Sommers Ende

Ich sehe nun so viele Gesichter mit der »Patina des Landlebens«. So von gesteigertem Stoffwechsel verschönerte, idealisierte. Wie der Maler sie auffassen würde in exzeptionellen Augenblicken ihres trägen flachen Seins. Ein Maler müßte z.B. sagen: »Ich werde Ihnen einen Ausdruck geben, Fräulein, wie wenn Herr v.B. soeben um Ihre Hand anhielte – – –«. Diesen Ausdruck von Verklärtheit bringt merkwürdigerweise ebenso auch der Sommer und das Landleben auf die Antlitze der Menschen. Wie sorgenbefreit sind sie, so in Feiertagsstimmung wegen nichts. Wehe denen, die ganz unverändert bleiben. Irgend etwas stockt in ihnen, das die guten Kräfte der Natur selbst nicht besiegen können. Da erblickte ich eine blühende verjüngte Mutter mit ihrem ganz bleichen Kindchen. Es war sehr elegant angezogen, man küßte es, man herzte es. Ich aber war erfüllt von Besorgnis. Was ist dir, Kind, daß dir die Sonne nicht an kann, die Luft und das Wasser?! Wie könnt ihr alle so unbesorgt liebkosen, wenn die Natur ernst und geheimnisvoll ihre Kräfte, ihre edle Dienstleistung versagt hat während des Sommers?! Ein alter Herr kam zurück, wie wenn er sagen würde: »Ich habe mich noch ein bißchen herausgeschaufelt aus dem Grabe«. Junge Frauen sehen jetzt unbeschreiblich herrlich aus, und dennoch sagt ihr süßes Antlitz gleichsam: »Nun, und wofür all diese Regeneration?!« Nur damit einige, die mich nichts kümmern, schmachtend sagen: »Gnädige schauen aber aus wie fünfzehn – – –«. Manches [109] ist geschehen in den Sommertagen, in den Sommernächten, was man von den süßen Antlitzen nicht ablesen kann. Von merkwürdigen exzeptionellen Erlebnissen, von paradiesischen fernen Orten kehren die Menschen zurück in die Pflicht des Lebens, in die alte unbequeme Ordnung, über alles Erlebte geheimnisvoll schweigend. Nur Dichter und Künstler sind indiskret. Sie erheben alles in eine höhere Rangordnung, in allgemein Wertvolles, indem sie Leid und Freud verkünden! Aber die Sommerromane aller dieser Menschen bleiben ungeschrieben, ungelesen. Nur manchmal sagt einer oder eine: »Kinder, wenn ich euch erzählen dürfte – – –. Ihr würdet staunen, würdet es nicht für möglich halten. Aber ich darf nicht – – –«. Sommers Ende. Auf vielen Antlitzen bemerkte ich die »Patina des Lebens«. Einzelne Antlitze blieben unverändert. Da muß eine tiefe Hemmung sein. Sei es seelischer Art oder ökonomischer oder physiologischer. Denn die Natur, Sonne, Licht und Wasser, bemühen sichdirekt fanatisch, alle Schäden auszubessern, zu heilen, wo es nur immer noch möglich ist. Sie läßt den Kränklichen nicht im Stich, versucht an ihm ihr Möglichstes, wie die edelste Samariterin. Ein bleiches Kind, vom Sommerparadies zurückkehrend, ist etwas Tragisches. Oder eine junge Frau. Oder ein Mann, der Sorgen hat. Man nimmt sich viel, viel zu wenig Mühe, den Ausdruck des Antlitzes seiner Nebenmenschen zu beobachten. Man tut es geflissentlich nicht, um nicht gerührt, ergriffen zu werden. Man sagt: »Sie werden immer jünger«. Aber man sieht es, daß er immer älter wird. Sommers [110] Ende! Viele kehren verjüngt zurück. Aber die Winterkampagne zehrt viele aufgestapelte Lebensenergien auf. Wollt ihr nicht lieber hundert Jahre alt werden in Frieden?!? Nein, sie wollen es nicht!

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TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Märchen des Lebens. Sommers Ende. Sommers Ende. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-D8AB-E