " brüllte der alte Herr , " hinaus ! "
Aber indem er ihn zur Türe trieb , wurde diese von außen aufgedrückt , und Tinchen , mit rotem , tränenüberströmtem Gesicht suchte hereinzudrängen , während die alte und die junge Frau Treutaler sich bemühten sie nach hinten zu zerren .
Sie zwängten sich hindurch , und die beiden Frauen hinterdrein .
Alle drei Weiber stimmten ein gemeinsames Weinen an .
- " Geht ihr Mal hinaus ! " rief Julius barsch .
" Ihr macht die Geschichte nur noch viel schrecklicher ! "
Aber Tinchen hatte sich schon hingesetzt und hielt sich am Stuhle fest .
- " So haltet doch wenigstens euren Mund !! " schrie der alte Herr , und auf dies Kommando herrschte Stille im Zimmer , und man vernahm nur noch ein abgerissenes Glucksen .
- " Also , es hat sich herausgestellt , Tinchen " , sagte ihr Vater mit bebender Stimme , " falls du es noch nicht wissen solltest , daß dein Mann bis zu seiner Verheiratung ein Lotterleben geführt hat .
Du wirst wohl wünschen dich wieder von ihm zu trennen .
Und ich kann dir versichern :
Wir wünschen es ebenfalls . "
- Tinchen brach in heftiges Schluchzen aus und schüttelte den Kopf :
" Aber ich - ich - ich will mich ja gar nicht von ihm trennen !
Ich - ich habe ihn ja - viel zu lieb ! "
- " Tinchen , unsere Familie ist dann wieder gereinigt von dem Schmutz , der ihr jetzt anhaftet ! "
Tinchen schüttelte den Kopf .
Da rief Peter :
" Dann trenne ich mich von ihr !
Ich will auch von eurem Familienschmutze gereinigt werden ! "
Hierauf erhielt er von Julius eine kräftige Ohrfeige , die er , seines Vorsatzes eingedenk , ebenso kräftig erwiderte .
Es wäre eine Keilerei entstanden , wenn sich die Frauen nicht an ihre Rücken und Arme gehängt hätten .
" Laßt ihn ! " schrie Tinchen .
" Laßt ihn !
Er ist mein Mann !
Er hat nicht die Schuld !
Ihr habt ihn gereizt !
Ihr habt ihn beleidigt !
Ich weiß es ja doch besser als ihr alle , wie lieb er mich hat !
Seit gestern - sind wir ja - verheiratet . "
- " Ha , Bube !
Herzloser ! " rief ihr Vater , " siehst du nun das ganze Unglück , das du über eine schuldlose Familie gebracht hast ?
Und du , du willst dich trennen von ihr ?
Du ?!
Darfst du dich denn eigentlich trennen von ihr ?
Ist sie der schuldige Teil , oder bist du es ?
Hat sie sich vergangen , oder hast du dich vergangen ?
Du kannst gar nichts tun , als dich freuen und dich gedemütigt bedanken , wenn deine Frau dich wieder in Gnaden aufnehmen will !
Das kannst du ! " -
Peter stand wie versteinert ; er fühlte die Wahrheit dieser Worte , und seine letzte Hoffnung sank in nichts .
Tinchen aber hatte sich erhoben , die Arme ausgebreitet , und schmiegte sich eng und innig an seine Brust . - -
" Du hast es nicht verdient ! " zischte jetzt die alte , hagere Frau Treutaler aus ihrer Ecke hervor , und die junge blickte ihn mit recht grünlichen Augen an .
- " Nein !
Verdient hat er es weiß Gott im Himmel nicht ! " rief Julius mit Emphase .
- " Sprich , hast du es verdient ? " schrie ihn der alte Herr an .
" Ob du es verdient hast ?!
Antworte !!
Antworten sollst du !! "
- " Nein " , murmelte Peter , welcher das Nutzlose einer anderen Antwort einsah , die nur einen neuen Entrüstungshagel auf ihn hätte herniederprasseln lassen .
- " So !
Nun hat er doch wenigstens eingestanden , daß er 'n Lump ist ! " rief der alte Herr , indem er ihn mit seinen Augen an die Wand zu nageln schien .
" Und nun marsch !
Aus dem Zimmer , und nach Hause mit dir ! " -
Eine solche Behandlung aber war zuviel für Peter :
Er ballte die Fäuste und sah den alten Mann mit bebenden Lippen an .
Dieser machte Miene , abermals auf ihn einzustürmen , aber Tinchen warf sich zwischen sie und drängte ihren Vater bis zur Tür :
" Ihr sollt meinen Mann nicht beschimpfen " , rief sie und hing im nächsten Augenblicke wieder an seinem Halse .
" Ihr sollt ihn nicht beschimpfen !
Wenn ihr ihn beschimpft , so beschimpft ihr mich , und dann bin ich euer Kind nicht mehr !
Dann sage ich mich los von euch ! " -
Peter fühlte dunkel , daß er in Tinchen einen Bundesgenossen habe .
" Jawohl ! " rief er , " dann sagen wir uns los von euch ! "
- Und Tinchen legte ihren Kopf an seine Brust und drehte ihn zu Treutalers hinüber mit einem aufmerksamen , fast hasenartigen Ausdruck :
" Komme , Peter , wir wollen fort von ihnen , sie haben uns nicht lieb ; wir wollen wieder auf unsere Hochzeitsreise ! "
- " Bist du toll ? " rief ihr Vater .
" Hochzeitsreise !
Auch noch !
Hier bleibt ihr , unter Julius ' Aufsicht !
Und der Monsieur Michel kann sich freuen , wenn wir ihn nicht einsperren !
Da sie sich einmal an den Monsieur gehängt hat , in Gottes Namen denn ! " -
Aber Tinchen schmiegte sich nur fester an Peter , und Peter sah herausfordernd auf seine Schwiegereltern .
Die ganze Situation hatte sich allmählich und ihm unbewußt verschoben :
Er und Tinchen bildeten die eine , die Familie die andere Partei .
- " Sie liebt ja den Monsieur mehr als ihre eigenen Eltern ! "
- " Jawohl " , rief Tinchen , " ich habe ihn auch lieber als euch , denn er ist mein Mann !
Er ist immer so gut gegen mich gewesen , o so gut !
Und ihr seid schlecht gegen mich und wollt mir mein Glück nicht gönnen !
Aber wir brauchen euch gar nicht zu unserem Glücke !
Wir haben aneinander genug !
Und die Geschichten sind alle nicht wahr , die ihr erzählt habt , Peter hat es ja selbst gesagt !
Gott weiß , wer sie erfunden hat !
Alle nicht wahr sind sie !
Ihr habt ihn verleumdet !
Komme , Peter , wenn sie nicht wollen , daß wir glücklich sind , so sind wir erst recht glücklich , und wenn sie uns unsere Hochzeitsreise nicht gönnen , so machen wir sie erst recht ! "
- Sie hatte ihn bei der Hand gefaßt und zerrte ihn aus dem Zimmer .
" Adieu ! " rief sie , " ich behalte euch alle lieb , wenn ihr mich lieb behaltet . "
- Damit war sie hinaus , und bald darauf saß sie mit Peter abermals in der Eisenbahn und sagte : " So , nun haben wir beide nur uns selbst und sonst niemanden in der Welt !
Mein süßer , einziger Mann ! "
- Und sie lag in seinen Armen und er in ihren .
- Wie das alles gekommen war , er wußte es nicht .
Er wußte auch nicht , ob er sich glücklich oder unglücklich fühlte .
Aber ihm war , als sei eine große Gefahr endlich überstanden .
Und Tinchens reine Zärtlichkeit wirkte wie eine Entschädigung auf alle die vergangenen Beschimpfungen , und er empfand etwas wie Dankbarkeit gegen sie .
" Sage mir , Peter " , fragte sie ihn am Abend , als sie eng aneinandergeschmiegt und allein waren :
" Ist irgend etwas wahr von dem , was Papa und Julius erzählt haben ? "
- Peter zögerte .
- Dann beichtete er ihr sein Erlebnis mit Liesel , welches er vor Jahren hatte , und schwor , dies sei der einzige Fehltritt , den er je begangen .
Und dann weinte und weinte sie an seinem Halse , daß ihm die Tränen an der Brust herunterliefen , und sie weinte so lange , bis aller Schmerz von ihrer Seele gespült war .
Und dieser Abend war erst ihr eigentlicher Hochzeitsabend .
Epilog Peter Michel sitzt an seinem Arbeitstisch .
Es ist Abend .
Die Lampe erhellt sein Gesicht , das von einem Vollbart umrahmt ist , und spiegelt sich in seinen Brillengläsern .
Es klopft : " Männchen , kommst du denn noch nicht bald ?
Der Tee wird kalt , und wir haben Hunger !
Sollen wir ohne dich anfangen ? "
Frau Tinchen tritt an den Schreibtisch und sieht ihm über die Schulter , indem sie ihre Hände auf seine beiden Achseln legt .
" Na , wie hat er denn heute geschrieben , der Willi ? "
- " Wieder eine Fünf , wie gewöhnlich ! " antwortete Peter , indem er die Pfeife aus dem Munde nimmt .
" Wir müssen ihn aus der Schule nehmen .
Aus dem Jungen wird nichts .
Es fehlt ihm der rechte Ernst !
Sieh doch nur allein seine Schrift an !
So ein großer Junge und kann noch nicht einmal ordentlich schreiben !
Bald über der Zeile , bald unter der Zeile .
Und hier ist sogar ein orthographischer Fehler ! " -
Indem kommt der Willi , Peters ältester Sohn , herein .
" Bengel , komme Mal her ! " sagt der Vater .
Willi tritt näher .
Er ist ein hoch aufgeschossener Junge mit blöden Augen und sieht stark in die Treuthalersche Familie .
Er begreift sofort , wovon die Rede ist .
- " Kannst du nicht besser schreiben ?
Wenn ich mir so etwas erlaubt hätte , als ich so alt war wie du , da wäre ich schön bei meinem Vater angekommen ! "
- Peter vergißt , daß sein Vater gar kein Urteil über Schriften hatte .
- " Da wäre ich schön angekommen ! " wiederholt er , indem er sein Gesicht voll seinem Sohne zuwendet .
" Komme Mal ' ran , Junge ! "
Willi nähert sich und weiß ganz genau , daß er im nächsten Momente am Ohr gezogen wird .
" Au ! " sagt er und reibt sich verlegen die Stelle .
" Junge !
Aus dir wird Mal nichts Rechtes ! " fährt Peter fort .
" Als ich so alt war wie du , da wußte ich schon ganz genau , was ich werden wollte .
Und ich hatte nicht so einen Vater wie du , der für dich sorgt und arbeitet !
Ich wurde in eine Pension getan , weil wir auf dem Lande kein Gymnasium hatten , und da mußte ich unter fremden Menschen leben und war auf mich allein angewiesen .
Ganz allein habe ich mich emporgearbeitet , und dabei mußte ich meinen Vater erhalten und dann meine Mutter auch noch , eure Großmutter , die nachher am Schlaganfall starb , das weißt du ja !
Aber euer Großvater lebt heutigen Tages noch und muß von mir erhalten werden .
Ich beklage mich nicht darüber , denn er ist mein Vater , und in der Bibel steht : » Du sollst deinen Vater « - na , wie geht es weiter ?
Man los Junge , nicht so bummelig ! "
- " Und Mutter ehren , auf daß es dir gut gehe und du lange lebest auf Erden . "
Frau Michel streicht mit der Hand über die Backe ihres Sohnes und sagt :
" Aber Manne , er ehrt doch auch Vater und Mutter !
Willi ist doch ein gutes Kind ! "
Dabei trocknet sie mit dem Zipfel ihrer Schürze eine Träne aus den Augen ihres Sohnes .
" Sei nicht so hart mit ihm !
Er hat so ein weiches Gemüt ! "
- " Aber er hat wieder eine Fünf in Mathematik geschrieben , und ich sage : Aus dem Jungen wird nichts Rechtes ! " -
Willi geht leise hinaus und kaut an den Nägeln .
Ich will mich ja besseren ! denkt er , aber wie soll ich das machen ? -
Peter bleibt mit Tinchen allein , die sich ihm auf den Schoß setzt und ihm den Bart streicht .
Das , weiß sie , hat er sehr gerne .
" Du bist überarbeitet , Männe " , sagte sie .
" Du solltest dich Mal erholen , Mal auf vier Wochen irgendwohin gehen . "
- " Du weißt , das ist zu teuer " , sagt Peter .
" Und ohne dich und die Kinder gehe ich nicht , das weißt du auch ! "
Nach Tische erscheint der Onkel Julius , dessen Haar schon stark ins Graue übergeht , mit Tante Emma .
Die Kinder lieben sie nicht , da sie zuviel an ihnen erzieht .
Julius dagegen ist ihr wahrer " Goldonkel " .
Er verwöhnt sie , wo er kann , nimmt den Neffen Willi , der nach Tinchens Vater genannt ist , zuweilen mit in die Kneipe , " indem die Kinder früh das Leben kennenlernen müssen " , und steckt ihm manchmal ein Silberstück in die Hand , für das der Junge sich etwas blöde bedankt , obgleich er gegen den Onkel am unbefangensten ist .
Es scheint , daß etwas von dem Geiste von Peters Vater auf ihn übergegangen ist .
Die jüngere Schwester , nach Peters Mutter Philippine genannt und " Bingen " abgekürzt , ist in der Schule fleißig , zu Hause sorgsam und sehr reinlich .
Sie gerät ihrer Mutter nach .
Tinchen ist eine gute Hausfrau ; sie hat während ihrer Ehe gesucht , sich zu bilden , und vermag in einer Gesellschaft einem Gespräche gut zu folgen .
Ihre Seltsamkeiten haben sich allmählich gemildert ; nur wirken ihre langen Arme noch immer etwas störend .
Ihre Eltern sind seit einigen Jahren tot .
Tinchen und Julius haben sich in die Einrichtung geteilt , und Peter hat den Lehnstuhl seines Schwiegervaters bekommen , in dem er abends seine Zeitung liest und seine Pfeife raucht .
Jeden Samstag hat er seinen Kegelabend , jeden Mittwoch seinen Skat , zu welchem seine intimsten Freunde erscheinen , unter ihnen Herr Lottermeier , mit dem er sich vor einigen Jahren aussöhnte , da beide inzwischen vernünftig geworden sind und eingesehen haben , daß jeder Mensch neben seinen schlechten auch seine gute Seiten hat .
Er hat viele Kinder und möchte seinen ältesten Sohn einmal mit Peters Bingen verheiraten .
" Sie gäben ein hübsches Paar zusammen ! " sagt er , und Peter stimmt schmunzelnd bei .
Ihrer früheren Feindschaft erinnern sie sich als einer unreifen Jugendeselei .
Nur Selch darf man mit Lottermeier nicht zusammenbringen , denn der hält starr und fest an seiner alten Antipathie , und Peter sagt : " Man muß den alten Bären in Ruhe lassen ! "
Der Rektor ist gestorben , und Frau Ottilie ist Brautmutter , da ihr kleines Mädchen allmählich herangewachsen ist , einer der gefeiertsten Backfische wurde und sich auch richtig mit einem Leutnant verlobte .
Ihren Maxel mußte sie nach dem Tode ihres Mannes in eine strenge Pension geben , da er gar zu sehr über die Stränge schlug ; aber hinter seiner etwas dicken Stirn steckt ein guter , energischer Verstand .
Er wird einmal etwas Tüchtiges .
Frau Ottilie ist noch immer eine stattliche Erscheinung .
Nur bedauert man allgemein , daß sie zu dick geworden ist .
Ihre Augen haben einen unendlich gutmütigen Ausdruck , so daß jeder , der hineinschaut , gern hineinschaut .
Trotz ihrer Körperfülle ist sie eine rührige , tätige Frau ; sie ist im Vorstand aller möglichen wohltätigen , aufgeklärten Vereine und interessiert sich auf das lebhafteste für das geistige Wohl der Heidenkinder in fremden Ländern .
Auch sagt man , sie sei eine gelehrte Frau , und es ist ein offenes Geheimnis , daß sie jenes große Werk über Cicero , das ihr Mann unvollendet zurückgelassen , fortsetzt und bald seinem Abschluß entgegenführen wird .
Es sind viele Aufzeichnungen ihres Mannes vorhanden , aber um das Ganze in einen Zusammenhäng zu bringen , bedarf es doch eines überschauenden Geistes ; und den hat Frau Ottilie .
Man weiß , daß sie an den Interessen ihres Mannes teilnahm und daß er ihr das geistige und künstlerische Leben der Antike erschloß . -
In ihrem Salon hängen kleine und große bunte Bilder , alle eingerahmt , die sie selbst gemalt hat .
Später mußte sie diese schöne Kunst gänzlich aufgeben , denn , " Sie wissen ja !
Die Kinder ! " und verständnisvoller Blick und bedauerndes Kopfnicken auf beiden Seiten . -
Frau Ottilie fehlt auf keiner Gesellschaft .
Sie verkehrt auch bei Michels ; die Kinder lieben sie , da sie so lustig und freundlich ist .
Beide sind ihre " Patchen " , sie nennt Peter wieder bei seinem Vornamen :
" Als alte Freundin darf ich das !
Frau Tinchen wird mir das nicht übelnehmen ! "
- Tinchen hat eine unbegrenzte Hochachtung und schwärmerische Freundschaft für Frau Ottilie .
Wenn diese aus ihrer Jugend erzählt , so hängt sie an ihren Lippen , und ihr Gesicht bekommt dann wieder genau den Backfischausdruck wie damals , als Peter sie kennenlernte .
Tinchen fühlt sich dann so beschämt über ihre eigene Unzulänglichkeit .
Aber Peter will diese nicht eingestehen und sagt : " Du hast doch dein Pflegerinnenexamen mit der Eins bestanden !
Und überhaupt :
Wer so viel geleistet hat wie du , der braucht sich wahrhaftig nicht zu schämen !
Außerdem bedenke doch : Frau Rektor stammt von Künstlern ab .
Bei ihr ist die Kunst eben hereditär ! "
Und Tinchen läßt sich erklären , was hereditär bedeutet .
Sie hat sich ein Buch angeschafft mit weißem Papier , in das sie alles Neugelernte einträgt .
Das hat ihr Frau Ottilie geraten :
" Das beiläufige , gelegentliche Lernen ist das beste Lernen ! " hat sie ihr einmal gesagt , und diesen Spruch hat sich Tinchen vorn als Motto in ihr Buch geschrieben .
- Und dann hält Peter eine Rede , in der er ausführt , daß seine Frau wohl hätte eine Künstlerin werden können , wenn sie die Zeit gehabt hätte , sich auszubilden :
" Ich könnte alle möglichen Beispiele anführen :
Aber nehmen wir doch Mal das nächstliegende , die Musik :
Wenn sie ordentlich Musikstunden gehabt hätte , ich möchte Mal hören , wie sie jetzt spielen könnte !
Sie ist eben total Autodidakt !
Die Stücke auf der Mundharmonika spielt sie doch wirklich direkt künstlerisch !
Tinchen , Spiel doch Mal ! "
Tinchen läßt sich nicht lange bitten , sondern zieht ihr Instrument aus der Tasche , reinigt es von Krumen und beginnt , nachdem sie schnell in ihr Buch das Wort Autodidakt notiert hat , ihren Choral , dann das " schwierige Stück " und schließlich noch das , welches keine Begleitung hat und in welchem ihre Kunst erst recht zur Geltung kommt , denn hier kann sie das meiste Gefühl entwickeln ; es klingt fast wie eine Kantilene .
In letzter Zeit hat sie sogar das Vibrieren auf einem Tone gelernt .
Sie erzielt fast violinmäßige Effekte .
Ab und zu bricht die Melodie ab , und Tinchen erklärt , dies Instrument ginge nicht so hoch hinauf wie das vorige , welches kaputt sei .
Frau Ottilie hört etwas nachsichtig zu , applaudiert aber freundlich ; Peter klopft seiner Frau auf die Schulter und gibt ihr einen Kuß .
- " Nun soll aber Frau Rektor Mal ein Lied singen ! " sagt Tinchen , indem sie mit der äußeren Handfläche quer über das ganze Gesicht wischt und sie dann am Taschentuch abreibt ; und Frau Ottilie läßt sich erst lange nötigen , aber endlich erhebt sie sich doch mit einem leichten Seufzer :
" Kinder , wie ihr einen quält !
Aber dann muß mich auch Ihr Mann begleiten . "
Peter holt die Noten , ein Lied wird ausgesucht , das sie früher besonders viel gesungen und welches deshalb noch am besten im Gedächtnis haftet .
Er rückt den Klavierstuhl zurecht ; sie probieren einige Male den Einsatz , endlich haben sie ihn , und nun beginnen sie .
Mit einigem Stocken und Wiederholen bringen sie das Lied wirklich zu Ende .
Die Tür hat sich geöffnet :
Willi und Bingen stehen da , mit offenem Munde , und hören zu .
Tinchen winkt beide zu sich heran und bedeutet sie , leise aufzutreten .
Als das Lied zu Ende ist , applaudiert Tinchen eifrig und muntert Willi und Bingen auf , ebenfalls zu klatschen .
Und Peter sagt : " Jammerschade , daß Sie das Singen gänzlich aufgegeben haben ! "
Und Frau Ottilie sagt :
" Ebenso jammerschade , daß Sie das Spielen aufgegeben haben ! "
Beide beschließen , von jetzt ab wieder zusammen zu musizieren .
Peter wendet sich an Tinchen :
" Die Kinder müssen unbedingt Musik lernen !
Das ist ein Schatz fürs Leben .
Junge , möchtest du nicht Klavier lernen ? "
Willi lacht blöde und verlegen .
- " Du hast es gut ! " fährt Peter fort .
" Ich will dir Unterricht erteilen lassen .
Dein Vater hat nie im Leben Klavierunterricht gehabt und hat es doch zu etwas gebracht . "
Eines Tages kommt Frau Ottilie und bittet sich das Bild aus , das sie einst von Peter gemacht hat .
Aber Peter verweigert es .
Frau Ottilie bittet dringender , und schließlich kommt es fast zu einer kleinen Verstimmung zwischen den beiden .
Aber Tinchen vermittelt :
" Malen Sie Männe doch einfach noch einmal ! " sagt sie .
" Das Bild wird gewiß noch viel besser als das , welches wir haben ; und nachher will Männe es haben , und dann geben Sie es ihm einfach nicht ! " -
Frau Ottilie kommt wieder , mit Leinwand , Palette , Pinseln und Farben , und bedeutet Peter , dieses Mal würde er in Öl gemalt ; sie entwirft in großen Pinselstrichen eine Skizze , die sehr unähnlich ist , und tröstet sich mit der Hoffnung , die Ähnlichkeit werde bei der Ausführung schon " heraustreten " .
Aber sie tritt nicht heraus .
- " Es kommt immer anders , als ich will " , sagt sie .
" Im Geiste habe ich Ihr Bild ganz deutlich auf der Leinwand , aber die Wirklichkeit will keinen Schritt halten ! "
Dann versucht sie es wieder in Pastell .
Aber auch dieses scheitert gänzlich .
Endlich nimmt sie ihn ganz im Profil und versucht eine Bleistiftskizze .
Aber sie trifft ihn nicht .
- " Ich will Ihnen etwas sagen !
Ich sehe , es geht nicht !
Ich kann es nicht mehr !
Geben Sie mir mein Bild zurück ! "
Peter schüttelt den Kopf , aber Tinchen tritt zu der Skizze und sagt : " Ist ja schön !
O so schön !
Ich erkenne ihn ganz genau ! " -
Frau Ottilie packt ihre Malsachen wieder ein und zieht unverrichteter Sache nach Hause .
Nach einigen Wochen aber wird die Familie Michel auf das schönste überrascht :
Frau Ottilie hat ihr gescheitertes Künstlertum nicht ertragen können , der Schaden mußte auf andere Weise ausgeglichen werden .
Sie hat sich eine gute Photographie von Peter durch dessen Freund Lottermeier verschafft , der den " alten Mathematiker " seit einiger Zeit im Porträt auf seinem Schreibtisch stehen hat ; dieses Bild hat sie mit einem Liniennetz überzogen , und dann hat sie in Kreide eine lebensgroße Kopie gemacht .
Diese überreicht sie Peter zum Geburtstag .
- " Sie sehen " , sagt sie , " ganz so schlecht steht es doch noch nicht mit mir ! "
Peter ist voll Bewunderung und holt nun unaufgefordert das alte Pastellbild von seinem Platze über dem Sofa herunter und über [ Zeile fehlt ? ] schmuck einverleibt .
Dort bildet es die Perle ihrer Werke . -
Peter geht es recht gut ; sein Einkommen hat sich im Laufe der Jahre erheblich gesteigert ; er hat Privatstunden , soviel er will , und Tinchen ist eine treffliche Pensionsmutter .
Drei Knaben hat sie stets zum mindesten bei sich .
Sie versteht den Haushalt billig und doch angenehm einzurichten .
Kein Flickchen , kein Lumpchen wird fortgeworfen , und in Gasthäusern wandert der nichtgebrauchte Zucker in ein Säckchen , das zu diesem Zweck auf Ausflügen mitgeführt wird .
Tante Olga ist schon lange tot , und die Umstände ihres Ablebens sind seltsamer Art .
Peter erhielt eines Tages von dem Direktor der Irrenanstalt die Nachricht , Fräulein Michel sei spurlos verschwunden seit einigen Wochen .
Nach Monaten erhielt er einen zweiten Brief :
Endlich habe sich die Sache aufgeklärt , und zwar auf eine traurige Weise .
Eines Abends nämlich - es war ein stürmischer , wilder Novemberabend , und der Wind heulte um das alte Schloß , das seit fünfzig Jahren in eine Irrenanstalt umgewandelt war - saß der Direktor in seinem Arbeitszimmer und speiste gerade zu Nacht .
Draußen ächzten die Bäume , es klapperte im Schornstein , und mit einem Male kam Fräulein Michel zum Kamin herabgefahren , kohlschwarz und ganz durchräuchert wie ein Schinken .
Wie die Sache sich zugetragen , blieb ewig unaufgeklärt .
Aber man vermutete als das Wahrscheinlichste , daß sie in einem Momente des Unbewachtseins - freilich setzte hier bereits die Unwahrscheinlichkeit ein , denn die Kranken waren eben stets bewacht - das Schloß bis zum Giebel und vom Dachboden aus durch eine Luke das Dach selbst erklettert habe .
Vielleicht hatte alsdann der aus einem der Schlote aufsteigende Rauch ihre Phantasie und ihre Neugierde angefacht , sie war bis zum Schornstein hingeklettert , hatte sich hinübergelehnt , um zu spähen , wer darinnen sei , der Qualm war ihr in die Nase gestiegen , und sie vermutete , daß da unten ein boshafter Geist säße , der ihr übel wollte .
So war sie wohl in den Schlot hineingesprungen , um den Kampf ohne weiteres mit ihm aufzunehmen , und mußte alsbald erstickt sein .
Die Untersuchung ergab , daß sich im Inneren des Schlotes ein großer , uralter Haken befand .
An dem war sie wohl hängengeblieben , bis der Winterwind sie an jenem Abend zum Kamin hinuntertrieb .
- Peter las diesen Brief bei Tische vor ; Tinchen weinte , aber die Pensionäre lachten und wurden zur Strafe ohne Abendessen zu Bett geschickt .
Liesels Eltern sind tot .
Sie selbst hat ein gutes Glück gemacht : Sie hat einen Grafen geheiratet und ist die Mutter eines bezaubernd schönen kleinen Mädchens mit seidenblondem Haar und kohlschwarzen Augen , welche fremd und vornehm in die Welt blicken .
Noch einmal sollte Peter Michel sie wiedersehen .
Während er eines Sonntagsmorgens im Wohnzimmer sitzt und seine Pfeife raucht und Tinchen in der Küche das Essen für den Mittag anrichtet , wird ein fremder Besuch gemeldet :
Auf der Karte liest er , daß es ein Graf mit seiner Gemahlin ist .
Er glaubt , es handele sich um die Anmeldung eines neuen Pensionärs .
Er bindet schnell einen reinen Kragen um und begibt sich in die gute Stube , wo der Besuch seiner harrt .
Er bleibt aber verblüfft auf der Schwelle stehen , denn im ersten Augenblick hat er Liesel erkannt .
Sie dagegen erkennt ihn nicht gleich wieder .
Sie zögert , überrascht über die Veränderung seines Äußeren , endlich reicht sie ihm die Hand und wendet sich an ihren Gatten :
" Erlaube , Wolf , daß ich euch bekannt mache : Herr Michel , ein Jugendfreund von mir -
mein Gatte . "
Der Graf verbeugt sich sehr verbindlich , und Peter macht einen steifen Bückling .
" Hier - Herr Michel " , fährt sie fort , " stelle ich Ihnen auch meine Tochter Felicitas vor .
Felicitas , gib dem Herrn die Hand ! "
- Und Felicitas reicht ihm zögernd ihre feinen Fingerspitzen .
Da tritt Frau Tinchen zur Tür herein , mit gewaschenen Händen und einem gebügelten , breiten Halskragen über der dunkelblauen Sonntagstaille .
Peter stellt sogleich vor ; er vermeidet Liesels früheren Namen , denn er will nicht die Vergangenheit wieder aufrühren .
Tinchen darf nicht erfahren , wer eigentlich die Frau Gräfin sei .
Durch die gesellschaftliche Geschicklichkeit des Grafen ist ein oberflächliches Gespräch alsbald in Gang gebracht .
Peter kann mit Muße Liesels Gesicht betrachten .
Sie ist noch immer eine frappierende Erscheinung .
Ihre dunklen Augen ruhen zuweilen fragend auf seinem Gesichte , mit einem leisen Ausdruck der Enttäuschung .
Peter merkt das , und sein hausväterlicher Stolz fühlt sich getroffen .
Was will sie von ihm ?
Will sie sein Familienglück beunruhigen ?
Nun , sie soll erfahren , wie glücklich er ist !
" Ja " , sagt er mit Betonung , " die Hauptsache im Leben ist , das man glücklich wird !
Und ich - Frau Gräfin ! - kann wohl sagen , daß ich zum Glücke alles habe , dessen es bedarf : ein braves , treues Weib , zwei wohlgeratene , anspruchslose Kinder und ein Heim , in dem die Liebe herrscht , die einfache , reine Liebe , die alles , auch das Kleinste , mit einem Strahl von Poesie umgibt ! " -
Peter hat seit Jahren in der Aula des Gymnasiums viele Reden gehört ; er hat oft selbst solche gehalten , und er hat es gelernt , im gegebenen Moment das richtige Wort zu finden .
- " Ich habe in früheren Jahren hochfliegende Pläne und Ideen gehabt ! " fährt er fort .
" Ich habe Phantomen und Idealen nachgejagt ; ich war auf der Jagd nach dem Glücke ; und darüber vergaß ich eines : die ruhige Selbstbeschränkung , die Einheit in der Vielheit ! "
- Liesel blickt ihn befremdet , fast erschreckt an , wie er sie durch seine Brillengläser anschaut und seine seltsame Rede mit Schulmeistergebärden begleitet .
- " Ich bin alt geworden , und ich habe gesehen , wie alles auf der Welt eitel und nichtig ist , Rauch und Schaum !
Mich hat der Sturm des Lebens auf ein Eiland verschlagen , das fortan mein Eiland wurde , das ich bepflanzte und bebaute , das ich voll und ganz zu meinem Eigentum machte , zu meinem Heiligtum !
Ich habe einen Hafen , in dem ich jederzeit vor den Stürmen des Lebens eine Zuflucht finde : meine Familie , den goldenen Hort meines Lebens ! "
Tinchen hat sich erhoben und ist dicht an ihren Gatten herangetreten .
- " Ja , ja - Frau Gräfin ! "
- fährt Peter in schulfestlichem Tone fort , " freuen Sie sich hier an dem Glücke zweier Ehegatten , welches nichts zu stören , nichts zu vernichten vermag !
Ob der Lenz auf uns herniederlacht , ob der Winter uns umbraust :
Unsere Liebe steht fest wie der Fels im Meer !
Nur Einer vermag uns zu trennen - Gott der Allmächtige ; wenn er uns den sendet , der unser aller Leben scheidet : den unerbittlichen Tod ! "
CC-BY

Rechtsinhaber*in
Bildungsroman Projekt

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Korpus. Peter Michel. Peter Michel. Bildungsromankorpus. Bildungsroman Projekt. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0k4.0