Peter Altenberg
Mein Lebensabend

Erinnerungen

[1]
Matura

Interessiert es Sie, daß ich bei der »Matura« im Wiener »Akademischen Gymnasium« für meinen Aufsatz: »Inwiefern ist ›Iphigenie‹ von Goethe ein ›deutsches‹ Drama?!« »ganz ungenügend« erhielt? Sie glauben doch hoffentlich nicht, daß ich heute, nach vierzig Jahren, nicht bei diesem Thema durchfiele! Die Anderen, meine werten, eigentlich unwerten Kollegen, merkten sich einfach alles, was man ihnen so im Laufe der »Oktava« darüber beigebracht hatte! Ich aber hörte nie zu. Denn »Iphigenie« gefiel mir aufrichtig, aber »inwiefern«, interessierte mich nicht. Nach einem halben Jahre mußte ich im »Theresianischen Gymnasium« die Prüfung wiederholen.

Das Thema des »Deutschen Aufsatzes« lautete diesmal: »Einfluß der Entdeckung Amerikas auf die Kultur Europas.« Ich schrieb, nach längerem Nachdenken, das gewichtige Wort: Erdäpfel!

Es ist merkwürdig, weshalb man an 18- bis 19jährige Gehirne Anforderungen stellt, noch dazu bei Prüfungsaufregung, die die 40jährigen unaufgeregten Gehirne auch nicht so ganz leisten könnten?!? Was Wunder, daß man unter diesen Umständen aus Verzweiflung zum Dichter wird?! Da braucht man Gott sei Dank nichts »Positives« zu wissen.

Die Kindheit

Als ich acht Jahre alt war und »Privatunterricht« genoß, sagte man meinen Eltern, es sei für meine »Entwicklung« notwendig, daß ich »öffentlich« unterrichtet [2] werde! Man schickte mich daher in die »Herrmanns-Schule« Schulerstraße. Ich verstand kein Wort, was vorgetragen wurde. Nach acht Tagen war ich wieder »privat«. Überhaupt, wo ich auch öffentlich lernte Zeit meines Lebens, ich verstand nie ein einziges Wort. Das war bei mir »pathologisch«. Es begann schon im Gymnasium. Ich hielt alles für chinesisch. Ebenso auf der »Universität«. Ich hielt vor allem alles für überflüssig und verzwickt. Ich wollte »das Leben direkt, nicht auf gelehrten Umwegen«! In Stuttgart in der Hof-Buchhandlung wollte ich in drei Monaten das theoretisch erlernen, was die »angestellten Kommis« in fünf Jahren erst nicht erlernen! Man sagte mir: »Die Praxis ergibt es!« Ich erlernte weder Theorie noch Praxis. Es war langweilig und geisttötend, obzwar man wenigstens mit »geistigen Werten« handelte. Ich floh von Stuttgart mit ausgeborgtem Geld und hielt es in »Reichenau bei Payerbach, Hotel Thalhof«, für fördernder. Da war herbstlicher Wald, feuchtes Moos, Bergnebel, des Brünnleins Plätschern bei Nacht. Ich vermißte »die Arbeit« gar nicht, mein Vater sagte, er wisse nicht, wohin ich steuere, aber es sei nicht seine Sache. Ich steuerte in die Almen des Schneebergs. Wohin steuern dieandern? Pfui!

Der Hofmeister

Ich hatte einen Hofmeister, den ich fanatisch verehrte, den jetzigen Augenprofessor L.K. Meine um zwei Jahre jüngere Schwester Marie, jalso zehnjährig, hatte eine Schweizer Gouvernante, Amelie [3] Leutzinger. Wir lebten infolgedessen drei Jahre lang ein wahres seelisches Paradiesleben und beneideten niemanden, denn wir waren zufrieden mit der ganzen Lebenskonstellation im Elternhaus. Plötzlich glaubte Mama zu erkennen, daß Hofmeister und Gouvernante sich nicht ganz gleichgültig seien. Obzwar meine Schwester und ich das schon längst als ein festigendes Band der gesamten Beziehungen im Elternhause nur mit Freuden begrüßten und konstatierten, war Mama, einer älteren und vorurteilsvolleren Generation entsprossen, anderer, vor allem skeptischerer Ansicht, und sagte eines Tages ostentativ bei irgendeiner Gelegenheit zu meinem geliebten Hofmeister: »Sie sollen sich ausschließlich, ja ausschließlich auf die Freundschaft mit meinem Sohne konzentrieren, verstehen Sie mich?«

Ja, er verstand und kündigte.

Infolgedessen verweigerten meine Schwester und ich durch drei Tage die Nahrung. Am vierten Tag wurde die »Kündigung« seinerseits zurückgenommen und Amelie Leutzinger ging freiwillig in die Schweiz zurück. Mein Väter sagte damals zu Mama: »Pauline, bitte, menge dich nicht mehr in so heikle Angelegenheiten unserer Kinder hinein!«

Mein Vater

Mein Vater war der überhaupt allergütigste Mensch, den es geben kann. Er war sogar den meisten ganz unverständlich, man kann sagen, mit den übrigen Sterblichen verglichen, hatte er eine Art von pathologischer und direkt aufreizender Gerechtigkeitsliebe. [4] Er verteidigte zum Beispiel sein ganzes Personal, seine Dienstboten und ganz fremde Menschen gegen sogar jeglichen, nur gesprächsweisen Angriff. Er sagte: »Bitte, lassen wir das. Sie wissen ja doch nicht das Genaueste darüber, also wozu?!« Mama sagte oft: »Papa, wir wissen schon, daß Victor Hugo dein Abgott ist, aber du bist monoton und langweilig mit deiner ewigen Gerechtigkeitsliebe, man meint es ja gar nicht so ernst, wenn man jemandem etwas Böses nachsagt, man will ja nur über das Einerlei hinüberkommen!«

Mein Vater wurde ganz verlegen bei solchen Ansichten, sagte nur ganz dezidiert: »Also gut, aber nicht in meiner Gegenwart!« Im Sommer lebte er, als »Holzknecht« verkleidet, in der Jagdhütte auf dem »Lakaboden«, Voralm des Schneebergs. Er stand um 4 Uhr auf und kochte Sterz und ging den Birkhahn betrachten in seinen Liebestänzen. Nie ging er mit dem Jäger. »Auf das schießen, pfui, so aristokra tisch bin ich nicht, – ich erfreue mich an ihrem schönen Leben!«

Einmal gab man ihm zwanzig Kronen, um Gepäck zum Baumgartnerhaus zu tragen. Man hielt ihn für einen »echten« Holzknecht, schönstes Geld seines ganzen Lebens! Mich hatte er besonders lieb, leider verstand er, wie viele, viele andere, kein Wort in meinen »Skizzen!« Er sagte: dieser »Victor Hugo!« »Les travailleurs de la mer«, welche Phantasie. »Les misérables«, welche Spannung und Aufregung, »1813«, welche Historie, »Han d'Islande«, welche Katastrophe! Aber du, kaum fängt es an, ist es bereits zu Ende! Und um was dreht es sich?! Kein Mensch weiß es. Es tut mir leid, in das werde [5] ich mich nie hineinleben! Wieviel verdienst du wenigstens mit diesen Sachen?!«

Er war der biederste, anspruchsloseste, beste, zarteste, gerechteste, unbewußt philosophischeste Mensch in einer Welt, die er nie verstand. Er zog sich daher auf seinen bequemen, rotsamtenen, von allen Seiten mit genialen Schrauben verstellbaren Lehnstuhl zurück, konzentrierte sein Glück auf »ausgesuchte Trabukkos« und belästigte niemanden mit eigenen Angelegenheiten. Er war ein »Weiser« und ein »Heiliger«. Ich selbst hatte nie die konventionellen Sohnesempfindungen für ihn, aber ich wußte es stets, daß er ein »Weisester« und in dieser korrupten Welt ein »Heiliger« war. Er starb sanft ohne Krankheit in seinem 86. Lebensjahre.

Erste Liebe

Meine »erste Liebe« war Rosie Mischischek, gleichalterig mit mir, zwölf Jahre alt. Wir spielten täglich »Verstecken« auf den Stufen des Theseustempels im Volksgarten. Sonntags trug sie ein grün-seidenes Kleid, geputzt mit schmalen schwarzen Samtbändern, nackte rundlich-eckige Schultern, offene Locken und war überhaupt vollkommen. Wenn sie sich einbildete, ein besonderes Versteck hinter Säulen gefunden zu haben, so übersah ich sie absichtlich, lief an ihr vorbei, auf die Gefahr hin, für einen Dummkopf gehalten zu werden!

Ihr Glück war mir eben damals alles.

Eines Abends hörte mich meine wunderschöne Mama in meinem Bette schluchzen und weinen.

»Was ist denn los?!«

[6] »Rosie Mischischek hat mir beim Weggehen heute nicht die Hand gegeben!« Das sprach sich herum. Frau Mischischek machte ihrem Töchterchen sanfte Vorwürfe: »Einmal interessiert sich jemand ernstlich für dich, und du reichst ihm beim Weggeh'n vom Theseustempel nicht einmal dein Händchen?!«

Rosie hatte am nächsten Tag, obzwar es nur ein gewöhnlicher Wochentag war, das grüne seidene Kleid an mit den schmalen schwarzen Samtmaschen, nackte, rundlich-eckige Schultern, offene Locken, und ihr gewöhnliches süßes Wildkatzengesichterl.

»Du hast dich bei deiner Mama beklagt, daß ich dir gestern beim Weggeh'n nicht die Hand gegeben habe?! Da hast du sie heute zweimal, so, und für morgen gleich auch, wenn ich vergessen sollte, dummer Bub!«

Sie sah wunderbar erregt aus, eine kleine Furie, noch lieblicher, aparter als sonst. Sie sagte: »Mit dir spiele ich überhaupt nicht mehr ›Verstecken‹, du gehst absichtlich an mir vorüber, obwohl du mich ganz genau gesehen haben mußt! Glaubst du, daß das lustig ist für mich? Dummer Bub! Geh' und tratsche es wieder!«

So endete meine »erste, zarteste, rücksichtsvollste Liebe« in meinem zwölften Lebensjahre. Alle späteren waren ebenso! Nein, ärger, kränkender.

Das Hauskonzert

Ich spielte meinem Vater zum Geburtstag (mein fanatisch geliebter Lehrer Rudolf Zöllner, derzeit [7] zweite Violine im Hofopernorchester, nachmaliger beliebtester Bürgermeister von Baden bei Wien, begleitete am Klavier) »klassische Stücke« vor, von Gluck, Haydn, Bach, Händel, was weiß ich?! Ich hatte einen süßen wunderbaren Ton, einen edel-musikalischen Ausdruck, aber Technik Null, nein, nicht Null, überhaupt nicht. Mein geliebter Lehrer sagte über mich: »EinGenie ohne Fähigkeiten! Gerade das, wasdazugehört im Leben, fehlt ihm, schade, man wird ihn nie anerkennen! Obzwar er besser ist!« Mein idealer Vater, mein rührend idealer Vater, kaufte mir infolge dieses intimen Konzerts eine echte »Peter Guarnerius« für sechshundert Kronen, die gleichsam von sich selbst sang, jauchzte, weinte, wenn man auch nur die C-dur-Skala auf ihr spielte!

Eines Tages kam mein jüngerer Bruder Georg vom Gymnasium nach Hause, während ich gerade »Kreutzer-Übungen« zu bewältigen suchte. Er sagte gelassen: »Für deine Kratzerei hätte auch eine ›Marktgeige‹ für vierzig Kronen genügt!«

Infolge dieses kränkenden, durch nichts motivierten Ausspruches schlug ich ihm die Peter Guarnerius, 600 Kronen, auf seinen öden Gymnasiastenschädel. Leider zersprang nicht dieser, sondern die Geige. Bei Tisch sagte mein Vater: »Na, wenn er lieber auf einer Marktgeige weiterspielt! Ich habe es ihm gut gemeint! Georg, weshalb neckst du aber auch so einen exaltierten Burschen? Lasset ihn seinen Weg gehen, er wird ihn schon finden, hoffentlich! Er ist zwar mein Sohn,aber verantwortlich bin ich noch lange nicht.«

[8] Wie ich »Schriftsteller« wurde

Im Sommer 1894 schlossen sich zwei reizende Mäderln, neun und elf Jahre alt, schwärmerisch in Gmunden an mich an. Ende September fuhr die Familie nach Wien zurück. In der Nacht des tränenreichen Abschiedes von Alice und Auguste schrieb ich die erste Skizze meines Lebens, 35 Jahre alt, unter dem Titel: »9 und 11«, erste Skizze meines ersten Buches »Wie ich es sehe«. Im siebzehnten Lebensjahre traf die Ältere, Alice, in der Kärntnerstraße der Gehirnschlag. Sie verschied sogleich und schmerzlos. Als wir vom Leichenbegängnis in die Wohnung fuhren, sagte die Mutter: »Wir haben doch vielleicht zu wenig Rücksicht genommen auf ihre schwärmerische Neigung für unseren lieben Dichter!«

»Sei nur nicht wieder exzentrisch, Betty!« sagte der Vater, »solche Dinge soll man gar nicht erwägen, ja, bitte, ich werde schon sehr darum bitten!«

Mein Gmunden

Sie machen bereits ein gelangweiltes Gesicht beim Lesen dieses Titels.

Aha, wieder einmal die Schilderung, in seiner knappen unübertrefflichen Art, von »Seeufer«, »Abendstimmung«, »Wassers ewige Neuheit«, man kennt es. Nein, diesmal etwas anderes! Im Herbst war ich einst der übriggebliebene Gast von der Sommersaison. Eines Abends stellte sich mir ein Baron in mittleren Jahren und Doktor der Philosophie vor, aus vornehmer Familie, die dort ansässig [9] war. Er wünschte Anschluß. Bitte sehr! Er war sehr gebildet und sehr wohlerzogen. Am achten Tage der Bekanntschaft sagte er mir abends auf einem Spaziergange:

»Weshalb geben Sie eigentlich Ihre verbrecherischen Pläne gegen mein Leben nicht auf?!«

»Da ich keine habe, kann ich sie nicht aufgeben!«

»Ich mache Ihnen persönlich keinen Vorwurf, Sie sind das ausführende Organ einer höheren Macht, der sowohl Sie als ich unterworfen sind! Aber ich fordere Sie ausnahmsweise auf, von mir und meiner sozialen und sonstigen Vernichtung abzulassen!« Von nun an ließ ich mich in dieses merkwürdige Duell zwischen einem gesunden Geist (es ist meiner) und einem kranken ein, in der laienhaften Hoffnung, mit der Logik ihm Erkenntnis seiner Wahnvorstellungen zu bringen. Leider machte ihn jedesmal die Erkenntnis, daß er sich in mir geirrt habe, unglücklich, verzweifelt und vor allem noch verbissener! Ich war einfach seiner Ansicht nach noch geschickter, noch raffinierter, ihn zu täuschen. Zum Beispiel er kaufte zehn ägyptische Zigaretten. Als er aus der Trafik heraustrat, sagte er: »Diese Zigaretten sind auf Ihre Anordnung vergiftet!« Ich bat ihn, sie mir aufzuheben, ich werde sämtliche bis zum Abend vor ihm zu Ende rauchen. Da zischte er: »Saltimbanque!«

Eines Abends sagte er: »Lassen Sie sich Ihr Nachtmahl heute ganz besonders gut schmecken!« »Weshalb?« »Weil es Ihr letztes ist!« Zugleich zeigte er mir einen neuen Browningrevolver. Er geleitete mich wie stets nach Hause. Ich machte in meinem Zimmer Licht, nach zehn Minuten löschte [10] ich aus, blieb eine halbe Stunde im Finstern sitzen, dann ging ich auf die Straße, zum Bürgermeister Dr. Wolfsgruber. Der alte Herr lag krank im Bett. Als er den Namen erfuhr, um den es sich handelte, ließ er mir durch das Stubenmädchen sagen: im Parterresalon, aber ohne Beleuchtung wolle er mich empfangen. Er sagte zu mir: »Meinen tiefen Dank im Namen unseres Städtchens! Gehen Sie nicht schlafen, reisen Sie mit dem ersten Frühzug ab, wir hielten ihn leider für ungefährlich! Nochmals Dank, es wird alles geschehen, was infolge Ihrer Anzeige leider geschehen muß!«

Die Meinung des Städtchens hingegen war, daß sich »Meschuggene gegenseitig anziehen«!

Frauenerziehung

Du bist, Mädchen, so wie du eben bist, und wahrscheinlich sein mußt, aus irgendwelchen geheimnisvollen oder nicht geheimnisvollen Gründen!

Wenn du dich verändern könntest, mir zuliebe? Aber welches unsinnige Erwarten meinerseits!? Welche stupide Hoffnung meinerseits?!

Du wirst ewig nur deinen Weg gehen, obzwar du von Sokrates, Diogenes, Tolstoi, Mackaulay, Hamsun, Strindberg, Maeterlinck, Altenberg und anderen, besonderen,

genugsam lernen könntest, es erlernen könntest, einfach selbstverständlich, richtigere, weisere, vornehmere, anständigere, gottgefälligere Wege zu wandeln als du in deiner bisherigen Selbstgefälligkeit gewandelt bist!

[11] Aber Ihr erlernt es nicht, weil zu viele

um eure Gunst girren, sich um euch bemühen, denen Ihr gerade recht seid, so wie Ihr seid! Pfui!

Pfui, Ihr hunderttausend Zufriedene mit geistig-seelischer Pofelware, die Ihr den eventuellen »Idealismus« des Mädchens feig dadurch ermordet, indem euch ihre Unzulänglichkeit genügt, man weiß wofür.

Pfui über euch, die Ihr falsch nachsichtig, falsch liebevoll, falsch rücksichtsvoll, falsch aufmerksam, falsch ergeben, falsch opfermütig seid!

Das Schicksal bestraft euch, wenn auch spät, für eure frech-feige und bequeme Lebenslüge!

Der Mann »gibt stets nach«, er ist der geborne Nachgeber im harten, schweren, arbeitsamen, schrecklich komplizierten tragischen Leben!

Aber die Frau »gibt nie nach«!

Das ist ihre schrecklich anziehende und zugleich abstoßende Eigentümlichkeit! Wehe dem, der glaubt, daß sie je nachgibt!

Sie hat nicht die Kraft, nachzugeben, außer sie lebt »für die Kinderln«! Dann ist sie gebrochen, eingekerkert durch ewige Muttersorge!

Dann hat man ihr die Kraft, renitent zu sein, künstlich-organisch gebrochen!

Mutter werden heißt also: zum einzig möglichen Frauenfrieden gelangen!

Es ist also eine physiologische Angelegenheit.

Diejenigen, die aber auch das Natur-gemäße nicht »zu Ruhe und Frieden« bringt auf Erden, die soll man als »leider Hysterische« tief mitleids-voll behandeln wie andere Kranke, von denen man nichts erwartet, weil sie eben krank sind, also in [12] der gesunden allgemeinen Welt nicht leistungsfähig irgendwie!

Spende

Jemand schenkte mir zwanzig Kronen, sagte: »Tuen Sie damit etwas, was Ihnen eine Art von langandauernder Freude bereiten könnte!« Für zehn Kronen kaufte ich mir infolgedessen eine bestimmte, längst erschaute und ersehnte, rein und wolkig zugleich seiende Bernsteinspitze für Zigaretten. Die anderen zehn Kronen sandte ich an eine Zeitung, für den Kriegsblinden in einer mir bekannten großen Papierhandlung. Ich schrieb als Motto: »Was ich – weiß, macht mir – heiß!« Dann meinen vollen Namen. Im »Ausweise« erschien jedoch: »Was ich weiß, macht mir heiß,« ohne Namensnennung. Ich denke mich sogleich anständigerweise, gerechterweise in die »Psychologie« der Redaktion hinein: »Aha, da schau her, der Altenberg, der Schlaucherl, will bei dieser Gelegenheit einen ›Geistesblitz‹ umsonst mitabdrucken lassen, daß man von ihm redet und seinen ›Geistesblitz‹ bewundert, nein, dazu, mein lieber Herr, ist der Anlaß doch wohl ein bißchen zu ernst und tragisch, nicht?!«

Ich hingegen sage in diesem Falle hinwiederum folgendes, auch nicht Unlogisches: »Wenn Ihr meinen ›Geistesblitz‹ authentisch und mit vollem Namen bringet, so macht Ihr erstens eine Menge Schriftsteller, die ein größeres Einkommen als 400 Kronen monatlich haben, aufmerksam, sich ebenfalls zu betätigen in solchen tragischen Fällen!« Ferner aber, die allgemeine Philosophie: Wenn du schon in all [13] gemeinen Dingen hartherzig, verschlossen, geizig, unmenschlich, liebelos, unreligiös, unbarmherzig bist, und dich nur »Frau und Kind und Schwiegermutter und Erbonkel« interessieren, dann mache wenigstens eine Ausnahme in jenen wenigen Fällen, wo du zufällig die Tragödie mit Namen und Wohnungsadresse und detaillierten Umständen des Ereignisses leider kennen gelernt hast! Das bedeutet mein: »Was ich – weiß, macht mir – heiß!« Das ausgelassene »nicht« ist' eben eine Entschuldigung für die, denen Gott sei Dank nichts heiß macht, was sie nicht wissen. Aber die, die es wissen?!? Die Zeitung hat recht, und ich habe recht, ein jeder von seinem Standpunkte.

Der Abend

»Was dichtest du da soeben, Dichter, in deiner Zimmereinsamkeit?!«

»Ich dichte eine Art Hymne darüber, daß bis heute,3/47 Uhr abends, noch nichts Schreckliches seit gestern für meine kranke Seele sich ereignet habe!«

»Woran ist deine Seele krank?!«

»An allen Ungerechtigkeiten, Dummheiten, unnötigen Taktlosigkeiten dieses sonst vielleicht erträglichen, vielleicht sogar lebenswerten Daseins.«

»Da glaube ich es dir wohl, daß du krank bist. Gesunde spüren eben solche Kleinigkeiten noch gar nicht, die einfach dazu gehören zum Leben, niemand beklagt sich, der die gesunden Nerven hat, des Lebens selbstverständliche Bürde zu tragen!«

»Weshalb hängt man Mütter, die ihr zartes Kindchen geheim bestialisch, diabolisch, mittelalterlich[14] verkommen zu Tode foltern, nicht öffentlich auf zum abschreckenden Beispiel?!«

»Weil das Gesetz es anders bestimmt.«

»Könnte denn nicht alles leicht verbessert werden?! Durch einen einzigen Federstrich?!«

»Ja, alles!«

»Nun, und?!«

»Halte dich an diese eine Hoffnung, lebensunfähiger Dichter!«

»Lasse mich jetzt meine Hymne zu Ende dichten über diesen merkwürdigen Tag, da meiner kranken Seele zufällig bis 3/47 Uhr abends nichts besonders Tragisches passiert ist!«

»Lebe wohl!«

»Warte! Und das jetzige Gespräch mit dir?! Ich schreibe also die Hymne nicht! Leb' wohl.«

»Warte! Schreibe deine Hymne dennoch. Gespräche sind noch das immerhin wenigst Zerstörende in diesem Leben!«

Weshalb

Weshalb?!

Weshalb haben die modernen Menschen, die sogenannt modernen Menschen, diese »hysterische« Art, das ihnen von Schicksals Gnaden Verliehene, in irgend einer Richtung, absichtlich zu steigern, nicht mit dem ihnen »Gebührenden« zufrieden zu sein?!? Ist das vielleicht der »gesunde Ansporn«, alle seine vorhandenen Kräfte organisch-selbstverständlich-leicht-graziös auszunützen?! Keineswegs. Es »hemmt« die Leichtigkeit deiner Maschinerie. Gehe, oh Kultivierter, so leichtbeschwingt, so unbeschwert [15] vom Irdischen wie Du eben noch gehen, gleiten kannst, aber versuche es nicht, leichtbeschwingter zu sein als Deiner »Maschinerie« gebührt!

Meines Vaters Glück war ein Gläschen echten »Benediktiner« nach der Mahlzeit, eine Trabukko und 6 Wochen Ferien auf der Lakaboden-Alm. Niemals erhoffte er sich mehr, betrachtete schon Das als eine »Fügung gnädigsten Schicksals«!

Immer sagt man zu mir: »Ach, machen Sie sich doch mal an einen modernen Einakter ran, Das müßte doch gerade Ihrer Eigenart famos liegen, und es ist doch ganz was Anderes wie bloß Skizzen!« Die einzige Anständigkeit und infolgedessen Gescheitheit ist aber, seinen Kräften gemäß zu funktionieren. »Volldampf« ist nur für Genies, und auch für diese eigentlich nicht. Mit »kraft-genialischen Reiterstückeln« kann man eventuell Frauenherzen (ich höre: Herzen?!?) gewinnen, aber nicht die Welt! Jeder trage, wie Ameisen und Bienen,naturgemäß, Schicksals-gemäß, also genial-bescheiden, zum Gesamt-Baue bei! Nicht mehr wollen als man kann, ist bereits genial. Ehrgeiz darf nichts anderes sein wie »Inanspruchnahme« der überschüssigen Kräfte seiner »Maschinerie«! Schiller speziell konnte den »Wallenstein« gar nicht nicht schreiben! Alles in ihmzwang ihn dazu. Es wäre ihm viel quälender gewesen, diese »Trilogie« nicht zu schreiben als einem Idioten, sie zu schreiben! Die »Bürde« eines ganzen Frauenlebens, eines Frauenschicksalsauf sich zu nehmen, muß Einem viel leichter, ja sogar bequemer sein als es nicht auf sich zu nehmen! [16] Sonst ist man ja kein »Weiser«, also ein »Gefoppter«! Was man tut oder unterläßt muß innerhalb der Grenzen, die die »Maschinerie« uns setzt,getan oder unterlassen werden! Lasse doch also gefälligst alle Pläne, Hoffnungen, Träume, Ehrgeize Deines Gehirnes, Deiner Seele (»ich will meinen alten Eltern Ehre antun, sie sollen sehen, daß sie Mühe und Geld nicht umsonst geopfert haben!«) und beschäftige Dich, träumerischer Sünder, lieberdamit, Deine »Maschinerie« in höchster Spannkraft durch Deine »physiologische« Lebensweise zu erhalten: vor Sonnenaufgang wach, mit Sonnenuntergang zu Bette, leicht verdaulichste Nahrung (Bohnen-Püree) etc. etc. etc. Zäume das Roß nichtvon hinten auf, mit schlechtrassigem teuflisch-lächerlichem Ehrgeiz (Familien-Größenwahn im Mikrokosmos), sondern sorge dafür, bewußten Geistes, daß die Schrauben, Schräubchen, Ventile, Rädchen, bei Dir »klappen« und »in Ordnung« sind!

Leidenswege

Der Arzt im Sanatorium sagte: »Ruhe, Ruhe ist das Haupterfordernis zur Gesundung!«

Aber seine Natur in ihm bat, flehte, forderte: »Anregung! Bewegung! Dezentralisation!«

Davon verstand der Arzt nichts, obzwar er es ihm gutmeinte. Seine Natur war eben anders geartet. Erhätte in diesem Falle der Ruhe bedurft. Wie konnte er wissen, daß der Andere andere Bedürfnisse in diesem Falle habe?! Ist er ein Herrgott, keineswegs!? Er ist ein anständiger Mensch, [17] der nachallgemeinen Gesichtspunkten Einzelnes beurteilt. Also eigentlich fast unanständig. Oder: eigenwillig, also bereits fast gefährlich!

Sich in jeden ihm fremden Organismusganz, vorurteilsfrei hineinversetzen, Werkann das, Wer will das?! Vielleicht ein Welt-fremder, eigentlich Welt-naher Dichter.

Aber der ist kein Arzt, keine protokollierte Firma durch Prüfungen! Niemand glaubt ihm, man bittet ihn um Autogramme oder ein Bild, wenn man ihn schon sehr braucht und sich dankbar erweisen möchte. Zahlen tut Niemand für seelen-ärztliche Konsultationen, das muß umsonst geliefert werden hienieden.Ernstliche menschenfreundliche Berater bezahlt man nicht, man würde sie nur kränken, also ein einfaches Mittel, man nütze sie aus! Das kränkt Niemanden.

Ich z.B. habe Vielen geholfen und genützt. Und alle diese vermeinen: der Dichter ist belohnt bereits durch unsere Anerkennung!

Glaubt Ihr Das wirklich, ernstlich?!

Wenn Ihr Das glaubtet! Ernstlich glaubtet!?

Es wäre eine, wenn auch fadenscheinige Entschuldigung, aber Ihr glaubt es ja hoffentlich nicht! Ihr glaubt es nicht!

Es ist nur ein Geschäft, ein günstiges,

Das Ihr mit der Dichter-Seele abschließt,

die Euch Alles gibt, was sie zu spenden überhaupt hat,

und Der Ihr eine leere bequeme Anerkennung bietet, pfui! Eure wirklichen Ärzte honoriert Ihr nicht!

[18] Vom Dichter

Wenn irgend Etwas in meinem Leben schon nicht ganz und gar stimmt,

dann höre ich momentan auf, Dichter zu sein.

Sie werden billigst sagen, Sie seien der Meinung, daß dann selten oder gar nicht bei mir Alles stimme! Ich hingegen sage, wie wenig wirkliche Dichter gibt es dann unter dieser Voraussetzung?!

Zum Dichten gehört vor allem »Freiheit von Allem, was alle Anderen bedrängt und knebelt«. Ich spreche da noch gar nicht von »langsam unmerklich beginnenden organischen Erkrankungen irgendwo«, der Arzt weiß es leider erst, bis er es weiß, von »mehr Geld ausgeben als man sollte«, vom »Ehrgeiz-Krebse«, vom »Neide«, von »Qual der Eifersucht, diesem Krebs der Seele«, ich spreche da sogar bereits von der allergeringsten Magen- oder Darm-Verstimmung oder ähnlichen scheinbar unbedenklichen Schwächungen. Für den »Dichter-Organismus« ist eben leider Gott sei Dank nichts unbedenklich, sondern schwer schädigend. Deshalb muß er bei allemscheinbaren Talente dennoch ohne »Hygiene und Diätetik« schändlich Schiffbruch leiden, es wäre denn, er wäre, Einer unter Tausenden, ein Welten- Riese à la Goethe, Zola, Tolstoi, Hamsun, Dostojewsky und viele Andere noch, aber nur so ohne weiteres dahinleben, dahin-dichten, und sich verlassen auf das, was Mütterchen »gütige Natur« Einem gutmütig-notdürftig gerade so noch, ach ja, gespendet hat, vielleicht kommt es sogar von Großmutters Gnaden oder noch wo ganz anders her, oder von Erbonkels Gnaden, das, siehe, [19] genügt heute nicht mehr. Die von 1870 ließen sich noch täuschen, aber Die von 1917 nicht mehr! In wessen Seele nicht der »Engel der Weiterentwicklung, der Weiterverbesserung des Lebens aller Menschen« seine goldenen Flügel hebt, um vorauszusteuern, Der bemüht sich vergeblich um den ewig-grünen Lorbeerzweig, der nur scheinbar kleinen, aber alleinigen Wert hat.

Der »Abgewiesene«

Es gibt tausend Gründe,

weshalb man Dich abweist! Trotz Deiner zarten Seele, Deinem zarten Verständnis, undsogar trotz Deiner sozialen und ökonomischen Stellung!

Weißt Du denn, was Alles war, sich ereignet hat,

bevor Du, innerlich erbebend, zum ersten Male sie erschaut hast als Dein längst erträumtes Ideal?!?

Glaubst Du, edler Törichtster, sie habe bis zu ihrem 19. Lebensjahre darauf gewartet, danach gleichsam hingestrebt unentwegt,

gerade Dir zu begegnen am 12. Oktober 1915, abends 1/28 Uhr, dort und dort?!

Willst Du Alles verschütten,

was sich aufgebaut hat

in ihrer tiefsten Seele seit ihrem,

sagen wir nur, 14. Lebensjahre?!

Weißt Du, was sie in ihren geheimnisvollen jungen Märchen-Träumen sich erträumt hat?!

Kennst Du die Hunde, die ihr das Köpfchen verdrehen wollten?!

[20] Kennst Du die Träumer denen die im Traum erschien?!

Kennst Du das Auf und Ab, das Hin und Her ihres von Dir zwar geliebten aber, bisher nicht gekannten Lebens?!

Was bist Du also außer Fassung,

daß sie Dich, Glühenden, kalt abgewiesen hat?!?

Sei froh! Sie wird Deinen tieftraurigen Blick nie vergessen! Nie!

Und wenn sie ihn dennoch,

im Drang ihrer Ereignisse des mannigfaltigen Lebens einer süßen Begehrenswerten,

von allen Seiten stürmt man an sie nämlich naturgemäß heran,

vergessen sollte,

so wirst Du, Tief-Trauriger, von diesem Deinem vergessenen abgewiesenen Blicke

leben können,

falls Du überhaupt seelisch lebensfähig bist!

Denn, siehe, was wirklich war, ganz tief drinnen, geht nicht verloren. Denn Gott selber schützt es Dir in Dir!

Ehrlich-Hata

Ich habe einen Ausspruch des berühmten verstorbenen Professors Ehrlich (Ehrlich-Hata) gehört, der mir kolossal gefallen hat, obzwar oder weil ich ihn seit jeher denke: Als man ihn fragen wollte über seine Beziehungen zu Musik, Literatur, Weib, Welt, sagte er: »Ja, das mit der Musik, der Kunst, der Welt, und dem Weib wäre ja recht nett. Aber da ich Physiologe bin von Fach, schäme ich mich [21] nicht meiner Beantwortung: Ich weiß es nämlich, daß unser Gehirn ungefähr 10 Millionen funktionierender Gehirnzellen habe. Wenn nun z.B. die Wissenschaft von 7 morgens bis 7 abends 9.999.999. davon in Anspruch nimmt, bleibt nur mehr eine einzige Zelle übrig, um für Musik, Literatur, Malerei und Frau zu funktionieren, und das ist, ich gebe es zu, etwas wenig!«

Ja, wir haben eine bestimmte Summe von Lebens-Energien in unserer genialen Maschine aufgestapelt, die allerdings täglich durch Atmen, Essen, Schlafen, wieder ersetzt werden. Aber jede Summe von Lebensenergien, auf der einen Seite im Organismus aufgebraucht durch irgend eine Betätigung, entziehtallen anderen Seiten soviel als die eine für sich verbraucht hat. Der Philister doziert zwar: »Ach was, ein vollkommener Organismus muß eben Alles leisten können!« Ja, aber Herr Bankdirektor, wer ist heutzutage ein »vollkommener« Organismus?! Das Genie einmal sicher nicht!

Schlagfertigkeit

»Schlagfertigkeit« ist einfach eine kalte Roheit, so viele bewundert man darob, so viele beneidet man um dieses Talent. Wie roh aber mußt du sein, um bei gegen dich ausgeübten Bosheiten, schlimmen Anspielungen, Niederträchtigkeiten, versteckten heimtückischen Angriffen nicht sogleich fassungslos und stummtraurig zu werden?! Wie roh mußt du sein, wenn dich der giftige Angriff gar nicht trifft und du deine Geistesgegenwart behältst, zu ripostieren?! [22] »Schlagfertigkeit« ist eine kalte Roheit, er haut hin, du haust zurück. Aber sich schweigendkränken und es bedauern, daß man in einer solchen Welt ist, das ist aristokratisch!

Je später es dir einfällt, was du dem Heimtückischen, Böswilligen, Witzebold, Witze-Unhold hättest geschickt schlagfertig erwidern sollen, desto aristokratischer bist du! Fällt dir überhaupt gar nichts ein, ihm auf sein Gift darzureichen, dann bist du ganz edel! Im »Parlament« und in der »alten Geschichte« wirkt oft »Schlagfertigkeit«, zum Beispiel Alexander zu Diogenes: »Wünsche dir etwas für dein Glück, ich will es dir erfüllen!« »Geh' mir ein wenig aus der Sonne!« erwiderte dieser schlicht. Aber das ist mehr zur »allgemeinen Erziehung«. Im wirklichen Moment-Leben ist Schlagfertigkeit unaristokratisch!

Sich wehren können gegen Niedrigkeiten, wer wäre man, wenn man es könnte?!

Modern

Wenn Du, Mädchen, kurze Knabenlocken trägst, und sie Dir noch so gut steh'n,

bist Du noch lange kein modernes Mädchen!

Wenn Du glockenförmige weite Kleider trägst, bei denen man einen Teil Deines herrlich edelschlanken Beines erblicken kann,

bist Du noch lange kein modernes Mädchen, Mädchen!

Wenn du noch so anmutig leicht dahinschwebst, von irdischer Last gleichsam befreit, erlöst,

[23] bist du noch lange trotzdem kein modernes Mädchen!

Leichtfüßiger bist Du allerdings als die plumpen.

Und für den bloßen Anblick vorzuziehen.

Erst bis du das Ideal an Bescheidenheit, Gutmütigkeit, Anspruchslosigkeit, Sanftmut, Intelligenz, Takt, Geschmack, Naturliebe bist,

dann beginnst Du vielleicht ein wirklich modernes Mädchen zu werden, Mädchen!

Der Arzt

Welch ein Märchen-Tag! Ich denk' an Dich, Du Aschenbrödel, Du Zurückgestellte,
weil alle Anderen heute da waren zufällig, die ich mir ersehnte!
Eine Jede brachte mich Dir näher,
in unbewußter Absicht, Dich mir zu entfernen.
Ja, ich lernte Deinen Wert erst schätzen,
dadurch, wie alle Anderen waren!
Sie waren wärmer, liebenswürdiger, aufmerksamer, vielleicht zärtlicher als Du!
Aber was stets in Deinem hartnäckigen harten stummen regungslosen Antlitz
verschlossen ist, an Gram und Angst um mich,
Das hatten sie nicht.
Unnötig also, nein, unmöglich, ihnen irgendwie zu helfen!
Wir sind heilige Ärzte, oder aber wir sindnichts!

[24] »Kleiner Führer« durch den Dichter

Also, wenn man die Türe des Zimmerchens im fünften Stocke aufmacht, muß man einige Augenblicke wie gebannt stehen bleiben, sinnend verweilen, und dann erst leise sagen: »Nein, wie lieb Sie es da haben, wie heimlich, wie besonders!« Worauf er Dir in die Rede fällt und sagt: »Es ist ein Nest, mein Nest, ein jeder Vogel hat sein Nest, nur die Menschen sind zu ungeschickt dazu, und lassen sich von einem Architekten für Innen-Kultur ihr Nest bauen für ihr Geld, pfui!« Du darfst also, wenn Du an der Schwelle seines Heimes noch sinnend verweilst, wie ich dir es anrate, niemals sagen: »Ah, Ihr Nest!« Oder: »Ein wirkliches Nest!« Denn eben dieses Wort wünscht er dir unter allen Umständen bereits vorwurfsvoll zuzuzischen. Auch darfst du nicht sagen, du habest in Deiner Art auch eigentlich eines. Ich rate dir vielmehr, zu gestehen, auch wenn es nicht wahr ist, dich habe leider, der Architekt X.Y. eingerichtet, freilich, kannst Du zu Deiner Entschuldigung hinzufügen, mit dem Gelde der Schwiegereltern. Du kannst ohne weiters von den hunderten Bildchen und Sächelchen in seinem Kabinette einige als dir besonders sympathisch hervorheben, da er dir bei seinem guten Benehmen sofort sagt: »Gerade diese?! Da sehe ich gleich, daß Sie ein moderner Mensch sind!« An den »Akt-Bildern« darfst du nicht verschämt dich vorüberdrücken, das verträgt er nicht. Schaue ihnen gerade ins Gesicht, sie tuen dir nichts. Biete ihm lieber eine deiner Zigaretten an als eine von den[25] seinen anzunehmen, er hat das lieber. Er wird dich auf seine aparte Fenster-Aussicht aufmerksam machen, altes rotbraunes Dach mit großem weißem Dachfenster. Da kannst du das Wort »Nürnberg« lispeln. Die braunen à jour-Vorhänge mit großen Blättern erinnern dich an »Waldesboden im Herbste«. Die Sliwowitzflasche auf dem Nachtkästchen willst Du nicht gesehen haben. Das Bett, das durchaus, Decke, Polster, etc., mit braunkariertem Stoffe überzogen ist, errege deine Bewunderung. Du darfst jedoch einflechten, ob denn »weiß« nicht doch gerade besser für ein Bett passe. Denn damit gibst du ihm Gelegenheit, seine bekannte Philippika gegen die weiße Farbe loszulassen. Sage zum Schlusse seines Redeschwalles: »Eigentlich, genau betrachtet, haben Sie Recht!« Auf diese Weise wird dir der Besuch dieses wirklich aparten Poetenstübchens recht angenehm sein, und solltest du beim Weggehen auf dem Nachtkästchen einen Zehnkronenschein deponieren, er ist zu wohlerzogen, dich darauf aufmerksam zu machen.

Geplauder

Ich mag gewisse Gegenstände nicht leiden, z.B. einen Stock, der zugleich ein Regenschirm ist, oder ein Regenschirm, der zugleich ein Stock ist. Auch die Besitzer solcher Gegenstände mag ich nicht gern leiden, sie haben so einen Duft, einen Schimmer von pedantischem Junggesellentum. Dann Uhranhängsel mag ich auch nicht gern, besonders nicht den in Silber gefaßten Gaumen-Zahn (Krickel) eines Rehs [26] oder den ersten eines geliebten Kindchens. Dann mag ich auch nicht sehr gern Zwicker mit Goldeinfassung. Aberdafür gibt es keine psychologische Erklärung. Das ist Temperamentssache. Nicht sehr gern habe ich Porzellan mit gemalten Arabesken. Porzellan an sich ist gut, Arabesken an sich sind gar nicht gut, aber Porzellan mit Arabesken sind gar, nicht gut. Nicht sehr gern habe ich: »Heuer trägt man, heuer ist modern!« Das ist gut für die Modesalons und Die, die daran irgendwie teilnehmen. Aber ich nehme nicht teil, weder Teil noch das Ganze. Nicht sehr gern habe ich: häßliche Füße und schöne Schuhe, da habe ich schon lieber schöne Füße und gar keine Schuhe! Es ist mir gleichgültig, was schöne Strümpfe kosten, aber ein edles Bein ist unbezahlbar. Gestreifte Atlaskrawatten sind unmöglich. Man könnte sie nicht einmal einem Genie verzeihen, dem man doch gar nichts verzeiht. Nicht sehr gern habe ich Straußfedern, oh ja, am Strauß, am Strauß in der Wüste, hinten, wo sie hingehören, naturgemäß. Aber mein Gott, das ist Geschmacksache. Jeder nach seinem Gusto.

Polizei

Es ist gar keine Kunst, neue Polizei-Verordnungen zu erlassen. Man muß sie nur erlassen! Das allein gehört dazu. Z.B. das Teppichklopfen oder Vorhängeklopfen und Klopfen überhaupt ist vor 9 Uhr vormittags strengstens bei Strafe verboten. Reinlichkeit ist weniger wichtig als Morgenfrieden! Außer für die übertriebenen hysterischen, eigentlich [27] schon wahnsinnigen sogenannten »guten Hausfrauen«. Sich konzentrieren auf Staubabwischen ist die größte Dezentralisation von allen wichtigeren Dingen dieses ohnedies ziemlich schwierigen Daseins! Es ist eine schlimme Art von »Vogel Strauß-Politik (der Seele!« Weil man den vielfachen Komplikationen dieses Daseins nicht Stand zu halten die hienieden unbedingt notwendige Fähigkeit hat, konzentriert man sich feig –bequem – unbequem auf »Wohnung in Stand halten«! Pfui, pfui! Sich selbst »Pflichten« auferlegen, die keine sind, und Niemandem zugute kommen und nützen, ist ein »Irrsinn der irregeleiteten Seele«! Ebenso verbrecherisch ist es, seine überschüssigen Seelenkräfte für seinen geliebten »Hund« aufzubrauchen! Sendet das Geld, das der Köter Euch jährlich kostet, der »Kinder-Schutz- und Rettungsgesellschaft«!

Der 40fache Frauenmörder

Béla Kiß, in seinem Gärtchen in Czinkota, mit seinem Komplizen und Freunde Nagy, auf einer Bank sitzend, vor 20 Jahren:

Nagy: »Und wie die Blumen heut duften und die Insekten summen! Wenn man nur ein bißl ein Geld hätt' in dieser schönen Welt!«

Béla Kiß: »Und weißt Du, was mir noch verhaßter ist als meine Armut?! Das sind diese Läuse im Gewande des starken alleinstehenden Mannes, die dann mit nichts mehr wieder herauszukriegen sind.[28] Das sind diese entsetzlich wertlosen Geschöpfe, die noch viel ärmer sind als wir und eben deshalb sich an uns heranmachen. Das sind diese häßlichen ungepflegten alten Mädchen der dienenden Klasse, die, nachdem sie die ›Überfuhr‹ im Leben versäumt haben, sich mit ihren verrunzelten Gesichtern, ihren scheußlichen Händen und Füßen, ihren verwelkten Brüsten, ihrem meistens unreinem Atem, ihren ungeheuren geistigen Beschränktheiten, sichvermittelst ihrer blöd-mühsam zusammengesparten 700 Kronen in einem schmutzigen Strumpfe unter ihrer Matratze, sich also dann und deshalb an uns heranschleichen, damit wir diese Lebens-Ruinen Tag und Nacht, ein Leben lang am Buckel haben, diese menschlichen Gewandläuse des starken allein-stehenden Mannes! Diese Alle einfangen, abdrosseln, und das Geld gut undrichtig verwenden – – –!«

Nagy: »Gar ka schlechte Idee, mein Lieber! Wie die Blumen heut duften und die Insekten schön summen! Wenn man nur ein bißl Geld hätt' auf dieser schönen Welt!«

Winter

Also es ist wirklich Winter geworden.

Die hellgrünen Leimmisteln an den verdorrten Bäumen nämlich erfreuen mich tatsächlich nicht mehr,

und nicht die braunen matten spröden Buchenblätter an den Buchen.

Und nicht die kahlen dürftigen bedauernswerten[29] und dennoch rührenden hellgrauen dünnen Zweige der Birken.

Und nicht der traurige Wind, der zusammenrafft an Verdorrtem, was er noch zusammenraffen kann.

Und nicht der sonst poetische Gegensatz zum reichhaltigen Sommer.

Und nicht in Fernen irgend eines hungernden Tieres mysteriöser Schrei, oder eines erfrierenden oder eines gemordeten!

Und nicht die Überraschung, daß an einem Strauche dick Schnee-bekappte hellrote Beeren des Winters Weiße noch immer bescheiden trotzen! Hellrot bleiben sie trotzdem.

Und nicht der vorzeitige romantische Abend mit seinen noch vertieften Stillen in dieser ohnedies allzutiefen Stille der Winterlandschaft!

Also ist es tatsächlich, zum ersten Male, wirk lich Winter geworden in mir,

wo doch Alle schon längst aus irgend einem Grunde gleichgültig geworden sind, trotz Allem und Jedem.

Und weshalb bin ich es geworden, winterlich?!

Weil Marie Susanne 8 Tage lang nicht geschrieben hat!

Also bin ich ganz so wie alle Anderen?!

Nein. Kennt Ihr denn Marie Susanne?!

Nein. Ich aber kenne Eure Annas, Berthas, Gretes, Fannys, Emmas. Und alle anderen Namen.

Um Wen man seine Lebenslust verliert, um Wen, Das allein ist wichtig.

[30] Nicht Jede darf mich milde machen und hoffnungslos! Und mir sogar des Winters stille Pracht »vermießen« können!

Liebe ist eine Krankheit, aber es sei eine, wo das Kranksein wertvoller ist als das bisherige satte fade gesicherte Gesundsein!

Heil den seelisch Erkrankten an Einer, wo es dafürsteht, zu leiden! Also zu werden, zugedeihen!

Kultur

Die Zwanzigjährige las auf sein Geheiß: »Friedjung, der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland«.

Sie war begeistert davon und ebenso ihre Mama, die es auf ihre inständige Bitte hin auch las. Beide Damen interessieren sich jedoch nicht für Pelze, Juwelen und andere solche Spielereien leerer Seelen, toter Seelen, bei lebendigem Leibe, wenn er auch noch so schön ist, bereits gestorbener Seelen!

Einmal sagte die Tochter: »Ich kann die ganze Nacht lang nicht mehr ruhig schlafen. Das ungerechte Schicksal dieses armen guten ehrlichen FeldherrnBenedek!«

Da sagten viele Herren der guten Gesellschaft: »No, kann man eine so exaltierte Gans heiraten?!«

Nein, Das kann man allerdings nicht! Nämlich, Gott sei Dank für sie, Ihr nicht!

[31] Der Nebenmensch

Kein Mensch kann seinen Nächsten verstehen, er ist nämlich tatsächlich der Entfernteste. Nurdeswegen sind alle Menschen enttäuscht und fassungslos. Sie meinen, der Andere müsse es genau so spüren wie sie. Das eben tut er leider nicht, sondern meistens umgekehrt. Ein Beispiel für viele, für alle bereits eigentlich: neben mir im Gasthause fünf liebe hübsche plaudernde Mädchen am Nebentische. Die Eine sagt: »Gott, dieser grüne Gorgonzola mit diesen grünen Kräuter-Streifen, zerfließend, scharf, aromatisch wie Wiesenduft im Munde, davon allein könnte ich mich ja ernähren!« Da sagte eine Andere: »Bitte, ich habe noch nicht gegessen, wenn Du so etwasEkelhaftes sagst, muß ich hinaus, und kann nichts mehr bei mir behalten!«

Sehen Sie, Dies ist ein Bild des ganzen Lebens!Dich macht etwas selig, und der Andere mußhinaus! Überall ist »grüner Gorgonzola« mit Kräuter-Streifen, der dem Einen ein Leckerbissen, dem Anderen ein Brechmittel ist! Sie werden mir sagen: »Das sind alte Weisheiten, mein Lieber!« Ja, sie sind alt und Weisheiten, ganz richtig!

Die Historie

Eine der fürchterlichsten Landplagen der Menschheit, wie die Heuschreckenschwärme für gutbebaute Felder, ist die Historie! Dadurch wird die sowieso nicht sehr vor-eilige Menschheit ununterbrochen daran gehindert, Entwicklungs-Stufen einfach zu [32] überspringen, da man ihr blöderweise es noch immer einredet, daß jegliche Entwicklung langer endeloser Jahrhunderte bedürfe! Statt die Macht des Geistes in einem einzigen neuen Augenblicke zu predigen, verkünden diese schwerfälligen arteriosklerotischen zuckerkranken und Stoffwechsel-verlangsamten »Hofräte und Geheimräte der Menschheit« absichtlich die langsame endelose, angeblich naturgemäße, Entwicklung in allen Sphären menschlicher Betätigungen, weil sie selbst eben nur den Schneckengang kriechen können! Der Geist jedoch des ernstlich modernen Menschen hat den Gang eines 120-pferdekräftigen Autos, er ist von elektrischen Lebenspotenzen unerhört vorwärtsgetrieben, und dieser Hemmschuh »Historie« kann ihm nicht mehr an, in seinem rapid-elektrischen Lebenslaufe! Geradeaus mit dem Sperberblicke eines Otto von Bismarck die kommenden Bedürfnisse einer schwankenden Menschheit erschauen und es histo rienlos dekretieren, weil der Geist der Menschheit es nunmehr so erheischt, und sollte es auch sogar mit einem Federstrich die Auslöschung der belastenden und unnötigen alten Sprachen Griechisch und Latein in den Jugend-Bildstätten sein (Goethe, Schiller, Tolstoi, Dostojewsky, Richard Wagner, Chamberlain, Macaulay, Gerhart Hauptmann, Knut Hamsun, August Strindberg, Altenberg, sind nämlich wichtiger als Jugend-Entwickler!), geradeaus, mit dem vorausschauenden Sperberblick des Geistes diese langsamen undgequälten, wenn auch angeblich organisch-naturgemäßen, Entwicklungen der Historie überspringen, heißt erst überhaupt ein modern-philosophischer Geist sein!!!

[33] Der Geist im Menschen kann mit einem kurzen Federstriche »bewirken«, dekretieren! Nachdenken langsam, wie es denn früher gewesen ist, ist eine Stoffwechsel-Erkrankung, Lähmung des frei-frischen Gehirnes, eine Art Zuckerkrankheit, eine physiologische Unfähigkeit, die angehäuften Stoffe restlos zu verbrennen, umzusetzen in Wichtigeres, in Neues! Der flinke Geist im Menschen antizipiert die unflinke Historie und beginne dort, wo jene Gott sei Dank aufgehört hat, also – – – heute!

Splitter

Sei außergewöhnlich zart und rücksichtsvoll nur mit einem Mädchen, das es ernstlichst verdient. Denn sonst sagt sie dir später: »Weshalb haben Sie mich damals aber eingefangen?


*


Heute schrieb mir eine Neunzehnjährige, Fremde: »Habe Ihre ›Nachfechsung‹ auf der langen Bahnfahrt gelesen. Wer soll uns geleiten, wenn der Peter einmal tot ist?!«


*


Weshalb sitzen Brautpaare immer in Zimmerecken stundenlang in eifrigstem Gespräche?! Da werden sie sich nie kennenlernen, nur sich mißverstehen! Brautpaare gehören auf Landpartien. Wenn er dann sagt: »Ich habe gar nicht gespürt, daß Du mit warst!,« wenn sie dann sagt: »Ich habe erst [34] heute Wald, Flur und Bach kennengelernt!«, dann, dann kennen sie sich ein wenig näher!


*


Es gibt junge Leute der sogenannten »besseren« Klasse (man kann auch in dieser Klasse durchfallen), die Tag und Nacht auf ihrer Hut sind, ja nie als zartere, noblere, edlere, tiefere Organisationen genommen zu werden von ihren Nebenmenschen. Ja, sie liegen ununterbrochen auf der Lauer, ihre feineren Instinkte zu töten. Andererseits fallen sie doch auf Diejenige hinein, die zu ihnen spricht: »Warten Sie nur, ich werde schon noch aus Ihnen einen ganz anständigen Menschen machen!«

Man stirbt nie direkt an »gebrochenem Herzen« und dennoch immer! Das Herz freilich bricht nie, aber nachdem durch ununterbrochene Traurigkeit der gesamte Verdauungsapparat gleichsam »den Dienst versagt«, so stirbt man doch indirekt schließlich an gebrochenem – – – Herzen!

Tanz

Von einer modernen Tänzerin verlange ich es, daß sie in Ruhe, durch ihre immanente Anmut, durch ein Nichts im Sitzen, Stehen, Gehen, sich verneigen, im Zuhören, ein Glas reichen, eine Karaffe einschenken, sich in einen Mantel einhüllen, einen Wagenschlag auf- oder zumachen, in einem adieusagen mich begeistern müsse als besondere Frau! Und daß sie meinen Wünschen leidenschaftlich Nahrung gebe unbewußt durch ihr ewiges süßes apartesSein!

[35] Und daß das Alles wieder aufgelöst, beschwichtigt, zurückgedrängt, ja geheilt werde, wenn ich sie tanzen, tanzen, tanzen sehe, es gleichsam erhöht umgesetzt werde aus »Trieb zum Weibe« in »Verehrung der edel Tanzenden«!

»Tanz« allein kann, darf, soll nie wirken!

Anmut des ganzen Menschen selbst sei und bleibe die Genialität der edlen Frühlingshaften!

Die Häuslichkeit

Er schrie Stunden lang mit ihr über sein heiliges Recht als Künstlermensch auf grenzenlose bedingungslose Lebens-Freiheit (siehe August Strindberg!), und zum Schlusse prügelte er sie ein wenig, eigentlich »markierte« er nur den »Herren!« Aber weh tat es ihr doch, obzwar sie den »Herren« über sich, diesmal über ihr, anerkannte, und nur gerade soviel weinte als nötig war, die Prozedur abzukürzen. Eine Stunde später erschien eine ihrer Freundinnen, und lud sie für morgen in das Donau-Familienbad in Kritzendorf ein. Da er wußte, daß dort-selbst alle jungen Herren (die alten werden auch nicht wegschauen!) die Gelegenheit wahrnehmen werden, ihre unbeschreiblich idealen Beine und Füße zu erblicken, begann nach der schleunigen Flucht der Teufels-gesandten Einladerin, eine neue wüste Szene, inklusive leichter »Markierungen«. Da sagte sie sanft: »Also, mit einem Worte, ich sehe schon (sie hätte sagen sollen: ›ich spüre schon‹), Du verlangst für Dich alle Lebensfreiheit, ich aber darf keine haben!« »Ja!« sagte er, »so ist es!« Und bekräftigte es mit einer Markierung (Ohrfeige).

[36] Da sagte sie: »Fern sei es von mir, gleich den übrigen Gänsen, Dich darob zu verlassen! Ich anerkenne Deine Philosophie, und werde mir jetzt kalte Umschläge machen!«

De Amore

Am liebsten ist es einer Geliebten, wenn sein Freund auch auf sie »einspringt«. Denn wenn es nicht der Fall ist, denkt er: »Weshalb fliegt Gustav eigentlich nicht auf sie?! Sie ist halt gerade zufällig nicht sein Typus, Gott sei Dank. Aber weshalb ist sie eigentlich nicht sein Typus?! Was fehlt ihr dazu, um sein Typus zu sein?! Ich dächte doch, gerade sie könnte es sein!? Na, seien wir froh, daß sie es also doch nicht ist!«

Um diese immerhin peinlichen Selbstgespräche zu vermeiden, zieht die Geliebte es vor, daß sein Freund Gustav eben auch auf sie »einspringe«!


*


Der Freund des Geliebten ist für die Geliebte wie das Salz für die Speise. Jede noch so schmackhafte Speise wird überhaupt erst durch eine kleine Beimengung von Salz genießbar. Jede noch so nahrhafte Speise braucht einen Freund, pardon, ein Salz!

Abschlägiges Gesuch bei einer »Ersten« Zeitung

Wie ich es mir nämlich vorstelle:

»Mein lieber Peter Altenberg, sehr erfreut, Sie [37] endlich einmal auch persönlich kennen zu lernen!

Wie hieß doch gleich Ihr letztes Buch, das mich so köstlich amüsiert hat?! ›Semmering‹?!?«

»Nein, Herr Chef-Redakteur, ›Nachfechsung 1916‹. ›Semmering‹ erschien schon 1912.«

»Nachfechsung?! Was ist das für ein merkwürdiges Wort?! Ach ja, Ihr letztes Buch, ganz richtig, köstlich! Sie bleiben immer der lachende und zugleich weinende Philosoph des Alltags!«

– »Der lächelnde und zugleich seufzende, Herr Chef-Redakteur!«

»Nun, wie stellen Sie sich also ein eventuelles Verhältnis zu unserem Blatte vor?! Danton, Marat, Robespierre plötzlich in der Zwangsjacke?!?«

– »Ich könnte ja ein kleines neutrales Ressort haben!?«

»In welches Ressort würden Sie sich einfügen?! Unser Blatt lesen nicht lauter Peter Altenbergs! Konzessionen andererseits von Ihnen zu verlangen, wäre direkt ein künstlerisches Verbrechen. Halten Sie mich eines solchen Verbrechens wirklich für fähig?!?«

– »Gewiß nicht, Herr Chef-Redakteur!«

»Na also! Sie sind ein Diogenes mit modernen Ansprüchen! Eine Tonne, die zugleich eine Chaiselongue, heutzutage ›Schaukelstuhl‹ genannt, sein soll! Das gibt es eben nicht. Und, glauben Sie mir, so Mancher von uns Zünftigen beneidet Sie dennoch heimlich um Ihre Tonne, obzwar er darin selbstverständlich nicht leben möchte!«


*


Moral dieser Fabel:

Das Schlimmste in dieser Welt ist, um Etwas[38] beneidet zu werden, was der Beneider selbst um keinen Preis haben möchte!

Die Dachdecker

Sie sind zwar nicht »eingerückt«, aber sie sind »eingerückt« ihr ganzes Leben lang, auch im stillsten, gesichertsten Frieden, sie arbeiten an den schadhaften Dächern, Dachrinnen, machen von morgens bis abends unverständliche Akrobaten-Kunststücke, Schwindel erregende für den Zuschauer, der vom Gegenüber-Fenster aus nichts zahlt, sondern nur billige Weisheiten von sich gibt, wie: »Wie kann man sich so ein gefährliches Gewerbe aussuchen? Schrecklich!« Sie werden mich fragen, weshalb sie denn nicht mit »Sicherheitsgürteln« arbeiten?! Weil Menschen, die vom fünfzehnten Lebensjahr bis zum sechzigsten auf schadhaften Dachrinnen spazieren gehen, um Geld zu verdienen, Fatalisten werden, und sich längst mit dem einfachen Gedanken vertraut gemacht haben, daß das ganze Leben überhaupt in jeder Beziehung und überall nur an einem reißbaren Faden hänge! An welchem, das ist doch wirklich schon ganz gleichgültig. Es gibt Schriftsteller, die bei dieser Gelegenheit die Poesie, die getönte Farbenpracht eines alten Daches beschreiben würden. Mir sei es ferne, denn ich sehe keine. Ich rief den Dachdeckern hinüber: »Wie viel verdienen Sie?!«, da ich die' Absicht hatte, sie zu beneiden, nicht sentimental zu bedauern.

»Die Stunde eine Krone, also täglich neun Kronen! Sie, Herr Neugierig, zahln's fünf Liter Bier: Sie geh'n da bequem in Ihrem Kabinett herum und saufen auch!«

[39] »Ja, verdiene ich stündlich eine Krone, ich bin Schriftsteller!?«

»Na, was haben's Ihnen aber auch so an dalkerten Beruf ausgewählt?! Freilich, riskieren tut man nichts dabei!«

Elegantsein

Elegant sein, ist ein Blödsinn, oder »Wienerisch« gesprochen, eine »Stierität«. Was ist man, Wer ist man, wenn man schon »elegant« ist?! Im besten Falle: elegant. Nun, wenigstens aber doch keine Kaffeeflecken auf der Weste! Weshalb keine?! Die Seele sei ohne Kaffeeflecken! Wenn die Damen von Dir verlangen: »Sei doch elegant!«, so meinen sie nur: »Sei doch um Himmelswillen wenigstens elegant!« Das heißt, sonst stellest Du ja überhaupt nichts vor! Willst Du Dir Das bieten lassen, diesen Schimpf?! Gehe also so salopp als möglich, damit sie darauf kommen, daß an Dir trotzdem vielleicht – – – gar nichts ist!

Nur vor!

Es gibt Menschen, die »vorzeitig« nachgeben! Dem Schicksale, und Allem, Allem überhaupt.

Also rechtzeitig. Dann gibt es Menschen, die sich »als Vertreter« fühlen, spüren, wissen, einer kommenden Generation! Sie sind liebevoll besorgte zärtliche Väter kommender Menschen, die sie aber gar nicht gezeugt haben. Die Anderen sorgen nur für die, die zufällig (es ist gar nicht zufällig) ihrem Stamme entsprossen! Prosit! Aber es gibt »Idealisten« [40] (vulgo Narren), die von vornherein mit der historischen Entwicklung mittun, und zwar von 1916 an, sagen wir mindestens bis 1966! Weil sie es wissen, daß es nicht bei 1916 ewig bleiben kann, nennt man sie Narren! Es gibt überhaupt keine Sache auf dieser Welt, die das menschliche Gehirn (ich meine das männliche) nicht verbessern, ja direkt »aus den Angeln heben« könnte!

Nie daran zweifeln, daß nicht Alles verbessert werden könne irgendeinmal, ist »feminin« gedacht, »senil«, »arteriosklerotisch«. Sich einschüchtern lassen von Denen, die schwerfällig, ängstlich, kränklich sind, ist eine Infamie gegen die kommenden kraftstrotzenden Legionen der heranrückenden werdenden gereinigten Menschheit!

»Das Lied an den Abendstern«

Die meisten »besonderen« Frauen, die nicht gerade, nun, Sie wissen schon, erwünschen sich naturgemäß einen »Ritter Toggenburg«, einen »Wolfram von Eschenbach«, Einen, der nur singt, dichtet, und verehrt, und dabei schon ganz glücklich ist! Was sonst in ihm vorgeht, interessiert sie nicht, denn sie sind doch Gott Lob seine »Egerias«. Sie helfen ihm, ich weiß zwar nicht, wozu, sie helfen ihm, ach ja, zu seiner Begeisterung für sie! Denn daß er sie verehrt, ohne irgend welche Gegen-Ansprüche zu stellen, beweist doch klar, daß sie es auch ohne Gegenansprüche wert sind, verehrt zu werden! Fern sei es von mir, diese edle »Mittelalterliche Romantik« gerade in unserer verderbten [41] naturalistischen Zeit nicht anzuerkennen und nach Gebühr zu schätzen, aber ich frage mich nur immer, ob es nicht bequemer sei für beide Teile, und das Ganze nicht doch wieder nur ein »raffiniertes« Geschäft sei, unter dem falschen Titel:Selbstlosigkeit?! Eine Frau, die »in der Konversation« anziehender wirkt als »ohne« Konversation, wird immer Den bevorzugen, dem ihre »Konversation« die höchste, die letzte Seligkeit bereitet! Billig! Ich für meinen Teil verzichte gern auf »Konversation«, das ist aber nur, weil ich wirklich ganz frech zurückgeblieben ungebildet bin!

Über die Eifersucht

Eifersucht ist eine Krankheit. Denn wieso kommt es sonst, daß man irgendeinmal plötzlich gar nicht eifersüchtig ist, und Einem »Alles ganz egal« wird?! Nur weiß ich es nicht, ist man indiesem Zustande gesund oder erst recht krank, nämlich ein Esel?!


*


Eifersucht wäre erst dann ethisch, und nicht ein schamloser Egoismus, wenn man es bestimmtwüßte, daß man gerade dieser Frau mehr, besseres, wertvolleres zu bieten hätte als der Andere! Aberweiß man es denn?! Ja, man weiß es, daß esnicht ist!


*


»Von heute 7 Uhr abends an bin ich nicht mehr eifersüchtig, basta, Schluß!« nahm sich ein Gequälter [42] vor. Und richtig, er setzte es bei sich durch. Später sagte er: »Wissen Sie, was mir bei der ganzen Beziehung abgeht?! Die Eifersucht!«

Der Auerhahn

Die Jagd-Leidenschaft ist der größte, derschrecklichste, der unerklärlichste Irrsinn aller zahlreichen menschlichen Irrsinne! Würde es Dir passen, Jäger, wenn an Deinem Hochzeits-Morgen eine »höhere Macht« Dir auflauern würde mit einem Gewehre in einem Verstecke, und gerade in dem Augenblicke, da Du »Glück« hast bei Deiner »Henne«, pardon, Frau, Dich niederknallen würde?! Was hast Du davon, daß die Philosophen, die Alles verstehen, d.h. nichts verstehen, sagen, es sei der »schönste« Tod?! Hoffentlich wirst Du dieses Urteil nicht unterschreiben, sondern lieber gerade in diesem Momente etwas länger noch leben wollen!

Ich habe selbst in Reichenau, Schneeberg-Wäldern, Auerhahn- und Birkhahn-Balzung oft und oft belauscht, bewundert. Ich war zwar erstaunt, daß man um Frauen, pardon, Hennen gar so leidenschaftlich »balzen« könne, aber der Gedanke, den wahrscheinlich irrsinnig gewordenen Hahn gerade jetzt, bevor er sein Ziel (haste Ziel!) erreicht habe, niederzuknallen, lag mir stets ferne. Wie kann man Jemanden mitten in seiner Lieblingsbeschäftigung aus der Welt schaffen?! Man warte doch wenigstens, bis er »fer tig« ist! Da hat er ja seiner eigenen falschen Ansicht nach dann wirklich nichts mehr zu verlieren vom übrigen Leben! Und kann ruhig sterben gehen!

[43] Traurigkeiten

Deine Traurigkeit gerade darüber,

daß Du mir nicht ideal »gefällst«, führt Dich mir zu!

Gegen Deinen, gegen sogar meinen Wunsch.

Es ist nichts von Dir Ausgeklügeltes, um mich zu rühren. Du weißt, Du spürst es wirklich, hast daher die Kraft, den Mut, die Genialität, mich Anderen, Schönen, Anmutigen, zu überlassen!

Wie könntest Du auch den Kampf aufnehmen, Arme, mit meinen Schönheits-trunkenen, jaSchönheits-lüsternen, Schönheits-ergebenen Augen, wie könntest Du es?!

Und dennoch bezwingst Du mich, weil Du sie mir eben ideal selbstlos überläßt,

obzwar ich sie dadurch allein natürlich noch nicht habe.

Du denkst auch nicht: »vielleicht, gewiß, kommt er zurück zu mir!«

Denn was für ein »zurückkommen« wäre es denn,

wenn man wegen schlechten »Geschäftsganges« zur alten sicheren Firma zurückkehrte?!

Nein, was mich rührt an Deiner »seelischen Gebarung«, ist:

Es kann auf der Straße ein Ziegelstein vom Dache auf Dich fallen, willst Du also Dein ganzes Leben ernstlich verbringen in Sorge und Angst, um Dinge, die nicht auszurechnen sind?!

Siehe, Deines Schicksals edle Ergebenheit allein rührt mich,

in diesem wüsten Hin und Her von Wünschen und Gelüsten und feig-genialen Überlegungen der Anderen!

[44] Deines Schicksals edle Ergebenheit!

Und hieltest Du selbst es für ein nur geschicktestes Manöver Deiner Seele,

im Ernst-Falle, um mich zu rühren,

auch Das wäre für mich schon mehr Beweis alssogenannte »Liebe«.

Denn wie, Verehrteste, wenn ich Dir dann dennoch gerührt danken würde, daß Du mich freigibst?!

Die »Gelsen«

In dem schrecklichen, nur historischen, also unlebendigen Venedig, am grausandigen, unromantischen »Lido«, einem ekligen »Vergnügungsetablissement« der Müßiggänger und Partieenjägerinnen und koketten Verheirateten, nannte man sie liebevoll »Sansaras«, schützte sich vor ihnen schweigend durch Räucherkerzchen, die an Weihrauch erinnerten. Aber bei uns, im blühenden Österreich, nennt man sie verächtlich »Gelsen«, Blutsaugerinnen, läßt sich durch sie die Donau-Auen »mies« machen! Pfui! Gründet lieber, statt zu schimpfen, in Klosterneuburg eine Fledermaus-Zuchtanstalt! In hohen luftigen Hangars an schmalen wagrechten Stangen sollen bei Tag eine Million Fledermäuse schlafend hängen, um bei Nacht eine jede 200 Mücken, also 200 Millionen Mücken zu vertilgen! Abgesehen davon könnte man an die Obstzüchter und Bauerngärten von ganz Österreich die Fledermäuse verkaufen und so den Ertrag des Bodens zu Milliarden steigern! Die Fledermaus ist ein liebes, süßes, mysteriöses, stilles, anspruchsloses Tierchen, bei Tag, [45] wenn wir arbeiten (ich nicht!), schläft sie, und bei Nacht fängt sie uns die schrecklichen Gelsen weg und ernährt sich von selbst! Sie arbeitet für die ganze Menschheit bei Nacht, wie die Dichter, wenn sie zufällig »Inspiration« haben! Nachts, wenn alles still ist, beginnt die Arbeit. Die Fledermäuse leisten oft viel verdienstlichere!

Aus der »Kriegsmappe« des »SDS« 1916

Wie kindisch-täppisch, wie utopistisch-unreif
bist Du, oh philosophische Menschheit,
gleich freudig auf einen »Weltkrieg« die
Hoffnung zu gründen, es kämen dann
radikale Veränderungen zum Besseren!?!
Arbeitet lieber kleinlich-emsig-resigniert
à la Ameise und Biene an der Hygiene
des Leibes, der Seele, des Geistes!
Werdet nüchtern, keusch-ernst, und
sparsam, voraussichtig in jeglicher Art
Euerer Lebens-Ausgaben und -Einnahmen!
Erwartet nicht als Folge von
Dum-Dum-Geschossen und
gelbgrünem Verrat da und dort
plötzlich tagende Buddhistische Lebensreinheit!
Bettler, und das ist die heutige Menschheit,
haben bescheiden zu sein und genügsam!
Wenig erwarten und viel leisten!

Der Ort Weyer A.D. Enns

Hast Du den Kreuzberg gesehen, mit seinen frischen kühlen Düften?!

[46] Hast Du den murmelnden, singenden, flüsternden, rauschenden, plötzlich irgendwo verstummenden Gaflenz-Bach gesehen?!?

Hast Du die feuchten Wiesen gesehen mit den hunderttausend Gräsern und Blumen?!

Hast Du den Ennsberg gesehen, langgezogen, und den spitzigen Rappoldegg?!

Hast Du Kastenreith gesehen an dem Knie der brausenden Enns, die nach Steyer hinstrebt und Flöße unwillig hinträgt?!?

Hast Du das Hollensteiner Tal gesehen mit dem Forellenbache?!?

Nein, ich habe nur Anna D. gesehen, auf dem »Oberen Marktplatz« und ihr erstauntes Lächeln, als ich bewundernd stehen blieb und ihr ewig, ewig von nun an, nachsah!

Meer des Lebens

Ich möchte, ich muß loskommen von Dir,

und kann es nicht.

Du bist das Beste, Zarteste, Nobelste, Ergebenste, Verständnisvollste, Bescheidenste, was es überhaupt gibt.

Und dennoch brauche ich das »Andere«, das mirnoch nicht so Bekannte,

das meine Seele wieder hinaustreibt in die Stürme unbekannter Meere!

Wir wollen wieder unruhig träumen von einer Hand,

die sich zurückzieht, wenn wir gerade sie zart berühren wollen!

[47] Wir wollen um diese Hand, die sich nie, nie, grundlos berühren läßt, uns grämen!

Und dieser Gram ist die zärtlichste Berührung dieser Hand, die sich eben nie berühren läßt!

Wesen der Beziehungen

»Mädi, was willst Du lieber, Vanilleeis oder Himbeereis?« »Bitte, wenn Du so lieb bist, Vanilleeis.« »Also, Kellner, bringen Sie Himbeereis!«

Im innersten Innern ist es nämlich immer so.

Ausspruch des Dr. D.

»Immer noch besser eine unglückliche Ehe mit einer P. Sch. als eine angeblich glückliche mit allen Anderen!«

Meine Films

Ich habe Erna Morena gesehen in »Die weiße Rose« und jetzt kürzlich in »Höhenrausch«, Tuchlauben-Kino. Sie ist die beste, modernste, diskreteste, zarteste, rührendste von Allen, Allen! Sie allein hat dieses seit der »Marlitt« viel mißbrauchte Epitheton ornans: »Sprechende Augen«! Sie allein ersetzt durch milde sanfte edleGeste das schnöde Wort! Sie spielt »zerstörte Frauenseelen«, nein, sie ist es! Wie sie in ein Zimmer tritt, aus einem Zimmer wegwankt, wie sie eine Türe zum letztenmal [48] leise schließt, wie sie zitternd zusammenfällt, das ganze »Verhängnis« der überzarten Frauenseele, das erlebt, erleidet sie. Wie wenn sie ihr eigenes adeliges Innenleben da photographieren ließe! Ihre Augen, ihre Hände, ihre Finger sind das Vollkommenste, was esüberhaupt hienieden gibt! Nur solche Frauenkönnen, dürfen, sollen besondere Schicksale des Lebens der Seele darstellen, denn den Anderen glaubt man es ja doch beim besten Willen nicht! Ihre Gestalt ist mimosenhaft, elfenhaft, biegsam-kränklich, zwischen Lebendsein undBaldverlöschen schwankend! Wenn sie abends sich im Soiree-Gewande aus dem Berg-Hotel schleicht auf die Holzbrücke, die den Bergbach überspannt, um den Berg zu sehen, wo sie »etwas Anderes« findet wie in ihrem Salon-Leben, wenn sie ihre allerzartesten Hände auf das Geländer aufstützt, so voll, so voll von weinender Sehnsucht – – – Schluß des zweiten Aktes!

Modernes Liebesgedicht

Ich liebe Dich, Paulina,

weil Du bei Nacht bei weitgeöffneten Fenstern

schläfst und die Luft Deines frischen Gartens einatmest –

ich liebe Dich, weil Du Halbschuhe trägst zu jeder Jahreszeit, bei Regen und bei Schnee!

Ich liebe Dich, weil Du »Zugluft« verträgst, ja, eben nur darin gedeihst!

Ich liebe Dich, weil dein Apfelblütenteint nur behandelt wird mit lauem Wasser und billiger milder Mandelseife, das Stück zu 50 Heller!

[49] Ich liebe Dich, weil in einem einfachen schmalen Holz-Kästchen über deinem Bette sämtliche Werke von Knut Hamsun gereiht stehen, in blauem Lederband!

Ich liebe Dich, weil Du mich verstehst, und Dich selbst, und alle Bäume, alle Blumen verstehst,

und Franz Schubert verstehst, Hugo Wolf, Johannes Brahms, und alle schönen Katzen, Pferde, Vögel, Fische, und auch die heilige Bürde der Einsamkeit verstehst, noch zu dem allem dazu!

Anständigkeit

Die wirklich anständigen Menschen müssen zugrunde gehen,
weil es um soviel mehr wirklich unanständige gibt.
Ist das ein Grund?! Ja. Denn die Unanständigen arbeiten leider mit unanständigen Mitteln.
Was sind denn unanständige Mittel?!
Diejenigen, gegen die die anständigen Mittel unbedingt leider nicht aufkommen!
Weshalb kommen die anständigen Mittel nichtauf gegen die unanständigen?!
Weil sie eben anständig sind.
Der anständige Mensch verkauft ein Taschentuch um 3 Kronen, das ihn 2 Kronen 50 Heller gekostet hat.
Der unanständige Mensch verkauft ein Taschentuch, das ihn 3 Kronen gekostet hat, um 1 Krone.
Wie macht er das?!
Hat es ihn denn nicht 3 Kronen gekostet?!
Es hat ihn 50 Heller gekostet.
Wie macht er das?!
Durch Unanständigkeit!
[50] »Peter, Sie sprechen da nur von der Kaufmanns-Welt!?«
Ein Dichter, spricht nie von einer einzigen Welt, sondern zugleich von allen Welten zugleich!

Wichtige Nebensachen

Subjektivität

Sie sagte: »Seitdem man mir meinen alten ›Bösendorfer-Saal‹ (Konzertsaal in Wien) demoliert hat, bin ich ein unglücklicher Mensch geworden. Ich gebe es zu, daß es ›im Weltkriege‹ tiefere Probleme und Tragödien gibt, aber für mich Armseligste dieses Lebens gibt es leider – oder Gott sei Dank – keine anderen. So viele Helden gehen dahin, und ich trauere um meinen ›Bösendorfer-Saal‹. Deshalb soll ich mich schämen, es zu bekennen?! Er war mein Alles. Wenn ich dort saß, vergaß ich der Welt. Ich vergaß der Gegenwart, der Zukunft. Später, beim Nachtmahle, wußte ich nicht, was ich aß. Das wird nie mehr wiederkommen. Ich kenne die anderen Konzertsäle. Aber ich vergesse darin nicht der Gegenwart, der Zukunft. Ob ich ›musikalisch‹ bin!? Wer weiß es?! Im Bösendorfersaale war ich es. Muß man es, kann man es denn überall sein?! Das sind ja schon ›Genies‹, die Das überall können. Unsereins ist irgendwoschrecklich angebunden. Dort lebt er auf,dort gedeiht er, dort wird er er selbst! Nein, mehr als er selbst. Wegen mir allein konnte man das Gebäude nicht stehen lassen, das ist doch selbstverständlich. Nur einmal kam ich aus der Fassung. Da sagte mir Jemand: ›Er war [51] doch nicht einmal besonders »akustisch«!‹ Ich habe gedacht: ›Wenn ich eine Tigerin wäre, mit meinen Pranken im Sprung ihm seinen Hals aufzureißen!‹

Aber ich bin leider keine Tigerin.«

Die freie Künstlerschaft

Als ein berühmter Künstler des Burgtheaters in der »Pilsenetzer Bierhalle«, an meinem Stammtische, meine heilige blonde Freundin kennenlernte, und bemerkte, daß sie Zigaretten rauchte und ohne Hut dasaß, mit einem blaubraunen P.A.-Kollier, offenem Halse, und überhaupt schrecklich apart und außergewöhnlich aussah, konnte er nicht umhin, als sie aus einem gewichtigen unaufschiebbaren Grunde für einige Minuten sich von meinem Tische entfernte, an mich sogleich die wichtigste Frage seines geängstigten, gequälten, in Unruhe versetzten, bürgerlich-gutmütigen Herzens zu stellen: »Wovon lebt diese merkwürdige, interessante und wahrscheinlich überaus wertvolle junge Dame?! Ist sie ›von Haus aus‹ so unabhängig gestellt, daß sie tun und lassen kann, was sie will?! Ist sie eine ›Waise‹?! Oder eine Millionärin?!«

»Nein, sie ist ganz arm und hängt sehr an mir!«

Siehe, die bürgerlich funktionierenden Menschen, wenn sie auch »beruflich« zufällig Künstler sind, verzeihen Einem Alles, Alles, Alles, wenn man das Einzige, was auch sie nur unter einer anderen Maske erstreben, Geld, besitzen. Ich hätte nur sagen müssen: Meine heilige Freundin hat von ihrer Großmutter aus 150000 Kronen zu erwarten, und das erregte Bedenken des Künstlers wäre sogleich geschwunden, und vielleicht hätte er mir sogar herzlich gratuliert!

[52] Tuberkulose

»Herr Peter, was also würden Sie einem Menschen, dessen ›loca minorum resistentium‹, die Orte geminderter Widerstandskraft im Organismus, die Lunge ist, besonders empfehlen?!« sagte eine wundervolle wunderbar zarte 20jährige zu mir.

»Vor allem nie, nie, nie stehen, sondern liegen, sitzen, gehen bis zur ersten leichten Ermüdung, abernie nie stehen, nicht einmal bei Begrüßungen fremder Menschen, immer sogleich den leichten Klapp-Sessel. Ferner: Rohe Eidotter, gesprudelt, 3–5, in Fleischbrühe, am besten in ›Knorr-Soß‹, 3 Kaffeelöffel voll in einer großen Tasse heißen Wassers. Zweimal des Tages. Spinat, Spinat! Saures Oberes. Junger Käse. Friede des Herzens!«

»Sagen Sie, Sie sollen ja auch außer Ihrem, diätetischen Buche einige ganz nette literarische Bücher geschrieben haben. Können Sie mir Eines für meine Kur empfehlen?!«

»Keines. Sie bedürfen der ergebenen Ruhe. Inmeinen Büchern ist, soweit man ›zwischen den Zeilen‹ zu lesen versteht, der ewige schreckliche Kampf geschildert zwischen Allem, was ist und wie es eigentlich sein soll te! Also nichts für Sie, Sie Ruhebedürftige, Sie leider Ergebene!«

Vorlieb

Alle Menschen nehmen »vorlieb«. Das ist ihr Unglück, obzwar es scheinbar ihre »Rettung« ist. Nicht »vorlieb« nehmen, macht Dich sogleich vor [53] Dir selbst zum »gekrönten Märtyrer dieses armseligen Daseins!« Weil Dir nichts genügt und vieles Dich bald oder noch balder enttäuscht, bist Du vor Dir selbst vor allem der »heilige Ungenügsame!« Schaue doch mit Schrecken, mit Grauen fast, um Dich rundum herum, womit alle »es sich genügen lassen«, nachgeben, verstummen und sich hinschleppen?!? Könntest Du ein Jahr lang mit dieser Anna B. glücklich sein?! Nicht eine Stunde. Aber das, siehe, bringen alle zusamm', zu ihrem Heile, nein, zu ihrem Unheile! Jede Maschine hat ihre unerbittlichen Gesetze, selbst deiner doch Dir gehörigen Uhr kannst Du es nicht beibringen, sie solle bei 1/25 erst auf 5 Minuten nach 3 stehen. »Vorlieb« nehmen mit irgend etwas hienieden, heißt, seiner, ach so komplizierten Lebensmaschine etwas gebieten, was sie dennoch nicht leisten kann! »Nimm mit nichts ›vorlieb‹!« sagte ich zu meinem wunderbar schönen schlanken, aschblonden, 15jährigen Töchterchen, das ich gar nicht habe, »nimm mit nichts vorlieb, Kind, diesen Segenswunsch gebe ich Dir mit in dein blühendes Leben, ich, dein Vater, den Du gar nicht hast!«

Schrullen

Soviele Söhne aus »reichen Häusern« haben Eigenheiten, kleine, nicht gefährliche »fixe Ideechen«, z.B. einer will fünf bis sieben Schaffhausen-Uhren haben, um sie auf »absolute« Richtigkeit vergleichen zu können, obzwar es gerade ihm doch auf die Minute gar nicht ankommt in seinem Leben. Ein anderer »spielt«, ein anderer »verschwendet«. Der Grund [54] ist ganz einfach: diese zarte Lebensmaschine produziert, da ihre Kräfte nicht durch »Sorgen« verbraucht werden, täglich durch Ernährung, Körperpflege, Schlaf, angenehme Anregung, um so viel mehr Lebenskräfte als sie überhaupt je verbrauchen kann. Diesen Zustand von »Überproduktion« meldet gehorsamst die feine Lebensmaschine dem Gehirn, das sich sogleich daran macht, diesen gefährlichen Zustand für die Maschine zu ändern, indem es ganz einfach und sachgemäß »Dummheiten« ausdenkt, die die Lebensmaschine »beschäftigen« und ihre unverbrauchten Kräfte in irgend eine dumme Aktion setzen!

»Sorge« ist eine naturgemäße Hemmung des Organismus. Sonst eben wird man »hemmungslos«. Das aber verträgt nur eine Maschine: Die des echten Künstlers!

Kosmetik

Lauwarmes Wasser in einer tiefen Blech-Waschschüssel.
Mildeste Seife für 50 Heller.
Schlafen bei weitgeöffneten Fenstern.
Zarteste Nahrung.
Seelen-Frieden.
Seelen-Anregung durch Musik und Waldspaziergang.
Grenzenlose Gutmütigkeit.
Anmut der Bewegung infolge primitiven Freiturnens: Armheben, tiefe Rumpfbeuge, Armkreisen.
Abgöttisch verehrt werden von einem zart-romantisch veranlagten Mann.
[55] Gott stündlich inbrünstig danken, daß man gefällt und sympathisch wirkt.
Man hätte doch auch ein Scheusalchen sein können wie Fräulein – –, bst, keine Namen, nicht?!?

Leontodon

Der »erste Mai« steht im Zeichen des »goldgelben Löwenzahn«, Leontodon taraxacum! Auf allen Rasenplätzen in den noch verlassen dastehenden Villengärten Löwenzahn! Auf den freien Wiesen Löwenzahn, am Waldesrande Löwenzahn. Hellgrün mit goldgelb gesprenkelt ist alles. Niemand pflückt ihn, denn er läßt einen weißen Saft in den Stengeln. Ein Unkraut, das sich beschützt, wozu?! Ein süßes Mäderl mit einer lila Seiden-Bauernhaube hielt einen ganzen Strauß davon im Händchen. Das muß eine nette Kinderfrau sein, die das erlaubt. Wahrscheinlich hat sie gesagt: »No wart', du unfolgsames Mädi, das weiße Gift wird dich schon brennen!« An der braunen endlosen Tiergartenmauer blüht Löwenzahn; Löwenzahn ist die Marke des »ersten Mai«. Sie werden sagen, wieder etwas Apartes, für alle anderen ist es der Flieder, diese lila duftende Wunderstaude. Ja, aber das merken alle, es steigt ihnen aufdringlich in die Nase, in die Augen, er ist akkreditiert und besungen und läßt keinen giftigen weißen Milchsaft, und Gärtner, Hausmeister und Polizei mischen sich drein, wenn man ihn pflückt. Wer aber mischt sich beim Löwenzahn drein?! No, wer sich immer in solche Sachen dreinmischt, der Dichter!

Offener Brief an Herrn Schleiss

[56] Offener Brief an Herrn Schleiss in Gmunden, Tonwaren- und Porzellanfabrik

Sehr geehrter mir unbekannter Herr, vor dreißig Jahren trat ich in den Laden Ihres Herrn Vaters und schlug ihm ein Welt-Geschäft vor, nämlich außer den herrlichen grünen Weidlingen (Küchengeschirr), infolge der wunderbaren Lasuren, die wieder von der Gmundner Tonerde abhängen, künstlerische Vasen mit Überlauf-Glasuren in modernen Farbenmischungen (braun, taubengrau, erbsengrün, rostrot, ziegelrot, himbeerfarbig, kornblumenblau) herzustellen in größeren Formaten. Es geschahnichts, nichts.

Nun sehe ich, nach diesen dreißig Jahren, Ihre Erzeugnisse, vermisse aber die einzig künstlerische Einfachheit der Natur in der Form! Lernen wir von unseren Feinden, das ist die beste Art, sie zu besiegen. Die weltberühmte Ruskin-Pottery mit ihren unikate Überlauf-Glasuren hat niemals Tiere, Pflanzen nachgeahmt, sondern sich künstlerisch verlassen ausschließlich auf die Wirkung von Porzellan, Farbe und Lasur. Herr Schleiß, gerade Sie könnten den Weltmarkt jetzt erobern, indem Sie sich unsere infamen Feinde zum Muster nehmen in der berühmten Ruskin-Pottery, wo jede Vase zwischen 10 und 90 Kronen kostet, während Sie in meinem geliebten Gmunden es halb so billig oder viertel so billig herstellen könnten! Herr Schleiß, lassen Sie sich doch, bitte, nicht von Leuten verführen, von Feinden der natürlichen Natur selbst, nomina suntbekannt, die ihre armseligen und deshalb komplizierten Bildhauer-Kunststückchen [57] an dem armen unschuldigen Porzellan und an der herrlichen Gmundner Überlauf-Lasur auslassen! Sie können ein Weltgeschäft haben, wenn Sie die Vase dem Ofen überlassen und der geheimnisvollen Kunstfertigkeit der Natur, der Hitze, der Farbe selbst! Und der Gmundner idealen Lasur! Porzellan kann nur wirken durch seine »seit-je-Form« in Vasen, Töpfen, Krügen, Schüsseln, wie schon die ehrlichen Phönizier, die ehrlichen Indianer es gemacht haben, nie aber in Nachgestaltung von Mensch, Tier und Pflanze. Das sind traurige, nein, tragische Verirrungen eines angeblich modernen, aber tatsächlich nur irregeleiteten Geistes! Die Natur besiegt hohnlachend die Künstelei! Nomina sunt odiosa! Hoch die Natur selbst!

Bemerkungen zu einem »politischen Attentate«

Der große Saal des Restaurants war ganz in weiß und gold gehalten, in der Mitte eine große Nische mit 3 Tischen. An einigen Tischen speiste man bereits. Das Menü des Tages lautete: Karfiolsuppe, Hecht mit Sardellen, es war »fleischloser Tag«, ausgezogener Apfelstrudel. Alles hatte seinen gewohnten Aspekt. Die Kellner bedienten die Gäste wie immer lautlos. So war es 1/22 Uhr geworden. Niemand ahnte, was kommen werde.

Maitag

27. Mai 1916. Weltkrieg. Wir zerschmettern mit unseren 35 Zentimeter-Mörsern die perfiden Italiener. [58] Ein heißer, glühender, dampfender Tag in Wien. Selbst die Achselhöhlen der gepflegtesten lieblichsten jungen Wienerinnen schwitzen und nässen die zarte Bluse. Gar net schlecht! Ach, wenn es nur immer Sommer bliebe! Die Zimmerpflanzen müssen begossen und stark begossen werden, Straßenknaben schlafen halbnackt auf dem Pflaster in Häuserecken. Was immer stetig bleibt, ohne Rücksicht auf Temperaturen, ist die Eifersucht. »Weshalb hast Du gestern den Herrn G. angelächelt, weshalb, weshalb, weshalb?!« Genug des »weshalb«. Das sagt man aber im Winter, das sagt man im Frühling, im Sommer, im Herbste!

Da gibt es keine Temperatur-Unterschiede!

Die Blumen verschmachten, die Hunde lechzen nach Wasser, aber der Liebende sagt: »Weshalb, Anna, Anna, Anna, hast du mir das gerade angetan und antun können?

27. Mai 1916, Weltkrieg, 24 Grad Reaumur, wir zerschmettern die Italiener im Val Sugana. Aber der Liebende spürt keine Hitze, er sagt: »Anna, Anna, wie konntest Du Herrn W.v.G. beim Abschiede so anlächeln?!«

Armut

Sie ging vorüber und er hatte Alles!

Er streifte nicht einmal an ihren weiten Mantel an.

Er träumte fortan, sehnte sich und litt. Und war begeistert.

Denn unsere Nerven leben Gott sei Dank vondem allein, was sie empfinden,

[59] und nicht von dem, was der Andere ihnen spendet oder nicht spendet.

In einer anderen brutaleren Sphäre geschieht ein Austausch,

ein naturgemäßer Austausch: do ut des!

Jedoch die Seele funktioniert allein für sich,

sie anerkennt, unabhängig von allem, den Frühling und den Herbst,

das süße Kindchen und die zarte Frau,

das Ufer-Schilf am See, des Sumpfes braune Müdigkeiten, des Hirsches Morgenschrei, des Abends Friedensstille. Und Alles, wie es eben ist!

Wer das nicht selbst empfindet, nennt es »pathologisch«!

Laßt ihnen doch wenigstens dieses heilende Wort für ihre offenen geheimen Wunden!

Daß sie nicht mit können! Nicht mit!

Der Selbstmord

Wenn in einem Hotel ein Gast das Stubenmädchen bittet, ihm ein Tintenfaß zu bringen (Wer würde es denn erwarten, daß es bereits von selbst im Zimmer stünde, da kämen die Hoteliers schön weit, wenn sie auch für Tinte noch sorgen sollten, wie könnten sie sich dann, bitte, in 25 Jahren, zurückziehen?!), wenn also, wie gesagt, uns das Hotelstubenmädchen ein Tintenzeug bringt mit einem dicken Satz von längst eingetrockneter Tinte, und man bei dem ach so wichtigen Liebesbriefe nicht einmal anfangen kann: »Wieder eine in Tränen verbrachte schlaflose Nacht deinetwegen!«, dann sollte man sich eigentlich [60] gleich aufhängen, denn die anderen Sachen, die man erlebt, werden auch nicht viel anders sein!

Sehnsucht

Sie spürte es schon lange, daß etwas »nicht ganz in Ordnung« sei.

Sie wußte nicht, was?! Ja, sie wünschte es eigentlich nicht, es je zu wissen. Wozu?! Kann man es denn ändern?!

Oder soll man, darf man?!

Da fand sie in seinem geheimen Notizbuch einen Namen, eine Telephonnummer, eine Adresse, eine Chiffre.

Da schrieb sie unter dieser Chiffre einen Brief, und zerriß ihn sogleich wieder: »pfui, Seele, so etwas tut man doch nicht, Seele!«

Es blieb also ihr süßes schreckliches Geheimnis, daß sie es wußte, spürte, Tag und Nacht, undimmer!

Nur, wenn er auf Landpartien vor einem Wiesenstrauche, vor einem schönen Blütenbaume stillstand, für Minuten, so ganz versunken,

da fühlte sie: »Er denkt an sie! Schrecklich!«

Amor

Wißt Ihr denn nicht, irregeleitete Gänse,

daß Ihr nichts seid und nur Das seid, was Ihrin uns mysteriös entzündet?!

Ein Licht, das allerdings von Euch ausgeht und eueren Prächten;

jedoch in uns erst leuchtete es und wärmte.

Deshalb, gleichsam aus innerer unbewußterRache,

[61] ist Euch Der so häufig direkt unsympathisch, lästig, beschwerlich, also unangenehm,

der mit seinem romantischen Idealismus, seiner zärtlich-kindlichen Anhänglichkeit an Euch, seinen begeisterten oder sogar tränen-schimmernden Augen, mit seinen Liebesbriefen, seinen gereimten Hymnen,Liebe-Triebe,

sich selbst eigentlich und seine zarte Seele nur bereichert,

während Ihr, liebliche Gänse, bedenklich werdet, ob Ihr es denn auch irgendwie verdient?!

Freilich, wenn Ihr Euch als lebendig gewordenes nacktes Kunstwerk der Natur empfinden könnt, dann begreift Ihr vielleicht des Mannes Seelenzustand!

Aber bald kommt der Gedanke: »Wir sind nicht Karrara-Marmor, der ewig schimmert unter Dach und Fach, wir können also doch nicht konkurrieren!«

Menschen

Menschen, die »schlechte Luft« in einem Lokale vertragen, es als etwas Selbstverständliches hinnehmen, no ja, am Semmering ist die Luft allerdings besser, sind noch keine Menschen!

Menschen, die »ökonomische Sorgen« aushalten können und sagen: »Mein Gott, ich habe halt Jahre lang allerdings mehr gebraucht als meine Verhältnisse es mir gestatten«, sind noch keine Menschen!

Menschen, die empfinden: »Bin ich ein Weltverbesserer, kehre ein Jeder doch vor seiner Tür!?«,sind noch keine Menschen!

[62] Menschen, die nicht Tag und Nacht an ihrer körperlichen, seelischen, geistigen Höchstelastizität und Spannkraft arbeiten, sind noch keine Menschen!

Menschen, die philosophieren: »Es ist halt einmal schon so in dieser Welt und nicht anders!«, sind noch keine Menschen!

Gibt es also außer mir Menschen?!?

August Strindberg

Durch Frauenliebe gezwungen, nachzugeben!?

Wißt Ihr denn, Ihr Frauen, die Ihr es nicht wißt, was das heißt, dieses schreckliche Wort: »Mir zuliebe!«?!

Ja, weshalb?! Wie kannst Du es auch je nur ahnen,

was Du in mir zerstörst an Werten, wenn ich »Dir zuliebe«?!

Und gerade das haltet Ihr für Beweise,

wenn wir uns durch Euch gern stören, also tief degradieren lassen!

Da rücken wir Euch organisch näher, Ihr eben ewig durch irgend Etwas Gestörte!

Ihr wollt unseren ewigen Weg nicht in die Welt, da Ihr durch irgend Etwas geknebelt und daran verhindert seid!

Wir sollen Euch als »Weltersatz« betrachten,

während Ihr doch im besten Falle nur lebendige Photographie der Weltenprächte seid!?

Weshalb wollt Ihr nicht mit-geh'n, stumm,

still und traurig, demütig-erstaunt und folgend?!

Was habt Ihr schon davon, wenn Ihr das Zepter führt?!

[63] Zum Zepter gehören gesalbte, unter Tausenden ausgewählte Königinnen!

Demut, Anmut ist zarter, leichter! Das bedenket!

Die Liebe

»Solange Du gesund und frisch bist, o Du, mein Geliebtester, benötigst Du mich selbstverständlich nicht, ich mache auch keinen Anspruch darauf, denn ich bin im Gegensatze zu allen Anderen eben eine wirklich ideale Geliebte! Aber wenn Du doch einmal krank bist und unbeweglich, dann, dann werde ich erst in meine Rechte treten, und Dich pflegen, Dich betreuen wie keine, keine Andere! Denn was nützte Dir dann, Liebster, alle Anmut und Schönheit aller der Anderen?!?«

»Geliebte, eine Pflegerin für 15 Kronen täglich täte es geschickter, sanftmütiger und einfacher! Du würdest mir freilich 15 Kronen ersparen täglich. Richtig. Aber vielleicht verlöre ich deine Liebe durch deine ewigen untergeordneten Dienstleistungen. Denn der Kranke ist ein schlechter Romeo!«

»O, Geliebter, lasse mir doch das Glück, dich pflegen zu dürfen!«

»Ich lasse dir es. Vorläufig bin ich noch gar nicht so krank. Aber besser wäre es für dich und mich, wenn eine noch so schwer bezahlte sanfte fremde Pflegerin dir es melden könnte: ›Fräulein, er schläft! Fräulein, er hat heute zum erstenmal etwas Suppe genommen! Fräulein, die Ärzte sind bereits etwas hoffnungsvoller. Gott, Fräulein, wie liebreizend Sie heute wieder aussehen! Mit Ihrem [64] neuen Frühjahrshute! Er hat mir einen heißen Gruß an Sie übrigens aufgetragen – – –‹.

Wie, Du weinst schon jetzt beim Gedanken an diese süße Szene, nun siehst Du?! Die 15 Kronen täglich wird uns schon Jemand hoffentlich bezahlen! Und falls es schief ausgehen sollte, wirst ja doch Du allein Dich betätigen dürfen mit deinem Schmerze, und keine Pflegerin wird darin mit Dir schließlich konkurrieren können und wollen!«

Frauenschicksal

Eine junge anmutige entzückende Dame sagte einmal:

»Bitte mich nicht zu irgend einem noch so guten Alkohol zu verführen, bitte ja nicht mir zu sagen, daß ein Refüs in dieser Hinsicht beleidigend oder auch nur kränkend wäre! Ich trinke nur in Gesellschaft meines Gatten, oder sagen wir es aufrichtig – anständig – brutal, nur unter dem Schutze meines Mannes! Ich weiß zwar leider nicht genau, wovor es mich errettet, aber schon das Gefühl der Sicherheit genügt mir für mein bißchen Lebensglück! Wir müssen uns bescheiden. Nicht Alle unter uns sind ›Genies des Lebens‹, obzwar wir alle gleichgebaut ausschauen! Viele unter uns sind froh, daß sie, so oder so, irgendwo, irgendwie, einen ›Unterschlupf‹ bei einem ›gediegenen‹, ›anständigen‹, angeblich ›anspruchslosen‹ Menschen gefunden haben! Wir sind nicht Alle ›Stürmerinnen‹ und ›Drängerinnen‹! Wir wollen auch ›idyllisch leben‹, nicht immer ›Märchenprinzessinnen‹ vorstellen für träumerische Idealisten, die nicht ›aus noch [65] ein‹ wissen in dieser verflucht komplizierten Welt! Aber können wir das?! Wenn wir aufrichtig sind, wir können es nicht. Wir können eventuell gut kochen, das Haus ›in Ordnung halten‹, sparen. Aber sind wir dann dadurch seine mysteriösen zarten Lebensblumen?! Keineswegs. Wie schwer ist es also für uns?!«

Gar nicht. Entscheide Dich tapfer! Für den einen oder den anderen Weg! Schwerer allerdings ist es, auf die Dauer zu entzücken!

Ich habe heute, 15./1., einen anonymen Brief bekommen einer Dame, weil ich in einer Skizze »Schicksal der Frauen« gesagt habe: »Schwerer allerdings als einen geordneten Hausstand zu erhalten, ist es, auf die Dauer zu entzücken.«

Die Japaner, viele Millionen, haben die demütigsten Frauen von der Welt. Aber ihre »Geishas« sind dennoch für sie »Poesie des Lebens, Romantik, Anmut, Leichtigkeit des Daseins«. Kann man denn, darf man denn, soll man denn die Frau nicht hie und da als »lebendiges Kunstwerk« der Naturbetrachten, empfinden, anbeten dürfen?! Kann denn nicht eine Einzelne unter Tausenden, das Auge, das Auge bereits liebenswürdig-selbstlos befriedigen?! Weshalb darf es denn nicht »Pawlowas«, »Karsavinas« des täglichen Lebens geben?! Weshalb soll eine Frau uns nicht anders begeistern dürfen wie durch das Inordnunghalten unseres Wäschekastens?!? Goethe hatte Eine sicher und Andere, Viele, unsicher. Christiane Vulpius erkannte ihre Mission einem Goethe gegenüber, und übernahm sich hierin nie. Also ein Genie der einfachen Lebensführung. Weshalb sollen wirnur begeistert [66] sein von der Pflicht?! Ist denn das »Andere« im ach so komplizierten Dasein ein Vergehen?! Suum cuique, Jedem das Seine! Nimm, o Frau, einen Mann in seinen edlen Vielseitigkeiten! Denn der Einseitige ist nicht viel wert! Er ist – – – leider einseitig.

Zweiter Besuchstag

Sie kommt – – sie kommt nicht – – sie kommt – – sie kommt nicht – – sie kommt.

Es ist Mittag. Um Mittag soll sie kommen.

Festliche Beleuchtung des äußeren Schauplatzes: ein grauer Oktobertag schimmert durch die braunen à jour-Vorhänge.

Ich höre den Aufzug rauschen (unserer rauscht ein wenig, wie ferner Sturmwind in Baumeswipfeln) –

Sie kommt. Es ist ein Dienstmann für die Dame nebenan.

Sie kommt nicht.

Ich ordne die braunen Disteln in den blauen Vasen. Mein Zimmerchen ist nämlich in braun und blau gehalten.

Beim ersten Besuche sagte sie: »Wahrscheinlich Ihre Lieblingsfarben?! Meine sind erbsengrün und taubengrau!«

Ich erwiderte: »Wenn meine nicht blau und braun wären, so wählte ich taubengrau und erbsengrün!«

Der Aufzug rauscht. Er bleibt im 3. Stocke stehen.

Es ist ein Uhr.

Sie kommt – – sie kommt nicht – – sie kommt nicht – – sie kommt – – nicht.

[67] Lucie Höflich

»Sie dringt in das Ur-Wesentliche des Charakters vor, und so, wie wenn sie es gar nicht ahnte, in welchen Tiefen einer Seele sie sich da plötzlich von selbst befände!«

»Dort, wo die Naturkraft einer begnadeten Könnerin schlicht und fast bedeutungslos einsetzt, verblassen sogleich alle anderen, sonst noch so interessant und auffallend blinkenden Sterne!«

So hätten Alle nach der Maria Magdalena von Lucie Höflich am achtzehnten Mai 1916 in Wien schreiben sollen, no, aber haben sie?!

Aber pardon, kann man es auch verlangen, daß sie etwas von »Naturkraft« begreifen?! Und dann, man muß sich doch über eine Künstlerin des Längeren ausbreiten! d.h. man muß nicht, aber man tut es leider!

Ligusterschwärmer

Bin ich ein Betrüger, ein Scharlatan, ein Don Juan?! Ich liebe Alle, die liebenswert sind.

Infolgedessen auch Dich! Dich infolgedessen vor allem und vor Allen!

Jedoch die kleinste, die geringste, die unscheinbarste Schönheit lenkt mich infolgedessen sogleich ab von Dir, lockt mich ab, verführt mich.

Warte! Ich kehre stets zu Dir zurück!

Daß ich eben stets zu Dir zurückkehre, sei deineeinzige wirkliche Ehre!

Der »Ligusterschwärmer« schwebt dahin, dorthin,

und schließlich, spät abends, läßt er sich doch auf dem Liguster wieder nieder!

[68] Wo Du ihn auch sonst antriffst, es ist nicht sein Heim, sein Heim ist und bleibt der Ligusterstrauch! Und so Du mir!

Tanz [1]

Tanz

Geniale Tänzerinnen können nie alt werden, nämlichnie sich ihres alt-Werdens bewußt werden!

Denn ihre geübte zarte Gliederanmut besiegt des Alterns öd knöcherne Ungelenkigkeiten.

Willst Du ihnen sagen, daß sie nicht mehr wirksam sind wie erster Veilchen-Frühlings-Sterbens-blau-Hauch?!

Willst Du Dich selbst herabsetzen, indem Du das Vergängliche der unverdienten Jugend

höher schätztest als die Unvergänglichkeiten verdienter gereifter Kunst?!

Wie man das Bein hebt, darauf kommt es an,

doch welches Bein, ist Das Nebensache!??

Der 20. April

Ich habe blühende Fichtenzweige in meinem Zimmer, die »Kätzchen« daran blühen gelb bis himbeerfarbig.

Wenn man sie rüttelt, fliegt ein gelber Staub ins Zimmer.

Mein Stubenmädchen sagte: »Der gelbe Staub von den Fichten (sie sagte: von die Fichten, aber es ist undeutsch) hat uns noch gefehlt! Haben wir nicht genug an dem grauen von der Straße?!«

[69] Ich erwiderte, es sei das, wodurch der Wald sich vermehre!

»In Ihrem Zimmer?! Das fehlt mir noch, daß ich an ganzen Wald zum reinigen hab'!«

»Aber es wird ja nichts daraus bei mir!«

»Bei Ihnen wird, mir scheint, aus gar nichts etwas draus!«

Die Kriegsanleihe

Ich habe einen genialen Prospekt einer Wiener Bank für die Kriegsanleihe gelesen, ich möchte sagen, alsoselbstverständlich in voraussichtigem durchschauendem Bismarckischem Geiste geschrieben:

Alles nämlich, was der »Kapitalist« dagegen an Bedenken sich selbst raffiniert schlau, geschickt, bedenklich, erwägend, mißtrauisch zuflüstern könnte, möchte, wird, ist hier als selbstverständlich bereits angenommen! Aber infolgedessen kann man ihm auch, und nur infolgedessen, seine Bedenken, seine berechtigten Bedenken berechtigt zerstreuen!

Ebenso, ganz ebenso sollten es von nun an alle Mädchen in Bezug auf einen geliebten Mann, alle Männer in Bezug auf ein verehrtes Mädchen machen: ihm, ihr, alle Bedenken, die der Andere selbst haben könnte, einerseits anerkennen, andererseits eben diese Bedenken zerstreuen! »Mein Herr, ich bin Ihnen sicherlich zu wenig schön, selbstverständlich. Aber, bedenken Sie, welche Vorteile es Ihnen eben bietet für Ihre Glückseligkeit, daß ich dadurch nicht immer und überall das Augenmerk auf mich ziehe, nicht?!«

[70] Und er: »Ich bin allerdings nicht reich, aber bedenken Sie, daß meine Intelligenz und meine innere Kultur Ihnen einen ewigen idealen Gesellschafter garantiert!«

Also, zeichnet die Anleihe!

Liebesleute

Streit, Streit, und Streit – – –.
Und aus dem trüben Streite, dem erbitterten,
kristallisiert sich allmählich die klare Erkenntnis,
daß nicht Alles stimme bei diesen zwei scheinbar Zusammgestimmten!
Und infolgedessen ist Streit der Beginn,
der allerdings merkwürdige Beginn einer neuen schöneren echteren wirklicheren dauernden Beziehung
als sie bisher gewesen!
Dieser, solcher Streit vertreibt düstere bedenkliche schwere Wolken, bringt Licht!
Nicht jeder Streit ist Streit – – –
es gibt auch einen Streit, der direkt ewigen Frie den bringt!

Landpartie

Wenn ich mit einem schönen anmutigen bescheidenen wohlerzogenen jungen Mädchen eine Landpartie in Frühlingszeiten mache,

so kommt sie mir anfangs vor wie eine Einigkeit mit dem Waldesrande, der Wiese, dem melancholischen Teiche, dem gurgelnden fast unsichtbaren Wiesenbache. Aber natürlich ist es wirklich nicht so, sondern sie erwünscht es sich, an Stelle aller dieser einfachen Gottes-Schönheiten gesetzt zu werden, [71] und sogar dieselben zu besiegen, auszulöschen, wertlos zu gestalten! Bei den meisten Männern gelingt es ihnen leider. Ich sage leider, denn Beide haben schließlich nichts davon, Gottes Pracht in der Natur mißzuachten und hintanzusetzen gegen sich selbst!

Nur die Frau, die mittönt, in ihrer bescheidenen Gottes-Pracht, mit Busch, Baum, Wiese, Vogel, Bach, ist eines wirklichen Mannes würdig! Sich an Stelle setzen der Weltenschönheit, ist eine pathologische Überhebungselbst der vollkommensten Frau! Aber weshalb, andererseits, sollte sie nicht die für sie günstigen Konstellationen der Idioten für sich geschickt ausnützen?!?

Der Gemahl

»Meine süße zarte Frau wird von einem netten Romantiker ganz selbstlos verehrt, vergöttert gleichsam.

Wenn ich zufällig beschäftigt bin, um für sie Geld zu verdienen,

holt er sie zum Spaziergang ab, oder liest ihr sogar vor.

Es genügt ihm, bei ihr zu sein, neben ihr zu sein, in ihrer Nähe.

Er beschämt mich fast, denn mir, aufrichtig gesprochen, genügte das nicht.

Er hat mich sogar gern,

vielleicht weil ich ihm alle anderen Lasten abnehme;

aber nimmt er mir nicht auch wieder hingegen alle anderen Lasten ab?!

Er bietet das, was ich nicht bieten kann, ich habe eben leider Gott sei Dank keine Zeit,

[72] meine Schwärmerei besteht in Sorgfalt, Gelderwerb, Erhaltung der teuren Frau!

So Viele, Damen und Herren, angebliche Freunde,

träufeln mir Gifte ins Ohr, warnen mich!

Ich aber fühle: Ein Jeder fülle seinen Platz aus, bei der geliebten Frau!

Nun, und wenn es schon schief geht,

in dieser merkwürdig komplizierten und verworrenen ungerechten Welt?!

Was kümmert's mich und meine geradlinige Seele?!

Ich gehe den geraden Weg meiner Seelen-Pflichten!

Die krummen Wege der Anderen kümmern mich nicht!

Anita, sei trotzdem bedankt für Alles und geprie sen!«

Der Essay

Das Thema lautet: Wieso kommt es, daß Ibsen, der kaum tot ist und so anerkannt war, bereits auf den Bühnen fast antiquiert, ledern, unwirksam erscheint, während August Strindberg, der nie Anerkannte, heute fast auf allen Bühnen favorisiert wird?! Das ist nämlich so: Ibsen war eigentlich ein gestrenger ernster pedantischer sachlicher unbequemer und nachsichtslos logisch-fader Schulmeister der Menschheit in seinem Fache: Moderne Psychologie!

Die Menschheit war gezwungen, in diese harte strenge Schule zu rennen, und aufmerksam zu lernen, wie der »moderne Mensch« ganz drinnen, anatomisch, physiologisch ausschaut! Nachdem sie aber »ausgelernt« hatte, gleichsam »Matura« gemacht[73] hatte in »Verzwicktheiten« mannigfacher Art, geht die Menschheit nicht mehr naturgemäß in diese fade »Schule«!

Anders, siehe, hingegen bei Strindberg.

Er ist das Genie, der Titan, das aus weiten Fernen auf die ganze Menschheit unverständlich und doch belebend herableuchtende Gestirn! Er erzieht nicht, er wirkt, rücksichtslos, eventuell sogar verderblich. Deshalb wendet sich die von Ibsen langsam erzogene Menschheit zu ihrer freiwilligen Läuterung nun dem Strindberg zu! Strindberg ist die Fleißaufgabe des bereits ausgelernten Schülers!

Der Selbstmord des Buchhändlers Brand

Ein erschütternder Abschiedsbrief

Der Gründer der sozialdemokratischen Volksbuchhandlung in der Gumpendorferstraße Ignaz Brand hat am Samstag durch Sturz in den Traunsee im 72. Lebensjahre Selbstmord begangen. Er hat, wie die »Arbeiter-Zeitung« berichtet, von den Parteigenossen brieflich Abschied genommen. Der rekommandierte Brief, der, wie aus dem Stempel ersichtlich ist, in Gmunden Samstag Nachmittag zur Post gegeben wurde, traf erst Montag mittag in Wien ein. Er ist an den Abgeordneten Skaret, mit dem den Verstorbenen jahrzehntelange Freundschaft verband, gerichtet:


Traunkirchen, 11. Mai 1916


Lieber Freund und Genosse!


Sie werden sich wohl noch erinnern, daß ich schon seit Jahren die Meinung vertreten habe, daß [74] der Mensch nicht älter als siebzig Jahre werden soll, da er darüber hinaus nichts mehr wert ist.

Von diesem Gesichtspunkt aus bin ich im Alter von fünfundsechzig Jahren von meiner geschäftlichen Tätigkeit zurückgetreten, um noch fünf Jahre ein Leben in Ruhe und Frieden zu genießen. Im Oktober 1909 schied ich aus der Volksbuchhandlung und im Oktober 1914 wollte ich Schluß machen. Da kam der Krieg! Kein Mensch wußte, wie sich die Sache entwickeln wird, ob nicht die Übermacht der Feinde die Invasion bis in unsere Gegend tragen würde. Die Besorgnis um das Schicksal meiner Angehörigen hielt mich von der Ausführung meines Vorhabens ab, und so bin ich wohl einer der wenigen, vielleicht der einzige, dem gegen seinen Willen durch den Krieg das Leben verlängert wurde. Nun liegen die Sachen so, daß ich wohl annehmen darf, daß von einem Einbruch der Russen nicht mehr die Rede sein wird, und wenn ich jetzt aus dem Leben scheide, so geschieht es in dem Bewußtsein, einen unnützen Esser aus der Welt zu schaffen!

Ein befreundeter Arzt hat mir gesagt, daß mein körperlicher Zustand darauf hindeute, daß ich ein hohes Alter erreichen würde. Diesem hohen Alter mit allen seinen Beschwerden, die sich schon jetzt fühlbar zu machen beginnen, will ich aus dem Wege gehen, und so bin ich hierher gefahren, um in Ruhe die notwendigen Briefe zu schreiben und mich dann im See, wo er am tiefsten ist, zu begraben. Ich nehme zehn Kilogramm Eisen mit, um sicher zu sein, nicht wieder aufzutauchen.

Genau zur selben Jahreszeit sind wir beide vor Jahren über den See gefahren; wir kamen von Gmunden,[75] fuhren nach Ebensee und gingen von da über Kreh an den Langbathseen vorbei zum Attersee.

Und nun leben Sie wohl! Grüßen Sie alle Parteigenossen von mir und bewahren Sie ein freundliches Andenken Ihrem alten

Ignaz Brand.


Wie wäre es, meine Damen, die einst, einst, so vor 25 Jahren noch, durch Schönheit, Lieblichkeit, Gazellenhaftigkeit, heilige Spenderinnen von Lebensglück waren, und damals ihren Platz in der Welt lieblich ausfüllten, an diesem »Helden des Lebens« ein kleines Beispiel sich zu nehmen?! Aber bitte dann auch nicht die eingenähten 10 Kilo Eisen zu vergessen, ja, bitte?!

Ein Bild

Ich kenne ein einfaches Bild, ich weiß nicht, ob es von einem Franzosen, einem Engländer gemalt ist, wir wollen hoffen, nein. Es stellt dar: eine eichene klobige Wiege eines Mäderls, mit weißem Bettgewand. Auf Decke und Polster und Fußboden einige weiße Teerosen verstreut. Vor dieser leeren Wiege gekauert sitzend ein großer schwarzer Neufundländer. Ich habe das Bild benannt: »Der letzte Trauergast«! Ich will nicht sagen, mit den exaltierten Hundefreunden, der Hund allein habe eine getreue Seele! Aber daß er nach dem Tode getreuer gedenkt als die perfiden Erbschleicher, und nicht nur wegen der Wurst und der Kalbsleber, das ist für mich diesmal sicher!

[76] Das Echo

So viele ganz gebildete Männer sagen mir: »Nein, auf Intelligenz bei einer Frau, über das Maß hinaus (welches, mein Lieber?!),

verzichte ich, ja, es stört mich sogar. Intelligent, sehen Sie 'mal, bin ich selber. Aber Schönheit, Anmut, Kindlichkeit, das Andere des Lebens!«

Das verstehe ich nicht. Ohne geistigen Einklanggibt es keinen Einklang. Und auf die sogenannte ursprüngliche geniale Intuition der Ur-Kraft des Weibchens verlasse ich mich nicht, nehmen Sie mir es nicht übel.

Es ist eine »Falle«.

Beethoven, Schubert, dachten zwar tief in »Musik«.

Aber die Frau drückt sich mit Worten aus wie wir. Auf diesem Instrumente spielt nur der »tief erkennende Weltgeist«! Habe ihn oder habe ihn nicht, mit Intuition ist da wenig geholfen.

Wenn eine Frau aber seelisch-geistig die ewige photographische Platte meines Weltenlebens ist, erlebe ich mich in ihr,

vielleicht geläutert, reiner, deutlicher, von momentaner Unrast nicht beunruhigt.

Sie nimmt liebevollst zärtlichst mütterlich schwesterlich freundschaftlich mein Geistesleben in sich auf,

und zeigt es mir, verklärt, durch ihre Frauen-Ruhe, vielleicht in seinem wahreren Wesen!

Wie könnte ich, wenn ich laut in diese verwirrte Welt meines Geistes tieferes Erkennen ängstlich rufe,

auf das Echo verzichten, das mir wenigstens ausverständnisvollster Frauenseele widerschallt?!

[77] Normal

Der »normale« Mensch zehrt seine Kräfte auf, in normalen Betätigungen. Es bleibt nichts übrig für »Außergewöhnliches«. Er zehrt sich auf, gesund-normal. Es fehlt ihm das »Außergewöhnliche«, nein, es fehlt ihm eben nicht! Es würde ihn sogar nurstören, falls es wäre, er würde es als »ungesund« empfinden, für ihn ist es auch ungesund. Jegliches Hoffen, Sehnen, Erwarten, Wünschen, Melancholien und »wozu das Alles im Dasein schließlich?!?« stören ihn empfindlich, bringen ihm Unruhe, ohne Hoffnung je auf Ruhe!

Jeder »Unruhige« hofft auf Ruhe, irgend-einmal, wenn auch in ferner Zeit!

Der Unruhigste dieses unruhvollen Lebens, der Künstler, hofft auf Ruhe!

Nur gibt er es nicht so billig wie die Anderen, eben deshalb »Normalen«, weil sie den Kampf vorzeitig aufgeben, und sich besiegen lassen von des Lebens öden Bequemlichkeiten!

Siehe, ein Füllen auf der Weide, unermeßliche Kräfte tanzen rastlos in seinen adeligen freien leichten Gliedmaßen.

Und schaue es später, dem Leben dienend, an! Sei es als Ackergaul, sei es vor einem Wagen, sei es als Mutterstute!

Es ist ein Ziel gesetzt den göttlichen überschüssigen Kräften,

man zehrt sich auf, gesund-normal, in den Betätigungen, die das Leben vorschreibt!

Das Genie kommt nie zur Ruhe,

es träumt nur davon, daß es sie gebe! Aberin ihm nie!

[78] Religion

»Christliche Demut und Ergebenheit« istdurch Nichts hienieden zu erzwingen; das ist eine zufällige Angelegenheit der von den Eltern und Urgroßeltern mitbekommenen zufällig genialen Nerven-Kräfte! In diesen Dingen gibt es keine »Philosophie«, nicht einmal eine »Anständigkeit«! Ob ich lieber mein Butterbrot einem noch Hungrigeren überlasse als ich es bin, ist »Schicksal meiner Nervenkraft«, das heißt ganz einfach, ob es mich mehr sättigt, daß er es ißt als ich! Über diese Art von »echtestem Christentum« darf man ja eigentlich naturgemäß gar nicht öffentlich sprechen oder schreiben, da sich ja jeder Dritte, jede Erste, empfindlichst getroffen fühlen würden, und vor allem verletzt, beleidigt! »Echtes Christentum« heißt, das Geschäft, das einzige richtige hienieden zu machen, daß, einem Anderen einen Lebens-Dienst zu erweisen, für ihn glückseliger, wertvoller ist als es sich selbst zu erweisen! Ich beneide Niemanden um seinen »scheinbar richtig kalkulierten Egoismus«. Er ist »falsch kalkuliert«.

Die Buchführung über fremde Lebens-Schicksa le: Peter Altenberg, Wien I, Grabenhotel.

Wer in »seelischen Dingen« falsch kalkuliert, an Dem muß es tragisch irgendwie, irgend-einmal ausgehen! Der Heiland ist nicht umsonst für die Menschheit am Kreuze, leise ächzend, gestorben, sondern Er wußte, wofür Er zugrunde ging! Wehe den Menschen, die ihr eigenes Wohlergehen für wichtiger halten als das der Million [79] Enterbter, Ausgeschlossener! Essětai Hémăr, der Tag, dasTagen wird anbrechen, wo wir »Enterbten« die einzige Führung übernehmen!!! Möge es baldigst »Tag werden« in der düsteren Nacht der heutigen angeblichen Menschheit!

Das Verhängnis

Servus Du, geliebte Anna G.! Wie war es,
als ich überzeugt war momentan,
ohne Dich gäbe es kein Leben mehr für mich!?!
Und als ich allmählich dennoch Deine Untu genden entdeckte?!? Und wieviele?!?
Zum Beispiel, daß Du immer das Zentrum
jeglicher Unterhaltung sein wolltest,
nein, sein mußtest?!?
Daß Du nie liebevoll-melancholisch ver schwinden konntest im All,
sondern Dich fast frech durchsetzen
wolltest, da, wo es doch um so viel
Wichtigeres gibt als gerade Dich?!?
Gott sei Dank!
Alles, was du nicht bist, nicht sein kannst, nie erreichen wirst,
wolltest du »in der Gesellschaft des Tages und der Stunde«, sei es
da, sei es dort, »von Männer Ungnaden«,
dir ertrotzen! Dir »erschleichen heimtückisch«!
Zur »großen Hetäre« à la Barbarina Campanini oder was weiß ich,
gehören Milliarden unbewußter anmutiger
[80] Lebenskräfte und genialer Unbewußthei ten! Welche hat sie?!?
Unsere modernen Gänse glauben,
ohne Genie, unbürgerlich apart zu sein!
Vergeblich!

Gedicht

Wer bist Du, was bist Du, wie bist Du?!?

Du bist dreimal hintereinander auf dem schmalen düsteren Hotel- Gange,

in der Nähe meiner Zimmertüre gesessen,

in der Hoffnung deines jungen Herzens,

ich würde aufschließen!

Du bist dreimal hoffnungslos weggegangen.

Wieso aber eigentlich hoffnungslos oder traurig oder gekränkt?!?

Du hast dir doch, 17jährige, in meinem zwar alten, aber immer

noch empfindlichen Herzen ein ewiges Denkmal dadurch gesetzt,

wie die alten Römer sich ausdrückten, aere pe rennius!

Deine Stunden auf meinem schmalen düsteren Hotelgange, nächst der Türe Nr. 33, sind keine verlorenen!

Sie haben Dir in der Erinnerung an Deine myste riöse Anhänglichkeit eine Seele ge wonnen!

Ich habe nie geahnt, daß Du mich brauchst – – –

aber daß Du gewartet hast,

Stunden lang vor der geschlossenen Türe,

drei Tage lang, und es mir nur

zufällig nachträglich berichtet hast,

[81] weil ich zufällig fragte: »Weshalb haben Sie sich so lange nicht um mich umgeschaut und gekümmert?!«

Da sagtest Du schlicht: »Gekümmert?! Ich bin drei Tage lang Stunden lang vor Ihrer Türe gesessen,

aber sie ging für mich nicht auf!«

Mädchen, und Das hältst du für

verlorene Stunden deines jugendlichen Daseins?!?

Mädchen, es sind Deine reichsten, wert vollsten!

Bedenke es!

Sommer

Weyer a.d. Enns

Ort Weyer a.d. Enns, am Eingang ins »Gesäuse«,

ja es saust der enge Bergstrom Tag und Nacht, aber nicht störend, sondern bezaubernd,

Ort Weyer a.d. Enns, was, was verdanke ich dir Alles,

und dem Mäzen in Böhmen auf Schloß Hodkov, der durch den Ankauf meiner Manuskripte diesen heiligen Sommer mir verschaffte!?

Ort Weyer, ich benötigte Alles von dir.

Ich benötigte um 1/25 Uhr morgens Deine frischen grauen Morgennebel wie auf Höhen!

Ich benötigte Deinen Gaflenz-Bach mit seinen winzigen Bauerngärten!

Ich benötigte das kleine Kaffeehaus, in dem Schlag 3 Uhr nachmittags die »Honoratioren« sich einfanden zu irgend einem anscheinend sehr wichtigen Spielchen.

[82] Ich benötigte die Berg-Stationen »Gstatterboden«, »Hieflau«, den »Leopoldsteiner See« und die abendliche weiße Straße nach »Eisenerz«, wo der dunkle Erzberg seit Jahren abgetragen wird für Friedenswerte,

si vis pacem, para –!

Jede Stunde hier benötigte ich, keine ging mir verloren.

So sollten eigentlich verehrte Frauen wirken!

So daß man zu ihnen sagte beklommen: »Du gabst mir soviel! Und ich?!«

Gmunden

Wann ich sterbe, ist mir im Gegensatz zu den meisten Menschen, die wirklich gar nicht wissen, wozu sie leben, ganz gleichgültig. Denn einmal, irgend einmal muß es ja doch sein, nicht?! Nimm an, daß dieses »morgen« schon heute ist. Ein Aufschub, aber kein Gewinn. Dennoch möchte ich noch einmal Gmunden im Vorfrühling erschauen und imSpätherbst, kurz, bevor die Menschen kommen, die nichts erschauen! Die, die immer da sind, also die Einheimischen, besitzen nicht die Gnade des Schicksals, dem Schicksale zu danken, daß sie immer da sind. Sie halten es für selbstverständlich. Die, die für Wochen kommen in Sommers vorgeschriebener Zeit, betrachten es auch fast als selbstverständlich, daß sie da sind. Ich aber betrachte es als ein »Märchen meines sonst ziemlich unmärchenhaften Lebens«, daß es mir nach 23 Sommern noch immer gegönnt ist, dieses geliebten Sees bewaldete Ufer mit meinen Augen tief freudig zu genießen! Die Bretter, die [83] Kieselsteine, wo man landet, liebe ich, und jedes Strauches unscheinbares Sein. Und die Bänke, die seit Jahren sich nicht verändert haben, und Wälder, die man sieht und rauschen hört und nie betritt. Solange ich bin und sehen und empfinden kann, habe ich die Möglichkeit, Das zu erleben! Wenn ich nicht mehr bin, so weiß ich nicht genau, ob Andere meinen allergeliebtesten See und seine lieben Ufer geradeso herrlich finden werden und geradeso Gott danken werden, daß sie ihn sehen dürfen!? Und besonders im Vorfrühling, im Spätherbst, wenn die »Gäste« sich verzogen haben. In Sommers Prächten mag er Allen gehören, er ist dazu da.

Aber vorher und nachher, da gehört er uns, uns, die wir ihn anders lieb haben wie die Anderen. Anders?! Ja, anders! Das versteht nur Der, der es versteht.

Die »Flasche Pilsner« im Weltkriege

Der Sohn des Cafetiers ist in Sibirien gefangen. Er ist nach Aussage seiner Eltern ein fanatischer Anhänger meiner Ideen (Bücher). Infolgedessen berücksichtigen mich diese Eltern in ihrem Caféhause naturgemäß. Ich bekomme für den Abend daher 2 Flaschen »Pilsner« trotz Kriegszeit. Ein junger Mann jedoch machte heute abends, 18. August, 9 Uhr, Skandal darüber, bestach die arme Kellnerin mit 5 Kronen, erklärte es, trotzdem er meinen Namen erfuhr, für »ungesetzlich«, setzte sich von seinem entfernten Tische ostentativ in meine nächste Nähe, und trank meine eine Flasche [84] aus! Das ist eine ganze »Lebens-Biographie«! Wehe dem Mädchen, das in diese Henker-Pranken einst kommt!

De Natura Hominum

Jeder Mensch hat einen »infernalen« Selbsterhaltungstrieb, der ihn zwingt, unerbittlich, zu jeglicher Stunde sich mit seinem eigenen armseligen und eigentlich für die Mit- und Umwelt ziemlich gleichgültigen Lebensschicksale und vor allem dessen eventueller Verbesserung ununterbrochen zu beschäftigen! Diejenigen, die Dieses aus irgend einem Grunde jedoch unterlassen, also verabsäumen diese rastlose Jagd nach eigener angeblicher Glückseligkeit, Die haben von Schicksals Gnaden oder Ungnaden einen »Knacks« und rangieren infolgedessen in die Sorte »Dichter«, »Philosophen«, »Träumer«, »Narren«, »allgemein Lebensunfähige«! Oder sogar »pathologisch Veranlagte«. Ein Mensch, sei es Mann oder Frau, der zu wenig Selbsterhaltungstrieb von Natur aus miterhalten hat als Kampfwaffe im täglichen Dasein, ist bereits dadurch aber allein schon von selbst in eine höhere Rangklasse befördert vom Schicksale, indem es ihm erspart bleibt, zu jeglicher Stunde um sein bißchen Wohlleben, oft gerade Unwohlleben, allzu emsig-wucherisch, also unanständig, zu feilschen und zu knickern! Der Selbsterhaltungstrieb des Einzelnen befördere eben die Mensch heit im Ganzen, sagt man leichthin. Ja, wenn er in »gesunden«, ich möchte fast sagen, in religiösen Grenzen ausgeübt wird. Aber so wie er heutzutage noch ausgeübt wird von der »Herde«, [85] ist er für die Gesamtheit und ihr Wohl ziemlich verhängnisvoll!

Altruismus ist eine »Gnade des Schicksals« für Den, der dessen teilhaftig zu werden die günstigen Nerven hat! Man kann damit sogar Stoffwechselerkrankungen heilen, da die Freude, einem Anderen zu helfen, zu dienen, den physiologischen Stoffwechsel befördert, während Selbstsucht die schauerlich-unmenschliche Darmträgheit erzeugt und unterstützt! Das Schicksal straft gerecht, nicht nur »im Gewissen«, sondern ausgiebiger, vernichtender, im Körper direkt selbst!


*


Die Eifersucht eines »allgemein wertvollen Mannes«, bei Tag und Nacht, und zu jeglicher Stunde, berücksichtigen wollen, und stets, stets, stets auf der Hut zu sein, ihn nicht »seelisch-krank« zu machen, ihn nicht von seinen »wertvolleren Zielen« abzubringen,

sei der ehrlich verdiente Lorbeerkranz einer noch so begehrenswerten Frau in dieser »Schlacht des Lebens«! Man siegt nicht leicht über sich selbst und seine Eitelkeiten, seine Nerven, aber man siege zuletzt eben dennoch!

Tagebuch der Bertha K.

Ist es denn wirklich so schwierig, einem Manne, der für unser Wohl sorgt, Eifersuchtsqualen zu ersparen?!?

Es ist direkt ein »Kinderspiel«.
Man vermeidet ganz einfach Alles, ununterbrochen,
[86] was ihn aufreizt, kränkt, verletzt, was weiß ich für Zustände normaler oder pathologischer Natur?!?
Aber was eben kommt dabei schließlich für Uns heraus?!?
Er langweilt sich mit uns »ganz Sicheren« tödlich. –
Es gibt zwar merkwürdige Männer, die dieseLangweile gar nicht spüren.
Aber Solchen irgend Etwas bieten zu wollen mit sich selbst, ist ja fast ein Irrsinn!
Wozu also sind wir denn dann überhaupt vorhanden?!?
Ein Mann, den wir nicht tödlich langweilen, wenn Alles »glatt geht«,
was für ein Asinus ist Das?!?

Buchbesprechung

Habe soeben, 5. d., von 10 Uhr abends bis 1 Uhr morgens, unter heißen Tränen ein Buch gelesen und zu Ende gelesen: »Dr. Gräsler, Badearzt« von ArthurSchnitzler. Mag sein, daß das merkwürdige unberechenbare Schicksal des privaten Lebens in diesem Buch mir gerade jetzt besonders nahe ging, aber ich habe die Überzeugung, daß auch solchen privaten Schicksalen fernerstehende Leser dieses Buch nicht unergriffen zu Ende lesen werden. Es ist »schlicht«, und das wirkt stets von selbst; fast zauberhaft. Nun werden Sie mich fragen: »Aber welcher tiefere Sinn liegt in den schlichten Begebenheiten gerade dieses Buches, und weshalb heiratet ›Dr. Gräsler, Badearzt‹, gerade die Witwe [87] Sonlmer?!« Weil der vom Leben Getretene, Scheue, Zaghafte schließlich der »vom schwarzen Ochsen« Getretenen, Zermürbten, Hilflosen, Zaghaften mehr, viel mehr für ihr Leben zu bieten hat als den noch lebensfreudigen Frauen! Wenn sie ihn auch nicht gerade fanatisch lieb haben können, wirklichbrauchen können sie ihn aufrichtig-ehrlich jedesfalls!

Die Seele

Seele des Menschen,
Du kannst nur durch Leid wachsen,
Dich vertiefen, stark werden, gedeihen,
ja sogar »in deiner Art« profitieren!
Weshalb sträubst Du Dich also gegen dein Leid, das Dir nur Segen bringt und Menschentum?!
Betrachte doch einmal genau die Seelen, die ohne Leid, sind! Ausgedörrt sind sie, ohne Tränen- Tau!
Hunger tut weh, aber »sattsein« tut vielleicht noch weher, deinem Menschentum nämlich in Dir!
Waren wir uns je näher, Mädchen,
als an dem Tage, da ich verreisen mußte?!?
Erkanntest Du mich plötzlich da nicht erst ganz in dem Bewußtsein des Verlustes?!?
Wußtest Du eigentlich bis dahin, Wer ich war,
Wer ich Dir war, Mädchen?!
Ahntest Du meine Unentbehrlichkeit?!
Und andererseits, ist es nicht klärend,
durch Leid aus selbstgeschaffenen Lebens- Lügen
vielleicht herauserrettet, heraus-operiert zu werden,
zu neuem besserem, nein, für Dich richtigerem
Dasein, gewonnen, freigemacht zu sein?!?
[88] Diese ewige feige Sehnsucht, sein äußeres
und inneres Gleichgewicht unter allen Umständen
nicht einzubüßen,
ist das Schandmal des Philisters hienieden!
Für seine Ruhe opfert er sein Selbst.
Denn nur aus Unruhe kann Schlechtes zu Besserem sich eventuell verändern!
Saget mir ja nichts vom gesunden und wichtigen »Erhalten der Kräfte, die man hat«.
Nein, Stoff-wechseln, auf daß durch Gnade deines Schicksals
Du aus deinen engen grauen moderigen Hüllen
endlich beweglich in die lichte Wahrheit fliegest!
Diogenes kann bleiben wie er ist, und Sokrates.
Aber Ihr Anderen, Millionen, sputet Euch doch,
aus Euren Lüge-Fetzen-Hüllen
zur wärmenden Sonne der Wahrhaftigkeiten!
Bleibt Ihr am Wege dabei kraftlos liegen, ist's immer noch
bei Eurer schamlos-konservativen Trägheit eine Art von Sieg!

Die »Götter« meiner holden Jugendzeit

Mein Vater.

Meine wunderschönen Schwestern Marie und Margarethe.

Meine Schönheits-Göttinnen Risa Strisower, Anna Knapp, Marie Renard, Olga Berger.

Meine Gesangs-Göttinnen Marie Renard, Edith Walker, Adelina Patti.

Mein Sanges-Gott Hermann Winkelmann.

[89] Meine Theater-Götter Friedrich Mitterwurzer, Josef Lewinsky, Ludwig Gabillon, Karl Meixner, Auguste Baudius.

Meine Dichter-Götter Victor Hugo, Emile Zola, Boz-Dickens, Franz Grillparzer, Richard Wagner.

Mein Musik-Gott Franz Schubert.

Meine Mal-Götter: Jan Matejko, Adalbert v. Kossak senior.

Alle diese gnadenreichen Götter beschirmten und begeisterten einst meine empfängliche junge Seele!

Sie seien gepriesen und bedankt!

Wiener Strassenreinigung

Ihr, die Ihr, noch rückständigst, Strümpfe und Schuhe, Socken und Schuhe traget (ich »fliege« seit einem Jahre nackten Fußes in Sandalen), was wisset Ihr von meinen »seelischen Qualen«, wenn den ganzen friedevollen Morgen lang alle Geschäfte ihre Staubtücher, alle Straßenreiniger, nein, Verunreiniger, ihren Mist »trocken-staubig« auf meine nackten Füße ausmisten?!? Eine »pathologische« Rücksichtslosigkeit für die Passanten! Eine einfache drakonische Verordnung genügte: Es ist bei schwerer Strafe verboten, durch irgend Etwas die Straße zu verunreinigen! Wegschwemmendes Wasser ertränke vorerst jeglichen Mist! Drakonische Verbote wärenreinigend! Aber eben deshalb erfolgen sienicht. Aber weshalb lassen Hunderttausende sich dieses Verbrechen an ihrer Morgen-Reinlichkeit stumm-stupid-duldend gefallen?!? Wie ein »Verhängnis«, das »unentrinnbar« ist?! Wie Krankheit, Verarmung oder [90] Tod?! Wenn die Menschen in »erlaubten Kleinigkeiten« des Daseins wenigstens »revolutionär« würden! Aber Niemand nimmt sich die »heilige« Mühe, heilig, weil sie eben auch für Alle wichtig wäre, selbst bei kleinsten Ungehörigkeiten zu ändern ehrlich-menschenfreundlich mitzuhelfen! Ich selbst mußte erst im 59. Lebensjahre Sandalen tragen an nackten Füßen, um die ganze Scheußlichkeit unserer Straßen-Morgen-Reinigung mit verachtungs-erfülltem Bewußtseinerleiden zu können!

Briefe

»Von seinen Briefen kann ich leben!
Solange er es schreibt, empfindet er's!
Er hat Gott sei Dank zu wenig Phantasie mitbekommen,
um einen solchen Brief schreiben zu können,
den er nicht empfände!
Welche Kontrolle habe ich aber des Tages und der noch so süßen Stunde?!?
In seinen Briefen kontrolliere ich seine mir zugewandte Seele!
Er schreibt immer dasselbe, stets ist es an ders!
Stets gräbt er sich selbst
tiefer in seine Zuneigung zu mir hinein!
Nie habe ich ihn bisher enttäuscht,
denn fast unmittelbar
nach meiner Gegenwarts-Wirkung,
längstens am nächsten Morgen,
oft schon am selben Abend noch,
kommen die Briefe,
in denen ich seine mir jedenfalls zugewandte Seele kontrollieren kann!«

[91] Kleine Biographie der P. Sch.
vorläufig 21 Jahre alt

Sie lebt tatsächlich, ohne Geld und besonderen Rang, wie eine Milliardärin, nur tausendmalbesser, vermittelst ihrer Intelligenz, ihrer märchenhaften, Natur-Liebe, ihrer alleredelstenAnspruchslosigkeit, und ihrer nahezu pathologischen und grenzenlosen Verehrung für den alten kranken modernen Dichter! Seine »Broschen« zum Beispiel à 10–20 Kronen, die er zu Weihnachten, – zum Namenstage schenkt, sind ihrwertvoller als alle Juwelen dieser Erde! Ein gutes edel-gestricktes Woll-Leibchen, sagen wir in kornblumblauer oder kaffeebrauner oder lila Farbe,ersetzt ihr alle Pelze dieser Erde, nein, es freut siemehr, denn, wie sie sagt, dafür hat ein schönes Tier nicht sein Leben lassen müssen, scheren tut nicht weh, sondern ist direkt angenehm! Die Natur, die Ruhe ihres geliebten Zimmerchens mit Aussicht auf den heißgeliebten Schnee-bedeckten Berg, ihr Ansichtskarten-Album, eine Art von photographiertem Tagebuche, die »Bibeln« ihres Dichters, ihre modernen Broschen, Halsketten, Blusen, Mäntel, Hüte, Alles, Alles, Alles empfindet sie als »Gnadengeschenk« dieses Lebens, als gänzlich unverdientes »gnädiges Schicksal«! »Wie komme gerade ich, gar nicht besonders hübsche oder besonders anmutige Person dazu, ohne Kreuzer Geld ein ›Milliardärinnen-Dasein‹ hienieden zu leben, während Millionen meinerscheinbar reichen Mitschwestern – – –?!?« Niemand gab je darauf eine richtige Antwort. Nur der alte kranke moderne, ja sogar höchstmoderne [92] Dichter fühlte: »Es kommt nur von Intelligenz, nämlich von der richtigen! Von der schlichten, naturgemäßen, die Gott sich seit Jahrtausenden von seinen ›Geschöpfen‹ erhofft! Aber nein, sie wollen ›Ihm‹ diese Freude nicht antun! Sie gehen lieber ›ihre eigenen Wege‹, pfui Teufel!«

Einmal sagte sie: »Ich möchte den Millionärinnen so gern dazu verhelfen, keine Bettlerinnen eigentlich zu sein!«

Da lächelte müde-tragisch der moderne, ja sogar höchstmoderne, ja sogar gefährlich-moderne alte kranke Dichter, berührte ihr Haupt mit den hellblonden kurzen Knabenlocken, und sagte leise und ergriffen: »Kindskopf!«

Mahnung

Nach der Aufführung von »Gabriel Schillings Flucht« von Gerhart Hauptmann, im »Deutschen Volkstheater«, Wien, 19./9. 1917.

Liebevolle Frauen nehmen sich eines »zerfahrenen« jungen wertvollen Künstlers an?!?

Wie bewerkstelligen sie denn das, ehrlich-anständig nämlich?!?

Doch nur dadurch, daß sie ihm gerade das verschaffen, spenden, was er »in seiner Künstlerschaft«, also »in seinem überhaupt möglich erreichbaren Gipfelpunkte seines eigenen Seins«braucht!

Aber, siehe, die Sache ist anders, sie nützen ihn aus, in Liebe, in Eifersucht, in anderen Emotionen, aber, siehe, sie nützen ihn aus!

[93] Keiner Frau nämlich ist der »außergewöhnliche Mann« wichtig, der vor allem seine heiligen Wege zu gehen hat, wenn auch in den Anderen unverständliche Fernen und sogar Abgründe! Jede Frau degradiert den »Künstlermenschen« im Manne zu ihrem leichtfaßlichen brauchbaren bequemen Opfer!

Keine sagt wie Brünhilde: »Zu neuen Taten, teurer Helde,

wie liebt ich Dich, ließ' ich Dich nicht?!?«

Keine will und kann durch Selbstlosigkeit und genialstes Verständnis, an dieser heiligen Entwicklung des Mannes zum »rücksichtslosen Künstlermenschen«, der Allen, Allen spendet, heilige selbstlose ewige Mitwirkerin sein!

Sie haben keinen »religiösen Ehrgeiz«, in die Jahrhunderte hinein! Es genügt ihnen ihr Plan des Jahres, des Tages und der Stunde!

Aber weshalb, Mann, Künstler-Mensch, sichdeshalb im Meere ertränken?!?

Beweise ihnen lieber, daß sie Dich nie, nie, nie, auch nur eine Minute lang, lieb gehabt haben konnten! Einen »Künstler« lieb haben, heißt, ihm zu seinen eigenen, schwer zu erklimmenden, in Eis und düsteren Nebeln verhüllten Gipfeln seines eigenen Menschentums liebevollst zärtlichst rücksichtsvollst verhelfen wollen! Ja, eswollen!

Jugendzeit

Ich sah, 14./6. 1918, zwei Advokaten aus meiner Jugendzeit, die es »zu Etwas« (?!?) gebracht hatten [94] allmählich oder nicht allmählich, am Graben an mir, in wichtigen, aber für Alle unbedingt unwichtigen Gesprächen, ernst-plump-gewichtig vorüberschreiten! Wie wenn die unglückselige Welt nicht existierte, sondern nur ihr eigenes kleines nichtiges direkt unangenehmes Wohlbehagen.

Die beiden Advokaten aus meiner Jugendzeit stampften langsam, plaudernd, gewichtig, von eigenem Wohlbefinden leider ganz erfüllt, am Graben, I., an mir, 14./6. 1918, vorüber. Ich dachte: »Habt Ihr es weitergebracht als ich?! Keineswegs. Habe ich es weitergebracht?! Keineswegs.«Jeder geht, infolge seines unglückseligen, ewig in Ihm, zum Leben zu, merkwürdig-unnötig wirkenden Selbsterhaltungstriebes schließlich den idiotischen Weg seiner ängstlichen Selbsterhaltung, mit allen Mitteln, mit allen Kräften, mit allen Un-Mitteln und allen seinen Un-Kräften! Wozu?! Weshalb?! Niemand versteht es. Vogel-Strauß-Politik seiner selbst!

Splitter [1]

Splitter

Künstlertum: Die mysteriöse »Anziehungs-Kraft« der Frau muß dem nützen, den sie anzieht, nicht Der, die anzieht! Auch »März-Veilchen« im noch schütteren Frühlings-Walde können nur dem nützen, der sie freudig erblickt; an und für sich haben siewenig, ja keine Bedeutung! Wenn sie es aberwissen könnten, daß man sich an ihnen gerührt-romantisch erfreut?! Ja, dann könnten [95] sie es eventuell mitspüren, gerührt-romantisch, was sie einem Unbekannten sind! Aber wenn sie das könnten, da wären sie ja selbst schon fast Dichterinnen! Und bedürften keines Dichters, der sie nachträglich »anerkennt«.


*


Carpe diem, ein scheinbar tiefster Satz, »pflücke den Wert jeglicher deiner Dir sowieso ziemlich karg zugemessenen Tage!« Aber eigentlich sollte es strenger noch lauten: Carpe horam, »pflücke den Wert einer jeglichen Stunde!« Kann man, bitte, sogar auch »Minuten« hienieden pflücken?!? O ja, durch Schauen, Hören, Lauschen, Schweigen, Versinken im All; aber da muß man schon zur »Hysterie«, zur »Über-Empfindlichkeit« begnadet sein vom sonst strengen und etwas Lehrermäßigen Schicksal! Das Schicksal schreibt vor: »Du, überhebe dich nicht, lebe im Ganzen korrekt! Das rate ich Dir im Guten!«


*


»Haben Sie ›Hemmungen‹?!? In irgend einer Sphäre Ihrer ›Betätigungen‹?!« »Aber da könnte man ja leicht sogleich ›Goethe‹ oder ›Shakespeare‹ werden, wenn man gar keine Hemmungen hätte, in irgend einer Sphäre unserer Betätigungen?!?« »Ganz richtig, die ›Hemmungen‹ sind also Gott sei Dank das, was die Talentierten oder sogar die Genialen verhindert, lauter Goethes und Shakespeares zu werden! Das wäre auf die Dauer überflüssig! Durch ›Hemmungen‹ entstehen ebenaußergewöhnliche Persönlichkeiten, oder leider bloß ›Gehemmte‹!« [96] Strindberg war »gehemmt« durch Frauen. Was hätte die Welt davon, wenn er richtiger kalkuliert hätte: Frauenseelen-Leichen sind nur ein guter gediegener naturgemäßer Dünger für Künstler-Impressionen?! Strindbergs Hemmungen in Bezug auf Frauen (er erwartete eben leider Etwas von ihnen, was sie nicht leisten können, vielleicht beibestem Willen sogar nicht, aber Wer hat auch hienieden »besten Willen«?!) waren »Sporn und Peitsche« seiner »äußersten Dichter-Energieen«, um im »Geistes-Rennen« als Erster unbewußt ans Ziel zu kommen! Mängel können zu »Genialitäten« werden, zu außergewöhnlichen Lichtblicken. Wehe, wehe aber den vielen heutzutage sich zu den »Vorgeschrittenen« Rechnenden, die nur Mängel ohne irgend eine »Kompensation« dafür haben! Das sind »faule Geschäfte«, die sie mit der allzu geduldigen Menschheit effektuieren möchten!

Innsbruck

Eindrücke der ersten Woche: Gletscher-Luft inmitten einer Großstadt. Wie wenn in Wien am Graben Semmering-Luft wehte und Neuschnee von vergoldeten Bergen grüßte! Im »Bahnhof-Restaurant« herrliches Erbsen-Mus (seinerzeit, bereits historisch: Püree). Paula und Dr. D. um mich besorgt, wie wenn ich ein krankes Baby (jetzt: Kindchen) wäre! Nun, bin ich es nicht?! Tun mir nicht alle unnötigen Gemeinheiten, Rücksichtslosigkeiten, Taktlosigkeiten zum weinen weh, zum strampeln, zum laut kreischen?!? Die Kellner sagen zu mir: »Herr Professor!« Ich drückte dem »Ober« einen Zettel [97] in die Hand diskret: »Ich verdiene diesen Titel nicht, ich habe es bloß zu ›Peter Altenberg‹ gebracht, sagen Sie das, bitte, auch dem ›Getränke-Knaben!‹« In der Hauptstraße bewegte sich ein von Allen mit Respekt und Rührung betrachteter Zug: »Der Alm-Trieb«! Kühe, Schafe, Wagen ziehen von der Alm herab in die Winter-Ställe. Großstadt und Alm grenzen aneinander, nein, sie sind schwesterlich innig lieblich märchenhaft vereint! Ich sah eine Vase in blau-brauner Überlauf-Lasur, ebenfalls »Natur undKunst« vereint. In dem Halbedelstein-Geschäfte sah ich eine Kette aus Bergkristall, Rauchtopas, Karneol, ebenfalls »Natur und Kunst« vereint, der Dame mit den wundervollsten Händen und dem nettesten »aufwartenden« Stallpintscher (Griffon) würdig! Nur 64 Kronen. Nur?!? Er kauft ihr jadoch nur Rubine!

Sonntag, 7./10., Stubaital-Bahn. Ewiger Schnee, Lärchenwald, hohe schlanke Eisen-Viadukte, in Tulpmes holzgetäfelte niedrige Wirtsstube mit Tee und Alm-Käse. Gegenüber der Friedhof mit schwarzgoldenen Kreuzen. Das »Werkhaus« höchst bunt bemalt gegenüber, Arbeit und Tod! Paula friert, der Doktor blickt sehnsüchtig auf seine »Kalkkögel«, den »Habicht«, das »Zuckerhütl«, den »Wilden Freiger«! Er sucht »Gefahren«, ich finde sie leider bereits überall in der Ebene!

Erste Woche im heiligen Innsbruck, sei bedankt und gesegnet!

Aus »Natur«

Der »Kauz« stiebt abendlich gellend ab.
Der »Birkhahn« poltert morgendlich hoch.
[98] Die »Fledermäuse« taumeln heran.
Wie wundervoll sind diese »photographier ten« Ausdrücke!
Weshalb drückt man sich nicht ganz so über Menschen aus?!
»Paula« stiebt heran!
Die Dame mit dem »Griffon« reihert heran, schmalgelenkig.
Herr X. behäbigt sich zögernd hinweg.
Fräulein Pl. schüchtert herein.
Der Schriftsteller ostentativt sich in das Lokal.
Der Kraftvolle bauern-erdigt sich auf seinen Sessel.
P.A. entmaterialisiert seinen Gang!

Paula

Lieber Doktor D.


Darf ich Sie über Ihre neue junge Freundin, aber in Anbetracht Ihrer Kultur (Intelligenz und Geschmack) bereits ur-alte und seit eh und je, gleich von Ihrer Geburt an, also vor Ihrer »sexuellen Potenz« Ihnen vorherbestimmte und also fast schon »Gehabte« und längst geistig »in Besitz genommene« Freundin einiges Aufklärendes sagen?!

Sie ist die Anti-Hure!

Sie werden mir antworten, Sie hätten nichts dagegen, gegen diese schöne aber allerdings seltene, und ebenso merk-würdige Eigenschaft einer Frau.

Das ist nun eben nicht ganz richtig. Denn vergessen Sie nicht, daß dadurch dieser bekömmlichen Speise vielleicht auf die Dauer die dem Manne leider seit Jahrtausenden gewohnten Gewürze, [99] die angeblich »reizen«, fehlen: Kätzchenhaftigkeit, Koketterie, süße Borniertheit,stupider Eigensinn, Boshaftigkeit, grundlose Launenhaftigkeit, Angst sie an Andere zu verlieren, herzige Eitelkeit, Putzsucht, Genäschigkeit, falsche Geilheit, na, und wie alle diese Gewürze und Gewürzchen noch heißen mögen! Ich überlasse es ruhig Ihrer Kultur, die dauernde Wahl zu treffen!

Ich für meinen Teil bin zu sehr hygienisch-diätetisch veranlagt, um mich nicht für die anständige reinliche bekömmliche Kost ohne Gewürz sogleich zu entscheiden!


Ihr


9. Juni 1917

P.A.

Endgültiges in sämtlichen Beziehungen

Einen Menschen nicht unverlogen, un-sentimental, sondern fast nüchtern-naturgemäß, lieb haben, heißt nur, so weit man es überhaupt imstande ist (geistig-seelisch-ökonomisch-sexuell), ihm Alles bieten zu wollen, was ihm sein Leben erleichtert, verschönert, und durch dieses Geben allein schon reichlich belohnt sich fühlen! Opfer bringt eher Der, der annimmt, denn er spürt sich als grundlos Beschenkter, nie aber darf der Beschenker je es anders empfinden wie wenn er selbst ein »Wucher-Geschäft« gemacht hätte mit seiner tiefstbefriedigten eigenen Seele! Die »besondere Brosche«, oxydiertes Silber mit sechs Amethysten, schenke ich nur mir, indem ich es ihr eben [100] schenke, ja, ich könnte mir diesesegoistischeste Glück ja gar nicht versagen, es ihr zu spenden! Daher ist Alles, was sie sich selbst von mir erwünscht, erwartet, ersehnt, erzwingt, des Teufels, denn ich war hiedurch aus irgend einem sklavischen Grunde (pfui Mann, Mensch!) Einer, der sich sklavisch verpflichtet fühlt, aus irgend einem Grunde, seine »Männlichkeit« hiedurch zu »begleichen«!

Nur mein Schenken kann ein Beschenkt-wer den werden für mich, sonst beginnen die öden sklavischen unbewußt verpflichtenden Dinge der bürgerlichen Konvention! Seiner geliebtesten Geliebten zum Geburtstage nichts schenken, sondern erst bis man etwas ganz Besonderes für sie entdeckt hat, ist bereits das geistige Morgenrot, Anzeichen einer lügeloseren Beziehung. Aber glaube ja nicht, Liebevoller, daß ein absichtliches Vergessen ihres Geburtstages Dich sogleich in die Höhen »moderner Entwicklung« erheben könnte! Tue stets nur, was Du aus Innerstem nicht lassen kannst! Amen.

Wiens Hygiene

Ich trage seit dem 9. März 1917, meinem 58. Geburtstage, Sandalen an nackten Füßen. Seitdem erlebe, erleide ich die »Sünden Wiens« an denarmen Lungen und, ziemlich bedeutungsloser, an meinen nackten Füßen! Füße kann man zehnmal täglich reinigen, aber Lungen?!? Sämtliche Geschäfte betrachten Trottoir und Straße, von sieben morgens an als Ablagerungsstätten für den Staub[101] der Staubtücher, der Fußmatten, derTeppiche! Den »geliebten« Hunden werden die Trottoirs als »Klosetts« direkt liebevoll anerzogen! Das »Staub auf die Passanten herunterschütten« von Fenstern der Stockwerke aus ist polizeilich verboten, aber dasselbe »Verbrechen«, aus den Geschäftsläden im Parterre, also noch direkter, ist scheinbar erlaubt, sonst täten es ja doch nicht Alle! Auf »selbstverständliche Anständigkeit« seinem unschuldigen fremden Nebenmenschen gegenüber darf man sich doch heutzutage noch nicht verlassen; da sind schondrakonische Verordnungen mit hohen Geldstrafen besser am Platze! Straßenstaub und Misttrocken in die Luft wirbeln, wie es unsere Straßenkehrer tun, statt zuerst es mit Gießkannen niederzuschlagen und in einen unschädlichen Brei zu verwandeln, ist ebenfalls ein Verbrechen an den Lungen und an meinen nackten Füßen. Jede gute Neuerung erzeugt auch von selbst richtigere Überblicke über die konservativen inveterierten Laster. Unsere Art, die Straße, die Trottoirs als »Mistgrube« zu betrachten, ist ein »hygienisches Verbrechen«! Nicht Jedermanns Sache ist es, den Anderen helfen zu wollen; ich will es. Nichts Richtiges ist zu unwichtig, um dafür nicht ein »Danton, Marat, Robespierre« sogleich zu werden. Ich, wie erwähnt, kann ja täglich zehnmal meine nackten Füße rein waschen; aber Ihr Eure nackten hilflosen Lungen?!? Für Staubtücher auf dieStraße ausgestaubt 100 Kronen für die »Kriegsblinden«! Nein, 200 Kronen! »Hygienische Reinlichkeit« ist eine Art von unbewußter »physiologischer [102] Genialität«, aber Wien besitzt sie eben nicht. Es besitzt dafür,auch ein »Gnadengeschenk der Götter«, die »gutmütige Gleichgültigkeit«! Im »Volksgarten« liegt Zentimeter-dick eineStaubschichte, die von Promenierenden und Kindern stetig aufgewirbelt wird. Fuhren vonherrlichem Donausande und ununterbrochene Hand-Spritz-wägelchen könnten ein »Paradies« gestalten, aber Niemand nimmt sich die Mühe. Da kann man nur sagen: Heiliger Rathauspark, und »Anlage um die Minoritenkirche herum«! Dort ist die Luft wenigstens so rein und staubfrei wie es in einer Großstadt überhaupt sein kann. Man muß erst mit nackten Füßen gehen, um die Verbrechen an den fremden Lungen ganz zu verstehen und zu hassen!

Vita

Ich lernte Eine kennen,
die war ganz »außerhalb der Welt«,
wie einst »Diogenes« und andere wirklich um soviel Weisere als die blöde Menge.
Sie betrat mutig meine steilen Pfade des Lebens, unbekümmert um das falsche bestehen de Gesetz.
Und als sie ihr dennoch zu steil und unwegsam- unbequem wurden,
da betrat sie plötzlich andere, sichere, bequemere Pfade.
Da wußte sie aber nicht mehr, ob sie richtig gewählt habe.
Da schrieb sie mir: »Zwischen dem Leben, das noch leider ist,
[103] und dem Leben, das hoffentlich noch kommen wird,
gähnt stets für Uns ein klaffender Abgrund.«
Sie glaubte, sich zu retten, aber sie rettete nur ihren nackten Leib vor dem wirklichen Erfrieren!
Ihre Seele, ihr Geist, dieses »Ewige« im Menschen, versumpften nach und nach;
ihrer »Bequemlichkeit« opferte sie ihren »heiligen ewigen inneren Auf ruhr«.
Nur »Genies« geben nie nach dem allgemeinen Leben,
können es nämlich nicht!
Wer nachgeben kann,
ist ein Glücklicher, also ein ganz Ungenialer!

Besprechung mit sich selbst

Ob ich Ihn liebe oder Er mir diese ganze komplizierte, interessante, merkwürdige, rätselhaft verworrene Welt einfach ersetzt,

ich weiß es nicht ganz klar, selbstverständlich.

Aber Eines weiß ich: Ich fürchte seinen Haß, seine Verachtung,

sein künftiges unbedingtes »moralisches Urteil«

über mich!

Ist das Liebe?! Nein, aber irgendwie hängt es damit zusammen.

Nicht existieren zu wollen, zu können,

wenn »ein Bestimmter« Uns

menschlich verdammt und mißachtet! Vor Uns, über Uns innerlichst verachtend ausspuckt!

[104] Ich möchte, aus innersten hunderttausend lebendigen Energieen,

die in mir nach einem Ausweg, sich ununterbrochen zu betätigen, drängend suchen,

kämpfen, ja, mich martern, mich zerstören,

auf seinen Haß, auf seine Verachtung

verzichten können, brutal-Napoleo nisch,

doch ich kann es nicht!

Weshalb zwingt Er mich nicht unter sein Joch,

sondern schaut absichtlich ruhig zu,

nach welcher Seite ich mich endlich wenden werde?!?

Er weiß, daß ich nicht genug stark bin,

den rechten Weg anständiger Entschließung

allein zu schreiten!

Wie eine »drohende Wolke« schwebt also sein Haß, seine Verachtung über meinem feigen blonden Haupte!

Er achtet mich vielleicht eines anständi genEntschlusses für würdig – – –.

Ich bin es nicht!

Alma

Du kommst, nach drei Monaten, 1./10. 1917, vom
»Lanser See« und von Deinen heißgeliebten Berg- Almen, Alma Pt.!
Baarfuß glittest Du drei Monate lang über
Berg-Wiesen, und die verblüfften Menschen ließen
Dich kopfschüttelnd gewähren!
Nun, in dem staubig-düsteren Wien angelangt,
flüchtest Du sogleich zu mir, in mein Zimmerchen.
[105] Welche Ehre für mich, Alma, Almen-Bewohnerin, daß Du in dieser düsteren
Staub-Wüste zu mir sogleich hinflüchtest!
Es ist mehr, mehr, mehr wie begeisterte Worte über meine neun Bücher!
Es ist »schweigendes Höchst-Zeugnis«, für mich
unbewußt ausgestellt, mit Deinem edlen
Namenszuge gleichsam unterfertigt,
für ewige Zeiten,
von Dir, Alma Ptâzek!
Du Aschblonde, Braunrot-gefärbte, Zartgliederige,
Sanftmütige, der Natur zutiefst Ergebene!
Indem Du von Deinen heißgeliebten Almen,
oberhalb des Lanser Sees, Alma,
hier in der grauen, Alles erstickenden Großstadt
zu mir her entflohst, Wien I.
Grabenhotel, Zimmer Nr. 33, 4. Stock,
gabst Du mir ein echteres Zeugnis
meines Dichter-Wertes als günstige verständnisvolle Besprechungen! Sei für ewig bedankt!

Die Reise

2./10.1917


Innsbruck, ich bin also wirklich in Innsbruck, mir selbst, Paula und Denen, die mich kennen, unbegreiflich. Woher diese Energie, Peter, von Wien aus, von deinem geliebten Zimmerchen aus Nr. 33, I. Grabenhotel, in »Innsbruck« zu landen, mit Reisetasche aus braunem Segeltuche mit Monogramm »P.A.« und »Nickel-Schloß« und allem für Dich Notwendigstem!?! Wer hat Das fertiggebracht, Peter, der Du nachts es nicht genau weißt, [106] ob Du morgens die Energie haben wirst, Dir die Krawatte zu binden, und deshalb oft in »Krawatte« schläfst?!? Sicher ist sicher, auch die Hose kann anbehalten werden, sicher ist sicher, und nun in Innsbruck?!? Peter, wie ging das zu, beichte!

Paula sagte: »Ich brauche Dich in Innsbruck. Sei es aus diesen, sei es aus jenen Gründen.Willst Du oder willst Du nicht?!? Ich kann auch ›ohne Dich‹ auskommen im ziemlich komplizierten Leben, aber ›mit Dir‹, Peter, wie überhaupt alle Unseresgleichen, echte Moderne von 1917, einfacher, richtiger, bequemer.«

Infolgedessen kam ich nach Innsbruck. Paula hatte aus irgend einem Grunde mich gebeten, herzufahren. Ich bin hier Ihr zuliebe, ist dasnicht mehr für unsere Seele als die Schnee-bedeckten Berge?!? Paula, Paula, was weißt Du von der Anziehungskraft dieser Natur »Weib«?!? Es ist mehr als »Berg-Almen«.

Paula Schweitzer,

ich stelle Dir heute, in Innsbruck, 3./10. 1917, 2 Uhr nachmittags, folgendes Zeugnis aus:

Nie hat sich, unter solchen komplizierten Umständen, von dem Betreten des Wiener Westbahnhofes an zur Fahrt nach Innsbruck, 1/2 8 Uhr morgens, 2./10. 1917, bis heute, 4./10., eine Frau liebevoller, zarter, rücksichtsvoller, schwesterlicher, mütterlicher, Kindsfrau-mäßiger, aufopfernder, verehrungswürdiger, menschlich höher, Situationen überblickender, objektiv-gerechter je benommen als Du, Paula Schweitzer! Ich liebe Dich!!!!!!! Wenn ich, mit meiner vollkommen zerrütteten Dichter-Seele[107] einmal nahe daran bin, Dich ernstlich zukränken, Geliebteste, so schicke mir diese heute geschriebenen Zeilen irgendwohin, auf daß ich »erwache«, zu Dir! Durch Dich!

Rückblick

Bin ich Dir nicht ewiglich verpflichtet, Paula,

daß Du Die bist, geblieben bist,

die Du seit jeher, von Schicksals Gnaden oder Ungnaden, zu sein in Wahrhaftigkeit und Echtheit zu bleiben mir, Dir, verpflichtet warst?!

Daß Du durch mich allein den Mut gefunden hast, demütig-genial ergeben,

den dir vom Schicksal, Talent und Talentlosigkeit, Genialität und Unzulänglichkeit, zugemesse nen Wahrheits-Weg

unbekümmerten Herzens, zur Freude

Mancher, die dich erfaßten, zum Kopfschütteln der, ach, allzu Beirrbaren,

dahingewandelt bist auf deinen ehrlichen Pfaden?!?

Sahest Du nicht, Tapfere, Geliebte deshalb,

so viele Hoffende, Ersehnende, Ehrgeizige, Selbst-Betrügerinnen, Daseins-Hochstaplerinnen, Wege gehen, die in eigene Labyrinthe unmerklich, wenn auch nach Jahren, unbedingt führten,

und den Todeskeim verführter, durch sich selbst verführter allzu sehnsüchtiger Seelen in sich mitschleppten?!? Zu unfrohem vorzeitigem Ende?!?

Warst Du durch mich nicht frei und stark und unbekümmert in deinem kleinen großen Paula-Schicksal,

[108] dem zu entrinnen ich dir stets liebevoll vor ausschauend die Kraft nahm?!

Geschöpf der Lügelosigkeit nenne ich Dich hienieden, wo Jede ihr zugemessenes

Schicksal falsch korrigieren möchte!

Paula bist du geblieben und geworden!

Nicht stolz bin ich auf meine zufälligen notwendigen Impressionen, die immerhin Manchem, Mancher richtigere Wege weisen mögen – – –

stolz allein bin ich auf Dich, daß Du geblie ben und ganz geworden bist, wie das Schicksal es mit Dir vorhatte, unerbittliche, unzerstörbare Paula,

also meines fürsorglichen Geistes einzige wahre Tochter!

Wer mich benützte, fiel von mir ab, verräte risch, weil er mich benützte,

Du allein bliebst meines Geistes Geist und meiner Seele Seele! Unbekümmert.

Nie gab es ehrlichere Zusammenklänge als Peter und Paula! Sei gepriesen!

Tagebuchblatt

Sie schrieb in ihr reizendes modernes Tagebuch ein: »Daß ich meinem verehrtesten Freunde 100 Kronen aus seiner Brieftasche entwendet habe, um ihm einen von ihm längst ersehnten Gegenstand, den er sich selbst zu kaufen nie sich den Luxus gegönnt hätte, zu Weihnachten zu schenken, das nehmen mir die Leute, denen ich es aufrichtigst, ja fast freudigst, eingestanden habe (ich habe mein ›Gewissen‹ entlastet) übel. Aber die vielen, liebevollen[109] Blicke, die ich seiner, von mir tief geachteten Seelenruhe zuliebe, unbeachtet gelassen habe (schließlich bin ich ja auch eine junge hübsche Person), davon hat Niemand anerkennend, achtungsvoll je Erwähnung getan!Besser, meinem Geliebten 100 Kronen stehlen alsdas, was er dringender braucht, meine unzerstörbare Anhänglichkeit! Und wenn ich ihn bestohlen hätte, um mir selbst sogar Etwas dafür zu kaufen, Er wäre noch lange nicht ähnlichso bestohlen worden wie Ihr Anderen die Eurigen durch Blicke, Lächeln, Schweigen, Erröten, Erbleichen öffentlich geheim ununterbrochen bestehlet!

Ja, ich stahl meinem Geliebtesten 100 Kronen, diesmal für Ihn, nächstens vielleicht für mich, und dennoch bestehle ich ihn nie!«

Ethische Angelegenheiten

Er erklärte plötzlich, er könne seine junge Gattin nicht mit in das Konzert in der kleinen Stadt mitnehmen, da ihre Anwesenheit ihn von der Versenkung in »Beethoven« störe. Die junge Frau und der alte kranke Dichter fühlten es sogleich, daß er dadurch dem Dichter die Gesellschaft seiner Frau für den Abend selbstlos erhalten wolle. Deshalb traf ihn naturgemäß ein gerührter Blick des hilflosen erstaunten Dichters. Die junge Frau aber sagte: »Zumeventuellen Opfer bringen aus Rücksicht für unseren Dichter ist meine Seele da, nimm den gerührten Blick des von Uns verehrten Dichters gefälligst nicht für Dich in Anspruch, ja, bitte!«

[110] Außerdem hätte sie gern dem eleganten Publikum des Städtchens ihr kaffeebraunes weites Seidenkleid mit den gelben Spitzen, die grüne P.A.-Kette und den neuen silbernen Ehering vorgeführt. Der Dichter aber dachte oder fühlte: »Na schön, jetzt wird sie mißmutig den Abend lang neben mir ein Opfer bringen, das Er gebracht hat. Und vielleicht stört sie ihn übrigens wirklich punkto ›Beethoven‹, na, für so einen Idealisten wollen wir ihn Gott sei Dank doch nicht halten! Vielleicht war er eifersüchtig auf die ›voyante‹ Kleidung seiner jungen Frau! Wie dem auch sei, ich habe bei dem Ganzen ziemlich wenig Profit!«

Erste Lektion

Ich habe in meinem kleinen Hotel sogleich Bissels »Teppich-Kehr-Maschine« vor vier Jahren eingeführt. Der »Vacuum-Cleaner« ist, wie Alles in der Welt, wenn auch ganz unverständlich, nur funktionierend in »Palast-Hotels«. In kleineren Hotelsgeniert er sich, verliert seine organische Arbeitsfreudigkeit. Zuerst tut er nur so gerade noch ziemlich lieblos seine Pflicht, undallmählich, völlig absichtslos, stellt er auch diese ein. Bissels »Teppich-Kehr-Maschine« aber ist »sozialdemokratisch-modern«. Für die 50 Kronen, die sie ein für allemal kostet, reinigt sie jeden noch so engen, noch so düsteren, noch so minderen Hotelgang. Sie überhebt sich nicht, denn es ist auch kein Grund dazu vorhanden, da sie einfach »Bissels Teppich-Kehr-Maschine« ist und vorstellen will und keinerlei andere Ambitionen hat. Der [111] »Vacuum-Cleaner« kann sie »Buckel-Kraxen tragen«, sie hat keinerlei Ehrgeiz, es ihm gleichzutun. Suum cuique. Außerdem versagt er meistens, während sie nie versagt. Alle unsere »heiligen«, »Arbeitsrastlosen« Stubenmädchen seit den vier Jahren, da ich das Glück habe, hier zu logieren, waren momentan ganz vertraut mit Bissels Kunstwerkchen der Teppichreinigung. Jetzt aber, seit 1. September 1917, haben wir eine bildhübsche Bauerntochter aus Oberösterreich, die von »Bissel« keine Ahnung hat. Heute Nachmittag einhalbzwei überraschte ich sie zufällig bei ihrer Arbeit. Sie benahm sich äußerst anmutig-ungeschickt. Zwischen »Bissel« und ihr lag ein Ozean von »Mißverständnissen«. Sie drückte ihn so stark als möglich auf den Teppich nieder beim Rollen, während »Bissel« anmutig leicht, fast gleichgültig, behandelt werden will, und vor allem in gerader Richtung! Ich unterwies sie taktvoll unverletzend in der richtigeren Behandlung Bissels. Sie sagte: »Ich bitte zu entschuldigen, ich war ja früher niemals noch Stubenmädchen, nur die Not hat mich jetzt dazu getrieben!« Ich erwiderte: »Mein liebes Kind, es gibt zahllose ›gelernte‹ Stubenmädchen, die auch nicht mit ›Bissel‹ umgehen können! Es ist keine Schande, Bissel absichtlich stark auf den Teppich niederdrücken zu wollen; Gott sei Dank haben Sie, Holdeste, mich als Berater an Ihrer Seite!«

Veränderung

Wie kann die weiße leuchtende Winterlandschaft in deine Seele eindringen,

[112] wenn sie durch Gram zugesperrt ist?!

Der tiefe Friede der Natur ringt vergeblich mit deinem tiefen Unfrieden.

Aus einem Dichter bist du ein Betrübter geworden,

wie Alle, die es nur nicht spüren, daß sie wegen irgend etwas betrübt sind,

und deshalb eben nicht zu Dichtern werden können!

Deshalb kann Niemand die Pracht der Stunde in sich aufnehmen und sogar für Andere wieder-geben

wie der gänzlich Unbetrübte, der Dichter!

Ihr Geist war einst meines Geistes, unbeküm mert schritt sie wie die Somnambule den unge wissen Weg ihres Verhängnisses! An meiner gefährlichen Seite.

Nun hat sie Halt gemacht am edlen Abgrun de

ihrer anarchistischen Seele, gibt rührend nach,

und bedenkt klug die Jahre, ja, die Stunden.

Nun rückt sie mir in wohltuende Fernen,

obzwar meine gefährliche Nähe Ihr ihr Innerstes

schenkte, das Sein ihres Seins,

also das verborgene Heiligtum ihrer eigentlich un entrinnbaren Wesenheit,

ihr mysteriöses mir teures ihr gefährliches Verhängnis!

Die weiße schimmernde Winterlandschaft

dringt nicht ein in meine durch Gram verrammelte Seele.

Ein betrübter ist kein erschauender Dichter, er ist ein Betrübter.

Sage nicht den Anderen wie es ist,

denn Du siehst es nun nicht anders als sie,

die auch durch irgend etwas betrübt sind.

[113] Gestehe dir ohne Groll, daß du ein Opfer bist deines vorsichtig gewordenen Lebensweges! Armer Peter.

Oktobertag in Innsbruck

Wie bin ich erniedrigt! Alles was sonst in mir tobte, träumte, schäumte, weinte, sich aufbäumte gegen alle falschen Verpflichtungen,

es ist dahingefegt! Durch Dich.

Ich ergebe mich dem Schicksale des Tages und der Stunde, überlasse Dich, wem immer,

da Du, einst Starke, es nun von

mir erbettelst, um Deiner angeblichen Ruhe willen!

Um Deiner Ruhe willen werde ich ruhig.

Ein Greis, der innerlich ein »ewiger Jüngling« ist. Ein Jüngling, der greisenhaft zu werden durch Deinen Frieden gezwungen wird.

Ich opfere mich Dir und deinem wertlosen Ruhe- Bedürfnisse,

ohne daß Du es anerkennen kannst!

Denn wüßtest Du das Opfer, das ich Dir

bringe, in greisenhafter Ruhe dahinzuleben,

nähmest Du es nicht an und schämtest Dich!

So aber überlasse ich Dich deinem geordneten Hausfrieden.

Im Augenblick, da ich das an Dich schreibe,

weiß ich es, daß Du die »Stürme« schwer entbehren, wirst, deren Vermeidung Dein scheinbares Glück ist.

Ich segne deine Ruhe, und dein eventuelles Stürmeersehnen.

[114] Was aus mir wird, ist ziemlich gleichgültig.

Paula, gedenke der eigentlichen Gleich gültigkeit alles Seins!

Sein eigenes Leben leben, amen, aber wenn man es nicht kann, dann in Gottes Namen das, das der Andere Einem aufzwingt!

Oktobertage

Paula hat nun, ich weiß es nicht genau, an welchem Oktobertage 1917,

ich glaube, die harte Sonne beschimmerte gerade den Patscherkofel, die Serles und das Stubaital damals,

vom nahen Abgrund ihres Lebens sich gütig-weise entfernt,

um willig-rührend dem Leben zu dienen wie es einmal ist,

wenn man nicht gerade

Eleonora Duse, Cl. v. Derp ist oder Adelina Patti.

In Weisheit und Würde

und edelster Gerechtigkeit

ist sie von meinen unwirtlichen Bergen des Geistes und der Seele und ökonomischer Kalamitäten und vielleicht noch anderer,

in die »Ordnung« hinabgestiegen; vielleicht sogar hinauf!

Daß sie mich, wie bisher alle Anderen,

nicht wird vergessen können,

ist mein »momumentum aere perennius«!

Und sollte Er auch hie und da,

[115] wir sind ja alle schwache fehltretende Menschen nur,

die Erinnerung an mich

weglöschen oder auslöschen wollen in ihr,

in einem flüchtigen Augenblicke

männlichen Unmutes,

so wird Er selbst der Erste sein, der zu sich sel ber spricht:

»Bewahre Dir um Gotteswillen Deine Heiligtü mer,

das Beste ist an ihr, was sie von ihrem Dichter träumt! Lösch' es ja nicht aus!«

Ich aber sage: »Jener Oktobertag, ich weiß nicht genau, welcher es war,

schimmerte mit harter kalter Sonnenpracht über dem weißen runden Patscherkofel, über die abschüssige Serles und das weitgedehnte Stubaital!«

Sei gesegnet, Paula!

Zugrundegehen

Zugrundegehen, weil man es allmählich erfahren hat,

daß Alles nichtig und unwichtig sei!

Die »Nichtigkeit« des Seins auskosten,

bis man es richtig spürt, daß es ganz nichtig sei!

Nehmen wir ein Beispiel, irgend eines:

Sie ist begeistert von deinen neun sogenannten »Lebens-Bibeln«,

erwünscht es sich sehnlichst, dein sogenanntes »Nest« kennen zu lernen. Nun gut, es ist in blau, braun, grün gehalten,

es spricht für deinen P.A.-Geschmack.

[116] »So habe ich es mir direkt erträumt« träumt sie!

Und dennoch hat sie nichts für sich von alledem davon!

Erst bis er ihr sagt: »Mein Zimmerchen ist erst jetzt komplett durch Sie!«,

erst dann hat sie wenigstens eine flüchtige Sekunde von Befriedigung,

oder sagen wir richtiger und anständiger,

von Enttäuschungslosigkeiten!

Goethe war, glaube ich, nie enttäuscht von irgend etwas,

denn das Leben brachte Ihm dies und das,

Schätze oder wertloses Gerümpel,

aber enttäuscht, siehe, war er nie

von irgend etwas,

denn entweder er konnte etwas für die Ande ren Wichtiges daraus formen,

oder er konnte es eben leider nicht!

Er tat, was Talent und Gelegenheit ihm von selbst in Gnaden anboten!

Mir sagte Eine, die mich von selbst tief rührte:

»Ich habe mir ein ganz anderes Bild von Ihnen gemacht nach Ihren Büchern!«

»Das ist Ihre Schuld, Fräulein, weder die meine noch die meiner Bücher!«


*


Enttäuschung,

wahrhaftigstes grausamstes unerbittlichstes einfachstes verständlichstes Wort aller sonst mehr oder wenigerverlogenen Worte, seien sie geschrieben, gesprochen oder für die Ewigkeit sogar gedruckt! Oder sogar nur mit verlogenen [117] Blicken frech-zart angedeutet! Man war mit der Bergbahn in »Fulpmes«, im Gasthofe erhielt man Tiroler Käse und heißen Tee, um die gelbe Kirche herum war der kleine Friedhof mit schwarzen geschmiedeten goldverzierten Kreuzen. Überall ringsum ewiger Schnee, der die Hoch-Klette rer reizte, während mir und Paula der schüttere Lärchenwald auf feuchtem gelbgrünem Wiesengrunde genügte; Gefahren birgt für Seelen das Leben selbst, zu jeglicher Minute, weshalb sie also erst aufsuchen, da sie Dir bequem von selber leider kommen!?! Ich sprach von dem wahrhaftigsten, dem grausamsten, dem unerbittlichsten, dem einfachsten, dem verständnisvollsten Wort: »Enttäuschung«. Nun, siehe, auf der Abend-Fahrt von Fulpmes mußten Paula und ich zwei alten Damen unsere lieben Plätze, die auf den Vollmond schauten, überlassen. So standen wir die ziemlich lange Fahrt, und ihre Schultern lehnten unwillkürlich in der Enge des Berg-Waggons an meinen Schultern an. Da fühlte ich: »Enttäuschung?! Für Bequemlichkeit tauschst duRomantik ein, ein andermal wieder für Romantik Bequemlichkeiten!« Die zwei alten Damen bedankten sich in Innsbruck noch ganz besonders herzlich für unsere Liebenswürdigkeit.

Widmung

An A. Pt., die 17jährige.
5./11. 1917.
Wer von mir abfällt, fällt nur von sich selbst ab!
Denn, siehe, obzwar man mir oft die Ehre
antut, mich für einen Dichter zu halten
[118] (Ehrentitel für mehr oder weniger noch un verstandene oder noch unverständli che Welten),
so bin ich dennoch Gott sei Dank nichts ande res
wie Euer eigenes, aus irgend einem Grunde
in Euch selbst eingekerkertes, ja verrammeltes
besseres Denken und Empfinden!
Wer Mich ernstlich aufsucht,
sucht nur sein eigenes richtigeres einfa cheres lügeloseres, für ihn also not wendigeres Selbst auf!
Bei den Anderen findet er nur sein gefälschtes, bequem adaptiertes! Wozu?!
Deshalb bleibe ich stets vereinsamt und ver lassen,
wenn die Seelen mit ihrer kargen Beute von mir weg
rechtzeitig unzeitig in die Welt sich flüchten!
Dies Dir, blondgelockte A.P.!
Gehe also erst, bis ich Dir sage: gehe!
Denn dann erst gehst Du zu Deiner schwierigen Pfade heiligem Gipfel!
Geschrieben für die Führer-lose Erkletterin
der Kalk-Kögel, des Habicht, des Pfler scher Tribulaun, amen!

Des Lebens Schwierigkeit

Jeder Mensch, so bescheiden-nichtig er auch sei und sich sogar fühle, als nullste Null dieses Daseins,

will irgend etwas trotzdem im Leben vorstellen und bedeuten. Über sich selbst leider hinaus, obzwar er es eben nicht vermag.

[119] In jedem gewöhnlichen Gespräche ver sucht er es.

Nie läßt er locker von seiner eigenen irgendwie dennoch sich irgend einmal vielleicht erweisenden Bedeutsamkeit!

Daher ist der »dozierende Ton« bereits ein Anzeichen von »Größenwahn«, oder gar »Aphorismen« spenden! Es erzeugt hingegen allerdings »Widerspruch«, und Widerspruch tötet die Zeit! Die »Zeit töten«, z.B. durch Billard-spielen, oder Schach-spielen ist vielen sehr wichtig, denn Wenige haben genug Gehirn und Seele, um die Zeit ruhig-gelassen an sich vorüberzie hen zu lassen!

Viele machen ihre »Langweile-Geschäfte« mit der Eifersucht, so daß sie ganz auf sich momentan vergessen

und ihre armseligen Nichtigkeiten dadurch.

Andere behelfen sich grotesk-blöd

anderswie. Zum Beispiel sie sammeln, ja, aber was, pfui!

Aber Keiner, Keine, möchten im Leben,

so wie es gerade eben ist, untergehen,

verschwinden. Irgend eine Spur möchte ein Jeder gern zurücklassen

seines wertlosen Erden-Wallens,

und sei es nur ein die Welt nicht sehr berei cherndes Kindchen!

Frauen haben es hierin leicht – – – man braucht sie, hei wie bequem!

Aber Männer müssen irgend etwas noch extra

beweisen, denn, siehe, leider Gott sei Dank,

man braucht sie nicht!

[120] Hütet Euch!

Alle diese frechen unglückseligen jun gen Männer,

die nur den armselig-unseligen Herden- Trieb

mitbekommen haben von Urväter her blödem Schicksale,

bei angeblich verehrten Frauen »in Ordnung zu kommen« mit ihren eigenen Lebens-Rät seln,

sind eigentlich bewußte Mörder dieser Frauen,

die sie angeblich verehren und sogar scheinbar

vor irgendetwas beschützen wollen!

Ausbeuter sind sie, frech-unglückselig,

da sie nicht ahnen, daß Alles, was sie der

Frau an Enttäuschungen geringster Sorte je bereiten, bereitet haben,

sich nur an ihnen selbst tausendfach räche und rächen muß! Sie sind die Verurteilten ihrer eigenen Verbrechen!

Die Frau ist die »vom heiligen Geist des Mannes« beschützt werden wollende »einfache Natur selbst«!

Wehe Euch Männern allen, die Ihr beschützen, retten wollet, es möchte Euch aus »gewis sen Gründen« passen,

und nicht genug Geist dazu mitbekommen habet, zu erretten!

Ein Stümperwerk bleibt Euch übrig,

schwankend zwischen bösartiger Hure und pflichteifriger Hausfrau,

zwischen ewig Hoffnungs-Schwangerer

und blöd-Ergebener!

Nur auf der Alm-Wiese, wo sie, geduckt in herrlichen abenteuerlichen Gräsern,

[121] den heiligen Atem der Natur in sich hineintrinkt,

ist sie Dein, du sonst irrsinniger und von ihr verachteter Mann,

insoferne Du es mit-spürst, daß sie jetzt

»eins« geworden ist mit der Natur selbst!

Lösche Dich aus, Armseligster, trotz allen deinen angeblichen Kräften, vor der heiligen Kraft der Natur selbst!

Versöhnung

a. p., der mir vor einem Jahre melden ließ, ich brauche ihn nicht mehr zu grüßen, da er den Grußunbeantwortet lassen würde, hat mich wieder einmal ganz gewonnen durch sein Referat über die mir bisher vollkommen unbekannte, und dennoch, vielleicht aber eben deshalb, jetzt vollkommen bekannte Schauspielerin Frau Traute Carlsen. Er schreibt: »Allerdings kam dieser Aufführung eine Gott-begnadete natürliche Schauspielerin wie Frau TrauteCarlsen zu Hilfe. Was ist das für eine feine, liebe,körperlich und seelisch gleichwertig anmutige Schauspielerin! Sie erzeugte sogleich von selbst innerste Freude an ihr, Teilnahme und Sympathie!«

Die Anklage

Diese jungen Mädchen, die äußerlich dem P.A.-Ideale entsprechen,

und sonst auch noch dazu, von Schicksals Gnade, [122] sanftmütig-ergeben-anspruchslos zu sein scheinen ihrem eigenen Schicksale gegenüber,

(man lebt ja doch nicht ewig, und Alles hat einmal Gott sei Dank sein Ende)

diese von dummen eifersüchtigen verantwor tungslos beschränkten Knaben-Män nern

verhinderten Mädchen tragen allein ihre

Lebens-Schuld, statt des modernen

höchst uneleganten Sokrates »γνωϑι σεαυτὸν« (erkenne Dich selbst!) Wahlspruch zu lauschen

ihren eigenen inneren leeren Untergang bei den

sie angeblich verstehenden Jünglingen

zu suchen, weil sie, ihres eigenen Unwertes

sich dennoch tiefst bewußt,

sich an Jenen anklammern, Ertrinkende im reißen den tückischen Strome ihres eigenen Lebens,

der ihre Nichtigkeit mit seiner eigenen Nichtigkeit

beschützt! Liebevoll scheinbar, nein, nur blöd!

Als du mir sagtest, 17jährige, A. Pt.,

du habest genug, für ein ganzes Leben,

ja mehr als genug,

mit deinen Berg-Almen, den Büchern P.A.'s, und Beethoven, Schubert, Hugo Wolf,

da wußte ich es, Erkenner dieses grauenhaft verlogenen Lebens,

daß kein Mann (Mann?!?) dieser verblödeten Welt

Dir deine eigene Seele, zu deinem

eigenen Untergange, entreißen werde können je!

Mögen die Anderen, Schwachsinnige, ertrinken im für sie unenträtselbaren bequemen Laby rinthe »Leben«!

[123] Die, die mehr sind

Alle Menschen nützen Uns, Her vor-Ragendere,

nur ununterbrochen in irgend einer, uns zu spät leider zum richtigen klaren

Bewußtsein kommenden Art, für ihre

wertlosen, und deshalb bereits für das Ganze der Menschheit gefährlichen und hinderlichen Art, infam-frech aus!

Niemand will »aufgeklärt« werden über seine zahllosen, schauerlichen, feigen, infam stupiden Sünden, die er ununterbrochen vor allem fast grundlos begeht an seinen Mit-Menschen!

Jeder »kreuzigt« instinktiv innerlich sofort seinen adeligen selbstlosen »Aufklärer«!

Er hat unwillkürlich das tiefe

Bedürfnis, im Sumpfe seiner eigenen un klaren und deshalb

verdammten Seele weiterzuwaten,

als spürte er es genau, daß der

selbstlos freundliche Arzt ihm nicht mehr helfen könne, aus seinen Wirrnissen heraus,

da er gebannt, verbannt sei in seines Geistes, in seiner Seele

graue undurchdringliche Nebel!

So schleichen alle Menschen, Mann und Frau,

ihre düsteren falschen unnötigen Wege

auf Erden dahin, die Beute ihrer eigenen seelischen Raubtierhaftigkeit,

und erhoffen es blöd-ideal von den Nach-Kom menden,

daß sie sich bessern werden zu Gottes Ehre!

[124] Zuschrift

Herr Peter Altenberg schreibt uns: »Soeben 6 Uhr morgens, 13. November, angeregt durch die Lektüre des Essays der Frau Irma v. Höfer über die »Lobau« (»Der Nachfolger des Praters«), beeile ich mich, dem Wiener Gemeinderat und seinem Bürgermeister den Vorschlag zu machen, sofort durch einen einzigen Satz (Edikt) die »Lobau« als »Natur-Schutzpark« zu erklären, in dem das Pflücken von Blumen, Abweichen von den Wiesenpfaden, ja sogar Fangen von Schmetterlingen streng bestraft werden. Man nehme sich ein Beispiel an unserem alleredelsten jungen Kaiser, der mit einem einzigen Federstrich denschrecklichen Wahnsinn der Menschheit seit Jahrhunderten, die verletzte Ehre durch »Duell« wiederherzustellen, aus den verblödeten, vorurteilsvollen Seelen der Menschen entfernt, ausgelöscht hat! Richtige wichtige Dinge der Menschheit haben in dieser arbeitsvollen, keine Zeit zum langen Warten mehr habenden Menschheit, von denen, die die Macht und das Herz dazu haben, mit einem kurzen Federstrich, unhistorisch, endgültig erledigt zu werden. Der heutige kurze Satz laute: »Die ›Lobau‹ ist als ewiger ›Natur-Schutzpark‹ erklärt!« Basta.«

Der Verrat

Wer von mir »abfällt«?!?

Wie der Apfel von seinem Apfelbaume!

Er dient anderen Genüssen fortan,

[125] zum Beispiel einen duftigen Apfelstrudel zu bilden,

und dadurch zu erfreuen, zu beglücken,

oder irgend etwas, was mit seinem früheren Apfel-sein und den Anderen, Genie ßenden, zusammenhängt!

Aber vom Apfelbaume, seinem,

meinem innersten Selbst,

ist er dadurch dennoch für ewig

abtrünnig geworden,

und seine Apfel-Düfte interessieren

mich Gott sei Dank nicht mehr!

Es waren nur »Störungen« meiner

letzten Erkenntnisse, daß man sich eben

durch Nichts stören lassen dürfe

hienieden, und seinen eigenen

Schicksals-Weg einsam zu schreiten habe,

auf Kosten seines angeblichen Glückes, das niemals eines ist,

das tatsächlich nicht eine Stunde lang für Niemanden vorhanden ist!

Vogel-Strauß-Politik, ich steckte den Kopf in den Sand, um mir die »eigene Wahr heit meiner selbst« vor mir zu verbergen,

ich, Verbrecher an meinem eigenen Geist!

Ich habe also nicht einmal diese Kraft,

zu werten, Wer eigentlich zu mir gehö re und in mein Leben hinein?!? Trotz allem!

Ich versuche es also, Idiot meiner Selbst,

noch immer mit meinem eigenen Leben und meinen angeblichen Idealen,

Geschäfte zu machen?!?

Pfui, es wird an meiner eigenen

Seelen-Leere ausgehen,

[126] ich werde dahinwanken, ein Selbstbetrogener!

Aber daß ich das erkenne in mir selbst, ist mein Heil hienieden!

Leben

Das Leben hat eine merkwürdige, mysteriöse und eigentlich stupide ewige unentrinnbare Sehnsucht, am Leben zu bleiben, solange als nur irgendmöglich! Wozu, weshalb, Niemand weiß es. Ewig kannst Du Dich ja doch nicht frisch erhalten, und welkend bist Du doch bereits vielmehr wie gestorben! Denke nur an irgendein »Haut-Ekzem«, diesen Beweis »geminderter Lebenskräfte« irgendwie, irgendwarum, irgendwo. Magen, Darm, Seele, was weiß ich?!? Aber Du versuchst es dennoch ununterbrochen, dein von der Natur bereits angekündigtes, diagnostiziertes »Verfallen-sein« noch mit allen absolut unzulänglichen Mitteln aufzuhalten! Zu den »zulänglichen« hast Du nämlich weder Mut noch Intelligenz noch Aufrichtigkeit! Also: Kuren und Ärzte! Das ist noch im Rahmen der »Bourgeoisie«. Die wirklich wirkenden Mittel der säumigen Stoffwechsel-Beförderung sind meistens aus »ethischen Gründen« unmöglich. Hoffe also auf »Talmi«!

Senectus

Was hatte er eigentlich davon, noch vorhanden zu sein, ziemlich rüstig mit 87 Jahren?! Sein Geschäft[127] ging zwar »von selbst«; es hätte auch nicht anders geführt werden können, wenn er erst 49 Jahre alt wäre; seine Frau bemitleidete ihn, daß er nichts mehr vom Leben habe als das Leben. Vor dem Frühjahre fürchtete er sich, vor dem heißen dumpfen Sommer, vor dem Herbst und vor dem Winter. Er war weder musikalisch noch ein Naturfreund, noch schwärmte er für schöne Frauen je bloß wegen ihrer göttlichen Linien. (Im Wald ist es schattig und der See ist nicht schlecht, na ja, Alles für die Müßiggänger!) Die Frauen, diese Lieblichsten, ja hast Du denn, Alter, eigentlichGlücklichster aller Lebendigen, nicht einmal mehr dein Auge, dein begeisterungsfähiges altes Auge?! Nein, auch davon verstand er nichts. »Die Frauen, besonders die lieblichen, wollen von uns Ruinen nichts wissen, sie ekeln sich!« Ganz richtig und in Ordnung! Aber wir, wir, wir können sie doch gerade so bewundern, anbeten wie mit 20?! Was hat sich denn da verändert?! Dafür hatte der Alte keinerlei Organe. »Wenn sie mich nicht mehrmag, wie soll ich sie denn dann mögen?!« Pfui Teufel, alter häßlicher Wucherer! Wie wenn Du sagtest: »Ich liebe nicht den Flieder, weil er mich auch nicht lieb hat!?« Der Flieder »spendet« doch stets und stets, dir, Deiner alten Nase, deinem alten Auge, selbstlos, kümmert sich gar nicht um Das, was Du ihm für Duft und Farbe zu gegenbieten habest?! Wer als Greis fühlt, daß er nichts mehr genießen kann, den treffe gerechterweise die wertlose allzulange fade Stunde des allzulangen Tages, der allzulangen Nächte unbewaffnet gegen das schreckliche »Nirvana«! Wer sich beklagt, ist schuld an seiner[128] Klage, empfinden kannst Du bis zu deiner Sterbestunde; das genügt vollkommen. Gegen-Liebe erhoffen, erwarten, ist stupider frecher Jugend-Irrsinn!

Tapeten

Ich zeigte der Dame viele wunderbare Tapeten-Muster, für Schlafzimmer, Speisezimmer, für überflüssige Zimmer, Tapeten-Muster, billig, die für mich und Paula »Ideale« wären, wenn wir genügend unvernünftig wären, uns »für ständig« einzunisten irgendwo, pfui. Die Dame sagte: »Das ist zu unruhig, zu apart, was würden die Besucher dazu sagen?! Und die Tante und der Herr von Pipsti?! Lassen Sie sich daraus ein Gewand machen, Sie fallen ja gern auf!« Infolgedessen wußte ich, was Paula schon seit eh und je weiß, daß man Niemandem hinauf-helfen kann, sondern nur Schimpf und Schande dabei einheimst! Selbst bei Tapeten rächen sie sich bereits, daß siesogar von Tapeten nichts verstehen! Denn »nichts verstehen« von einer Sache, erzeugt nicht Demut, sondern Rache! Diese gehören zusammen, die schon seit jeher zusammen gehören, und dieAnderen sind die feigen, erbitterten, blödsinnigen Gegner! Was der Heiland erlebte, erlitt, erleidet ein Jeder, der richtiger denkt als die Anderen. In den »kleinsten, unscheinbarsten Angelegenheiten« des Lebens findet es statt, nicht nur in den wichtigen. Weshalb soll eine besondere, aparte, zarte, künstlerische Tapete Deines Zimmers nicht Deines ganzen Lebens Richtschnur sein?! Die Frau, die es »häßlich« findet, meide! Weise [129] siesogleich von Dir, sie wird noch mit ganz andern Dingen nicht einverstanden sein in Deinem Leben. Wie kannst Du sie, Esel, glücklich, ja nur zufrieden machen, wenn sie schon Deine Tapete stört?!?

Verdienen

Es gibt so viele, so unzählige, wirklich aber nicht mehr zählbare Menschen, die wollen nur verdienen, verdienen, verdienen. Der Taumel hat sie erfaßt; der Andere, mein Lieber, verdient auch, und besser als Du. Das läßt Du Dir also bieten?! Aber wofür, wofür er dem Verdienste nachrennt?! Will er in die »Oper« dafür zu Richard Wagner?! Oder zur Sommerszeit ins »Gesäuse«? Oder besondere Bücher, ja nur besondere ihm genehme Taschentücher?! Oder, nein darüber wollen wir nicht sprechen, obzwar es möglich wäre, Gott, die Frauenwelt!? Nein, er will verdienen, weshalb, weil Andere verdienen. Aber nein, das »Verdienen«, dieses nichtssagendste, inhaltsloseste Wort allein reizt ihn.Verdienen! Wofür?! Um zu »verdienen«. Und dann?! Dann wieder und noch. Bis man tot ist. Eine Pflicht, die man sich selbst aufgebürdet hat. Willst Du Dir nicht, Verdiener, schließlich an dem Wolfgang-See ein Nestchen bauen, ein Motor-Boot, Fremdenzimmerchen für Erlesene, der romantischen Natur Dich edel-weise hingebend für Deine letzten 20 Jahre?! Nein, er will nicht. Er willverdienen! Ruhe-los! Verdienen!

[130] Die »Kaufmannswelt«

Der Besitzer eines der »elegantesten« Friseur-Läden der Residenz – es ließen sich dort Grafen, Barone, Bank-Direktoren, reiche Müßig-Gänger, angeblich für die Menschheit wichtige Groß-Industrielle etc. etc. und sogar ein höchstmoderner Dichter (man kann also schon fast sagen: Narr) rasieren, frisieren, Kopf-waschen. (bravo! Aber leider nicht geistig-seelisch), also dieser Besitzer, trotz seinen 93 Jahren und seinem bedeutenden Privat-Vermögen, kränkte sich bei Tag und bei Nacht darüber, daßseine »außer-Haus-Gehilfen« ihre eigenen Geschäfts-Wege gingen hinter seinem Rücken, und Er daher nur den Namen der »altberühmten« Firma dazu hergebe, daß sie sich ihre Taschen unerlaubterweise (ha ha hi hi hia hia) füllten!

Ich sagte zu ihm: »Sie haben eine ganz unrichtige Buchhaltung! Berechnen Sie Ihre ewige Verzweiflung über Verluste mit 100000 Kronen jährlich, und Ihre Gleichgültigkeit gegenüber unvermeidlichen Verlusten mit 200000 Kronen jährlich, so bleiben Ihnen rein jährlich 100000 Kronen Profit! Wenn Sie nämlich die ›Weisheit‹ haben könnten, besitzen könnten, gleichgültig zu bleiben gegenüber unvermeidlichen Verlusten! Das Leben ist einmal so grausam-ungerecht!«

Da beugte er sich demütig vor mir und sagte: »Von oben herab, wie leicht und richtig zu beurteilen, aber drinnen stecken, ganz ganz drinnen, da sieht man ja eben nicht mehr leider ›von oben herab‹!«

»Das eben muß streng bestraft werden!« erwiderte der Dichter.

[131] Die »Dienende Klasse« in meinem geliebten »Graben-Hotel«

Niemals direkt aufbegehrend mit dem Schicksale, niemals direkt unzufrieden, niemals Diejenigen beneidend oder verfluchend,

Denen man für allerkargstes Trinkgeld

niedrigste Dienste zu leisten gezwungen wird!

Ewig nachsichtig die schreckliche Bürde dieses

Daseins, eigentlich dieses nicht-Daseins,

auf sich nehmend,

als wüßte man es allzugenau, daß es hienieden »Gerechtigkeit« nicht gebe!

Gleichsam lächelnd taumeln diese »echt Adeligen« der Not über ihre eigenen Lebens- Abgründe hinweg, in Arbeit, in Arbeit hinein,

verstehen Jene nicht, die sich aus »Faulheit« verkaufen!

Ihre »Gespräche untereinander« sind heilig,

denn es dreht sich um nichts und wieder nichts!

Ganz wie bei Kindern! Ganz so.

Mit einem »Nichts von einem Nichts«

könntest Du sie also beglücken!

Aber Wer, Wer hat Lust dazu?!

Ihr öden gemeinen faden wertlosen Männer, kann man Euch euren »Star stechen« diesbezüglich,

da Ihr nur die »Anspruchvollste« gern habt?!?

Für ernstlich selbstlos Arbeitende wie mein Stubenmädchen Antonia Plazek,

habt Ihr leider Gott sei Dank kein Gemüt!

Daher werden sie auch verschont, gemieden von Eurer schlimmen öden faden bösen Rasse!

Wehe Euch, wenn Ihr einmal Eine wirklich entdecktet, die ich vorher entdeckt habe!

[132] In Euren »nicht P.A.-Herzen«

verwandelte sie sich bald in das,

was sie nicht ist! Und was sie nie war und nie sein wird! Ihr »Zerstörer wirklicher Werte!« Pfui!

Premiere

Ich war in einem neuen Stück.

Den schönen jungen Damen im Parkett und in den dichtbesetzten rotgoldenen Logen

ward ihr eigenes Schicksal gleichsam vorgeführt,

wenn auch in geziemender Entfernung; und, obzwar typisch, doch ein Einzelfall!

Aber alle diese Zuschauerinnen, Mit-Erleberinnen, Mit-Fühlende, Mit-Leidende, Mit-leidige, hatten »nachgegeben« dem Leben;

sonst säßen sie nicht hier, weideten sich nicht am ei genen Schicksal, das eben Gott sei Dank ihr eigenes nicht war!

Ein Dichter-Spuk und doch ein Nerven- Kitzel.

Wie nah verwandt waren sie der modernen Heldin auf der Bühne!

Nein. Denn diese leidet eben, findet keinen Ausweg, könnte nicht bei diesem Stücke im Parkett oder in der Loge sitzen, ohne bitterlich zu weinen oder ohnmächtig zu werden!

Nein, sie saßen da und hofften, daß man ihre nackten

Arme hinter Tüll-Gardinen, ihre besondere Kleidung oder den Schimmer ihrer aparten Frisuren bewundern werde!

[133] Und man tat es.

Denn die Heldin auf der Bühne, mein Gott, kämpft einen Verzweiflungskampf um ihre Ideale im Leben;

und wo strandet Das?!

Im 5. Akte. Wie immer.

Die Zuschauerinnen jedoch leben ohne zu stran den;

nicht einmal im 100. Akte, sehen sich friedlich bewegt diese 5 Akte an! Wie spannend!

Erkenntnisse

Wenn man stets daran denken würde, Wer der Andere eigentlich in seinem innersten Inneren, unbewußt-bewußt vor sich selbst, trotz allen noch so geschickten Kostümierungen irgend welcher Art, ist und vor allem verurteilt ist, es zu bleiben, so müßte man wenigstens den »Neid« verlieren, also auch ein bereits bedeutenderLebens-Profit!

Es gibt Menschen, die »wegen einer bestimmten alten Briefmarke«, die ihnen noch fehlt, und um die sie Alle, die sie »besitzen« (hi hi hi hia hia!), ewiglich beneiden (nicht ewiglich, sondern bis zu ihrem hoffentlich baldigsten Tode!), nicht ganz zufrieden sein können hienieden!

Möge mein Fluch sie treffen und vernichten,

diese Idioten ihres eigenen verkommenen beschränkt-vorurteilsvoll-infamsten Daseins!

Aber mein Fluch hat selbstverständlich gar keine Wirkung.

Also Ihr, Menschelein, seid zufällig da, hineingeboren in eine der kompliziertesten merkwürdigsten[134] Welten, die es je gegeben hat, und Ihr nützet es nicht einmal richtig aus, vorhanden zu sein,

für hoffentlich nicht viel länger als 80 Jahre,

sondern Ihr begehet ganz unnötige Dummheiten, von Jahr zu Jahr ärgere!?!

Wehe, nein, Gott sei Dank! Sie vernichten vorzeitig rechtzeitig sich selbst!

Im Gasthaus

»Entschuldigen, mein Herr, ich sehe Sie Tag für Tag diese großen Bohnen in Speck gekocht essen, nur dieses eine Gericht. Es ist ja sehr lecker berichtet. Aber täglich und nur?! Mundet es Ihnen denn?!«

»Nein, es ›gehirnt‹ mir. Da ich genau weiß, daß es äußerst nahrhaft und leichtverdaulich und billig ist, mundet es mir ›im Gehirne‹. Ich genieße eine Speise, indem ich sie als wertvoll für meine ›Maschinerie‹ erkenne. ›Zuckerln‹ schmecken Kindern, wir aber sind bereits Erwachsene, wir haben die ›Lebens-Maschine‹ sorgsam, weise, richtig zu bedienen, nicht ihre Genüsse zu erpressen! Pfui!«

»Ja, aber freut Sie denn das um Gotteswillen auf die Dauer?!«

»Nur das! Weil es eben von Dauer ist. Unsere Maschinerie ist wie jede andere Maschinerie, von der Taschenuhr angefangen, man hat sie inStand und Ordnung zu halten!«

»Sie scheinen ein pedantischer Junggeselle geworden zu sein!«

[135] »Überzeugen Sie sich doch und lesen Sie meine 9Bücher!«

»Danke, ich habe bereits von dieser mündlichen Probe genug!«

Ein Liebesbrief, der noch nie geschrieben wurde

»Geliebter Peter, ich weiß meinen Wert einzuschätzen, ohne Eitelkeit, Selbstbetrug, billiger Lebens-Lüge! Ich weiß aber vor allem, was Du allesnoch brauchst, was ich zufällig durch Schicksals dunkle Fügung nicht besitze! Sagen wir zum Beispiel, aber wozu anfangen und niemals enden?! Es gibt soviel Entzückendes in der Welt, verteilt auf Viele! Wer wärest Du, wenn Du es nichtsähest, spürtest, daran littest?! Da wärest Du ja gleich jenen infamen Hunden, die aus Bequemlichkeit und innerer Feigheit, nun Du weißt es ja? Und dennoch Dir, unter diesen Umständen, etwas Besonderes, Wichtiges, Wertvolles, ja Unentbehrliches zu sein, ist mir eine große Genugtuung, ein Stolz, eine Ehre! Ich verstehe infolgedessen diejenigen meiner Mit-Schwestern gar nicht, die glücklich darüber sind, einem Manne Alles zu sein. Das kann man ja ehrlich gar nicht! Und wenn, so ist er doch nur ein beschränkter Mensch! Es gibt Frauen, die sich freuen, einen beschränkten Menschen gefunden zu haben, ich bin leider nicht so anspruchsvoll!«

Dieser Liebesbrief ist noch nie geschrieben worden, obzwar er von Allen an Alle irgendeinmal geschrieben hätte werden müssen!

[136] Stunden der schlaflosen Nacht

Nun richtig, Du hast Dein »heiliges Schlafmittel« zur Benützung, Paraldehyd 20 Gramm, Du könntest Dir sogleich, blitzschnell, Schlaf, Vergessen, für 11 Stunden verschaffen. Aber, eben weil Du es kannst, willst Du es erfahren wie es ist, wenn Duschlaflos bleibst! Die Fenster sind weit offen und die Nachtluft ist angenehm, staubfrei ...

So Mancher jedoch glaubt, man müsse bei »Goldman und Salatsch« ausstaffiert werden, bei »Wundderer« seine »Dessous« beziehen und bei »Helene von Zimmerauer« oder »Franz Löwy« seine Photographien; Alles Dieses erscheint in schlaflosen Nachtstunden unnötig. Das Leben erscheint Dir, da Du das »Paraldehyd« nicht rechtzeitig nimmst, als eine lächerliche Aufgeblasenheit, und das Wort »Exzellenz« macht Dich nicht mehr erschauern. Du erhältst den Mut, richtig, logisch, folgerichtig zu denken, Du verachtest Deine Geliebte oder bist wenigstens nicht mehr eifersüchtig, Du hältst einen guten Wolle-Mantel für ebenso wärmend wie einen Pelz, und bewunderst keine Dame, die einen ganzen Paradiesvogel auf ihrem Hute befestigt hat. Paradiesvögel sind kostbar schön lebend in Tiergärten. Wenn Du aber »schlaflos« bist, erscheinen Dir als »Gespenster« alle lächerlichen Eitelkeiten, Borniertheiten, Vorurteile dieser schamlos frechen Welt! Wenn Du schläfst, überschläfst Du es. Aber wenn Du, statt zu schlafen, wachst, dann erwachst Du! Nimm also lieber doch rechtzeitig Paraldehyd, 20 Gramm, 8 Uhr abends, auf daß Du um 6 Uhr morgens für die Blödsinne dieses Daseins ausgeschlafen und gewappnet bist!

[137] Die letzten Dinge, nein, die ersten

Ich hasse, nein, ich verachte die Männer, die »genügsam« sind.

Inwiefern nämlich genügsam?!

Daß sie mit den Chancen, den Möglichkeiten ihres doch so zarten und wechselvollen Daseins vorzeitig Abrechnung machen, Kassa-Schluß, End-Bilanz, also direkt-indirekt »lebendigen Tod«!

»Begeisterung« für eine Schönheit, eine »Lieblichkeit« ist die »elektrisch-magnetische«Kraft unserer Maschinerie.

Weil die meisten Männer diese emsige Begeisterung, diesen Strom von Spannkräften in ihrer armseligen, leicht explodierbaren Maschinerie nicht aushalten, haben sie aus unbewußtem Selbsterhaltungs-Triebe das perfid-blödsinnige Bedürfnis, die »Angebetete« reell in Besitz nehmen zu dürfen! So bald als möglich.

Dadurch wird ihre Begeisterung abgekühlt, fühlen sie, spüren sie instinktiv.

Dadurch können sie dann friedlich, mit sich im Reinen, wieder weiterexistieren. Von der Last befreit, erlöst pfui.

Existieren?! Vegetieren!

Begeisterung ist Religion des psychischen, aber siehe, auch des physiologischen Organismus!

Ohne Begeisterung retardiert die Uhr Deines Lebendig-seins, stockt, bleibt zurück,versagt den Dienst!

Wird jedesfalls ungenial, gewöhnlich.

Wer sich vorzeitig »bindet«, ist gebunden.

[138] Begeisterung bindet nie, sie treibt die Maschinerie an, ihr möglichst Bestes zu leisten.

»Gewohnheit« ist die Amme, die uns vergiftet! Wir sind »ent-geistert«, weil nicht mehr begeistert.

Kinder, Natur-Genies, werden des noch so verehrten Spielzeugs müde, vergessen nie, daß es ein »Spielzeug« ist; nur ein Anregungs-Mittel ihres wertvollen Frohsinns!

Kinder haben »Rumpelkammern« ausgedienter Puppen!

Wollt Ihr mich täuschen, mich,

mit Eurer Ordnung, Eurer scheinbaren fadenscheinigen, Leben hemmenden Ordnung Eurer Unordnungen, die sich nur versteckt halten?!

Der Vogel Strauß vergräbt seinen dummen Kopf im Sande,

und merkt nicht, daß die geschickte Flinte auf sein dummes Herz gerichtet ist!

Gutmütigkeit

Alle Menschen sind gutmütig, ich meine damit, gutmütiger als ich, denn so beurteilt man Alles, von sich aus. Ich könnte demnach auch sagen: Sie sinddümmer, beschränkter. Wie kann man denn gutmütig sein, wenn man genügend intelligent ist?! Wie kann man Dummheiten, die ringsum geschehen und gar nicht geschehen müßten, verzeihen, übersehen, als selbstverständlich betrachten?! Ist Das Gutmütigkeit?! Nein, es ist Dummheit oder Bequemlichkeit, oder Mangel [139] an Interesse, also Egoismus! Gutmütigkeit ist also entweder Stupidität oderGleichgültigkeit gegen fremde Ereignisse, also frecher Egoismus. Der geistvolle Mensch ist nie gutmütig, alles irritiert ihn, wie wenn es sich um sein eigenes Glück handelte! Gutmütig ist nur der Menschenfeind, der gern und gelassen Alles drunter und drüber gehen sieht, und sich nicht rührt zu helfen, aus Gutmütigkeit. Schamlose, feige Egoisten sind es, die den Wirrnissen dieses Daseins nobel-korrekt-feig anwohnen, ohne es je zu versuchen, Ordnung zu bringen in diese Unordnung! Sie sind angeblich zu wohlerzogen, um zu kreischen und aufzubegehren! Ihre »guten Manieren« sind ein feiges Geschäftchen, das sie mit dem rohen Leben abgeschlossen haben!

Pleite

Das Delikatessen-Geschäft X.Y.Z. ist zugrund gegangen, obwohl es inmitten der Stadt war und obwohl Frau v.T. stets sagte: »Bei mir kommen nur Delikatessen von X.Y.Z. auf den Tisch, extra solide Ware!« Das Geschäft war »idealistisch«, also »lächerlich in unserem Sinne« geführt, dasBeste ist für die Kundschaft gerade gut genug! Welche Prinzipien, bitte, in dieser heutigen Konstellation?! Das ist schön für Lehrbücher angehender Lehrlinge, aber doch nicht für das reale ernste Leben!? Die Sardinen waren wie kleine Haifische, aber soll das sein?! Der vertrocknete Käse wurde weggeworfen, und Jedermann wurde ernstlich davor gewarnt, [140] Datteln oder Malagatrauben zu kaufen! Wenigstens in diesem Monate, mit schlechter Ernte. Vielleicht, hoffentlich, käme es demnächst besser. Den geehrten Kundschaften könne man diesen Schund nicht anhängen, dazu habe man nicht das Herz trotz allem. Niemand wird sich wundern, daß diese Delikatessen-Handlung X.Y.Z., inmitten der Stadt gelegen, dennoch zugrunde gegangen ist.

So gehen nämlich auch alle wirklichen Dichter, Künstler, Menschen, Mädchen zugrunde! Wer prosperiert hienieden, Der weiß es wenigstens, wieso, wodurch er prosperiert!

Das Stubenmädchen

Mein auf mich kolossal eifersüchtiges schönes junges Stubenmädchen (ohne Grund und ohne Recht, aber bitte, solche Kleinigkeiten!?): »Sie, Herr Peter, san a wahrhaft glücklicher Mensch! Ihnen g'fallt amal ane Jede!«

Ich erwiderte sanftmütig: »Kennen Sie, Anna, die Legende vom Heiland und dem toten Hunde?! Nun, der Heiland ging an einem heißen Augusttage durch eine staubige Dorfstraße. Er blieb vor dem übelriechenden Kadaver eines Köters stehen und betrachtete ihn lange. Das sich herumdrängende Dorf-Volk sagte: ›Herr, was findest Du Besonderes an diesem Kadaver?!‹ Da erwiderte der Herr: ›Oh, seht doch die blinkende Reihe von fast unsterblichen weißen Zähnen!‹«

»Dös versteh' i aber schon gar net!« sagte mein schönes süßes Stubenmädchen.

[141] »Nun siehe, an jedem Menschen, an jeder Frau, kann etwas Besonderes, Apartes, Schönes, Wertvolles sein! Daran sich zu halten und es herauszufinden, ist Sache großer tiefer Herzen!«

»Ach so, no ja, tief und groß is dös schon, aber merken's Ihna, uns paßt's halt doch net!«

Schöne Frauen

Schöne begehrenswerte Frauen wollen naturgemäß »im Trüben fischen«, sie wollen nicht klar undeinfach betrachtet, erkannt werden, sondern einem unglücklichen blöden Manne etwas »Unverständliches« und »Rätselhaftes« bieten! Sie verlassen sich darauf, daß er es bei ihnen herausfinde, denn sie selbst sind gar nicht so überzeugt davon, daß es überhaupt existiere!? »Er wird schon spüren, was an mir Besonderes sei und wodurch ich mich, vor allem von allen anderen Mitgenossinnen, unterscheide!? Das kann, ja, das muß ich ihm überlassen, denn ich selbst bin zu bescheiden, es ihm zu beweisen! Wehe ihm, wenn er es nichtvon selbst herausfindet, der Esel!«

Antwort an Egon Friedell

Sehr geehrte Redaktion! Meine herzliche Anerkennung für den Essay des Dr. Friedell über Peter Altenberg. Da ich aber seit ungefähr 58 Jahren mit dem von mir hochgeschätzten, wenn auch exzentrischen [142] (außerhalb des Gewohnten), Dichter eng befreundet bin und durch mancherlei gemeinsame Interessen mit ihm verknüpft bin, so gestatten Sie mir zu seiner Charakterzeichnung (Charakter?!) einiges hinzuzufügen. Als jemand den Dichter im vorigen Jahre im Stadtpark traf, stellte sich dieser folgendermaßen vor: »Erlaube mir, mich Ihnen vorzustellen: Der Mann ohne jegliches Vorurteil hienieden!«

Damit ist eigentlich alles gesagt: Historisches, Gewohntes, Überkommenes, Lebenslüge, Abbröckelndes, Fadenscheiniges, Duckmäuserisches gibt es nicht! Das Leben beginnt mit 1. Januar 1917 oder am 2., am 3., am 7., oder 4. Juni 1918! Immer beginnt es, neu, frisch, entwicklungsschwanger, voll von geklärten Denknebeln, den Wahrhaftigkeiten alles Seins stets um einige Meter näherrückend! Und dann, eine einfache Idee des Dichters! Weshalb soll man nicht alles in zwanzig Zeilen lieber, rascher, prompter, definitiver, radikaler, rücksichtsloser, dezidierter ausdrücken als auf zwanzig bis fünfzig Seiten?! Oder, eine weitere Exzentrizität dieses Menschen: An Gedichten sind Vers und Reim hinderlich. Also mache man schöne, tiefe Gedichteohne diese Anstrengungen! Oder: von der Elastizität des Leibes hängt allein die Elastizität desGeistes ab. Unelastische Menschen werden das für horrend, für bizarr, ja für gemein halten und dem Dichter seinen Dichtertitel absprechen! Mit einem Wort, man hält nur den für einen Dichter, der die Vorurteile, in denen man dahinlebt, dahinkriecht, dahinkeucht, nicht beleidigt! Wenn der Dichter von den Frauen, predigt: Keine anmutige, zarte, süße, feine, besondere [143] Seele möglich ohne anmutigen, zarten, gazellenartigen Körperbau, so wird er nur die »Gazellen« für sich gewinnen, während die »Tramperln« ihn verleugnen werden! Dichter sein heißt bei ihm ausschließlich: die Welt aufklären, veredeln, vergeistigen, entmaterialisieren prunklos einfach machen mit Hilfe des ernst oder bitterböse oder drohend oder überlegen lächelnd gebrachten Wortes! Vor allem: kurz und präzis sein! Nicht herum reden, sondern hinein! Und dann: aus einem Dichter muß man sich, wenn man geschickt ist, die Zibeben herausholen und das andere eventuell als unverdaulich nicht weiter regardieren. Jedenfalls erschaut er seherisch in allem und jedem die, wenn auch tief verborgene Möglichkeit zu höheren, feineren Entwicklungen, und deshalb allein schon hat er mich alle die langen Jahre hindurch eigentlich niemals enttäuscht und habe ich ihm mancherlei wertvolle Anregung in jeglicher Sphäre des Menschentums zu verdanken!

Ergebenst Ihr

P.A.

Die Frauen

Die geliebte schöne anmutige zartgegliederte Frau

ist ein Teilchen, vielleicht sogar ein Teil der gesamten Weltenpracht.

Sie füge sich ein wie ein nettes Mosaiksteinchen ins ganze Gebilde der Weltenschönheit,

das aus abertausenden solcher Gebildchen zusammengesetzt ist!

[144] Die Frau aber als »um und auf« zu nehmen, zu werten, zu schätzen, seines ganzen ganzen reichen komplizierten Lebens,

ist das wirkliche Unglück der Welt!

Die Frau sei uns Anregung und Labsal, Er retterin von Melancholien, sie sei uns Tanz und kindliche Freude, Spielzeug und Ernst, sie sei uns merkwürdiges Entzücken und mysteriöses Anziehen!

Nur sei sie uns nicht Alles, Alles, Alles!

Nie Alles, um Gotteswillen.

Wenn sie Das will von uns,

dann wird sie zur Mörderin!

Sie mordet uns unsere Seelenfreiheit, unsere Geistesfreiheit, unsere Zeit-Freiheit, unsere Ort-Freiheit, unsere Geld-Freiheit, unsere Frauen-Freiheit!

August Strindberg, das Genie, spürte das zeitlebens,

aber er jammerte darüber kläglich-hilf los,

statt mit einem geistigen Siegfried-Schwert streich

Das zu vernichten, aus seinem Seelen- Weg zu räumen,

was den Licht-Helden hindert in seiner lichten Bahn!

»Du bist mein Alles!« gehört vergangenen Zeiten an!

Die Äußerlich »vollkommene«

Kurz ist mein Frühling!

Es auszunützen wäre gemein und ungenial.

[145] Obzwar Alle es tun.

Ich könnte die Verantwortung nicht auf mich nehmen,

dann noch zu gefallen, wenn ich nicht mehr gefalle,

nicht mehr so, so, so mysteriös-märchenhaft, so zauberhaft unerklärlich gefalle, rühre und begeistere!

Kurz ist mein Frühling.

Auch Blumen verblühen, Sträucher, Bäume, Alles.

Aber sie tragen keine Verantwortung ihres Verblühens! Sie dürfen es.

Ich aber, wie könnte ich leben von der bisher merkwürdigen Anerkennung meines bloßen Seins,

wenn ich es einst erleben müßte,

daß Jener ein wertloser Idiot war,

wenn er mich noch anerkennt,

wenn nichts mehr an mir anzuerkennen ist!?

Wodurch, wodurch sollte ich es ihm ersetzen können,

daß ich ihm nicht mehr erscheine wie blühender Flieder im Mai?!

Daß er sich nicht mehr gräme um mich, nicht um mich zittere und krank werde,

und meiner Finger leiser Druck ihn nicht mehr heile?!

Kurz ist mein Frühling!

Splitter [2]

Splitter

Wenn ein Dichter eine schöne Frau kennen lernt und ihr den Hof macht, so sagt sie später: »Ach, diese Art Leute lernt man erst recht schätzen, wenn man sie mal persönlich kennen gelernt hat!«

[146] Wenn ein Dichter eine schöne Frau kennen lernt und ihr nicht den Hof macht, so sagt sie später: »Es ist eine alte Geschichte, solche Leute, mögen sie noch so interessant sein, soll man doch nie persönlich kennen lernen!«


*


In der »Gesellschaft« hält man es für sehr »anregend«, die verschiedenen Ansichten und Meinungsunterschiede über dasselbe Thema zu hören! Ich halte es für anregender, wenn Einer dierichtige Meinung darüber sagt und die Andern lauschen!


*


Jemanden für 'nen ausjemachten Narren erklären, der einem »unangenehme Wahrheiten« ins Gesicht sagt, na, das ist doch nur selbstverständlicher Selbsterhaltungstrieb! Aber jemanden fürgescheit erklären, der einem »angenehme Unwahrheiten« ins Gesicht sagt, das ist eine unverständliche Stupidität. Zu welcher Sorte gehören schöne Frauen?


*


An Frau Strauss, deren Gatte, der sie liebte, den Jakob Weiß niederschoß, ihren Liebhaber!:

»Um etwas Besonderes zu sein, muß man etwas ganz Besonderes sein. Nur besonders sein, ohne etwas ganz Besonderes zu sein, ist eine riesige Ungezogenheit!«


*


»Güte«, »Nachsicht«, »Verzeihen«, ganz nett von einem Gatten! Aber wem gegenüber? Bei der[147] »Kreuzotter«, so schön gefleckt sie auch ist, einBlödsinn! Wie macht sie es, nicht zu beißen?


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Keine Frau ist »ungezogen«, solang man sich ihre Ungezogenheit gern gefallen läßt! Da nennt man sie herzig und interessant.


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Wenn meine mich geradezu anbetende Freundin Paula einen Hund besäße, den sie lieb hätte und der Pipsi hieße, so würde sie doch einmal eines Tages zu mir sagen: »Liebster, ich kann heute nicht bis zehn bei Dir bleiben. Pipsi hat des Nachts gehustet und der Tierarzt ist ein wenig besorgt. Lasse mich heute früher weggehen, morgen bleibe ich dafür überhaupt!« Aber erstens bin ich gar nicht dafür morgen überhaupt, und dann wie ist es, wenn Pipsis Zustand sich Gott behüte verschlimmerte? Ich bin daher überhaupt gegen Pipsis! Dein Pipsi, meine Liebe, bin ich! Wenn ich huste, dann geh zum Tierarzt!


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Wenn ein Künstler einer liebevollen Frauenseele sagt, daß er mannigfache Anregungen brauche, so erwidert sie: »Du hast doch Deine Kunst!«

Wenn er erwidert, daß eben seine Kunst Anregungen erheische, fühlt sie: »Deine Kunst?! Die Welt wird auf den Schmarrn verzichten können.«


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Der Ski-Fahrer hat eine solche Angst davor, den einzelnen Baum und den melancholisch-düsteren [148] Bergwald bewundern zu sollen, daß er es vorzieht, an ihm pfeilgeschwind vorüberzusausen, zumal man ihn ja doch für einen »Naturfreund« halten wird, denn mitten drin hat man ihn ja doch gesehen!


*


Bei einer Gesprächspause war man froh, daß einer das Thema aufwarf, wie viel vielerlei Fahnen man bei sieben Grundfarben machen könne? Einer: »Mit Logarithmen rechnen, war stets schon im Gymnasium meine schwache Seite!« Ein anderer: »Und wenn Sie mir auch sagen werden, 780 Fahnen, ich werde nicht erstaunt sein!« Ein anderer: »Meine Herren, es ist doch ein ernstes Thema! Wenn es aber doch mehr Staaten als Fahnen gäbe?!«

Der Pudel

Ich kenne eine ganz junge Person, die es sich vornahm, innerlich so zu sein wie ein weißer Pudel. Da sie hellblond ist, sage ich »weißer« Pudel. Denn auch die schwarzen Pudel haben »Pudeltreue«. Sie sind übrigens abgekommen, die Pudel, sie sind zu fad mit ihrer ewigen, gleichmäßigen, fast vergifteten Treue (nichts als treu, pfui!); man bevorzugt heute Affenpinscher (herzig-lieb, ach Gott!), Bullys (Gott, wie süß er ist, dreht sich um sich selbst vor Freude!), Dackel (er will nicht folgen, ist also edelrassig!), aber Pudel, die ewig gekränkt sind und treu, nein, das gehört einer früheren Generation an; welche Anregung bietet es, man weiß ja schon, daß er uns fanatisch lieb hat, und?! Was ist dabei Besonderes?! [149] Sie, die junge blonde Dame, hatte es sich also vorgenommen, ganz so, innerlich nämlich, zu sein wie ein weißer Pudel. Treu, treu, treu, und treu. Das kann man sich nämlich gar nicht vornehmen, auch ein geborener Pudel kann es sich nicht vornehmen, sondern man ist es, oder man ist es nicht. Nun, sie war es zufällig. Was kam dabei heraus?! Gar nichts. Er sagte stets begeistert, in allen Tonarten: »Sie ist ein weißer Pudel!« Niemand glaubte es ihm, und die, die es ihm glaubten, dachten: »Na, und wenn schon?!« Infolgedessen sehnte er sich nach einem »Affenpinscher«, figürlich nämlich, nein, nicht figürlich natürlich. Endlich kam Einer, Eine. Der weiße Pudel war schrecklich gekränkt. Das hat man von dieser faden tragischen Pudeltreue. Da wird man doch lieber gleich ein Affenpinscher. Ja, wenn man sich Das nur so anschaffen könnte!?

Ort Altenberg

Ich war heute, nach 30 Jahren, in dem kleinen lieben Orte »Altenberg«, an der Donau. Heißt er so nach mir, heiße ich so nach ihm, gleichviel! Die Gebüsche der Weiden und der Birken sind Waldungen geworden, und Niemand schwimmt mehr in der »freien großen breiten Donau«, sondern in den sogenannten reizenden »toten Lacken«. Wo ist Emma, wo ist Bertha, wo ist Hilda, wo ist Elsa?! Ja, Emma hat eben hier, eingedenk ihrer holdesten Kinderzeit, mit Hilfe ihres berühmten Mannes (Hofrat Professor Adolf Lorenz) sich hart an diesen lieblichsten Donautümpeln ein herrliches Garten-Schloß [150] erbaut mit weißer hoher Aussichtswarte über die Donau-Auen. Frische feuchte Luft kommt abends von den Hügeln. Was man da Alles sich einst erträumte, ist verweht. Alle, Alle haben sich gerettet, irgendwohin, nur ich nicht. Ich mache eine Landpartie hinaus, in dieses Land meiner heiligen Jugendträume, und bemerke, daß die Weiden, die Birken dichte Waldungen geworden sind mit der Zeit!

Frankreich

Ich habe heute Montag, 24./7., in einem bescheidenen Montagblatte etwas Großartiges gelesen: »Die Franzosen allein sind die Verhinderer eines Weltenfriedens!« Ja, Das ist richtig. Denn alle alleAnderen sind sogenannten Vernunftgründen, also Geschäftsinteressen zugänglich, sie denken nämlich normal, wenn auch nicht gerade immer »ethisch«. Aber die Franzosen sind (sie waren es leider aber seit jeher) pathologisch-hysterisch- überspannt- größenwahnsinnig- unzurechnungsfähig! Freiherr von Krafft-Ebing hätte sie in seiner berühmten »Psychopathia« unter die Fälle »schwerster fast unheilbarer Neurasthenie« eingereiht. Der Franzose »en masse« denkt nicht, sondern erempfindet, und zwar falsch, Das ist das Traurige. Die Bartholomäusnacht war ein Irrtum der Empfindung. Mit Denken hat sie nichts gemeinsam. Die Franzosen sind in kindischer Überreiztheit zu dem falschen, durch nichts verantworteten Schlusse gekommen: Die Deutschen stinken! Solche Dinge sind bereits »pathologisch«, und wo das gesunde [151] Denken ausgeschaltet ist, da allein ist Gefahr! Solange es sich um »Geschäfte« handelt, wenn auch um noch so perfide, kann der Geist des Menschentumes irgendwie zu Worte kommen! Aber sobald Jemand »irre sich gebärdet«, und zum Beispiel erklärt, er sei da, um Alle zu vernichten, so »Napoleonisch«, welchen Krafft-Ebing der Welt könnte man da berufen, den Schädling unschädlich zu machen?!?

Referat
Der Sohn
Von Walter Hasenclever

An die Herren Referenten!


Dieses Stück bietet etwas ganz Neues, ich sage vorläufig nicht Besseres, aber Neues, Neues. Also, da es etwas Neues bietet, hat man diesesNeue nicht wieder mit dem Alten, dem Bisherigen, dem Hergebrachten zu vergleichen. Sondern: Worin besteht also eben dieses Neue und was sind seine Vorzüge?! Nachdem man sich so seinen literarischen Buckel von der Last alles Hergebrachten befreit hat, beginne man anständig dem Stücke so weit als möglich gerecht werden zu wollen!

Ein Büchlein

Ein Buch ist soeben erschienen: Beethoven, 80 Heller oder vielleicht 1 K, eigentlich »Notizen« [152] zu »Beethoven«, von Paul Wiegler ausgewählt, Verlag Ullstein. Gibt es eine reelle Notiz über Beethovens Leben, die nicht interessant wäre?! Weshalb sollte es mich nicht interessieren, welche Lieblingsspeisen und Lieblingsgetränke er hatte?! Man erfährt solche Dinge sein Leben lang doch von Leuten, die man niemals darum fragen möchte!? Wie ist Beethoven gegangen, wie hat er bei Einladungen ab- oder zugesagt, wie war er, wenn ein Mädchen auf ihn einen ersten Eindruck machte, wie war er, wenn ein Anderer sie wegheiratete?! Was für eine Seife hat er benützt, was für Stock und Schirm hatte er?! Interessiert Euch das nicht?! Mich sehr. Das »Genie« ist ein »Gesamt-Organismus«, jedes kleinste Rädchen, Ventilchen, gehört zur genialen Maschinerie! Wollt Ihr bestimmen, was daran am wichtigsten war?!? Durch dieses zarte Büchlein erhält man »intimste Einblicke« in diese wirre Riesen-Maschinerie, die Ewigkeits-Musik produzierte. Wer es wagt,Das seiner Freundin als Lektüre auf das Nachtkästchen zu legen, der hat eine Freundin!

Humanitas

Es gibt nur eine einzige Art, einen Menschen zuverehren – – – wenn man sich selbst dadurchvor sich selbst in eine höhere Rangordnung der Menschlichkeit bringt! Neid, Bosheit, Mißgunst heißt, sich selbst vor sich selbst degradieren!


*


[153] Es gibt verschiedenartige Arten der »Kreuzigung«. Zum Beispiel wenn man einem Selbstlosen vorwirft, er sei ein Egoist, einer Edel-Seele, sie sei eben eine noch raffiniertere Kokette als alle Anderen, einem Dichter, er sei ein Nichtstuer, einem Sparsamen, er sei ein Geiziger, einem noblen Beschenker, er sei ein Verschwender, einem romantisch ideal Liebenden, er sei einfach ein »Unfähiger«! Jede Lüge ist eine Kreuzigung, ein Martyrium für den anständigen Menschen! Und Der, der kreuzigt, in irgend einer Sphäre, ist ein Judas!

Dokumente der Seele

22./6. 1917.


Heute abends schickte ich ihr diese Karte ins Haus.

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Grete Humburger,

weißt Du es, ahnst Du es,

daß in der einen Stunde, da ich Dich im regnerischen abendlichen Volksgarten vor mir in unbeschreiblicher Anmut, Du süßeste 13jährige, »Dióbolo« spielen sah, meine Seele sich läuterte, sich reinigte von unermeßlichen Bedrängnissen, und ich meine »bisherige Geliebte« liebevoll-gutmütig dem Anderen innerlich überließ?!? Grete Humburger, 13jährige, Du wirst es nie erfahren, daß ich seit dieser Stunde mein »Schicksal« tragen kann, durch Deine unbewußte Kinder-Gnade!!!


*


[154] Für Fräulein Grete Humburger.

Ich sende ihr seit diesem ewig unvergeßlichen Abende täglich eine solche Blumen-Ansichts karte, nur mit »Datum« und »P.A.«. Bis die Eltern es mir verbieten werden! Heil der holdesten Anmut dieser anmutlosen Welt!


*


Heute Abend, 6 Uhr, es regnete ein bißchen, erblickte ich, mir gerade gegenüber auf einem der grünen Sessel das herrliche unbeschreiblich anmutig »Dióbolo« spielende Kind Grete Humburger, 13 Jahre alt, Wien IX, Berggasse 19, das mich um ein »Autogramm« bat!

Beginn eines neuen tiefen Seelen-Lebens, aus Wochen langer banger Erkrankung. Ihr Blick, ihre Bewegungen rühren mich zu Tränen. Sie sei bedankt, gesegnet. Sie verhilft mir, wieder P.A. zu werden!

Dies ist meine Sesselkarte, ihr gegenüber.


[155] Emilie

Langstielige Lilie,

Lackstieflige Emilie,

Wieviel Meter Seidenstrumpf brauchst Du bis übers weiße Knie hinauf?!

Schmale und lange Seidenstrümpfe, in Heliotrope, in Himbeerrot, in Kaffeebraun, in Erbsengrün, in Maulwurfgrau, in Ockergelb, in Kornblumblau!

Langstielige Lilie,

Lackstieflige Emilie,

Einen Reichen, Reichen, Reichen brauchst Du,

denn Du brauchst lange schmale Sei denstrümpfe!

Meine Rache

Ich habe von den perfiden Italienern gelernt: ausgelöste weiße zarte Fisch-Stücke in einer Tunke von dünnflüssigem Paradeis-Lorbeer-Paprika-Majoran-Safte, in tiefen Porzellan-Schüsselchen! Ich habe von ihnen gelernt: Das süße einfache Lied »Fili doro« von Buongiovanni! Meine Rache ist, daß ich Das von ihnen dennoch gelernt habe! Seine Feinde ausnützen, von ihnen lernen, ist tiefere Rache als Schmäh-Gedichte machen und vor Wut schnauben! Italien, das bissel Gute, das Du hast, werden wir Dir weg-genießen! Auf DeinenPuccini, etsch, sind wir nicht böse! Im Gegenteil!

Verlernen, umlernen, zulernen!

Wenn ein »moderner Bismarck«, das heißt ein logischer Vorausschauer, gesagt hätte durch 30 Jahre [156] Frieden: »Na, wir wollen uns mal doch nicht auf Menschen und Staaten gar so verlassen, und lieberauf jeden Fall aus den ›Dolomiten‹ 10000 Fuß hohe Gesamt-Festungen machen, die gewaltiger sind als gewaltige ›Freundschaftsversicherungen‹?!? Wenn Italien darüber pikiert gewesen wäre, so hätte man ruhig-vornehm erwidert: ›Kinder, tut's Euch nix an, wann Ihr sowieso net losgehen wollt's, können Euch unsere Spielereien da vorn zum Friedens-Zeitvertreibe gar net genieren! Mir spielen ja nur wie die Kinder a bissel »Festung«‹!«

Kleine Tragödien

Es gibt soviel Menschen, die gar nicht zueinander gehören, selbst wenn sie ganz zueinander gehören. Der Tonfall ihrer Stimme schon irritiert fortwährend, obzwar man sich es gerechterweise selber stets zuflüstert: »Bedenke, er oder sie können ja doch nichts dafür!« Aber irritiert es deshalb weniger?! Eine Türe fällt zu, während Du friedlich schläfst. Kann sie etwas dafür, Dich Unglückseligen erweckt zu haben?! Dennoch möchtest Du wie in der Kindheit die Türe prügeln: »Du schlimme Türe!« Die Art, freundlich zu grüßen, zu freundlich, kann Dich gegen Jenen aufbringen, den Du eigentlich »(eigentlich« ist ein Selbstbetrug) ganz gern oder sogar sehr gern hast! Besonders »Bewegungen« können Einen an einem scheinbar hochgeschätzten Menschen riesig irritieren, obzwar man es ihm zugleich ununterbrochenverzeiht, ja sich selbst heftig und nachsichtslos darob anklagt! Wie Einer, Eine, durch einen Saal, einen [157] Gasthofsaal, ein Kaffeehaus hindurchschreitet, kann uns mit Sympathie oder mit Haß erfüllen! »Über solche Kleinigkeiten geht ein Gebildeter hinweg,« ist ein feiger elender Selbstbetrug! Nein, gerade über solche Kleinigkeiten geht er nicht hinweg! Ich sage nicht, daß man Jeden schätzen soll, weil er sich anmutig dahinbewegt, aber daß man einen Unanmutigen allmählich hassen kann, gegen seine bessere Erkenntnis vom hohen Werte seelisch-geistiger Eigenschaften, das behaupte ich ganz entschieden gegen die ganze Heerschar der Hypokriten! Wer gut tanzt, ist noch kein guter Mensch, aber wer schlecht tanzt, und dennoch tanzt, und sogar gern tanzt, der ist ein Esel! Niemand ahnt, durch wieviele unscheinbarste Eigenheiten er seinen Mitmenschen, der ihn eigentlich schätzt und lieb hat, ununterbrochen irritiert, kränkt, stört, beleidigt, zur Verzweiflung bringt. Dieser »Posten« wird in dem Beziehungs-Konto von Liebesleuten und auch weniger Leidenschaftlichen leider nie berechnet.Infolgedessen stimmt die Rechnung auch nie, und der »innere Konkurs« ist unausbleiblich.

Bekenntnis

Als ich den modernen Dichter verehrte und in seinen Dichtungen meine eigene Seele erkannte, deutlicher, reiner, verständlicher als bisher in allen diesen verworrenen unruhereichen (unruhe-

armen) Tagen meines ganz jungen Daseins, ich bin erst 16,

erhob ich mich sogleich durch diese Verehrung[158] über mich selbst hinüber, in mysteriöser Kraft, die von ihm ausging, dem Dichter,

und über alle anderen meiner unerfahrenen stolpernden Gefährtinnen meines ungefähren Alters, die auch von irgend Etwas träumen, was wahrscheinlich nicht ist und nie kommen wird!

Ich flüchtete zu ihm, da ich Furcht hatte vor dem täglichen, dem alltäglichen Leben!

Als ich den Dichter aber kennen lernte,

und er mir so einfach sprach von der »Idealität des realen Lebens«,

und wie man jeglicher Stunde hienieden etwas Besonderes, Zartes, Tiefes, Schönes abzugewinnen die menschliche Pflicht habe, falls man eben genügend Herz, genügend Intelligenz mitgebracht habe in dieses schwierige Leben,

da besuchte ich ihn nie mehr wieder in seinem ge-

fährlichen Dichterzimmer, wo er Ansprüche stellt geistig-seelischer Art, denen wir nicht gewachsen sind,

sondern ich begnügte mich, wie stets bisher, mir

Das aus verehrten Dichtern herauszuho len,

was mir gerade noch in meinen kleinen »Kram« paßt!

In meinen Kramladen des gewöhnlichen Lebens.

Nur frage ich mich seitdem ununterbrochen: Wie kann es Paula Sch., die 20jährige, mit ihm seit zwei Jahren aushalten?!

Hat sie denn nicht bemerkt, daß er ein tyrannischer, unerbittlicher, unnachsichtiger Beurteiler aller unserer Unzulänglichkeiten sei trotz unserer anziehenden Weibchen-Hülle?!

[159] Sie muß Etwas von Beethoven, Franz Schubert, Hugo Wolf, Mozart, Haydn, mitbekommen haben in ihrer Frauenseele,

so daß sie Welten erlebt von inneren Tönen, die uns Anderen trotz allem ewig verschlossen sind!

Stammgäste

Stammgäste eines bestimmten Lokales, in der Großstadt, kommen Einem ein bißchen beschränkt zurückgeblieben, falsch konservativ vor. Aber Stammgäste eines bestimmten Landaufenthaltes sind rührend konservativ und äußerst sympathisch. Vor Ihnen, hinter Ihnen liegen Stationen mit Wäldern, Hügeln, Bächen, Bergen, Seen, nein, sie steigen samt Gepäck und Familie, oft sogar ohne Familie, an einer ganz bestimmten Station aus, und verbringen dortselbst ihren Sommer. Kein Freund kann ihnen den seit Jahrzehnten vielgeliebten, vielgeschätzten Ort »mies« machen durch Berichte über andere Orte. Solange er dorthin hingeht, wo er hingeht, wird Ihm nichts Böses widerfahren. Er kennt jeden Baum und jeden Strauch. Er kennt alle Begrüßungsworte und alle Abschiedsworte und alle Worte dort überhaupt. Rechts geht man dorthin, links wo die »7 Eichen« sich noch nicht vermehrt haben und der »Scheiterplatz« noch »Scheiterplatz« heißt. Die »Kleine Aussicht« ist noch nicht größer geworden, und dort, wo es nach »Mühle« geduftet hat, dort duftet es noch jetzt nach »Mühle«. Zimmer Nr. 7 wird immer für ihn reserviert gehalten, sowie Zimmer Nr. 12 für den Anderen. Man glaubt, man sei der [160] Herr über das Alles. Ist man es denn nicht, da man es tief in seinem Herzen genießt?!

Evolution

Du hinderst mich an meiner Entwicklung – – –

Ihr lächelt, ha, mit 57, ja, jede Stunde seines Seins kann man sich noch entwickeln,

solange Geist und Seele klar-elastisch sind!

Du hinderst mich, in Allem und in Jedem,

zum Beispiel wenn Du bleich zu zittern anfängst wegen der Lisabeta.

»Darf ich Elisabeth also nicht sehen?!« »Oh, Du darfst. Aber ich darf zittern – – –.«

Also darf ich nicht, Elende! Hemmschuh an meinem Rade!

Doch was kannst Du dafür?!

Würdest Du mir nicht von ganzem Herzen meine Freiheit gönnen, wenn Du es könntest?!

Und weshalb habe ich, der Mann, dieses Gehirn des Lebens und der Welt,

nicht vor zwei langen Jahren es nicht geahnt, gewußt, vorausberechnet,

Du würdest, in meinen stahlharten Pranken gefesselt, mich nicht mehr loslassen?!

Dieser heilige Satz des Beginnes von Wag ners »Götterdämmerung«:

Brünhilde: »Zu neuen Taten, teurer Helde, wie liebt' ich Dich,

ließ' ich Dich nicht (fortziehen)?!«

bezieht sich eben nicht auf »andere« Frauen,

[161] sondern nur auf, der liebenden Frau gleichgülti ge,

sogenannte Mannestaten! Ist also ein Schwindel!

Also ist es völlig wertlos, ihm seine Freiheit zu gönnen, wenn es gerade Die nicht sein darf, die man ihm eben nicht gönnt!

Zu neuen Taten, ja, aber nicht zu Elisabeth!

Und eben nur Elisabeth bringt mir neue Kraft!

Die Selbstlosigkeit

Meiner ehemaligen Freundin vom »Apollotheater«, Albine R., bezahlte eine Kollegin jedesmal mittags ein herrliches Essen, schaute ihr auf den Mund, und sagte: »So gut wie bei Dir schmeckt's mir selber niemals? Bitte, nimm noch einen Pudding, mir zuliebe, und dann ein Glas Sherry. Was liegt Dir denn daran, wenn es mir so gut schmeckt, Dir essen und trinken zuzuschauen?! Selber essen ist doch fad und beschwerlich. Verhungern tut man ja eh nur in den seltensten Fällen, Das ist so eine ›Wahn-Idee‹ von den Herren Ärzten! Aber Dir zuzuschauen, wie süß es Dir schmeckt für mein Geld, Das, Das ernährt mich!«

Ideal-Komplimente

»Wissen Sie, mein lieber Herr Peter, mit wem ich Sie am liebsten (bitte sehr!) vergleichen möchte?! Mit dem japanischen Maler Hokusai (sprich: Hoksai) vor 2000 Jahren! Er malte zum Beispiel zwei [162] Enten, und man sah trotzdem einen ganzen Sumpf mit wildem schnatterndem Geflügel! Wie er Das zusammenbrachte?! Nun, wie bringen Sie es zusammen, dieses ›pars pro toto‹?! Der ›Teil‹ für das ›Ganze‹?! Nun, mit etwas Gemüt und Intelligenz und Geschmack, nichts weiter!«


*


»Mein lieber Peter, Alles kann man Ihnen nachsagen, aber weitschweifig sind Sie nicht!«

*


»Sie, pardon, ein Dichter sollte sich doch nicht mit den ›reellen‹ Dingen dieses Lebens beschäftigen, Das tuen wir ja leider Alle selber! Was haben Sie mirdagegen, bitte, zu antworten?!«


*


»Seitdem ich Ihre 50 Skizzen ›See-Ufer‹ gelesen habe, habe ich meinen geliebten Gmundener Seeintimer kennen gelernt, nicht nur oberflächlich wegen Rudern, Baden, und ›Hof-machen an der Esplanade‹!«


*


Ich habe heute Vormittags zu meinem Freunde gesagt: »Lies zuerst die Bücher von Peter Altenberg, und dann werden wir ja weiter sehen, wie Du Dich entwickelst!


*


Architekt Adolf Loos, Wien: »Peter, ich weiß nicht, ob ›Nachfechsung‹ gut oder miserabel ist, ich weiß nur, daß ich jetzt 10 Jahre lang keine modernen Bücher mehr zu lesen brauche. Ich bin nämlich orientiert!«

[163] Karlsruhe

Also 79 Kinder durch Flieger-Bomben gemordet, 74 verwundet, die teilweise mit dem Tode ringen. Vaterlandsliebe ist ein natürlicher Ansporn zu Besonderem. Aber Mord von Kindern aus den Lüften über einer unbefestigten Stadt, ist ein unnatürlicher Ansporn, ein Übriges zu leisten! Ich habe nie daran gezweifelt, daß Frankreich, das sich ohne Grund dem Menschenschlächter-Emporkömmling, dem Ehrgeiz-Korporalchen Napoleon I., begeistert-sklavisch ergab, zu wenigDenk-Hirn mitbekommen habe vom Schicksale, zumal es später dem armseligen Blasen-kranken Napoleon III. seinen öden Ehrgeiz befriedigen half, ich habe also nie an dem Mangel an philosophischer Würde dieser Nation gezweifelt, die bei ihren großen tiefen Lehrern in Philosophie, Wissenschaft und Kunst, gründlich durchgefallen ist bei jeder Lebens-Maturitäts-Prüfung (mich selbst hat die Jahre lange Lektüre der »Revue des deux mondes« besser erzogen zur Lebens-Reife), aber daß sie ruhmvoll über die unbefestigste Stadt Karlsruhe über einen Jahrmarktsplatz Bomben geworfen haben – – – Das allerdings – – – kann mich nicht wundern!

Die Bettlerin

Heute, 3. August 1916, 1/2II vormittags, sprach ich an der Ecke meiner Gasse eine junge bettelnde Frau an, die ich unter anderen Umständen, zum Beispiel in Landluft und Pflege, in 6 Wochen zu [164] einer fabelhaften Schönheit ausgestalten könnte. Sie hatte auf dem Arme ein wunderbar zartes weißschimmerndes schlafendes Töchterchen von 4 Jahren. Ich schenkte der Frau 20 Heller. Später sagte sie: »Mir geht es im Großen und Ganzen nicht schlecht, mein Mann ist im Irrenhaus und meine 4 Kinder sind in der ›Krippe‹ untergebracht, das Mittagessen gebe ich ihnen mit, aber abends schlafen sie bei mir. Ich wasche ›außer Haus‹, ich habe 5 Kronen täglich und die Kost. Aber amFreitag, am Bettel-Tag, stelle ich mich da auf und arbeite nichts, denn meine kleine Johanna ist so schön, daß mir das Betteln mehr einträgt als die 5 Kronen und die Kost. So jung geht meine schöne Tochter schon ins ›Verdienen‹!«

Treulosigkeit

Geliebte, oder Ungeliebte, je nachdem,

Du hältst mich auf in den Erneuerungen meines unruhigen rastlosen Selbst! Du fürchtest mein werdendes Werden!

Du weinst?! Du kränkst Dich?! Du siehst mich Dei nem Zauber vorzubeugen freundschaftslos beflissen?! Nur dem Zauber, der mich leider fesselt!

Was liebtest Du denn an mir, achtetest, ja verehrtest Du einst sogar romantisch?! Meine Wege,

nach irgendwohin anders, stets aber nach aufwärts!

Ja, Marie Susanne, so begann es!

Für mich aber muß es so bleiben und so enden! Enden, um zu bleiben! Also bin ich treu.

[165] Man liebt nicht einen Geigenspieler um seines tiefen Geigens willen,

und später wird man eifersüchtig auf die Geige!

Wer Dich berauscht, Frau, in seinen höchsten Menschlichkeiten, die er zu bieten hat hienieden, nicht nur Dir,

Den darfst Du später, ängstlich zaghaft,

unsicher Deiner eigenen einstigen unbegrenzten Seelenkräfte und Opferfreudigkeiten,

nicht herunterzwingen wollen in das Speisezimmer,

wo der Tisch bequem und einladend für ihn gedeckt ist!

Schreite mit ihm, indem Du ihn allein schreiten läßt.

Und der ewige Schimmer Deiner Märtyrer-Krone

wird sich mit dem Licht vereinigen, bei dem er am Ende seines Weges anlangt ohne Dich!

Premiere [1]

Premiere
»Der Kirschgarten«

Tragikomödie in 4 Akten, von Anton Tschechoff


Lauter Menschen, die sich nicht auskennen im Leben und in sich selbst. Momentane Selbsterkenntnisse und der allgemeinen Lage flüchtiger Dämmerblick! Aber es hilft nichts. Weshalb starrt mein Mädchen den Schauspieler G.F. mit dem Opernglase an?! Spielt er besonders?! Weshalb starrt sie nicht den Schauspieler K.J. an, der besonders spielt, oder den W. St. oder den K.P.?!

[166] Wie gesagt, in diesem tiefen; tief-ernsten Stücke, das gar nicht lustig ist, obzwar es ganz lustig ist, insofern Menschen, die sich nicht auskennen, stets ein wenig tragisch-lustig, bedauernswert-lächerlich sind, nicht?! Also in diesem Stücke »Der Kirschgarten«, weshalb starrt mein Mädchen mit ihrem notabene von mir geschenkten Opernglase unaufhörlich, sage und schreibe »unaufhörlich«, auf diesen Schauspieler G. hin?! Ist er so besonders gut?! Ist J., ist St., ist P. nicht besonderer?! Also lauter Menschen in dem herrlichen Stücke, die dahintorkeln, dahinschwanken, aber niemals den Fuß sicher und elastisch dorthin setzen, wohin er gehört. »Du, meine Liebe, das Opernglas habe ich Dir geschenkt, mißbrauche es also nicht!«

Das Stück hat trotz allem so merkwürdige Zartheiten. Ich ging vor dem letzten Akte weg wegen des von mir geschenkten Opernglases. Ich sagte auf der Straße zu ihr: »Schäme Dich!« Im letzten Akte wird aller Wahrscheinlichkeit nach der alte Kirschgarten, um den es sich dreht, verkauft und abgesägt, um einer neuen Welt, einem Villen-Viertel Platz zu machen. Man soll nur absägen! Und Platz machen! Bravo, ein feines, ein zartes, ein aus dem Leben gegriffenes Stück!

Diebstahl

Ich bin nie bestohlen worden, ich meine inbrauchbaren Effekten, nicht in »literarischen«, aber auch diesbezüglich schrieb jüngst die »Leipziger«: »Viele ahmten ihm nach, aber nicht zu unserem Heile!« [167] Einmal bin ich aber doch bestohlen worden. Man stahl mir meinen neuen Rohseide-Anzug, 90 Kr., den mir Architekt Loos geschenkt hatte. Loos sagte: »Selbstverständlich, nur Den, Deine anderen verrückten Janker kann er ja nicht tragen, da schreit ja die ganze Stadt: ›He, aufhalten, Dös is vom Altenberg!‹« Einmal bin ich bestohlen worden um meine Seelenruhe, die Gans blieb vor jedem Theaterplakate auf der Straße stehen und sagte: »Du, spielt heut' der Fürth?!« Aber kürzlich ist mir etwas passiert, was ich trotz meiner Veranlagung psychologisch mir nicht ganz erklären kann?! Ich habe ein Reise-Besteck in Lederfutteral, Löffel, Gabel, Messer. Ich reise nie, wenn ich aber auch reisen sollte, so brauche ich kein Besteck. Dieses Reise-Besteck war nur für meine Phantasie: Du hast zwar kein Reisegeld, aber ein elegantes Reisebesteck, gerade das luxuriöse Überflüssige des Reisens! Nun, aus diesem Besteck-Etui fehlt mir die zusammenlegbare Gabel. Ich könnte es mir psychologisch erklären: Das Mes ser! Man braucht oft ein Messer, und hat keines, gerade wenn man es braucht, hat man keines. Der Diebstahl ist psychologisch verständlich. Der Löffel! Mein Gott, man braucht auch einen Löffel, zum Beispiel gleich wenn man krank ist, der Arzt sagt: Ein Eßlöffel voll dreimal täglich, morgens, mittags und abends. Auch Das ist noch psychologisch erklärbar. Aber eine Gabel, meine Herren, eine Gabel, wozu nützt eine Gabel allein?! Was will man aufgabeln, ohne Messer?! Ich stehe vor einem Rätsel. Es ist – – ein »neuropathisches« Individuum gewesen. Ich habe Löffel und Messer, ich sollte dem Schicksale [168] danken, daß der Neuropathische mir Löffel und Messer gelassen habe. Aber gerade jetzt, da ich den Verlust beklage, erkenne ich erst den ganzen Wert einer Gabel! Mein Traum einer luxuriösen Reise, die ich nie gemacht hätte, ist zerstört durch die neuropathische Veranlagung eines mir unbekannten Individuums! Wozu braucht man eine Gabel allein, ohne Messer?!

Liebenswürdigkeit

Liebenswürdig sein, sein wollen, sein können, sein müssen, ist für Viele oder eigentlich sehr Wenige, meistens physiologisch Vollkommene (Arme, Beine, Brustkasten, Schultern, Rücken etc. etc. etc.) ganz Dasselbe, wie viele andere organische unentrinnbare Bedürfnisse dieses ziemlich komplizierten und rätselvollen Daseins! Die Liebenswürdige will immer liebenswürdig sein, die gute Stimmung der Anderen, von irgend Etwas Belasteten, aus Eigenem erhöhen oder erhalten, ist so ganz frei von sich selbst, daß sie in der Lage ist, stets an die gute Stimmung der Anderen zu denken, ja, es als eine Art Ehrensache zu betrachten, daß man gerade in ihrer Gesellschaft auf seine verschiedenartigen Lebens-Belastungen plötzlich für Stunden unbewußt fast verzichte! Die Liebenswürdige überschreitet nicht gern die Grenze des allgemeinen, wenn auch ein wenig leidenschaftslosen Beisammenseins. Freilich muß es ihr ein fast unentrinnbares echtes Herzensbedürfnis, wegen nichts und wieder nichts so erfreuend wirken zu wollen, sein, denn sonst ist sie nur eine »Anerkennung [169] einheimsen wollende« lächerliche Gans, die ein angeblich einträgliches, aber tatsächlich sehr ermüdendes und fast ungehöriges unreelles Geschäft mit ihrem sogenannten guten Bekanntenkreise machen will! Edel-einfache liebenswürdige Gutmütigkeit ist durch keinen sogenannten »modernen Willen und Wunsch« zu erzielen, sondern erblühtnur von selbst aus der unbewußten Gnade eines den Meisten feindselig in irgendeiner Art gesinnten Schicksals, das sich schon in einer unidealen Art zu gehen oder ein Lokal zu betreten oder die Arme aufzustützen, unbewußt der eigenen armseligen Seele ununterbrochen dokumentiert und sie infolgedessen schwer belastet! Ja, sie demütigt vor sich selbst! Die Liebenswürdige will nach allen Seiten hin ununterbrochen geben, spenden, die allgemeine fade Stimmung erhöhen, und freut sich über den eventuellen Erfolg wie über einen eigentlich ganz unverdienten Sieg ihrer süß-kindlichen Persönlichkeit! Sie geht weg, und ist zufrieden, reell zufrieden, obzwar Niemand und sie selbst es am wenigsten weiß, weshalb, wodurch und wieso?!?

Am unangenehmsten ist es ihr, wenn sie auf dem nach-Hause-Wege sagen muß: »Dieser K. war heute den ganzen Abend lang so merkwürdig verstimmt, so in sich selbst verschlossen! Was dem armen Kerl nur gefehlt haben mag?! Vielleicht übrigens hat er Schulden!«

Natters

Du lebst nun, seit März 1918, in Natters, Paula, in diesem idyllischen Tiroler Gebirgsdorfe an einer [170] elektrischen Bergbahn, hast zwei Holz-Balkone, Milch, Butter, Eier, Käse, Niemand stört Dich in Deiner fanatisch-zärtlichen Natur-Liebe.

Du hast's erreicht, Paula!
Fernab von allen Vorurteilen aller der vorurteilsvollsten Frauen,
hast Du die grausamen Stürme Deiner Dichter-Anbetung überwunden,
und erlebst nun den Frieden, den Du Dir reichlich entsagungsvollst verdient hast!
Heil Dir, Paula! Die Qualen meiner
zahlreichen und unnötigen Ungerechtigkeiten
gegen Dich begleiten Dich segnend,
wenn auch nicht aus bereuendem Herzen,
so doch aus tief ergriffenem!
In »Natters« lebst Du jetzt, in dem kleinen Tiroler Bergdorfe,
hast zwei Holz-Balkone, und der Sturm kommt von ewigen Schnee-Firnen
und kann Dir nichts anhaben!
Die grausamen und unnötigen
Stürme mit dem alten unbequemen Dichter
sind vorübergezogen.
Friede ist in dein verehrtes Dasein eingezogen. Meine Einsamkeit segnet Dich, Paula, in Natters!

Das Fenster

13. Januar 1918. Sonntag. Es ist ein weißgraues schmutziges viereckiges Fenster über alten braunen Blechplatten. Gelb-rote Äpfel von nicht besonderer Qualität, sondern im Gegenteile, sind [171] darin in drei Etagen aufgeschichtet. Scheinbar ist das Zimmer leer. Und dennoch welche Schicksale hinter diesem düsteren Wuste von Unzulänglichkeit! Aus den Äpfeln wird Kompott gemacht, fade, ewig gleich schmeckend, meistens zu wenig pikant-säuerlich, oder der belastende Apfelstrudel, oder, dem Ideale schon näher gerückt, Apfelmus. Die Fensterrahmen könnten gewaschen und angestrichen werden, aber wozu?!? Die »Schicksale« hinter dem Allem, dieses ganze Lebens-Nirvana, darum handelt es sich!

Das Interesse

Gestern, Sonntag, 13. 1. 1918, da ich mit gebrochenem linken Arme und eingeschlagener Schädeldecke dasaß, erkundigte ich mich bei meinem heiligen mich besuchenden Bruder Georg, nach drei Jahren zufällig, wie denn unser genialer Vater in seinem 83. Jahre, ohne je eine Sekunde lang krank gewesen zu sein, gestorben sei.

Er habe in der Nacht die blauen geliebten Hausschuhe angezogen, und beim Bücken sei ein Äderchen im Gehirne gerissen! Am nächsten Tage steckte man ihm seine geliebte unentbehrliche Zigarre (Trabukko) zwischen die Finger, und er führte sie, ohne zu rauchen, mechanisch zum Munde und zurück, obzwar sie gar nicht angezündet und gar nicht genußfähig war!

So also stirbt ein allerbester, eigentlich fehlerloser Mensch, der nie im Leben eine Sekunde lang krank war. So stirbt ein »Sündeloser«, amen!

[172] Schwangerschaft

Nun also bist Du schwanger, Paula, von Deinem Manne,

nachdem Du fünf Jahre lang bräutlich Dich von mir verehren ließest in Deiner nie gewesenen und nie mehr kommenden Persönlichkeit!

Ich wußte, Wer Du warst, und daß in

dieser Welt die Demut Deines Geistes

nicht mehr zu finden sein werde!

Nun gehst Du, Paula, den Weg, den Alle gehen,

es wäre denn, daß sie vorzeitig an Tuberkulose oder anderen Dingen zugrunde gingen!

Ich wünsche Dir ein leichtes Wochenbett,

und mögest Du dem hoffentlichen Töchterchen

Alles Das ersparen, was mir und dir

hienieden nicht erspart worden ist!

Du gehst nun, Du mußt nun den Weg geh'n,

den Alle gehen, die nicht gerade den Mut haben,

zugrunde gehen zu wollen auf irgendeine außergewöhnliche Art!

Ich wünsche Dir ein leichtes Wochenbett,

und in dem ersten Lächeln deines Kindchens einen Schimmer von

Allem, was wir miteinander durch Jahre erlebt haben, Paula!

Prothesen

Ich habe soeben heute Sonntag, 23. 12., vom Spital-Chef der Prothesen-Abteilung in der Invaliden-Schule, Oberstabsarzt Dr. Hans Spitzy, einen Essay [173] über die laienhaft absichtlich übertriebene Verhimmelung der »modernen Prothesen« gelesen, der mir als Laien endlich den Mut gibt, meine Ansicht darüber auszusprechen. Ich nehme selbstverständlich alle Jene dabei sogleich aus, die aus irgendeinem mir unbekannten Grunde Bein-Prothesen (dauernde Stützpunkte) benötigen in ihrem Berufe. In jedem anderen Falle ist die Bein-Prothese nur ein neuerlicher schnöder Beweis des Schrecklichsten im Leben, der stupiden menschlichen Eitelkeit! Und auch der Erwerbsucht gewisser Fabrikanten und Händler! Durch den Verlust eines Beines wird das Gewicht des Organismus um so und so viel Kilo verringert, also der »Kampf gegen die Materie« erleichtert! Ich selbst verpflichte mich, in sechs Wochen bis zwei Monaten, mit Hilfe hohler Bambuskrücken michohne rechtes und ohne linkes Bein viel elastischer und viel anstrengungsloser, also entmaterialisierter, also menschlicher, fortzubewegen als bisher! Ich habe übrigens eineneinzigen solchen jungen Offizier vor acht Tagen auf dem »Graben« gesehen, der außer mir, dem »Sandalen-Gänger«, allen feinen Herren und Damenostentativ es bewies, daß er mit einem linken Beine und zwei herrlichen Bambus-Krücken viel elastischer, zarter, edler, menschlicher schreite, wie alle sich mühselig Dahinschleppenden! Die sogenannten, ha ha hi, Normalen! Wenn man dem geliebten Vaterlande ein Bein hat opfern müssen, hat man es nicht nötig, dasedel – nicht vorhandene in Hose und Stiefel zu verstecken! Der auf irgendeine Weise zu Schaden [174] gekommene geniale Organismus hat die menschliche Verpflichtung, Alles wieder auf irgendeiner anderen Seiteauszugleichen, nicht aber aus stupider Eitelkeit es zu versuchen, mit Jenen noch zu konkurrieren, die zufällig besser situiert sind! Bein-Prothesen sind, außer in Berufs-Angelegenheiten, eine verbrecherische, aus stupidester menschlicher Eitelkeit, also von Teufels Ungnaden aus, entsprungene gefährliche absolut unnötige Belastung der Materie. Wer in der Schlacht Das erlitten hat, was er erlitten hat, wird auch in wenigen Wochen auf Bambus-Krücken hoffentlich eine Parter re-Akrobaten-Elastizität erlangen können! Auf ein halbes Beinkleid und einen Schuh kommt es im wirklichen Leben Gott sei Danknicht an! Oder doch?!? Die »Intellektualität« des Gehirnes hat ausschließlich dazu ausgenützt zu werden, der so kompliziert-genialen Lebens-Maschinerie bei jeweilig veränderten äußeren oder inneren Umständen sofort zuhelfen und ihr für verlorengegangene Energieenganz neue in neuen Sphären zu verschaffen! Auf seinen bisher gewohnten oder zufällig gegebenen Verhältnissenhartnäckigstupid-verbohrt bestehen, ist ein schmähliches Geistes-Armuts-Zeugnis, das man seinem eigenen adeligen Herrscher »Geist« selbst ausstellt! Pfui über alle konventionell-bourgeoisen Prothesen in irgendeiner Sphäre seines Lebens! Für verlorengegangene Energieen der Lebens-Maschinerie schaffe das Genie »Gehirn« sofort 10000 neue, ja bessere, vollkommenere! Die »Materie« kann nie beschädigt werden, solange der »gute Geist«, nein, der richtige [175] Geist über sie wacht! Man kann sterben, aber nicht alt werden! Das sind sich selbst ausgestellte Armuts-Zeugnisse! Das sind »Stoffwechsel-Lähmungen«, eine Art von »geistiger Zuckerkrankheit«! Prothesen sind Versuche, ohne die Macht des Geistigen in uns, über irgendeinen Defekt maschinell hinüberzukommen! Etsch! Anpassungs-Fähigkeit ist Alles, hoch Darwin!

Mord

»Herr Peter Altenberg, jetzt bin ich aber wirklich recht neugierig, wie Sie mir diesen Fall der ermordeten jungen schönen Frau durch eine ehemalige Kollegin, Choristin, in Ihrer mich immerhin interessierenden hochmodernen oder sogar abnorm aparten Art irgendwie erklären werden!«

Nichts einfacher als Das, mein lieber Herr! Man hat eben nicht fast absichtlich mit Leutenfreundschaftlich (ha ha hi hi hia!) zu verkehren, um sich nur an ihrem bösen, also ungerechten Schicksale zu weiden, und sein eigenes, ebenso ungerecht vorteilhafteres, dadurch, durch den Kontrast, erst als besonderes Lebensglück zu empfinden, während man sonst seine Wohnung, seine zwei Dienstboten, seine »Fetzen« (vulgo Kleider), seine Ringe, seine allerhand blöden Überflüssigkeiten, selbstverständlich nicht von selbst als etwas Besonderes empfände! Man verkehrt also als »zufällig hochgekommene Choristin« mit Einer aus demselben Stande, um sich durch ihr Unglück erst am eigenen Glücke so recht erfreuen [176] zu können, sichweiden sogar zu können! Fern sei es mir, die Hackenschläge der vom Leben in die Ecke gedrückten unglückseligen Choristin irgendwie menschlich auch nur erklären zu wollen, pfui Teufel,

aber mit »Enterbten dieses Lebens«angeblich freundschaftlich verkehren zuwollen, um ihr Unglück so recht zu genießen, finde ich auch nicht gerade überaus menschlich anständig! »Enterbte des Schicksals« sind immerhin naturgemäße Gefahren für Die, die irgendwie zufällig hienieden »geerbt« haben! Als der ex-officio-Verteidiger der Unglücklichen, Irregeleiteten, Das gelesen hatte, dachte er: »Ach was, Quatsch, Unsinn! Unausgegorene Philosophie eines Lebens-Unkundigen! Aber einen guten Typ hat er mir gegeben! Na, wie meint er also?! ›Es ist immerhin mit gewissen Gefahrenmöglicherweise verbunden, wenn Menschen, die in gleichen Stellungen hochgekommen, sich absichtlich freundschaftlich (ha ha ha!) an Solche, die zurückgeblieben und gleichsamverstoßen sind hienieden, heranmachen, um ihr eigenes Lebensglück dadurch tausendfacherst zu genießen! Es erzeugt mit der Zeit Verzweiflung, tödlichen Haß undRache!

Meine Herren! Tout comprendre c'est toutpardonner; das ist natürlich eine jener exaltiert-übertriebenen Phrasen der Franzosen, des französischen Geistes! Aber sagen wir Gemäßigteren mit einer gewissen verantworteten Gerechtigkeitsliebe: Alles Verstehen heißt wenigstens ein bißchen milde dadurch werden, und wenigstens Etwas davon verstehen! Meine Herren,Verzeihen ist in gewissen Fällen eine feige Gemeinheit, [177] aber Erklären ist die Betätigung eines richtig funktionierenden Gehirns, das rundum undum denkt!«

Plauderei

Der wirkliche Mensch lächelt nie in Gesellschaft, bei welcher Gelegenheit immer, Alles ist ihm eben tragisch ernst, merkwürdig, mysteriös und desneuen Erkennens, das bisher jedesfalles unzulänglich war, wertvoll. Er verliert bei jeder möglichen Gelegenheit seine sogenannten gut fundierten historischen Vorurteile, in jeglicher Beziehung seines Erkennens bisher, und gesteht wie ein edler talentierter Schulknabe, daß er sich darin und darin vollkommen bisher geirrt habe! Alle seine bisherigen Anschauungen über alle Dinge dieses Lebens werden über den Haufen geworfen, ja, als arteriosklerotische Bequemlichkeit verdammt, und er strebt mit neuen Frühlingskräften einer vollkommenen Regeneration seiner bisherigen geistig-seelischen Vorurteile zu, um, solange er lebt, dasschauerlich-stupide Gleich-bleiben seines verfluchten Alt-werdens zu überwinden! Seine »verfluchte« Historie in ihm! Der an dem Historischen seines eigenen Lebens und der ganzen Menschheit stoffwechsel-erlahmte Mensch ist kein Mensch mehr, sondern versucht es, notwendigerweise, den Karren irgendwie im Sumpfe steckenzulassen!Nur der Organismus, dem jeder neue frische Morgen wenigstens Veränderungen in jeglicher Beziehung in Aussicht stellt, ist ein Mensch. Die Anderen sind alle stoffwechsel-erkrankte Arteriosklerotiker, denen ihre [178] falsch-bequemen Gewohnheiten Lebens-Gesetz geworden sind. Wer nicht des Morgens Alles umstürzen, verändern, verbessern kann, was die alltäglich trägen Tage in sein Gehirn bisher eingenistet haben, ist kein Mensch! Er ist ein falscher Philosoph und redet sich auf die für den modernen Geist verderbliche »Historische Entwicklung« aus, die nur der arteriosklerotischen, stoffwechsel-lähmenden Bequemlichkeit eines denk-faul gewordenen Gehirns bequem geworden ist! Der wirkliche frische Organismus läßt jeden Morgen alle seine bisherigen Irrsinne, Irrtümer, Vorurteile, historische Bedenken, rücksichtslos hinter sich, und beginnt sein neues Leben mit ganz neuen bisher ungeahnten Kräften! Seine Menschenliebe und seine Verachtung aller Beschränktheiten hienieden haben sich maßlos vertieft und verändert, und Niemand ist mehr imstande mit den verbrecherischen Mitteln der sogenannten »historischen Logik«, etwas Falsches als etwas Richtiges ihm aufzuschwatzen! Sein Gehirn hat seinen eigenen richtigen Weg über Nacht gefunden, und ein teuflisches Hohnlachen begleitet die Auseinandersetzungen, durch die seine sogenannten wohlmeinenden Freunde ihn wieder auf den rechten (also unrechten Weg) zu bringen suchen!

Er war »unser«, ist ein verbrecherisches Zeugnis eines Idioten, der sich feigerweise von der Herde irgendwie bestimmen ließ, ihr wenigstens teilweise Konzessionen zu machen! Nach den idealen Plänen Gottes, die in unserem Geiste, unserem Herzen eingewurzelt sind, von Schicksals Gnade oder Ungnade, bestimmt sich unser Leben, und die Anderen werden Gott sei Dank vergeblich mit ihren [179] angeblich vollbegründeten historischen Vorurteilen uns niederzwingen! Ein einziger Telegramm-Satz eines wohlorganisierten modernen Gehirnes kann den ganzen düsteren Wust Jahrhunderte langer Vorurteile zerstören, aus der modernen Welt schaffen! Der »philosophische Historiker« ist ein unglückseliger Stoffwechsel-Erkrankter, der seine eigenen Regenerations-Unfähigkeiten der jungen frischen ewig regenerationsfähigen Welt frech-perfid aufdrängen möchte, weil er selbst aus seiner geistig-seelisch gelähmten Natur sich nie mehr befreien kann! Er sieht Menschen beschämt-verzweifelt als Halb-Narren an, die elastischer sich bewegen als er selbst, und gönnt es einer jungen Frühlingswelt nicht, daß sie über sein »Altern« zur Tagesordnung übergehe!

Gewiß gibt es gefährliche, verderbliche, hochstaplerische, wertlose, eigenmächtige »Stürmer und Dränger« in der besonders modernsten Literatur. Aber man kann sie mit einem geschickten Griffe einer wirklich intellektuellen Pranke abwürgen, vernichten. Während die »Historiker« angeblich die dumme Legion von Jahrhunderten hinter sich haben, und sich hinter Namen verschanzen, die uns nichts mehr bedeuten als freche Stupiditität! Es gibt noch immer eine Menge von unbestraften Verbrechern, die ihre alten Teppiche, Vorhänge, Möbel, auf die Straße, also in die heiligen wertvollen Lungen der Passanten mit aller Kraft herabklopfen! Schwere Geldstrafen für die »Kriegsblinden« würde Das momentan ändern können! Aber Niemand nimmt sich Dessen an, weil die Lunge eines Menschen erst berücksichtigenswert ist, bis sie zerstört [180] und vernichtet ist!Principiis obsta! Vergebliches Wahrwort seit Jahrtausenden, schade!

Krebs und Zuckerkrankheit sind nicht heilbar. Aber um die Anfangsstadien dieser Geheimnisse des zerfallenden Organismus kümmert man sich nie. Hoffnung, stupideste Hoffnung, ist das Einzige, was man spendet. Zum Schlusse freilich alarmiert die Familie den völlig unschuldigen »Spezialisten«, erwartet von ihm für Geld unmögliche physiologische Wunder! Und seine vergebliche Pflicht wird gut honoriert. Der angeblich Gesunde interessiert die angeblich besorgten Freunde nicht, sie wollen wenigstens einen »lebenden Leichnam« vor sich sehen, der für Geld der »Kunst der modernen Ärzte« vertrauensvoll in letzter Minute ausgeliefert wird! Ein Zahn wird erst plombiert, bis er wehtut, obzwar er gerade bereits dann plombiert werden müßte, bevor er überhaupt wehtut! Das ganze Leben besteht aus solchen kleinen großen Verbrechen, und Die daran verdienen, sind nicht gerade meiner besonderen Wertschätzung würdig! Principiis obsta!

Los

Sie ist froh, daß sie ihn »los« ist.
Das ist so einfach und verständlich und
ohne besondere Komplikationen.
Sie ist froh, daß sie ihn »los« ist.
Der »Andere« ist weder besser noch schlechter,
aber er verschafft ihr ein bequemeres
müheloseres Dasein!
[181] Was hat man davon?! Nichts.
Nur Die, die etwas davon haben,
haben etwas davon, bequemer zu
vegetieren, pfui!
Ihre Nerven haben nicht die Kraft zu verbluten
für Ideale der eigenen Seele,
Gott sei ihnen gnädig für ihre unheiligen gesunden Bedürfnislosigkeiten!

Individualität

Individualität ist Das, was, in bezug auf Beurteilung und Gerechtigkeit, den Menschen am entfernsten liegt, am schwersten fällt, und ihnen am gleichgültigsten ist, obzwar es im Verkehre das Allerwichtigste ist, um jederzeit seelisch-geistige Abgründe zu überbrücken! Sitzt Jemand abends friedevoll bei weit geöffneten Fenstern und liest, sagen wir z.B. Boz-Dickens, und ist von einer stillen, wenn auch bescheidenen Freude erfüllt, so sagt ihm unbedingt irgend Jemand: »Sie werden sich schon noch einen schweren Lungen-Katarrh zuziehen mit Ihren geöffneten Fenstern!« Obzwar er gerade dadurch ihn vermeidet und der Andere sich ein Beispiel nehmen sollte!

Krankheit

Morgen kommt meine Schwester. Nahe Verwandte sind in ihrem eigenen Walten eingesponnen, eingekerkert. Sie betrachten alles andere, wenn [182] sie auch noch so momentanes Mitgefühl empfinden, als eine Sache, die sie eigentlich nichts angeht und von ihren wichtigen Lebensdingen ablenkt! Irgendetwas kapiert sie und der kranke Bruder lenkt sie ab von ihrem natürlichen Leben! Es ist jene organische fast mystische Konzentration auf den Kranken nicht mehr vorhanden oder allmählich verlorengegangen, die der kranke Organismus unbedingt für seine Heilung egoistisch erfordert. Besuche schwächen ihn, und Blumen zwingen ihm ein liebenswürdiges müdes Gequältes ab.

Ich will, nein, ich kann ohne meine Freundin Alma Pt. nicht existieren. Ich bin nicht in sie verliebt, ich bin nicht eifersüchtig, ich gönne sie von ganzem Herzen einem Jeden. Aber ich kann unmöglich ohne sie leben. Ich verwerfe, ich verzehre mich selbst in Lebens-Melancholismen, halte Alles für unnatürlich und lächerlich und eines vernünftigen Menschen vollkommen unwürdig. Meine Kleider und die verschiedenen zahlreichen Zustände, die zur sogenannten bürgerlichen Nettigkeit gehören, interessieren mich nicht. Mich interessiert nur sie und ihr Lebensglück. Auch eine Art von fixer Idee wahrscheinlich. Ich habe so einen leidenschaftlichen rastlosen ununterbrochenen Drang, mich ununterbrochen mit ihrem Lebensglücke zu beschäftigen, sei es, daß ich ihr besonders bequeme rehlederne Handschuhe kaufe, sei es, daß ich ihr Zimmer selbst mit Holzkohle süß heize. Ihre Dankbarkeit interessiert mich nicht. Mein Bedürfnis, für ihr Leben irgendetwas zu leisten, sei es auch nur besondere Zahnstocher oder Zündhölzer, befriedigt mich voll und ganz. Dank wäre für mich eine [183] unangenehme Banalität, die mich »degradieren« würde. Aus freier Entschließung will ich helfen, wie, wo ich es vermag.

Mein Gefühl, ihr irgendwie geholfen zu haben im schwierigen Leben, ist meine tiefste Belohnung. Alles Andere halte ich für ein lächerliches – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Schule

Die Menschen wollen seit 20 Jahren nichts für ihr eigenes Leben von mir lernen, obzwar sie es in meiner Gesellschaft gerade leichter sogar könnten als durch eine Weltreise. Nein, sie versuchen, ängstlich-empört, sich in ihr geistig-seelisches Leben, das sie absolut nicht besitzen, vor mir und meinen geistig-seelischen Gerechtigkeiten und Vorurteilslosigkeiten zu erretten, und meinen in tiefen Leidensjahren errungenen Erkenntnissen die Flachheit ihres »nicht-erleben-Könnens« als Schild gegen mein unerbittliches Schwert der Erkenntnis entgegenzuhalten! Gegen Vorurteilslosigkeit gibt es keine Waffe wie ganz vorurteilslos zu werden!

Lebensführung

Beethoven sagte kurz vor seinem Tode: »Ich halte mich für den unglückseligsten aller Menschen!« Ich glaube bestimmt, daß Franz Schubert und Hugo Wolf ganz Dasselbe empfanden. Von anderen Geistern gar nicht zu sprechen. Lauter echte Selbstmord-Kandidaten [184] ohne die geringste Fähigkeit dazu! Morgens erwachen, sich waschen, sich umziehen, irgendetwas unternehmen, ohne Ehrgeiz, ohne Bedürfnis, auf die Wanduhr ängstlich blicken, bis es 10 Uhr abends wird, aber es wird so bald nicht. Es fehlen Zündhölzchen, Seife, Zigaretten. Es fehlen wichtige Wäschestücke und Alles Alles muß bezahlt werden. Dabei gehen zugleich im Inneren die schrecklichsten und eigentlich stets dieselben Dinge vor. »Wozu denn das Alles?!?« Das »Personal« in unserem Hotel denkt an alle diese Dinge nicht. Sie arbeiten von 6 Uhr morgens bis 11 Uhr nachts. Und ihre Gespräche sind biblisch einfach. Nie eine besondere Aufregung über irgendetwas Besonderes. Immer nur nichtige unwichtige Kleinigkeiten. Und immer die gute Laune fleißiger von sich völlig abgelenkter Menschen. Aber Beethoven sagte kurz vor seinem Tode: »Ich bin der unglücklichste aller Menschen!« Wahrscheinlich dachten ganz dasselbe Franz Schubert, Hugo Wolf etc. etc. Wie merkwürdig belohnt sich »innere Bedürfnislosigkeit«. Aber belohnt sie sich denn wirklich?!? Keineswegs. Man tappt im Dunkeln seiner eigenen Tage, bis es irgendwie zu Ende geht. Das Nicht-Bedenken ist ein ununterbrochenes Denken über das Nicht-Bedenken alles seines unnötigen Seins!

Modern [1]

Modern

Die meisten jungen schlanken Frauen mit zarten Gliedern und Stumpfnäschen glauben, daß sie einen »P.A.-Typus« repräsentieren. Und obzwar sie in [185] jeder Beziehung versorgt und behütet sind, würde es dennoch ihr »Selbstbewußtsein« erhöhen, steigern, und ihrem Lebens-Tonus in irgendeiner Art zugute kommen! Ja, aber sie ahnen nichts von der mysteriösen Anziehungskraft für das Künstler-Auge ihrer Schulter-Bewegungen, ihrer Arm-Bewegungen, ihres Sitzens, sich Vor- und Rückwärtsbeugens und des mystischen Blickens ihrer verträumten ins Leere spähenden, süßen Augen! Was sie ewig anzieht, rührt, tief sympathisch macht, ist nicht ihr konstitutionelles, lieblich-anmutiges Äußere, sondern das Mysterium einer unbewußten Bewegungs-Genialität oder Ruhe-Genialität, das zum »Niederknieen« oder »Anbeten« unbewußt den Mann drängt! An und für sich sind sie gewiß sehr nette, zarte, liebliche Geschöpfe, aber das Gefühl, in der Nacht für sie nach Haus zu rennen, um ihnen eine für sie gerade wichtige oder angenehme Zigarette zu bringen, lösen sie eben nicht aus.

Unsere »romantischen Empfindungen« lösen sie nicht aus, erzeugen kein Gefühl, für sie wenigstens eine Stunde lang sich aufopfern zu wollen, sich selbst zuliebe. Sie sind ganz nett und treu dem, der für sie gerade liebevoll sorgt, aber das Mysterium ihrer geheimnisvollen Anziehungskraft, das spüren sie nicht. Der »ideale Schwung« in ihrem Leben, das sonst ganz gut versorgt ist, Das »poetisch-romantische« fehlt ihnen, wie der Sauerstoff der Lunge, sie leben dahin, aber die Edel-Emotion fehlt ihnen, die sie zu süßen beweglichen Kätzchen machen würde. Bei aller dankbaren Anerkennung des Gegebenen haben sie ewig die belastende Frage: »Mein Gott, ist das Alles also wirklich schon Alles?!« [186] Sie leben unter dem Drucke befriedigter notwendiger und angenehmer Bedürfnisse dahin, aber das »Juhu« des Bergalmsteigers ist nie in ihnen. Ihre Tage gehen sorgenlos gleichmäßig dahin, und das Altern überrascht sie nicht, da sie es als etwas Notwendiges ununterbrochen vorausahnen. Jemand, der ihre Serviette, mit der sie ihr Mündchen abgewischt haben, heimlich einstecken würde, würde sie verjüngen, beleben. Aber wozu?! Weshalb Komplikationen?! Ruhestörungen eines bequemen Friedens?!? Muß man denn ewig »jugendfrisch« sein, man kann ja auch »gesetzt« werden und vernünftig. »Was mir fehlt, ist vielleicht Karlsbad, Marienbad, Teplitz, Franzensbad, Nauheim!« Nein, Dir fehlt Sehnsucht, Melancholie, Hoffnung, Erwartung, edle Selbstlosigkeit. Aber lassen wir Das. Nicht Jede wagt es, ihre Seele in Bewegung zu versetzen. Es ist riskant und unbequem. Gesicherte Ordnung ist auch eine Art von Gesundheit, wenn auch eine ziemlich ungesunde! Ist denn durchs Leben zu tänzeln nicht gefahrvoll und strapaziös?! Im bequemen Lehrstuhl ein gutes Buch zu lesen, ist gefahrloser und besonders für die Anderen. Zu »tanzenden, hüpfenden, ewig sehnsüchtigen Seelen« gehören eine Menge exzeptioneller, ja genialer Voraussetzungen. Man geht seine Wege, macht seine vielfachen Kommissionen, spricht mit Dem und Jenem, und sagt sanft zu seiner romantischen Seele: »Meine Liebe, überlasse Das gefälligst den Anderen, für Dich hat das Leben leider Gott sei Dank keine gefährlichen Probleme! Ordnung sei also Deine bequeme Lebens-Devise!«

[187] Worte

Eines der schrecklichsten Worte der bürgerlichen Gesellschaft ist: »Ja, sie ist eine Selbstmord-Kandidatin!« Wenn also Jemand durch alleEnttäuschungen dieses direkt »unheiligen«, barbarischen, unnötig grausamen Lebens die Lust an dieser Art von Dasein endlich verliert, gegen seinen Willen und Wunsch, dann erhält er oder sie von der bürgerlichen Gesellschaft, die sich ebendafür rächt, daß sie diesen Saustall »Leben« bequem oder selbstverständlich demütig-ergeben erträgt als eine einfach »gegebene Sache«, den Ehrentitel: »Ja, sie ist eine Selbstmordkandidatin, sie ist den Erfordernissen dieses Lebens eben nicht gewachsen!«

Gott sei Dank ist sie anders gewachsen!

Und läßt sich nicht biegen und brechen, aus »ökonomischen« oder »sozialen« Gründen, sondernbegehrt innerlich auf, mit oder ohne Tränen, und verzichtet anständig-ehrlich darauf, sich irgendwie einreihen und einordnen zu lassen! Wohin sie Gott sei Dank nicht gehört!

Wehe allen Jenen, die in irgendeiner Form nachgeben! Gott und Natur und inne res Schicksal straft sie nachsichtslos, wenn auch erst nach Jahrzehnten, für ihren heimtückischen Abfall vom eigenen Lebens-Idealismus! Sie gehen zugrunde, ohne es selbst direkt zu spüren; ihre eigenen von ihnen im Stiche gelassenen Lebens-Ideale erwürgen sie langsam,unmerklich, und Niemand, außer der Dichter, ahnt es, woran sie altern, verfallen, und zugrunde gegangen sind!

[188] Erlebnis

Jedem erscheint sein merkwürdigstes Erlebnis seines Lebens als das allermerkwürdigste dieses ohnedies schon genug merkwürdigen Lebens! Aberwährend er es, anfangs ganz bei der Sache, ziemlich mit der merkwürdigen Erinnerung an die merkwürdige Begebenheit seines Lebens beschäftigt, sachlich oder romantisch ausgeschmückt, berichtet, merkt er es unwillkürlich, daß es nicht nur nicht auf die Anderen gar keine Wirkung ausübe, sondern vor allem keine auf ihn! Er spricht sich infolgedessen in eine unangenehme heiße zudringliche Ekstase hinein über einen wertlosen, nichtssagenden Spezial-Fall seines nichtssagenden, gänzlich unspeziellen Lebens, und bemerkt zugleich immer mehr, daß das Ganze eine für Alle, aber besonders für ihn selbst nichtssagende Begebenheit war, die sein in Jedem befindlicher »immanenter Größenwahn« zu etwas »Besonderem im Leben« aufgebauscht hatte im Laufe der faden Jahre! Und Das er nun an die Anderen so teuer als möglich (ha, ist es denn möglich?!?) anzubringen sucht!

Vor Weihnachten

Gott, fast jeder Mensch ist ein Dichter,
Spieler und Sammler von irgend Etwas ganz natürlich ausgenommen,
denn Das sind überhaupt noch keine »menschlichen Gebilde«,
aber sonst ist fast ein Jeder,
[189] eine Jede, stumm ängstlich-verlegener Dichter, behalten es bei sich, in sich,
überlassen das laute Kundgeben
den leider unberechtigt, frech protokollierten Dichter- Firmen!
Du siehst z.B. bei einer Blumen-Frau am »Hofe« hellgrüne Leimmisteln.
Sogleich erinnerst Du Dich an Deine
Kinderzeit und die Spaziergänge im leeren Prater mit Leimmisteln an
alten, dicken, morschen Baumästen!
Aber darfst Du denn darüber ein
endgültiges, deine Seele erleichterndes Gedicht fabrizieren?! Keineswegs.
Leimmisteln an alten, dicken, morschen Baumästen,
haben für Dich, Tätigen des Lebens, keine beson dere Wirkung auszulösen!
Der Dichter wird es Dir schon mitteilen,
wie Du Leimmisteln an dicken, morschen, alten Baumästen im leeren Prater
zu beurteilen hast, auf daß es Ihm
zugute komme und nicht Dir!
Erdenwurm, kümmere Dich um Verdienen und Eroberung von Frauen, die man er obern kann,
überlasse daher gefälligst der Leimmisteln
unscheinbare Vor-Weihnachts-Pracht
Jenen, deren Geschäft es ist,
sie besonders zärtlich zu besingen!
Nicht Jeder hat das Recht, sich mit hellgrüner
Leimmistelpracht vor Weihnachten
intensiv zu beschäftigen!
Man hat sie zum »Weihnachts-Strauch« erhoben,
Das genüge Dir, folge der Parole!

[190] Verkehr

Merkwürdig, daß die meisten Menschen es nichtfühlen, spüren wollen, daß man mit ihnen nichts, gar nichts, zu tun haben will, am allerwenigsten mit ihrer sogenannten anregenden konventionellen Konversation! Man wird dadurch, sei es in noch so liebenswürdig-fader Art, vom eigenen Ich, vom eigenen verzweifelten Sein, von allen echt krankhaften Zuständen seiner enttäuschten wertvollen Seele absichtlich-gewaltsam abgelenkt, gewinnt dadurch scheinbar eine Art von heimtückischer Lebens-Fähigkeit, überbrückt scheinbar dadurch seine Lebens-Abgründe, die durch nichts aber überbrückbar sind! Man betrügt sich selbst! Helfen können sich nur Menschen, die sich wirklich helfen wollen, ja, die ihre eigene Ehre darin empfinden, Heilands-mäßig, wenn auch in kleinem beschränkten Kreise, wirken zu wollen! Die »Snobs«, die auf die Anerkennung der Anderen lauern, wie auf eine »seelische Beute«, sind von dieser Lebensführung für ewig ausgeschlossen. Selbstlosigkeit ist gar nichts, aber an seiner eigenen Selbstlosigkeit seinen tiefsten seelischen Profit zu haben, Das ist Alles!

Erster Schneefall

Merkwürdig ist das Leben.

Wieder ein erster Schneefall, der Alles in Erstaunen setzt!

Die Zeitungen besprechen die weiße flockige, leichthin schwindende Decke auf alten

[191] rotbraunen Dächern, und eben dort, wo sie noch leichthin flockig liegt.

Noch eben war es rotgoldener Herbst.

Noch glaubte man, und schon glaubt man nicht mehr. Man hätte niemals glauben sollen!

Die Winter-Gewandungen sind noch zu schwer, zu lastend, zu überflüssig,

die Herbst-Mäntel jedoch wehen Dir zu flatternd um die Hüften.

Paula ist in Innsbruck verheiratet,

bestaunt die weiße Nordkette, die herabblinkt

auf den breiten Stadt-Hauptplatz.

Anspruchslose finden sich zurecht im

ewigen gleichen faden Hin und Her des Lebens.

Doch gibt es Seelen, nein, Geister,

die, nach vorwärts strebend, aufwärts,

Gleichmäßigkeit als stetige Selbstver giftung,

Intoxikation, empfinden! Als Vernichtung!

Wenn nichts Besonderes vorgeht,

gibt es nichts Besonderes,

wozu dann überhaupt Deiner Seele reiches Maß?!?

Bist Du zufrieden mit dem kargen Bißchen,

»noch keinen Magen-Krebs haben«?!?

Wie wenig Überflüssiges, Überschüssi ges, Besonderes, schenkte Dir da Natur in ihrer Sommers-Überpracht,

wenn Du mit Deinem kriecherischen

feig erbeuteten Frieden Deiner allzu

gleichmäßigen Tage Dich endgültig zufrieden gibst?!?

Wieder ist ein »erster Schneefall«, 3. 12. 1917,

und die braunroten alten Dächer werden leichthin flockig weiß, lange hält es nicht.

[192] Erstaunst Du, daß es so wenig zum

wirklichen Erstaunen gebe?! Erstaune,

daß Du darüber noch erstaunst!?!

Die Unterschiede

Es ist einer der tiefsten Unterschiede in der »Mannes-Organisation«, ob Jemand im »Restaurant«, im »Café«, auf der Straße oder irgendwo, plötzlich, ohne es sogar je zu wünschen, von einer Frau tief begeistert wird, ja momentan zum Dichter, zum Träumerischen, zum Melancholiker, zum plötzlichen Erkenner des Nirvana dieses ganzen Daseins wird, oder ob Einer es geschickt ungeschickt versucht, seine unmenschliche, also unmännliche Eitelkeit dadurch zu befriedigen, daß er einem »Weibchen« absichtlich es zu verstehen gibt, daß sie ihm nicht »gleichgültig« sei und sie »eine Eroberung« an ihm gemacht habe! Selbstverständlich will er nur sich einen neuen Skalp eroberter armer Frauenherzen an den öden Eitelkeits-Gürtel hängen!

Zwischen echter selbstloser Begeisterung für fremde Frauen-Anmut, und Euren schlechtrassigen frechen schamlosen Eitelkeits-Emanationen liegt eine ganze unverstandene Welt! Ihr nämlich werdet es nie verstehen, wieso der Flieder an und für sich blau-duftend beglückt!?!

Krüppel

Die »Krüppel« dieses Lebens, sei es auch nur in bezug auf »unmusikalischsein« oder »freiturnen«,[193] »tauchen«, »trampolin-springen«, »dichten«, »stelzengehen« nach rückwärts im Tango-Takte, hassenselbstverständlich die Nicht-Krüppel dieses Lebens, der Kerzengerade-Rückige den Un-kerzengeraden! Aber siehe, noch viel mehr haßt derNicht-Krüppel den in irgendeiner Weise Krüppelhaften! Da beginnt nämlich die wirkliche »Selektion«, die organische naturgemäße Aristokratie!

Selbst der Rock, den ich mir konstruieren lasse, muß der mir ganz von selbst eigentlich schon von Schicksals Gnaden oder Ungnadenzugemessene Rock sein, an dem weder Schneider noch »Gesellschaft« irgendetwas noch herumzuändern haben! Weißt du, Verlogenster aller Verlogenen, ob dicke gefleckte Horn-Knöpfe, weite Ärmel und breiter Gürtel zu Dir wirklich passen?!? Du hast es Dir, wie manches Andere, vonAnderen zugelegt, weil Du von selbst modern zu sein nicht die Fähigkeit hast!

Deine Dienstboten sogar, eigentlich aber das ganze lange verlogene Leben.

Solange man sich nicht besonders um sie kümmert, sondern kalt-korrekt,

ist Alles in verhältnismäßiger Ordnung.

Aber kaum interessiert man sich menschlich-teilnahmsvoll für ihr dienendes Schicksal, für ihr »Unter-geordnet-sein«, für ihre Sklaverei,

so »übernehmen sie sich sogleich«, und werden ungezogen und anspruchsvoll, frech, zudringlich,

wie alle sogenannte Freunde Dichtern gegenüber.

Man soll eben niemals »Distanzen« ändern.

[194] Du bist Der, der Du bist, und

ich bin Der, der ich bin, eine Kluft, einAbgrund trennt Uns, mein Freund! Für ewig!

Ich habe Unermeßliches erlitten durch meine Auffassung von »Gleichberechtigtsein«. Ich wurde der »geprügelte Hund« und Er, der »Nichtigste aller Nichtigen«, der Herr mit der Peitsche! Ich kam zu spät zur Besinnung meiner »geistig-seelischen Kraft«! Ich hoffte auf »Noblesse«, dienicht vorhanden war! Ich hätte sofort sagen, schreien, kreischen müssen: »Schauen Sie, daß Sie sofort abfahren, verschwinden!« Aber ich erhoffte es mir immer ihm zuliebe, daß er sich besinnen würde, wer er sei und wer ich sei! Aber er be sann sich nie!

Ehe

Daß man alle diese Opfer bringen kann,

nur um bequem zu leben,

da wäre es fast bequemer, unbequem

zu leben!

Es gibt keine »Einigkeit«, die man will, weil man sie notwendig braucht! Es gibt nur eine Einigkeit, die durch gar nichts eben zerstört werden könnte!

Verbrecherischeste Lebens-Philosophie: »Je nun, es ist einmal so wie es eben leider gerade ist!«

Auf-begehren, auf, hinauf, zu den Lebens-Idealen; aber nachgeben, sich ducken wegen Essen, Kleidung etc., welche falsche Berechnung Eurer angeblichen Glückseligkeit?!? Schlechte, [195] falsch berechnete Geschäfte machen mit dem Leben, ist voreiliger Bankrott! Wartet doch lieber ein wenig, Ihr geht dannwenigstens auf Eurem organischen Wegeschmerzloser zugrunde als auf Dem eines Schicksal-Aufzwingers!

Mit jeglicher »Konzession« hört sofort der Adels-Mensch im Menschen zu funktionieren auf, man wird »Konzessionär«! Aber »Mensch« ist man nicht mehr!

Krankheit [1]

Krankheit

Ich bin seit vielen Wochen krank,

gänzlich unelastisch!

Also so wie alle Gesunden immer sind!

Wir aber haben mehr zu leisten, wie die nur Gesunden! Wir haben »elastisch« zu bleiben!

Wir müssen es versuchen, vermittelst unseres Geistes, unserer Seele, und ein wenig unseres von Schicksals Gnaden mitbekommenen (ein nettes Erbteil!?) Talentes,

den Anderen ihre schauerlichen Irrtümer über ihr eigenes, nur aus Stupidität und Feigheit bestehendes angeblich wertvolles Leben zu demonstrieren, damit wenigstens die nächste Generation nicht so töpelhaft gleichmütig bleibe dem gefährlichen Leben gegenüber!

Wenn ich krank bin und meine Lebens-Elastizität nicht mehr habe,

komme ich mir vor wie ein zur normalen Gesundheit tief Degradierter,

kurz wie ein Gesunder! Schauerlich!

[196] Welche Interessen hat er?! Die Menschheitirgendwie über irgendetwas aufzuklären?! Keineswegs.

Sich selbst, ohne es zu können,

auf Kosten Anderer vorwärts zu drängen, zu schieben,

und Allen, die es sich gefallen lassen müssen,

ein X für ein U vorzumachen?!?

Meine Gesundheit ist: über alle

Verruchtheiten, die historisch »überkommen« sind,

von unelastischen angeblich normalen Gehirnen,

unerbittlich abnormal herabzuschauen,

und es ewig zu erhoffen,

daß die sogenannte gesunde Anschauung

der wirklichen Wahrheit über

alle Angelegenheiten dieses

heimtückischen Daseins, dieses

rätselhaft tief verlogenen Daseins,

endlich weiche, und daß die »Historie« durch einen einzigen Federstrich modernen Denkens für ewig ad acta gelegt werde!

Radikalismus der »Fremden«

Ein Kind hat Einen durch seine »Anwesenheit«nicht nur nicht zu stören, verlegen zu machen, zu »erzwungener Liebenswürdigkeit« zu nötigen, sondern es muß im Gegenteile sogleich aus einem bisher gewöhnlich, ganz gewöhnlich dahintrottelnden Menschen plötzlich sofort einenbegeisterten Dichter machen können! Ohne die fade Elternliebe, [197] von selbst, durch die mysteriöse Persönlichkeit desfremden Kindchens, ein »begeisterter Anhänger«, ja, ein tiefer »Freund dieser kleinen Seele« sogleich zu werden, darum handelt es sich bei Uns Künstler-Menschen!

Ihr Anderen werdet Uns nichts einreden, außer Das, was wir leider genugsam von Euch bereits wissen, daß Ihr nämlich keine Künstler-Menschen seid! Irgendwo rankt Ihr Euch notdürftig fest, irgendwie, irgendwann, aber vom »Leben der objektiv begeisterungsfähigen Seele« habt Ihr leider Gott sei Dank keine blasse Ahnung! Wenn Ihr wenigstens es honett zugäbet!? Aber nein, Ihr wollt sogar konkurrieren mitunserer Seele, ha ha, hi hi, hia! Diese einzige Geschicklichkeit, Euch Uns zu unterwerfen, gerade diese wichtigste fehlt Euch!!!

Furcht

Dieses ewige sich fürchten vor seinem Lebensende! Stupid-pathologisch, wie die meisten angeblich notwendigen wichtigen (ha ha hi hia) Dinge dieses vor allem gänzlich unwichtigen Lebens! Etwas ist richtig daran: Man ist leider da, und kann leider meistens im richtigen Momente nichtfort, wegen stupidesten »Selbst-Erhaltungs-Triebes«! Man muß also dableiben, schauerlich für einen vernünftig denkenden logischen anständigen Menschen! Man muß also die ganze niederträchtige Gemeinheitaller Anderen sehen, spüren, an sich selbsterleiden!?! Pfui!

[198] Bis an sein Lebensende erwartet, erhofft man von sich selbst den anständigen Mut, hundert Leuten ins Gesicht zu sagen: »Sie Schweinehund!« Aber niemals gelingt es, immer sind Gründe vorhanden des eigenen schrecklichen und verbrecherischen »Selbst-Erhaltungs-Triebes«, die Uns verhindern, anständige Menschen zu sein! Nun gut, armselige Frauen, die sich »versorgen« wollen irgendwie, irgendwo, irgendwann, man verzeiht ja ihren Armseligkeiten sowieso Alles! Aber Männern, Männern, Männern, den »Erkennern« dieser idiotischen Welt?! Welche »Ausrede« haben sie?!

Daß sie eben nur Männer sind!

Warten

Warten, erwarten, sie kommt um vier.
Du bist um 1/26 morgens vollkommen ausgeschlafen, wie stets seit drei Jahren,
man wird eben älter, klüger, jünger,
erwacht,
und wartest nun der vierten Nachmittags-Stunde
bang entgegen!
Unterdessen passiert in deinem
Dasein, eigentlich deinem Nicht-Dasein,
was stets passiert, Unnötiges, Belasten des, Zeit-raubendes,
Vor allem aber Gleichgültiges!
Lebens-Unnötigkeiten martern Dich,
und Du erwartest bang Erlösung
durch die vierte Nachmittags-Stunde!
[199] Du hörst von ferne Militär-Musik,
atmest leider den hellbraunen Rauch von weißen alten Schornsteinen ein,
Besucher, Besucherinnen kommen, die Dir
nichts zu sagen haben, sondern Du Alles Ihnen!
Alles geschieht, nur nicht, daß es vier Uhr wird!
Endlich geschieht es.
Sie kommt, sie ist da, da, vorhanden!
Wie befriedigt wäre sie vielleicht,
wenn man ihr Das zu schildern vermöchte,
wie man bis vier Uhr um sie gebangt hatte!?!
Aber eben Das kann man gerade nicht.
Man sitzt da und beginnt zu »plappern«,
wie ein schlechter oder hie und da sogar
guter Komödiant Seiner selbst!
Allein war man bisher ein Echter,
tief Sehnsüchtigster, Erwartender,
hoffnungsvoll, hoffnungslos Wartender,
mit Warten beschäftigt, tiefst beschäf tigt,
und des übrigen Lebens wertlose Tändeleien tief, heiß verachtend!
Aber nun, da sie kommt, da sie da ist, vorhan den ist,
fällt man sogleich aus der »Rolle«,
seiner »Nicht-Rolle«! Arme Alma Pt.!

Der »Fremde«

»Ich bin einmal so, ich muß, ich kann ebennicht ohne«!

Wenn der »Andere«, der »anders-Geartete«, der »Fremde«, eigentlich also bereits dadurch [200] sofort der »organische naturgemäße ewige Feind« Das allein anständig liebevoll begreifen könnte, wäre er wertvoller

als jeder noch so scheinbar fanatische Anhänger!

Er hätte nämlich den Mut, die Kraft, die Anständigkeit, das »Fremde« im angeblich »Bekannten« zu verstehen!

Aber, siehe, gerade Das, diese sogenanntemenschlichste und eigentlich selbstverständlichste Gerechtigkeit ist

ihm, zu seinem eigenen ewigen Unfrieden,

versagt! Er kann nur in allen Dingen
nach seiner eigenen, dem Anderen also vollkommen unverständlichen Natur,
beurteilen!
Niemand hält es für eine Ehrenpflicht
seines Geistes, seines Herzens, seiner
Anständigkeit, seiner Beurteilung seiner selbst,
fremden Organisationen gerecht werden zu wollen,
trotz seinem eigenen schamlosen Egoismus!
Niemand hält es für eine eigene Ehrenpflicht,
der »fremden« Welt des Anderen
gerecht werden zu wollen,
um der Gerechtigkeit willen;
sondern Jeder, Jede,
bemühen sich, dem Anderen, der Anderen,
ihre eigenen schamlosen Beschränktheiten
aufzuzwingen!
Pfui Teufel!

[201] Tagebuch der 15 Jährigen

Will ich verehrt werden?!

Nein, ich will, daß Jemand ganz besonders glücklich werde durch mich!

Nein, nicht durch mich. Schon durch meine bloße Anwesenheit allein. Ohne mein Hinzutun.

Dadurch allein, daß ich auf die Welt kam.

Wie kann ich dieses Ziel erreichen, wenn Er mich nicht »verehrt«?!

Ohne meine Koketterie müßte es in Ihm ganz von selbst erblühen,

daß ich Ihn glücklich mache durch mich wie Er nie zuvor gewesen ist und hoffentlich nie mehr durch eine Andere werden wird!

Eben zu diesem Zwecke meiner Selbstlosigkeit ihm gegenüber,

muß Er mich selbstlos verehren, es geht leider nicht anders und nicht billiger, ich kann Ihm anders nicht helfen!

Karriere

Ich liebe und verehre an dieser jungen SchauspielerinAlles, was es überhaupt an außergewöhnlichen Frauen zu verehren gibt. Sie heißt Annie Mewes.

Aber sie möchte so gerne die »Mietze« in »Mietze und Maria«, in »Kaiser Karls Geisel«, in »Molière« die schnippischen, anmutigen Dämchen spielen und man gibt es ihr nicht.

[202] Direktor, Regisseur, Lektor, Niemand hat eben für sie ein Verständnis. Nur nicht vor allem so rasch!

Und der Einzige, der es hat, mein Gott, Den nimmt man nicht ernst, er ist nur ein Dichter!

Er schadet ihr sogar, denn seine Begeisterungen sind selbstverständlich der Menge unverständlich.

Niemand läßt sich eben gern ins Gesicht sagen, daß man nichts versteht. Und von einem Dichter schon gar nicht. Denn was kann er?! Dichten! Pfui!

Der versteht also vielleicht etwas vom Frühling, vom Herbst, und von der Liebe, und von der Eifersucht,

aber von einer jungen beginnenden Künstlerin versteht er einmal nichts!

No ja, mein Gott, er schwärmt sie an.

Bis sie bei »Max Reinhardt« angelangt ist,

wird man sich vielleicht an seine Begeisterung gutmütig erinnern!

Aber schließlich, eine blinde Henne hat auch schon 'mal ein Korn gefunden! Dichter gackern gern laut, das weiß man ja.

Fernwirkung

Drei Tage, nachdem ich durch Sturz von einer Steinstiege meinen linken Arm gebrochen hatte, der um 1/212 Uhr mitternachts vom Dozenten J. Sternberg eingerichtet und eingegipst wurde, erhielt ich zugleich aus Hamburg und aus Berlin folgende Schreiben:


[203] Hamburg, den 9. Dezember 1917


Die Nervenbahnen der rechten Hemisphäre beherrschen die linke, die der linken Hirnhälfte die rechte Körperhälfte. Die rechte Hirnhälfte ist widerstands-und arbeitsunfähiger als die linke. Die linke Großhirnhälfte hat für das animalische Leben die gleichen Funktionen wie die rechte, außerdem hat sie auch noch den größten Teil des höheren geistigen Lebens zu leiten. Das linke Gehirn wird gelegentlich versagen, da es den größeren Teil der Arbeit zu leisten hat, auch ungeachtet seiner größeren Widerstandsfähigkeit, besonders bei einseitiger Tätigkeit. Die Entlastung der linken Gehirnhälfte erziehen wir durch Schonung, d.h. Schlaf, Erholung und Ruhe. Die Mitheranziehung der rechten Gehirnhälfte zur intellektuellen Arbeit verwirklichen wir durch Kräftigung der linken Körperhälfte, die gleichbedeutend ist mit einer Stärkung des vernachlässigten rechten Gehirns: Die Ausbildung der linken Hand erhöht in besonderer Weise die geistige Leistungsfähigkeit.

Die Wirkung der Linksübung auf das Gehirn ist geradzu eklatant.

Das haben die Japaner zuerst erkannt und jedes Kind wird dazu angehalten, alle Verrichtungen der rechten Hand auch mit der linken zu üben. Die geistige Ausdauer und Tätigkeit dieser kleinen Menschen ist bekannt genug. Es gibt eben für Den kaum eine Ermüdung, dessen rechte Hirnhälfte durch entsprechende Erziehung und Übung zur Unterstützung und Entlastung der linken jederzeit [204] herangezogen werden kann. Lionardo da Vinci, Michel Angelo, Holbein, Adolf Menzel sind Ambidexter gewesen.

Im Daseinskampf, der sich immer schwerer gestaltet, wird der am besten bestehen, der über den ganzen Reichtum organischer Mittel verfügt, die dem Menschen verliehen worden sind.


Reinhard Gerling-Berlin


Hamburg, den 20. Dezember 1917 Osterstr. 49


Lieber, lieber Peter Altenberg!


Nun ist wieder die Zeit da, wo ich einen Gruß von Ihnen bekam! Vergessen Sie mich nicht!!!

Seit zwei Jahren führe ich kein Tagebuch mehr – in Ihren Märchen »steht alles drin!« Meine latenten Kräfte gebrauche ich, um in mir selbst entwicklungsfähige Möglichkeiten zu entdecken. Seit zwei Jahren schreibe ich mit der linken Hand Ihre Märchen ab. Ich habe eine neue Hand, einen neuen Arm, ein neues Gehirn – zu »seelisch-geistigen Betätigungen« bekommen!

Peter Altenberg, Sie sind in mein Leben eingesponnen, und wenn ich mich von Ihnen trennen wollte, müßte ich mich von »mir« trennen!

Weih–Nacht–Liebe! Die feiere ich jeden Abend, seit ich Sie habe!!!!

Ihre

Helene.

[205] Kindermisshandlung

Der Richter: »Sie, Frau Katharina Hölzl, derzeit in Kriegszeiten Tramway-Kontrolleurin, haben also Ihre 11jährige Stieftochter splitternackt ausgezogen, mit einem Rohrstaberl überall am ganzen Leibe hingedroschen, sie am Schreien verhindert durch Schläge auf den armen Mund!«

»Wenn man wochenlang nicht ausgeschlafen ist, wenn man noch fünf eheliche Kinder hat, wenn man noch andere Zustände hat, und sieht wie die anderen reichen Mistviecher leben, dann wird man so!«

»Ja, aber was kann denn dieses ärmste unschuldige Mäderl dafür?!«

»Dafür kann sie freilich nichts, aber sie muß es büßen. Ich kann auch nichts dafür, und muß es büßen.«

Der Richter spricht sie frei, denn für Kinder-Mißhandlung an »Stiefkindern« ist im Gesetze noch kein Paragraph! Weshalb?! Na, weshalb?! Die Bertha Suttner hat von der dankbaren Menschheit den Friedens-Preis erhalten von 200000 Kronen! No, hat sie ihn nicht vielleicht ehrlich verdient mit ihrem Geschmuse?! Ist nicht Friede geworden in der Welt?! Dum-Dum, nein, dumm, dumm!

Strandbad in den Donau-Auen

Ich sah eine 15jährige, in hechtgrauem Seiden-Trikot und mit hechtgrauer Seiden-Mütze, mit schneeweißen langen schmalen Füßen; ich sah einen 14jährigen, der noch schlanker, noch biegsamer, noch zarter war als die hechtgraue. Er trug schwarze, [206] seidene, ganz kurze Höschen. Ich sah den Damm in Sonne gebadet, mit den graugrünen Weiden, und der russische Gefangene führte in brauner Jacke die braune Überfuhr-Fähre. Niemand sprach vom Kriege. Alle waren auf ihre Gesundheit konzentriert, auf ihr Braun-werden, sogar das Wasser war Nebensache, sie hielten mehr von der Sonne. Im Wasser wird Einem bald zu kalt, aber in der Sonne nie zu heiß! Auch ein Standpunkt. Ein falscher!

Ich ging stundenlang in dem keller-kühlen Donau-Buschwerk und traf keine Liebespaare. In den herrlichen dichtumlaubten Tümpeln vermisse ich nur Flamingos, Reiher und Krokodile. Dafür gab es kleine blaue Schmetterlinge. Eine Stunde von unserer »Kapitale«. Da kann man nur träumen: »Pfui, Lido!«

Edikt

Wer nicht ununterbrochen, wie aus einer Art von »körperlicher Religiosität« aus, sich bemüht, seine körperlichen Elastizitäten, Gang, Rückenhaltung, Brustkorb, jegliche Bewegung, zu verbessern, zum Besseren, Vollkommeneren zu verändern absichtlich, mit bewußtem Wollen, ist an und für sich bereits dem Teufel »Unzulänglichkeit« verfallen! Er kann dem Ehrgeiz-Teufel verfallen (damit Andere unter ihn kommen), dem Spiel-Teufel, dem Weibchen-Eroberer-Teufel, dem Melancholie-Teufel, dem »Sexual-Teufel«, dem »Alkohol-Teufel«, aber ein wirklicher reinlicher, anständiger Mensch (sei es Mann oder Frau, ganz gleich) ist nur Der, der es [207] ununterbrochen wenigstens emsigst versucht, seine ach so genial komplizierte Lebens-Maschinerie nicht nur »in Ordnung« zu halten, sondern stündlich fast zuverbessern, zu korrigieren! »Sammler« haben eben eines Tages, einer Stunde, ihren Sammel-Irrwahn für ewig aufzugeben, und Andere das verdammte Wort: »Du bist mein Alles!« Man hat nie nachzugeben, nicht einmal seinem angeborenen Gange, sondern ihn in leichtbeschwingten Fliegeschritt umzusetzen! Krumme Rücken, Ihrkönnt gerade Rücken werden, es ist nur Intelligenz-Wille nötig! Wer Das versäumt, ist und sei des Teufels! Sogar »objektiv gerechte Gutmütigkeit« kann man sich »erzwingen«, da beginnt erst die »Religion«! Sich selbst aus dem Angeborenen in dasVollkommenere stündlich gewaltsam hinaufzuzwingen! Gestern schlichst Du noch, heute fliegst Du bereits, amen, du Religiöser!

Stubenmädchen-Stolz

Unserem reizenden bayerischen Hotel-Stubenmädchen hat ein fremder Gast heute Morgen ein offenes Kuvert mit vielen 100 Kronen-Scheinen zur Aufbewahrung übergeben. Er sagte scherzhaft: »Für Amerika langt es nicht!« Sie war ganz stolz auf dieses Vertrauen, zeigte das Geld überall herum, damit ja nur Alle sähen, wie man »ihrem Gesichte« nichts Falsches zutraue! »Haben Sie es vor dem fremden Gaste nachgezählt?!« sagte ein Hund. »Nein, weshalb?!« »Nun, da könnte er behaupten, [208] es wäre mehr darin gewesen als wirklich vorhanden war!« »So Etwas tut ein anständiger Mensch nicht!« »Nein, aber ein Unanständiger!« »Mit einem armen Hotel-Stubenmädchen?!« Aber ihr Stolz war verschwunden, getötet, begraben! Später gab ihr der fremde Gast 10 Kronen Trinkgeld für ihre Ehrlichkeit. Aber ihrsüßer, edler, kindlicher Hotel-Stubenmädchen-Stolz kam nicht wieder. Es war ein gewöhnliches, wenn auch ganz anständiges Hotel-Trinkgeld für irgendeinen geleisteten Dienst!

Die Liebe [1]

Die Liebe

Es gibt nur ein Verbrechen meiner Dichter-Seele – – – daß ich Dich nicht liebe!

Ich sage: meiner Dichter-Seele. Denn mit demGeiste liebe ich Dich, nur, nur Dich!

Ich erkenne Dich an, zu jeder Stunde,

als das intelligenteste, gutmütigste, anhänglichste, liebevollste, anspruchloseste, zarteste, empfindsamste, dankbarste Geschöpf!

Aber die Seele will, sucht, ja verlangt etwasMysteriöses, ich möchte sagen, Geist-besiegendes,

das keinem noch so guten vom Geiste ausgestellten Zeugnis ähnlich sieht! Ein schmählichbesseres!

Für Dich zugrund' geh'n, momentan; vielleicht bereut man es; aber es können! Es können Wollen für Dich, dieses »Aufgeben seines Geistigen«, dieses süß-bittere dumme Verhängnis?!?

[209] Zum Dichter für sie werden, obzwar man's nicht ist, ihr Leben ihr verschönern, erleichternwollen, obzwar man's nicht kann, sich abmühen, womit man ihr eine Freude machen könnte, eine kleine nichtige lächerliche Freude, obzwar man wichtigere Probleme im Leben zu lösen hätte,

Das ist so das Um und Auf von Begeisterungen,

die nichts mit Geist und Geistigem zu tun haben!

Und wenn Dir eine Geistige sagt: »Pardon, Das will ich ja aber auch gar nicht!«,

so glaub' ihr nicht! Sie will, ich gebe es zu, geistiganerkannt werden,

aber zugleich will sie Dir ganz ebenso einsüßes Mysterium sein!

Beschwerstein

Ich habe in »Weyer«, im weißen, ausgetrockneten, buchenumrandeten, heißen Bachbette einen großen, rundlichen, hellbraunen Kieselstein gefunden. Seitdem dient er mir, erfreut mich als Beschwerstein für Briefe usw. usw. Aber vor Allem beweist er mir, welche lächerlich-unnötigen – faden – unkünstlerischen Anstrengungen alle sogenannten modernen Menschen machen, um »von der selbstverständlichen genialen Heiligkeit der Natur selbst«, aus infamer, verschmockterEitelkeit, aus bestialischem Größenwahne, so weit als möglich loszukommen! Nomina sunt – – – bekannt! Ich wasche diesen rundlichen, hellbraunen Kiesel hie und da mit meiner Handseife[210] und er sieht dann aus, wie wenn ewig Bergwasser ihn bespülen würde! Wenn ich da denke, was für »Beschwersteine« die »Modernen« ausklügeln würden, kann sich meine tödliche Verachtung nur gegen die wenden, die das eventuell auch noch teuer bezahlen!

Geschwister-Gespräche

»Dein Zimmerchen, Peter, das ich nun seit 1913 zum ersten Male sehe, sieht aus, wie wenn es von einer außergewöhnlich liebevollen Bedienerin in Ordnung gehalten würde, Dir zuliebe, nein, sich selbst zuliebe! So eine Mission, ein Dichter-Zimmer in besonderer Ordnung zu erhalten!«

»Das tut sie ja auch!«

»Ja, ist es denn immer in diesen langen Jahren dieselbe?!«

»Keineswegs. Sie wechseln den Dienstplatz, aus diesem oder jenem mir unbekannten Grunde. Aber ihre Verehrung meines Zimmerchens und seiner darin befindlichen zahlreichen Gegenstände bleibt stets dieselbe. Es ist wie eine edle Tradition, Eine sagt es der Anderen, Scheidenden, oder sie sagt es sogar nicht einmal. Jede fühlt das als ihre Mission, es ist einfach kein alltägliches Hotelzimmer, in dem man stumpf seine armseligen Verpflichtungen erfüllt. Es hat für das einförmige Leben der Betreffenden einen Schimmer von Romantik, obzwar sie selbst davon gar nichts haben, und es ihnen doch nur Mühe macht, es in tadelloser Ordnung zu erhalten. Sie betrachten es als einen Raum, [211] in dem auch »höhere geistige Interessen« sich abwickeln, und wo sogar Liebe und Eifer sucht zartere sonst ganz unbekannte Formen annehmen! Nie hat ein Mädchen mein Zimmerchen je vernachlässigt, Jede übergab es der Fremden mit einer Art von Segenswunsch. Diese tadellose Betreuung rührt mich, ergreift mich. Oft frage ich: »Wieso kommen Sie, Fremde, dazu, alle diese Gegenstände so liebevoll zu behandeln?!?«

»Das kommt von der Vorgängerin her, die es uns extra ans Herz gelegt hat!« Jedesmal versucht es irgend Eine liebevoll, die Vorschriften ihrer Vorgängerin zu entziffern und zu befolgen. Vergeblich, Alles geschieht ganz von selbst, unter dem Eindrucke, den das Zimmerchen eben von selbst erweckt. Wie sie auch Alle heißen mögen, seit dem Jahre 1913, ihre »Mission«, mein Zimmerchen in besonderem Stand zu erhalten, war stets dieselbe liebevolle rücksichtsvolle. Name und Persönlichkeit taten gar nichts dazu. Eine »innere Tradition« bestimmte Alle, und jede Nachfolgerin erfuhr von der scheidenden Vorgängerin minutiöse Details der Instandhaltung. Einmal sagte ich einer Novize: »Wieso wissen Sie, daß der ›Eisvogel‹ rechts und das Käuzchen links zu stehen habe?!« »Aber, Herr Altenberg, das muß man doch wissen als ein geschmackvoller Mensch! Übrigens hat die Vorgängerin es mir ans Herz gelegt!«

So leben fremde Dienstboten, indem sie einen Idealismus befriedigen, der mit ihrem persönlichen Glück nichts zu tun hat. Und dennoch nehmen sie die »Bürde des Lebens« leichter, wenn sie vor solch eine selbstlose Aufgabe gestellt sind. Mein [212] Gott, die übrigen Zimmer sind halt gewöhnliche Hotel-Zimmer, die man in Ordnung halten muß. Aber das Dichter-Zimmerchen ist eine Extra-Fleiß-Aufgabe, in liebevoller Fürsorge von selbst ausgeführt. Was den Anderen nicht gehört, und man es so lieb hat wie er, Das gehört eigentlich den Anderen.

12.-3. 1918

12./3. 1918

Ich hatte seit 13 Wochen soviele unausgeweinte Tränen in mir, wegen meines doppelten Armbruches (Verlust der fast pathologischen Beweglichkeit eines 58jährigen), und wegen Paula, meiner »heiligen Kindsfrau« eines unglückseligen Lebens-Unfähigen, wie ein berühmter Seiltänzer, dem man heimtückisch die Beine abgesägt hätte! Niemand braucht so unerbittlich fast eigentlich noch mehr krankhaft vollkommene körperliche Elastizität wie ich. Ich kann mich, nein, ich darf mich mit dem »natürlichen Altwerden« nicht abfinden, mein Talent ist ein absolut rein physiologisches, abhängig allein von körperlichster Elastizität. Ich bin also momentan zu einem Greise geworden durch diesen für Andere mehr oder weniger gleichgültigen Unfall! Meine Dichter-Fähigkeit hängt ausschließlich von meiner fabelhaften, ja fast mystischen körperlichen Bewegungsfähigkeit ab, und ein doppelt gebrochener Arm ist ein doppelt gebrochener Peter Altenberg! Wenn ich nicht mehr auf Stelzen leicht nach rückwärts gehen kann, so bin ich nicht mehr ich. Wenn ich nicht den Handstand im Meere unter Wasser machen kann, den [213] Totensprung vom Trampoline, so bin ich nicht mehr ich! Mein Talent ist vollkommene konventionelle Nebensache. Ich hänge von der absoluten Beweglichkeit meiner Maschinerie ab und gar nicht vom Denken und Empfinden, das nur natürliche selbstverständliche unentrinnbare Folgen sind einer richtig gehenden Maschinerie! Nun bin ich aus meiner mir bestimmten Zimmer-Einsamkeit, dem Dr. D. zuliebe, in das Kino: Erna Morena, das Geschick der Julia Tobaldi, gekommen. Wie ein seelischer Abschluß einesverunglückten Daseins war es! Ich weinte Alles Alles aus, und meine Bewunderung deranmutsvollsten Frau dieser Erde erreichte den Gipfel meiner tragischen Begeisterungen! Ich betete zu ihr unter Tränen.

Ärzte

Auf die Rätsel und Mysterien unseres geheimnisvollen märchenhaften Organismus allmählich zu kommen, sei es auf intuitivem Wege, sei es logisch, sei es einfacher zufälliger »Glücksfall des Denkens und Bedenkens«, wäre doch die einzige würdige, menschenwürdige Aufgabe des modernen jungen Arztes! Was nützt der Welt seine mehr oder weniger scheinbar berechtigte »Skepsis«, wenn sein »innerer Idealismus« ihn nicht ewig gegen seine eigenen Erkenntnisse sogar antreibt, das Getriebe dieser geheimnisvollen rätselhaften Maschinerie »Mensch« zu erforschen und ihr beizukommen, vorurteilslos?!! Was nützt die Verachtung der meisten Medikamente, wenn es dennoch Solche gibt, die[214] »mysteriöse« Heilung bringen?!? Ungläubigkeit und Zweifel können leider Niemandem helfen, sondern nur hoffnungsvoller Idealismus, und sei es auch nur Der eines zufälligen Ereignisses! Die Welt und den menschlichen Organismus als leider unabänderlich zu betrachten, entspricht nicht den Plänen Gottes, die Menschen allmählich, ganz allmählich aus eigener Kraft und Energie dennoch Gottähnlich zu gestalten!

Das »konservative Element« ist ein tiefes Un glück des absolut ungenialen Denkens, und jede Stunde sollte Besseres, Richtigeres bringen! Niemand soll sich selbst auf seine »Körperhaltung« endgültig verlassen, denn es gibt eine ganze Reihe idealer Körper-Übungen, die die »göttliche Elastizität« allmählich garantieren und befördern! Ja, er glaubt eher an die Stetigkeit körperlich-seelischer Verhältnisse, und sein Idealismus in bezug auf körperliche und daher eben auch geistig-seelische Weiter-Entwicklung ist daher stets auf ein tragisches Minimum beschränkt! Medikamente sind ihm ein günstiges Geschäft für den Apotheker, und er forscht den Mysterien der Medikamente selten nach, verläßt sich lieber auf die Heilmethoden der einfachen Natur selbst, die oft geringe Erfolge haben außer bei denen, denen überhaupt nichts Positives fehlt. Der »Trostlose und Skeptische« in bezug auf sich selbst, spürt die fast für ewig gehemmte Weiter-Entwicklung seines sonst vielleicht genialen Organismus, und verhindert unwillkürlich sogar die Anderen, an ihre eigene Weiter-Entwicklung zu glauben und vor allem daran zu arbeiten! Niemand hat bis jetzt Denen idealiter geglaubt, die der Menschheit direkte Vorteile, sei es [215] auf intuitivem, sei es auf logischem Denk-Wege gebracht haben! »Skeptizismus« ist die »Philosophie unserer Ärzte«, obzwar sie die Rätsel unserer Organisation besser, genauer kennen, ahnen sollten als wir Laien, verlassen sich alle auf ihre sogenannte natürliche Wirkung, versuchen es niemals, Schäden auszubessern, sondern verlassen sich leider auf Die, denen sie aus irgendwelchen Gründen vollkommen nicht genügen. Idealismus, d.h. die Hoffnung, sich in irgendeiner Richtungmerkwürdig zu verbessern, zu vervollkommnen, ist ihnen fremd und unsympathisch. Sie halten sich an Den, Dem sie genügen, interessantes Rätsel ist Ihnen Niemand, wie sie eben einmal selbst rätsellos sind. Der Arzt hat ein geringes Bedürfnis, den jeweiligen Organismus zu »vervollkommnen«, ja, er glaubt nicht recht daran. Sie vermeiden das geniale wenn auch unsichere Experiment! Sie vermeiden das Experiment, das eventuell mißlingt, statt hoffnungsfreudig etwas zu riskieren, wenn schon sowieso die Sache fast schief geht! Das »konservative Element« ist ein Unglück, ja fast ein Verbrechen inallen Richtungen dieses unseres komplizierten und noch ganz unerforschten Lebens! Der Glaube an die »Weiter-Entwicklung« jeglichen Seins in uns ist eigentlich die einzige wirkliche »Religiosität«. So viele Menschen betrachten sich als »endgültige Entwicklung«, lassen ihre Kräfte daher verkümmern. Besonders schöne anmutige Frauen. So wird der kompliziert Erkrankte der einfachen kraftlosen blöden Natur-Heil-Kraft zugeführt, die ihm nicht zu helfen vermag, und der Arzt glaubt seine Pflicht getan zu haben, ohne in die »Mysterien« der kranken Organisation [216] auch nur einzudringen! Was er verordnet, ist für den »gesunden Organismus« recht vorteilhaft, aber der kranke Organismus ist ein schweres Mysterium und ein Rätsel. Es zu ergründen, würde vielleicht eine ideale Lebensaufgabe sein, aber Wer gibt sich dazu her?!? Man behilft sich mit allgemeinen gutgemeinten Ratschlägen, die dem einzelnen Falle keineswegs je angepaßt sind. Und so gehen Viele, Viele zugrunde, die einer idealen außergewöhnlichen Behandlung ihre Rettung verdankt hätten! Der Arzt hat, abgesehen von ökonomischen Nachteilen, einen leisen unbewußten Groll gegen den Patienten, dem er nicht helfen kann, und führt den Grund auf die Unfolgsamkeit des sein eigenes Leben durchleidenden Organismus zurück. Nie hat der Arzt eine düstere Idee, einen Selbst-Vorwurf, eine Selbst-Anklage eines imminenten Irrtums, niemals, sondern er schiebt jede Schuld dem verhältnismäßig unschuldigen rätselhaften Patienten zu. Der Arzt ist stets der geheime Feind des Patienten, bei dem die Heilungs-Prozedur nicht in angemessener Zeit vor sich geht. Selbst »hohe Honorare« versöhnen ihn nicht mit den Heilungsprozessen, die die Natur aus irgendeinem mysteriösen Grunde verweigert. Er beschäftigt sich nie mit seinen eigenen eventuellen Irrtümern, sondern pflegt und hegt seinen fast pa thologischen »Größenwahn« auf Kosten seines Patienten! Dieselben geben ihm in Allem Recht, und der Patient ist eine Art von feigem selbstmörderischem Verbrecher an sich selbst. Niemand glaubt ihm, das Meiste seiner Zustände wird als Einbildung, Hysterie oder absichtliche Entstellung gedeutet. Niemand glaubt dem noch so aufrichtigen Kranken, und er befindet sich in einer qualvollen [217] Situation den sogenannten Menschen gegenüber. Der Arzt hat immer Recht, weil er seine durch Prüfungen protokollierte Wissenschaft beherrscht, ohne den Einzelfall, das Einzel-Ereignis auch nur zu ahnen! Der Patient ist das unglückselige Opfer der Erkenntnisse, diegerade auf seinen speziellen Fall durchaus nicht passen! So muß er den genialen Heilungsprozessen der Natur sich hilflos überlassen, und wird von den Ärzten an einem angeblich eigenen Unglück schuld und dumm-renitent betrachtet. Wenige Ärzte verstehen es genial, sich ganz in einen ihnen völlig fremden Organismus gerecht liebevoll-genial hineinzuversetzen. Die Meisten terrorisieren nur mit ihren Vorurteilen und haben nicht die Menschenfreundlichkeit, dem Fremden, Unbekannten, gerecht zu werden. Die meisten Patienten sind scheinbar bornierte Feinde Derer, die sie nach den allgemeinen wissenschaftlichen Regeln erretten wollen. Sie haben alle Verwandte und sogenannte Freunde gegen sich und halten ihr unglückseliges Schicksal für ein nur leider wohlverdientes! Mitleid gibt es von keiner Seite als von der »Geliebten«, und Die gilt als störender Laie trotz ihrer liebevollen, weinenden, ängstlichen Seele. Der Arzt sagt: »Fräulein, davon verstehen Sie nichts!« Und ihre Tränen überlassen ihn dem grausamen unerbittlichen Dasein. Manches Mal kommt sie sich selbst als eine Art von Verbrecherin an dem »Geliebten« vor, gibt dem Arzte nach und nach wirklich Recht und zieht sich still weinend zurück, den »Geliebten« seinem Schicksale tragisch überlassend. Hilflos läßt er sie von sich scheiden, und wenn sie zum letzten Male an seinem Bette [218] weinend kniet, segnet er ihr geliebtes Herz, und entläßt sie in das grausame Leben, dem sie nicht Stand halten kann. Manche raffen sich auf und vergessen. Aber manch eine rafft sich eben nicht auf und vergißt nicht!

Kritik

»Ich kann Altenberg nicht tadeln, nicht mit ihm rechten über Dies und Das!
Denn ein Mensch, der es als Um und Auf, alsWesentlichstes eines Dichtergehirnes betrachtet,
Alles, was ist, mit gleichem Interesse zu betrachten, zu erschauen, zu begreifen,
von allen allen Seiten, guten, schlimmen,
und Diagnosen zu stellen und keinerlei End-Urteile (wie nähme er sich Das auch heraus?!),
Der hat eigentlich notwendigerweise bei mir einen Freibrief all seines Gehabens!
Freilich, wenn Alle sich so ›gehaben‹ würden?!?
Gott sei Dank gehabt sich so nur Einer.«

Der Hund

Der Hund ist geistig-seelisch für den aufgeklärten, kultivierten, modernen Menschen die größte Gefahr. Von seiner minutiösen Lebens-Betrachtung aus sucht ihn das geschickte Vieh ununterbrochen als den »Gefährlichen Naiven« auf sich selbst ganz abzulenken und dieses aus tiefstem Egoismus entspringende Bedürfnis, die erste wichtigste, rührendste und unentbehrlichste Persönlichkeit zu sein, gegen die Alle eigentlich ihre [219] naturgemäße Niederlage erleiden, ohne Jemanden irgendwie direkt dafür beschuldigen zu können! Diese ewige pathologische Ablenkung der 10000 Tiere-Lebensenergieen für die kleinen wertvollen Interessen ihrer Welt, in Allem und Jeden, ist einVerbrechen an seiner eigenen menschlich-göttlichen Seele. Wie bequem gewinnt man in seinem vollständigen bequemen pathologischen Größenwahn die Sympathie eines Hundes. Weder ökonomisch, noch sexuell, noch seelische Komplikationen spielen da mit, man ist eine Barbarina Campanini, eine Eleonora Duse, eine moderne Erna Morena jedem Tiere gegenüber, das die verruchte selbstlose Anhängliche zu seinem eigenen »ich hab' mein Frauerl halt gern«, und wie pathologisch mit einer Käserinde schamlos ausnützt, und der Frau zu ihrer echten Suche, ihrem Sehnsuchtsideale oder anderen Empfindungen gar nichts nützt. Die Frau versteht die Verehrung Eines nur ihrem Wesen nach, nicht wie die einesHundes, der ihrem Menschen grausam-seelisch, fast absichtlich blöd Alles stiehlt! Der größte Egoist, weil er die schamlose Ausrede hat, ein Hund zu sein, gegenüber dem denkenden Menschen!

Prodromos (Fortsetzung)

Ich vergaß ganz in meiner Skizze »Prodromos« mitzuteilen, etwas sehr sehr Wichtiges für viele Mißratene, d.h. ins eigene Unglück Hineingeratene, in die Abgründe ihres unglückseligen, jedesfalls widerstandslosen Nervensystems, also z.B. vor allem für die übertriebenen Alkoholiker (ich bin [220] eben kein alter Fuchs, dem bereits die Zähne ausgefallen sind und der nun nolens volens Weisheit predigt):

Man kann jeden Alkohol-Mißbrauch mit vorsichtigst genommenen Schlafmitteln (um 8 Uhr abends im Bett bereits, ein Likörglas »Paraldehyd«) kupieren, abschneiden, aus dem noch so intensiv mißbrauchten Nervensysteme in mysteriös kürzester Zeit vollständig entfernen! Deshalb sind mir Alkohol-Entziehungskuren vollständig unbegreiflich, da das Schlafmittel »Paraldehyd« (ein bis zwei Likörgläser, lähmend die Zentralnerven) momentan den Alkohol für immer vergessen macht! Selbst die abends freiwillig vom Arzte angetragene Flasche »Pilsner« wird als unnötig vom Patienten refüsiert! Entziehungs-Kuren sind ein Wahnsinn: Schlafmittelübertreibung kuriert man momentan mit konzentriertem Alkohol (Schnaps) in kleinsten Mengen, Alkohol bannt man momentan mit »Paraldehyd« in kleinsten Mengen! Weshalb sind die Herren Ärzte bis heute zu diesen allereinfachsten Heil-Erkenntnissen einer zerstörten Nerven-Maschinerie noch nicht gekommen, und errichten lieber kostspieligste Sanatorien für Entziehungskuren?!? Mit 50 Kronen kann sich Jeder vollkommen gesund machen!Amen.

Sehr interessant

Wie also ist ein Mensch eigentlich, der der »konventionellen Herde«, pfui, gegenüber ein wirklicher [221] urechter moderner Danton, Robespierre, ja sogar Marat ist, in seinen vier Wänden seines Zimmers, allein, entkleidet seines pathologischen Lebens-Fanatismus?!? Kommen ihm seine natürlichen Bedürfnisse nach Essen, Schlaf, Reinigung, Ruhe, Verdauen nicht unnötig-störend-unangenehm grotesk plötzlich vor?!? Welches Kompromiß kann der ›geistig-seelisch ewig Lodernde für Andere‹, in dieser Beziehung mit sich selbst und seinen kleinlichen, aber jedoch trotzdem unentrinnbaren lächerlichen Bedürfnissen schließen?!

Ganz einfach: Er hält seine irdische unentrinnbare Lebens-Maschinerie desto sorgfältiger instand, damit sie ihn in der Betätigung seiner geistig-seelischen Ideale für Andere nicht allzusehr behindere!

Der heilige Schlaf

Wieviel tragischeste Leiden finden bei Hunderttausenden, Schweigsamen, Edel-tragenden, Niemanden vor allem Belästigenden statt, durchnicht-schlafen-können bei Nacht! Unausgeruht müssen sie Schanden halber, sei es aus diesem oder jenem Grunde, bei Tag den Ausgeschlafenen es gleich zu tun versuchen! Aber welche physiologische Anstrengung, nein, welcher fast direkter, vorläufig für ein paar Jahre (die Naturkraft ist langmütig-nachsichtig) hinausgeschobener Mord ist es nur an sich selbst?!Ausgeschlafen sein, restlos, garantiert Dir, o Mensch, Deine Dir überhaupt möglichehöchste Arbeits-Leistung! Weshalb willst Du ihr blöd-feig entgehen?!? Aus feiger Blödheit!

[222] Mein künftiges Lebens-Leitmotiv

Carpe diem, pflücke den Tag!

Man kann noch weiter gehen und sagen: Carpe horam! Pflücke die Stunde! Lasse Dir nichts entgehen! Ununterbrochene Rechenschaft innerlich sich geben können über alle »plus« in diesem ach so minus-reichen Dasein erhöht die jugendlichen Spannkräfte des alten dennoch naturgemäß endlich nachlassenden Nervensystems! Geist und Seele beherrschen nur die scheinbar armselige Materie, wenn diese scheinbar armselige Materie eben Geist und Seele hemmungslos erzeugt! Jeder ist aberabhängig nur von seiner Materie, aber er hält es für degradierend, für schimpflich, Das gerade anzuerkennen. Fluch Euch!

Entwicklung

Du, angeblich Kultivierter, selbstverständlich höchst Unkultivierter, hast nicht das Recht, ewig bis an Dein Lebensende (Deine begrenzte Ewigkeit eben) von Schicksals Ungnaden aus Der zu bleiben, der Du bist! Sondern im Gegenteile, es ununterbrochen, wenn auch ganz vergeblich sogar, es zu versuchen, Dich irgendwie noch ganz zuletzt zu verbessern, und deine zahlreichen Lebensirrtümerinnerlich zu beichten, zu bereuen! Ich sage nicht: Der Raucher gebe seine ihm vorläufig oder auch nachläufig unentbehrliche Zigarette auf! Aber ich sage: Er arbeite daran mit seinen ihm noch vorläufig übriggebliebenen geistigen[223] Energieen, zu der theoretischen Erkenntnis wenigstens vorzuschreiten, daß »Rauchen« für die menschliche Funktionierung unserer Lebens-Maschinerie vollkommen unnötig, ja, hemmend sei! Gewisse Kranke rauchen von selbst plötzlich nicht mehr, sie müssen mit ihren übriggebliebenen Kräften haushalten! Wohin aber dann, bitte, mit den beim gesunden Organismus überschüssig gewonnenen Lebens-Spannkräften?!? Jeu?! Weiber?! Sammler-Irrsinn?!? Welcher Vorteil, bitte?! Seine überschüssigen Lebens-Spannkräfte richtig zü geln ist Alles, ist »moderne Kultur des Einzelnen«!

Ansichtskarten

Der Architekt Adolf Loos kam aus Krakau zurück und sagte: »Peter, daß Du nie dieses uralte und dennoch ewig moderne Kunstwerk der Burg ›Wawel‹, dieses National-Heiligtums der Polen in unzerstörbarem Stein, erleben wirst, ein Ereignis gerade in Deinem Dichter-Dasein!?!«

Da begann ich in exaltierter Weise vom »Wawel« zu schwärmen, diesem polnischen National-Heiligtum in Stein! Ich schilderte die einzelnen wunderbaren, melancholischen, phantastischen und zugleich einfachen Ecken, Erker, Gänge, Ausblicke usw. usw.

Da sagte er: »Wie wenn Du dort gewesen wärest, Peter! Fast nur noch eindrucksreicher!«

Ich erwiderte schlicht: »Es gibt einen modernen, lebenden, polnischen Maler, der nur ausschließlich zeit seines jungen Lebens (oder ist er älter?!?) [224] Details der BurgWawelmalt! Und diese Ansichtskarten aller dieser Gemälde besitze ich, Stück 50 Heller!«

Die Achtjährige

Es war eine ganz kleine Delikatessen-Handlung, wo ich meinen herrlichen Frühlings-Primsen (10 Deka zwar 3 Kronen [Kriegszeiten]) kaufte, aber ich wußte es als Diätetiker, daß es an Nahrungswert jedes Fleisch übertreffe und besonders an Leichtest-Verdaulichkeit. Da war die bildhübsche achtjährige Tochter Hermine. Als ich nach acht Tagen hinkam wegen »Frühlings-Primsen«, sagte die Frau: »Die Hermine ist nicht mehr, Masern, Lungenentzündung.«

Dann sagte sie: »Der Frühlings-Primsen scheint Ihnen zu schmecken?!?«

Ich erwiderte: »Er ist der ideale, verhältnismäßig billige Ersatz für Alles, was man eben jetzt nicht mehr bekommt!«

»Ja, aber schmeckt er Ihnen denn?!?«

»Nein. Aber weshalb sollte er mir in diesen schweren komplizierten Zeiten auch noch schmecken?!?«

Wiener Rathauspark
22. Juni, Sonntag, 1918

Weshalb soll ich das Einzige, was ich an diesem staubigen, schlechtgepflegten Häusermeere liebe, nicht freudig, ja begeistert konstatieren, dieses Einzige, ja, diese Wiener Oase meiner zerrütteten, [225] weil allzu klar und allzu genau Alles durchschauenden (pfui!) überempfindlichen Nerven?!?

Ich weiß es genau, daß der Wiener Rathauspark jeden fremden Kur-Park ersetzt, und daß man (rückwärts ist das Arkaden-Kaffee mit den Kur-Mitteln) jede notwendige Heil-Kur hier ebenso gut absolvieren kann wie in Karlsbad, Franzensbad, Marienbad, nur völlig umsonst! O Menschen, weshalb kompliziert Ihr Euch (vor allem ökonomisch) Euer bißchen kurzes blödes Dasein, wenn Euch vor der Nase, ganz umsonst, fast märchenhaft, die Heilung winkt!?!

Diese Gesundheit ausströmenden kurzgeschorenen Wiesen, stets erfüllt mit Wasserleitungs-Feuchtigkeiten, diese dichten dunklen Gebüsche, diese scheinbar in den Urwald führenden, diese übertrieben herrlichen Bäume (ausgesuchte Prachtexemplare), dieser feuchte Springbrunnen, diese Stille, dieses »ich bin gar nicht mehr in der Großstadt«, garantieren Jedem Genesung, der natürlich überhaupt noch genesungsfähig ist! Aber Ihr zieht, mit Tausendern ausgestattet, angeblich zu Eurem Heile, gen Karlsbad, Marienbad, Franzensbad!?! Ins Ungewisse.

Der Angriff

Aus der absoluten Nüchternheit heraus angeblich scheinbar ideal geordneter Lebens-Verhältnisse kann man naturgemäß eigentlich nichts schreiben, was für den in irgendeiner Sphäre seines Daseins darbenden oder irregeleiteten Menschen von Wichtigkeit wäre. Nur der durch irgend [226] etwas exzeptionell angeregte, aus seinem gewöhnlichen Dasein plötzlich Aufgerüttelte, nur der plötzlich düstere Kerkermauern bisheriger verbrecherischer Lebenslügen durchbrechende, vernichtende, wegräumende Geist kann den Anderen, den sogenannten Mit-Menschen noch behilflich sein, sich selbst allmählich zu regenerieren! Danton, Marat, Robespierre waren Untiere der sozialen Entwicklung. Von außen hinein, vermittelst der Guillotine geht es eben leider nicht. Sondern nur vermittelst Geist und Seele!

Wenn ich von dem Herrn LandesgerichtsrateA.P. gar nichts anderes wüßte, als daß er den Ausspruch getan hat: »Diese allerdings unleugbar Schwerverbrecher sind mir privatim doch noch immer tausendmal interessanter, merkwürdiger, ja sogar fast menschlicher erklärbar als mein Freund L.v.K.«, so wüßte ich bereits, daß es ein grobes Versäumnis, eine Ungeschicklichkeit meinerseits war seinerzeit, nicht à tout prix mit ihmbefreundet zu werden! Um in meinem Berufe als Mensch zuzulernen!


*


Jene wenigen Mädchen, die in diesen schweren Tagen, Juni 1918, meines allertiefsten Lebens-Überdrusses, sich mir zeitlich und örtlich dankbar-liebevoll widmen, tun es ja nur für dieEntwicklung ihrer eigenen Seele! Amen.

Die Liebe meines Bruders Georg bin ich. Woher hätte er sie denn ohne mich?!

Ich verantworte diesen Ausspruch, seine zärtliche Angst um mich hat keine Grenzen. Er ist ein »pathologischer« Frauen-Verächter, obzwar er sie [227] fast als »vergiftende Angriffsobjekte seiner Psyche« braucht, als Objekte für seine gerechte »objektive Betrachtung«! Wie wenn ein berühmter »Schlangenbändiger« seine Schlangen verachtete und dennoch sie dringendst für sein Leben brauchte! Niemand wird Schlangen liebhaben, aber Manche können sie für ihr Leben brauchen und richtig ausnützen. So mein Bruder. Bei mir also ruht sich seine enttäuschte gutmütigste Seele aus in »brüderlicher übertriebener, vielleicht noch niemals dagewesener, ängstlicher, ja oft sogar fast störender Zärtlichkeit!« Aber welche »seelische Zärtlichkeit aus dentiefsten Tiefen unserer Herzen« wäre auf die Dauer nicht störend und eigentlich belastend?!? Wir sind nun einmal so perfid veranlagt!

Prodromos

Prodromos,
der »Vor-Läufer, geistig«

Aus geistigen allmählichen Erkenntnissen, derwirklichen unentrinnbaren Bedürfnisse seiner Lebens-Maschinerie sein zum endlich Zugrundegehen dennoch jedesfalls bestimmtes Leben um ungefähr zehn Jahre hinaus verlängern (ininnerer Jugendfrische), ist die einzige hygienisch-diätetische Tat des modernen Menschen! Von selbst gehst Du nur den vorherbestimmten Weg Deines faden Schicksals! Aber Deine geistigen Erkenntnisse Dessen, was jederzeit geheimnisvoll nottut Deiner Lebens-Maschine, können Dich hinübertragen über das längst vorbestimmte Verhängnis der Jahre! Z.B. empfahl mir in meinem 60. Lebensjahre Professor Viktor Hammerschlag [228] das absolut für Jahre verjüngende heilige Abführmittel: Rheum et Magnesia usta, 50 Prozent, täglich ein Eierlöffelchen gehäuft voll. Es garantiert für Jahre körperlich-geistige Elastizitäten und Vermeidung organischer heimtückisch heranschleichender Erkrankung irgendeines der wichtigen Organe! Oder: Kurella-Pulver, 2 Kaffeelöffel.

Frl. E.A. empfahl mir ihr Arsen-Präparat »Elarson Bayer«, täglich nach jeder Mahlzeit eine Pille, durch zehn Tage zu nehmen, dann fünf Tage Pause. Es steigerte meine Lebens-Kräfte mysteriös und schiebt jeden Zusammenbruch unbedingt auf Jahre hinaus! Die Ärzte und der Laie hoffen stets leider auf die natürliche Heilkraft der Natur, die ebengar nicht mehr vorhanden ist! Ich hoffe auf die Macht »geistiger Erkenntnisse« über seine eigene kompliziert-märchenhafte Konstitution! Ist Das »Hypochondrie«?!

Voilà, dann bin ich Gott sei Dank ein Hypochonder!

Krisen

22./6. 1918


Wieder eine Krise von sechs Monaten besiegt, das schauerliche »Schlafmittel Paraldehyd« (es ist nicht schauerlich, ich bin schauerlich), ich nahm schließlich statt eines Likörglases vor dem Einschlafen zwanzig, eine Dosis, die sogar nach Professor Baron Wagner von Jauregg unbedingt zum »Delirium« führen muß und die sich Niemand, ohne Entziehungskur in einem Sanatorium, selbst abgewöhnen kann! Da brachte mir der junge Bildhauer D. von der italienischen Front eine Flasche herrlichen Schnaps[229] »Trebern«, und als ich sie ganz langsam (fünf bis sechs Stunden lang) ausgetrunken hatte, wußte ich nicht mehr, daß »Paraldehyd« überhaupt existiere, es war gelöscht durch diesen Alkohol, für ewige Zeiten! Leider ersetzte ich das »Schlafmittel« durch Wein, Wein, ein Gift für meine und auch Anderer Nerven, Riesling, der meinen Verdauungs-Apparat zerstörte und lähmte. Da erhielt ich wieder durch Zufall eine Flasche geschenkt, 50 Kronen Wert, »ältesten Sliwowitz, 1878«, und ich war vom »Gifte«, vom Wein errettet! Bier und Schnaps (in prima Qualität) sind offenbar die Anreger meiner Lebens-Maschinerie, Wein und Paraldehyd die Lähmer. Viel leicht können Nervenärzte von diesen aufrichtigen,allzu aufrichtigen Geständnissen jedoch lernen und neue Ausblicke, Einblicke gewinnen. Sonst hätten sie wirklich wenig Zweck! Aber »Schlafmittel-Vergiftung-Angewöhnung« durch starken Alkohol zu heilen momentan für immer, wäre einemedizinisch wertvolle Errungenschaft!Ohne langwierige beschwerliche und kostspielige Entziehungs-Kuren! Aber es muß unbedingt »Schnaps« sein, eine Konzentration! Was kann den Herren berühmten Nervenärzten daran liegen, es zu erproben?!? Skeptizismus ist unmodern und unbedingt historisch retardierend! Ich bin tiefst überzeugt, daß man alle Schlafmittel-Vergiftungen (eigentlich Lähmungen) durch die anregende, aufpeitschende, entgegengesetzt wirkende Wirkung von starkem, konzentriertem, bestem Alkohol, für Gehirn und Rückenmark, momentan fast beseitigen kann! Da erinnere ich mich Gott sei Dank aus meiner geliebten Jugend-Lektüre [230] »Brehms Tierleben«, daß man die schauerlich lähmende Wirkung des Bisses der Klapperschlange, Kobra, durch starkenSchnapsrausch vollkommen, folgenlos, in Afrika bei den Negern, heile! Niemand wird dadurch zum Alkoholiker, es ist ein Heilmittel, an das man sich nicht gewöhnt! Mögen die Herren Nervenärzte an diesem »Essay« nicht größenwahnsinnig-unmenschlich wie stets vorübergehen!

Juniregen in der Stadt

Plötzlich wird es kühl, und man vergißt es natürlich momentan, wie sehr man sich endlich nach »kühlen Tagen« gesehnt hatte! Jeder, Jede suchen sich zuschützen plötzlich vor der seit Tagen ersehnten Kälte, und selbst ich spüre meine hutlose Glatze und meine nackten Sandalen-bekleideten Füßefast unangenehm! Niemand geht spazieren oder sitzt im Freien, Jeder schützt sich mechanisch-blöd-automatisch vor den seit langem herbeigesehnten kühlen Tagen und Abenden und Nächten! So ist unser ganzes Leben eigentlich, in allen seinen Abschnitten, vita ipsa!

Paraldehyd

Heiliges Schlafmittel; wie Alles hienieden, richtig, vorsichtig, intelligent, ideal angewendet, ein Mittel, einem schlaflosen kranken Menschen vonacht Uhr abends bis sieben Uhr morgens einen[231] tiefen, eigentlich fast schon naturgemäßen (einfacher Behelf der geschwächten, gekränkten, mißbrauchten, beleidigten Natur selbst, Krücke für den Lahmen), traumlosen restlosen Schlaf zu verschaffen,amen. Im Jahre 1912 wirkte es so bei mir Schlaflosem, im Sanatorium, von acht Uhr abends bis sieben Uhr morgens, durch sechs Monate, und niemals während des ganzen langen bangen langweiligen, von tief-düstersten Melancholieen erfüllten Tages empfand ich jemals Müdigkeit, Abspannung oder gar Bedürfnis nach Schlaf. Ja, um acht Uhr abends war ich eigentlich noch ebenso frisch wie am Morgen. Aber da kam eben schon der Pfleger mit dem Likörglas »Paraldehyd«, und ich schlief sofort rapidunvermittelt ein, bis sieben Uhr morgens.

Was kann dieses heilige, in dieser Dosierung errettende (fast wie edle Bergpartieenwirkende, süß lähmende, ins teure, erlösende vom Leben, Schlaf-Land, gesund hinüber geleitende Schlafmittel dafür, daß die Nerven, in ihrer genial-gefährlichen Gutmütigkeit, sich dem Organismus und seinen Sünden allmählich leider – Gott sei Dank zu akkommodieren (bei den Eskimos hat es 40 Grad unter Null, ohne daß die kleinsten Kinder es spüren oder gar Frostbeulen bekommen) vermögen, und die gesteigerte Dosis Uns schließlich lähmt, nein, vergiftet?!? Paraldehyd, ein Likörglas vor Deinem unmittelbaren Einschlafen, bereits zur heiligen Nachtruhe bereit, in deinem gewohnten Bette, auf deinem gewohnten Polster, mit deiner gewohnten Decke, verschafft Dir, wenn Du vorher vorsichtig soupiert hast (allzuvorsichtig gibt es eben nicht hierin; wie ein magenkrankes, darmkrankes [232] Kindchen), einen restlosen traumlosen Berg-Kletter-Tour-Schlaf von acht Uhr abends bis morgens sieben Uhr. Wenn Du dagegen sündigst, bist Du selbst dasGift in Dir, nicht das Paraldehyd! Jede unnötige Übertreibung ist für den genial-gutmütigfabelhaft elastischen Organismusschließlich vergiftend! Wer ist Schuld daran?!? Du, angeblich denkender, falsch bedenkender Mensch, Du allein!

Mein heiliger Bruder

Mein Bruder lebt seit 20 Jahren in ständiger Angst um mich. Wie viele schauerliche Sanatorien-Aufenthalte mit mißverstandenen gutmütigen Rücksichten für einen bisher noch niemals so exzentrisch abnormal fluchbeladen funktionieren den Organismus wie den meinen, hat er in brüderlichster Aufopferung und verbunden mit selbstverständlichem Ärzte-Unverständnis, weil bisher kein ähnliches Beispiel vorlag, durchgemacht (ungefähr sieben verschiedene). Das Verbrechen, nein, die Sünde der Ärzte ist, daß sie nicht, einfach anständigerweise zugeben wollen, daß sie sich trotz aller ihrer Wissenschaft und langjähriger Erfahrung zufällig in diesem einen einzigen Falle nicht auskennen, und sie es deshalb für ihre menschliche Ehrenpflicht halten, eben Das einfach-ehrlich-anständig-stolz sogar, privat und öffentlich zu bekennen! Statt dessen glauben dieseUnglückseligen, vollkommen von der überalldennoch begrenzten und noch nicht endgültig ausgebauten Wissenschaft größenwahnsinnigst Irregeleiteten, sie dürften sich vor [233] dem »Laien« unbedingt keine »Blöße« geben, dervertrauensvollst zu Ihnen als letztem Rettungsanker im Schiffbruche seines blöden Lebens zur Konsultation (50 Kronen oder sogar 100) erscheint! Was ist die naturgemäße Folge dieser schauerlich-blöden Vorgänge?! Das endgültige »Débacle« (Untergang) der Rettung suchenden Patienten! Der Arzt verliert nichts dabei, denn Niemand ahnt es, daß er in diesem Falle durch Eingeständnis seines Nicht-Wissens gerade noch hättevielleicht erretten, helfen können!

Karlsbad

Der Arzt: »Du mußt jedes Jahr für drei Wochen nach Karlsbad, Mühlbrunnen trinken und diät leben, es ist noch immer die bequemste Art, die ›physiologischen Sünden eines langen eigentlich für den Körper bangen Jahres‹ abzubüßen!«

Der Diätetiker: »Lebe Du das ganze Jahr hindurch so vorsichtig-intelligent-diätetisch, daß Du die drei Wochen Karlsbad gar nicht benötigst!«

Immerhin ist es eine dreiwöchentliche Reinigungs-Kur für die ein langes banges Jahr lang an Magen und Darm sündhaft Unreinen! Kann die Natur in drei kurzen Wochen diedüsteren Sünden gegen sie im hilflosen Organismus, eines langen Jahres, liebevoll verzeihen?! Manchmal nur hat sie die Gnade es zu tun!

Principiis obsta! Später ist zu spät! Z.B. ich rate Dir nun dringend, ohne Karlsbad, das heilige wunderbare verjüngende Sünden-löschende Abführmittel [234] an, ein Eierlöffelchen des Morgens,Rheum et Magnesia usta (50%)! Ferner von selbst endenden Schlaf bei weit geöffneten Fenstern! usw. usw. usw. Oder Kurella-Pulver.

Sokrates schon predigte vor soundsoviel Jahren ganz primitiv-genial: »gnôti sèautòn!« Erkenne Dich selbst! Aber bis heute, 19./6. 1918 haben sie sich noch nie die Mühe gegeben, ihre unglückselig direkt mißhandelte Lebens-Maschinerie richtig zu erkennen! Sie ziehen es vor, das zerstörte Wrack ihrer eigenenkörperlichen Unverständnisse, also Sünden, für drei Wochen angeblich bequem, pfui, nach Karlsbad zu schleppen!

Geselligkeit des Abends im Kaffeehause

Es ist natürlich gar keine Geselligkeit, wie könnte es auch möglich sein bei irgendwie körperlich, seelisch, geistig, ökonomisch, sozial (falscher Ehrgeiz) nicht aus inneren überschüssigen Lebens-Kräften, sondern aus dem öden rastlosen Willen eines noch ganz Lebens-unmündigen Gehirnes belasteter oder wenigstens irgendwie gebundener unfreier Organisation (weißt Du, wann und weshalb die Nachtigall von selbst süß singt?!?)?!?

Aber man sitzt beisammen, und vergißt infolgedessen mechanisch für einige Stunden seine zahlreichen Enttäuschungen, Unannehmlichkeiten, unnötig nötigen Verlogenheiten des Tages und der Stunde, man ruht aus von den Strapazen des [235] Lebens, das überhaupt nämlich schon mehr fast keines ist! Jede Pflanze hat die mysteriöse Kraft, ihr eigenes Leben gegen alle Anderen zu leben!

Sonst verdorrt sie baldigst, schwindet hinweg, lautlos trübe, aus einem Leben, das ihr nicht genug zu leben gibt, nach ihren eigenen unentrinnbaren geheimen Gesetzen! Aber der Mensch ist ungeschickter, ungenialer. Er merkt, es geht nicht mit dem Leben so weiter, daher rennt er zum fremden Arzte, der ihn durch zehn Jahre erst Tag und Nacht vergeblich studieren müßte. Nein, er begnügt sich aber mitnichtssagenden Ratschlägen für eine vollkommen zerrüttete mysteriöse, unbedingt überall tief für den Anderen rätselvolle Lebens-Maschinerie, Honorar 50 Kronen! Er sucht zu helfen, soweit es seine kostbare Zeit (1/2 Stunde) und das immerhin geringe Honorar gestatten. Aber kann er unter diesen gequälten und vor allem tief verlogenen Bedingungen helfen überhaupt?!? Keineswegs. Er kann einen Schimmer von stupider Hoffnung bringen! Ja, Das kann er. Dem Stupiden.

Junggeselle

Diesen wunderbaren hellbraunen Gummimantel kaufte ich mir im Jahre 1912 in Mürzzuschlag (Semmering), für 30 Kronen (heute, 1918, ist er überhaupt, selbst für Geld nicht zu erstehen). Seit Jahren ist die Schlinge gerissen. Man opfert sich eventuell für mich aus Märchen-Bedürfnissen, einen alten kranken Dichter zu pflegen, eine Zeitlang wenigstens honett für mich auf, aber die Schlinge [236] näht mir Niemand an! »Welche innere geistig-seelische Befriedigung habe ich, wenn ich dem alten kranken Narren seine Regenmantel-Schlinge annähe?!? Irgend etwas muß man ja doch schließlich, wenn auch ganz indirekt, von örtlich-zeitlich-geistig-seelischer Aufopferung haben!?! Aber vom Annähen einer Mantel-Schlinge?! Mein Gott, Das trifft doch wirklich eine Jede, und wahrscheinlich sogar besser als ich Gans!«

Gmunden

Plötzlich tauchst Du wieder mit melancholischer Macht in meiner verdüsterten Seele des bald 60jährigen (9./3. 1919) auf wie ein lichtes unvergeßliches rührendes begeisterndes Märchen-Land! 23 Sommer und Herbste lang, nein, kurz, zu kurz für meine in dieser »Ruhe-Idylle« sich rein badende und vom irren, ehrgeizigen, rastlosen stupiden Welt-Getümmel süß ausruhende, immerhin allzu impressionable, also für die Konstellation des gewöhnlichen unidealen, sich abhaspelnden Lebens schlecht konstruierte, also bereits kranke Lebens-Maschinerie! Nun gedenke ich Deiner fast als meiner einzigen Heimat, die ich je gehabt habe! Wie schlugen abends die Wellen melancholisch-süß ans Ufer der dunklen einsamen Esplanade, wie war der schmale Weg längs der schäumenden Traun!

Wie waren die Bootfahrten ans andere schattige Wald-Ufer (Damen ruderten mich willig), und dort die absolut friedevollsten Jausen-Plätze, wo man vom Ausruhen am anderen Ufer (Gmunden) [237] nun noch doppelt ausruhte, in frischer kühler Traunstein-Luft!

Wer wird mich noch einmal vor dem ganz großen und endlich ergiebigen Ausruhen dorthin bringen, als Mäzen, um die Begeisterungen einer alten Dichter-Seele eventuell mitzuerleben!?! Gmunden, eigentlich mein Seelen-Heimats-Städtchen (ich liebe nichts Anderes hienieden) am weiten Gmundener See, Ob.-Öst., sei bedankt und sei tief gesegnet!

Trebern

Nun gut, man ist angeblich ein Schriftsteller.

Vielleicht war man es wirklich ganz von selbst, plötzlich, vor 20 Jahren, im 36. Lebensjahre. Aber seitdem hat man erstens bereits zehn Bücher herausgegeben, sich einen verhältnismäßig berühmten Namen gemacht mit diesen kleinen großen Moment-Photographieen des »inneren Lebens«, hat sich, d.h. eigentlich seine von Gottes Gnaden und Ungnaden verliehene Persönlichkeit, nach jeder Richtung hin erschöpft, ja, direktausgeplündert! Ein Schuft, der mehr gibt als er zu geben reell hat!

Nun, im 60. Lebensjahre (9./3. 1919) kommt alsgeistig-seelisches Hilfsmittel der Sporn und die Peitsche »Trebern« fast von selbst, naturgemäß, und dennoch wie Alles in diesem Leben, einem glücklichen merkwürdigen Zufall zu verdanken, dieser Schnaps hinzu. Von Bier zu tödlichen, weil schauerlich übertriebenen heiligen, ein Likörglas im Bette abends, Schlafmitteln [238] (Paraldehyd), und nun zum Gehirn-erlösenden, anregenden Trebern! Alles Das ist aber unnötig künstlich für den ganz Normalen, und dennoch, am Ende der genauen Berechnung, habe ich dadurch allein (Talent hatte ich nie), zumal den jungen Frauen und Mädchen in meinen zehn Büchern für ihr Leben undsogar gewissermaßen für ihr Glück (geschicktere weisere Lebensführung infolge der Lektürevon nun an) viel selbstlos geleistet! Wenn mir lange nichts einfällt, Impressionen, wie ich und meine Leser sie gewohnt sind von mir, fast pathologisch ausbleiben plötzlich (geistig-seelische Impotenz), so bringt mir nun ein Liter Riesling 1917, Fechsung, unbedingt die Stimmung, Andere irgendwie aufzuklären! Freilich kostet es elf Kronen jedesmal. Da muß man sich es berechnen, was, gesammelt zu einem Buche, das künftige Buch eintragen wird, und so kommt man vielleicht gerade noch »mit einem blauen Geiste« davon! Ich habe kein organisches selbstverständliches Talent mitbekommen; dafür aber als herrliche Entschädigung die tiefsten Kenntnisse der Diätetik und Hygiene unserer, ach so komplizierten, Lebens-Maschinerie. Von da aus steigert man sich naturgemäß von selbst zum Leben überblickenden Dichter!

Naturgemäß

Nur Diejenigen, die in sich selbst bereits, voraus vorhanden vom Schicksale, irgend Etwas von meinen Intelligenzen und neuen Erkenntnissen besitzen, werden mir naturgemäß, getreulich, sogar[239] dankbar, Gefolgschaft leisten, denn sie befinden sich auf meinem richtigeren Lebenswege von selbst, weg von ihrer Lüge, und folgen also willig dem Führer!

Alle Anderen sind in gewisser Beziehung in meinem Leben die »Teuflischen« gewesen, ihre eigenen Irrbahnen, Irrwege seelisch-geistig bockbeinigst und sogar renitent schreitend, in das eigene Verderben hinein, überzeugt, daß man seelisch-geistige neue Spannkräfte nicht brauche, und daß die ach so komplizierte Maschine »Leib« ganz von selbst ihre unheiligen Wege gehen könne und dürfe und sogar, ja sogar, pfui, solle! Wer von mir abfällt, fällt von sich selbst ab, von seinen spärlichen Erkenntnissen, daß er ein Irr-Leben führe! Wenn Jemand jedes Jahr die strenge Karlsbader oder Marieenbader Kur mitmacht, sich auf die Kur-Regeln genauestens verläßt, so pardoniere ich ihn. Er hat Geld und Geschicklichkeit genug, um seine Sünden in kurzen drei Wochen scheinbar angenehm zu büßen!

Aber wehe Denen, die auf die ernste strenge Mahnung warten! »Das Schicksal schreitet schnell.« Wer noch dazu sich bemüht, liebevoll, zwischen meinen Zeilen zu lesen, bekommt noch mehr Nahrung für sich selbst. Der Andere liest absichtlich oberflächlich das ihm unsympathisch unverständliche Wort! In unserer Familie liegt geheimnisvoll unradikal unaggressiv (kein äußerer Ehrgeiz) die Propaganda. Mein Vater schon machte durch sein Sein Propaganda dafür, daß selbst ein Kaufmann seine sechs Wochen Ferien auf den Hochalmen des »Schneeberg« als Holzknecht verkleidet verbringen solle [240] Mein Bruder macht Propaganda gegen das geistige Leben der Frauen, indem er esrundweg radikal stets leugnet. Und ich?! Ich schrieb meine zehn Bücher.

Lug

Alles Lug, Alles Trug, Alles Trug, Alles Lug. Niemand wagt es, auch nur für einen einzigen heiligen Tag der »Wahrhaftigkeit seines wirklichen, in ihm tief versteckten Lebens«, das dennoch nie, nie, nie sich besiegen läßt und irgendwo, irgendwie, irgendwann aufbegehrt mit der aufgezwungenen Lebenslüge, finster-entschlossen ins Antlitz zu schauen! Jeder, Jede, suchen sich vor sich selbst und ihren Unzulänglichkeiten (Entfernung vom möglichen Eigen-Ideale) inkörperlicher vor allem, seelischer, geistiger, ökonomischer Sphäre ihres Klein-Daseins zu verbergen, und ziehen die Vogel-Strauß-Politik vor, der, wenn er den Kopf in den Sand vergräbt und nichts sieht, glaubt, hofft, erwartet, infolgedessen vom Jäger auch nicht gesehen zu werden! Aber er wird gesehen, er wird! Und wir von uns selbst auch, so tief wir uns auch vor uns selbst und unseren eigenen Gefahren in uns zu verbergen trachten! Wir werden gesehen!

Vom Teint angefangen, der statt mit Wasser, Seife, Luft, Magen- und Darm-Diät, Schlaf restlos bei weit geöffneten Fenstern, seelisch-geistigem möglichstem Frieden, behandelt werden müßte, statt dessen aber mit rosa Puder mißhandelt wird, bis zu den wichtigsten und geheimnisvollsten Funktionen ist Alles Selbst-Betrug, Alles Lug und Trug, [241] Trug und Lug! Der angeblich menschenfreundliche, scheinbar gutmütige Verkehr mit »Untergebenen«: »Guten Morgen, guten Abend, Resi,« hinter dem die grauenhafteste, infamste Ausnützung, das unendlichen Abstand ununterbrochen konstatieren, wo notabene meistens gar keiner ist, wenigstens nicht von dieser Seite, der »äußere Luxus« statt des »inneren des Herzens«; Gott, bin ich ein Wanderprediger?! Genug, genug. Aber darf ich es verschweigen, daß ich es besser sehe, spüre, weiß als die meisten Anderen?! Ich mache im 60. Lebensjahre noch immer meine drei berühmten Jugend-Elastizität garantierenden Freiübungen, um körperlich wenigstens höchst elastisch zu bleiben! Also:menschlich! Also: geistig-seelisch!

Die Nacht ohne Schlafmittel

Um vier Uhr morgens, 11. Juni 1918, begann es zu dämmern. Diese göttliche Stille des schlafenden Hotels, keinerlei Geräusch. Ich gedachte schauerlichster Schlafmittel-Leiden (Paraldehyd, in vierzigfacher Dosierung der vom Arzte im Jahre 1912 verschriebenen heiligen Menge, Punkt acht Uhr abends ein Likörglas, garantierter traumloser Schlaf von acht Uhr abends bis sieben Uhr morgens, wie nach Berg-Partieen!). Ich gedachte meiner Lebens-Abgründe in jeglicher Beziehung meines gefahrvollen exzentrischen unbezwingbaren unerbittlichen Konzessions-losen Daseins! Niemand hat bisher je so Konzessions-los bis zu seinem [242] 60. Lebensjahre gelebt wie ich, ohne jegliche Geld-Rückendeckung!

Ein schrecklicher Zelot seines Geistes und seiner Seele! »An Abgründen sollst Du wandern, Dein Leben lang, bereit zu zerschellen, bereit! In den Niederungen aber liegt der träge Dunst des Alltags und die sichere, Geist und Seele mordende, gleichmäßige Bequemlichkeit.« P.A. Um fünf Uhr wurde es ganz hell. Jemand ging aufs Klosett, man hörte die Türe, die Wasserspülung. Stille. Um sechs Uhr ging ich weg, meiner Einsamkeit zu entfliehen. Die Straßen waren leer und still. Wie reingebadet ist man von vielem Schmutz und Irrtum! Wie lange noch?!


*


Eine merkwürdige, eine schreckliche, eine wunderbare Nacht. Eine reinigende, richtig stellende. Offene Fenster, es regnet. Wunderbare feuchte Luft. Alle Irrsinne meines Daseins ziehen an mir, bedrückend, erlösend, vorüber. Meine »Natur-Liebe« besiegte dennoch von selbst alle schauerlichen Fehltritte meines unglückseligen Da-seins. Der »Botanische Garten« in Wien, der Rathauspark in Wien, ersetzten mir stets vollkommen die Schätze dieser unbesiegbaren Welt. Nach einem Sommer im »Botanischen Garten« in Wien kamen viele Damen einst zu meinen Eltern sich erkundigen, in welchem Kurorte ich mich denn so fabelhaft erholt hätte! Ich bin heute, mit 60 Jahren, ein Todeskandidat ausvielen Gründen, noch immer, wie eh und [243] je davon überzeugt, daß man, mit der Kraft seiner diätetisch-hygienischen Erkenntnisse, im »Wiener Rathauspark« einen gesunderen, billigeren, bequemeren Sommer-Aufenthalt sich verschaffen könne als in allen teueren Kurorten! Arzt und Gewohnheit und Vorurteile, o Mensch, sind Deine ewigen Feinde hienieden. Fliehe – – – zu Deinen eigenen besseren Erkenntnissen!

Sieben Uhr morgens, ich trinke noch immer ununterbrochen den herrlichen Ober-Österreichischen »Riesling«. Die Sperlinge zwitschern leidenschaftlich auf den alten rot-braunen Dachziegeln. Es »klärt sich« in mir. Ich beginne, das Leben objektiv zu erfassen, als eine unentrinnbare Tragödie des eigenen Ich und zugleich Komödie! Was, was, was kannst Du Dir denn da, bei allem Geiste, bei aller Seele, bei allem Besser-Wissen, bei allem besseren richtigeren Geschmacke, herausschlagen?!? Nichts, nichts, nichts! Gar nichts.

Gärten

Wie kann man den »Hofgarten« in Innsbruck oder den »Volksgarten« in Wien mit unseren zwei Rathaus-Parken vergleichen, in denen jeder Baum einWunderwerk der Natur selbst ist?!? Wieso gibt es noch Menschen, die »Garten-Kunst« bewundern, da die Natur doch von selbst die idealste Garten-Künstlerin ist?!? Blumen-Beete sind eingeschmackloses Verbrechen an törichten Menschen! Die Natur, vita ipsa, leitet uns ganz von selbst!

Erkenntnisse [1]

[244] Erkenntnisse

Geheiratet werden wollen, versorgt werden wollen, und dafür seine ganze Ihm selbstverständlich ewig unbekannte Persönlichkeit hinopfern, ist eine verbrecherische Infamie! Den »Bedürfnissen« des Mannes zu dienen, dessen »photographische Aufnahme« in jeder Beziehung man nicht ist und nicht sein kann, ist einVerbrechen, an ihm und an sich selbst! Nein, an Ihm! Nein, an sich selbst!

Gespräch mit der Geliebten

Schaust Du jemals auf der Speisekarte nach, wieviel eine Speise, die Du Dir bestellst, kostet, und bedenkst Du es jemals, ob ich in der Lage bin, es Dir zu bezahlen?! Schäme Dich! Du willst damit vor den Anderen beweisen, was für einen splendiden Freund Du hast!?! Sind Das deine wertvollen menschlichen Eigenschaften?! Pfui, schäme Dich, törichte Kind-Verbrecherin! Mir könntest Du tausendmal mehr von Deiner Menschlichkeit, nein, von Deiner Anständigkeit beweisen, wenn Du ihn ökonomisch schonen und berücksichtigen würdest, Tag und Nacht, wenn Das nämlichüberhaupt in Frage kommt! Den Mann schonen, den man lieb hat, sei das »Schlagwort« der künftigen, bisher nur über bildeten, falsch gebildeten, ungezogenen, größenwahnsinnigen, völlig wertlosen, im Gegenteil in jeder Beziehung den Mann in seiner Entwicklung zu eventuellen möglichen Göttlichkeiten hemmenden Frauenseele! Sie [245] unterwerfe sich demütig seineneventuell möglichen idealen Entwicklungen (Göttlichkeiten), und wenn nichts, mit ihrer geringen Kraft, daraus wird, hat sie noch immer Zeit, ihre eigenen Wege, die seit jeher in ihr Forderungen geheim-laut-verschwiegen-schauerlich-unentrinnbar an sie stellten, heldenhaft-melancholisch zu durchschreiten und sich »dem Fluch der alltäglichen Herde« zu entziehen!

Der Allein-Schreiter hat einen Heiligen-Schein, denn er hofft, die Anderen auf seine unbedingt richtigeren Wege zu bringen, vor allem durch sein Beispiel! Nie gelingt es ihm. Deshalb allein gibt man ihm den billigen unverständlichen Ehrentitel eines »Heiligen«, d.h. eines vollkommen Unverständlichen, obzwar er eigentlich noch nicht in die Kategorie »unheilbarer merkwürdiger Narr« einzureihen ist! Alsobloß ein gewöhnlicher »Heiliger« vorderhand.

Kindererziehung

»Geh', Mädi, sei brav, nimm nicht das Zündhölzl in den Mund, es ist giftig!«
»M–, M–, laß mich!«
»Mädi, hast Du denn die Mama nicht lieb?«
Mädi fühlt: »Wie kommt Das zu Dem?
»Mädi, Mama wird sich kränken, wenn Duunfolgsam bist!«
»M–, M–!«
Sie reißt ihr das Zündhölzl aus dem Mündchen. Das Kind ist perplex.

[246] Tischtücher

»Durchlaucht sind mit unserer Institution der Kriegsküche für Mittel-Arme (drei Kronen) also zufrieden?!?«

Die Fürstin: »Nur Eines bedauere ich, und komme auch nie mehr wieder inspizieren!«

»Oh, Durchlaucht, weshalb?!«

»In einem solchen Etablissement ißt man aufwaschbaren Wachsleinwand-Tischtüchern, nicht auf weißen!«

»Durchlaucht, die Ästhetik macht sogar das Essen schmackhafter!«

»Ach so! Adieu!«

Don Juan

Es gibt einen einzigen Typus »Mann«, der von den ästhetischen und seelischen Detail-Werten einer Frau (das dennoch einzig Wichtige an ihr)nichts versteht, nichts verstehen kann! Es ist der »leichte Eroberer«, der »Eroberer wegen nichts und wieder nichts«, der die mysteriöse Macht hat, die Frauen ganz von selbst anzuziehen wie der Magnet das Eisen. Er beobachtet sie nicht, sie rühren ihn nicht, kein zartes ideales Detail ihres mysteriösen Leibes interessiert ihn, weder Finger noch Hände, noch Füße und Fußzehen, weder ideale Brustrosen noch unideale, er findet keinen Unterschied, weil er beide nicht erschaut! Anmut des Gehens, Sitzens sind ihm gleichgültig, er weidet sich an seiner ganz von selbst-Macht, die er von Schicksals Ungnaden besitzt.

[247] Nur Der, den sie nicht haben will, aus irgendeinem Grunde, plausibel oder mysteriös, kann sie in Leiden verstehen, begreifen, schätzen, ja verachten und verabscheuen. Aber eben alles Das zusammen ist sie!

Dem leicht-Eroberer entgeht die Poesie, die Romantik, mit einem Wort der Schmerz. Der Eroberer kann nie, nie, nie glücklich oder auch nur irgendwie befriedigt sein. Man läßt ihm keine Zeit zu dieser unbedingt langsamen zögernden Entwicklung. Er siegt sogleich, pfui! Also gar nicht.

Widmung in mein Buch »Vita ipsa«, im Juni 1918

Widmung in mein Buch »Vita ipsa«,
im Juni 1918

»E.K., Du 18jährige aus der Anker-Brot-Fabrik, 250 Kr. monatlich Gehalt,

die Du Deine Stellung sofort aufgegeben hast,

um bei mir, 59jährigem mit doppeltem Handgelenk-Bruche (Fall nach rückwärts von meiner Hotel-Steintreppe infolge Ausgleitens meiner Holz-Sandalen auf den eingeseiften, zu wenig mit Wasserabgespülten Steinstufen, einmal im Jahr geschieht Das) freiwillige unbezahlte Pflegerinnen-Dienste zu leisten, sei bedankt und gesegnet!«

15./6. 1918

P.A.

15./6. 1918, 1-2 3 Uhr Morgens

15./6. 1918, 1/2 3 Uhr Morgens

Es zwingt mich!
Es zwingt mich nieder, Elsa K.,
18jährige, freiwillige unbezahlte
[248] vier Monate lange Pflegerin in niedrigsten,
also in höchsten Diensten, Dir zu schreiben.
Diese Nacht ist kühl, lang und bang.
Wie endlos. Ich habe erst eine Stunde lang geschlafen und glaube, es wären bereits zehn.
Draußen ist es noch ganz finster und friedevoll. Der Tag ist ferne, ferne.
Elsa K., ich segne Dein blondes 18jähriges Haupt!
Ich weiß, weshalb, und sonst braucht übrigens Niemand es zu wissen! Ohne Dich mein Abgrund!

Geselligkeit

Die Gesellschaft, in der man verkehrt, zwingt einem wohlerzogenen Menschen unerbittlich die Art des Verkehres auf, der Ihnen genehm ist! Melancholie, Sorgen, Konzentration auf das eigene Ich sind für Stunden deshalb ausgeschlossen! Mag sein, daß dieses vollkommene erzwungene stundenlange Ausspannen der sonst ewig rastlos sich abarbeitenden Lebens-Maschinerie für Einzelne eine stundenlange Ruhepause bedeutet. Beethoven, Schubert, Mozart, Hugo Wolf brauchten Das nicht, für sie wäre es »Gift« gewesen! Nein, Rückschritt!

De corpore

Der schwache Mensch wird bei jeder Gelegenheit von seiner gemarterten oder auch nur überbürdeten [249] Lebens-Maschinerie gemahnt, sie doch nicht über Gebühr anzustrengen und so daher vorzeitig abzunützen. Ob er will oder nicht, er hält inne auf dem Wege ins Verderben, lauscht unwillkürlich der mahnenden Stimme seiner eigenen mißbrauchten Maschinerie! Der starke Mensch wird nie gemahnt von seiner Lebens-Maschinerie, die Alles aushält! Bis er gemahnt wird, ist es bereits längst zu spät zur Rettung!

Siehe: die meisten Herz-Erkrankten.
Plötzlich, nachts, unvorhergesehen durch Jahrzehnte, kommt der erste Anfall – – – undSchluß!

Abführmittel

Niemand heutzutage versteht auch nur das Geringste von den Beziehungen des »Purgiert-seins«, physiologisch innerlich rein sein, zu denSpann-Kräften von Geist und Seele!

Übertreiben ist selbstverständlich Hysterie, Krankheit der Nerven, wie alles alles Übertriebene! Ich begann vor zwanzig Jahren das »Tamar Indien Grillon« zu predigen, die Tamarinde (Frucht), präpariert vom Millionär-Apotheker Grillon. Jetzt aber, im 60. Lebensjahre verdanke ich einer flüchtig-genialen Gesprächs-Bemerkung des Professors Viktor Hammerschlag (Ohren-Spezialist) das äußerste Ideal diesbezüglich (Elastizitäten spendend, Greisenhaftigkeiten verbannend, zehn Jahre Lebenmehr garantierend durch Hygiene von Magen und Darm): [250] Rheum (Rhabarber, Gartenpflanze) etMagnesia usta, 50 Prozent.

Er ist besser und billiger und reinigender undverjüngender als alle Kuren in den noch so berühmten Heilbädern. Und wie bequem-einfach! Du hast es in einer Schachtel in Deinem Nachtkästchen, nimmst ein bis zwei Eierlöffelchen voll, trocken, trinkst einen Schluck Wasser nach. Die Wirkung nach ungefähr zwölf Stunden! Geist und Seele sind und können naturgemäß nichts Anderes sein wie letzte, wenn auch sublimste Wirkungen der gesamten Lebens-Maschinerie! Selbst »Ausnahmen«, kranke Genies, bestätigen die Regel. Im Allgemeinen sind wir von den Funktionen von Magen und Darm schließlich ganz geistigseelisch abhängig. Besonders die »Menschenfreundlichkeit und Güte« haben hier ihren einzigenmysteriösen Ursprung!

Widmungs-Exemplar
meines soeben erschienenen neuen Buches »Vita ipsa« (das Leben selbst) an Poldi Kühhaß, Postbeamtin, Wien I, Bräunerstraße

Als ich Sie erblickte, mit Ihren idealen Händen, Armen, Haaren, Gestalt,

wußte ich es sofort, unentrinnbar, daß ich Ihnen, einer Art von P.-A.-Ideal, unbedingt mit irgend etwas aus meinem Sein dienen müßte.Leider ist es nur ein Widmungs-Exemplar meinessoeben erschienenen Buches »Vita ipsa« (das Leben selbst), 16/6.1918. Sollten Sie für Ihr eigenes Leben, [251] angebetete Poldi Kühhaß, irgend etwasWichtiges oder sogar Wertvolles darin finden, so würde ich mich als Dichter vollständig belohnt fühlen!

Peter Altenberg

Besuch

16./6. 1918


Henriette H.: »Oh, ich könnte schon längst versorgt, verheiratet sein. Aber ich habe gar keine Lust, Jemanden erst über mich und meine unbedingten, die Anderen weit übertreffenden Qualitäten aufzuklären! Ich erwünsche es mir, von selbst anerkannt zu werden allmählich durch irgend Jemanden in meinen für irgend Jemanden eventuellen besonderen Werten! Ich dränge mich Niemandem auf, der nicht die Lebens-Geschicklichkeit hat, und die Besonderheit von mir von selbst spürt, anerkennt. Ich habe nicht die Begabung mitbekommen, mich ›in Szene zu setzen‹. Ich verlasse mich leider vertrauensvoll auf die bösartige und neidische Umwelt. Wird mir der Dichter helfen irgendwie?!? Ich weiß es nicht. Jedesfalls ist er mein letzter Rettungs-Anker. Die Anderen erwarten – – – was, Das weiß man nicht!«

Vita ipsa

Trotz alledem, Du bist aber doch noch, lebendig-richtig-denkend. Noch.

Gegenüber Deinem heißgeliebten, aber nunmehr unbezahlbaren Zimmerchen (Dichter-Nest) befindet[252] sich das alte herrliche braun-rote Ziegeldach mit seinen alten weißen Dach-Fenstern.

Nichts hat sich verändert wie Deine kranke Seele, sagen wir mutig-anständig, wie Dein durch schreckliche Erlebnisse (doppelter Handgelenk-Bruch und übertriebene infolgedessen, bis dahin heilige Schlafmittel [Paraldehyd]) alsokrankes Gehirn! Trotzdem schenktest Du selbstlos den Menschen Deine letzten Erkenntnisse in Deinem soeben erschienenen Buche, S. Fischer, Verlag, Berlin: Vita ipsa! Selbstlosigkeit allein ist ewig Kraftspendend, von selbst, wahrscheinlich naturgemäß! Also bin ich noch! Ich bin!

Hysterie und ihre mögliche Heilung

Alles, was zu Hause »Gift«, »Zerstörung«, »Vernichtung in unheilbaren Qualen« für ihr zerrüttetes, durch nichts vor allem belebtes, zu Tode gelangweiltes, also zu Tode gemartertes, noch dazu ohne wesentliche positive Erkrankung (die Ärzte finden keine, »anatomischen Veränderungen« irgendwelcher Art), Leben war, war »in der Natur« ihre Heilung von selbst als adeliges Beispiel! Jeder Baum, jede Blume, jedes Gras, jedes Gebüsch lebten nämlich ohne Tragik und ohne Unduldsamkeit bei Tag und bei Nacht, bei Sonne, Regen, Wind, Kälte, Hitze, Dunkelheit, ihr geheimnisvoll-mysteriöses Leben ab, ohne Klage und ohne Lachen, geradeso ernst-würdevoll wie es ihnen leider oder Gott sei Dank beschieden war hienieden! Daran nahm sie sich einfach ein adeliges Beispiel!

Briefe [1]

[253] Briefe

In Briefen erreicht man die Höhepunkte seines eigenen Seins, seines idealsten Denkens und Empfindens. Man wird man selbst! Deshalb wirken sie auch so wenig auf den Leser, die Leserin, die den Menschen eigentlich ganz anders kennen. Wie billig sind Worte dem brutalen Leben des Tages und der Stunde gegenüber. Und eine einzige edle Selbstlosigkeit wiegt den schönsten verehrungsvollsten Brief auf. Frauen mit Briefen düpieren, ist ein »seelisches Verbrechen«, denn, siehe, sie klammern sich daran, bauen sogar ihr Lebensschicksal darauf auf, ein tönernes Lebensgebäude! »Ich sehne mich nach Dir« ist ein schreckliches Wort, da Niemand weiß, ob es wahr ist, und man sich nicht dennoch daran anklammert in der Melancholie seiner bangen Tage. Auch Blumen sind keine Beweise, sondern nur das mysteriöse Gefühl der Seele selbst, das ausströmt, und Du merkst es vielleicht bestimmt gar nicht. Gefühle sind geheimnisvolle Mysterien der Seele, unausdrückbar in realen Taten! Deshalb werden so viele noch so intelligente wertvolle Frauen innerlichst enttäuscht, betrogen,durch sich selbst, weil sie nicht die Kraft haben, »der Wahrheit ins Gesicht zu schauen ihres eigenen Lebens!«

»Ich sehne mich nach Dir« ist ein schreckliches Wort, da Niemand die Wahrhaftigkeit desselben prüfen kann. Hoffnungen hingegen sind »seelische Verbrechen«. Es gibt tausend unscheinbare kleine Betätigungen, die uns es beweisen, daß man uns ernstlich lieb hat. Aber Briefe sind es nicht. Es gibt tausend Frauen, die besondere Briefe als Heiligtümer aufbewahren. Aber was für kindische romantische [254] Träumerinnen, ja Selbstbetrügerinnen sind es. Mein Gott, sie haben halt nichts anderes auf dieser Welt, und das Schicksal bietet ihnen gnadenvoll einige begeisterte Zeilen! Wehe Euch, billig Armseligen!

Gehe mit einer wirklich geliebten Frau für einige Tage in ein abgeschiedenes Berg-Dorf, und sie wird mehr von Dir wissen, als von allen Deinen sehnsüchtigen falschen Liebesbriefen.

Besuch [1]

Besuch

Besuch ist etwas, wobei der besuchende Teil auf irgendeine Art und Weise auf seine Kosten, die er gar nicht hat, zu kommen sucht. Er wird vor allem aus seiner einförmigen alltäglichen, wenn auch ziemlich bequemen, Welt gerissen, und glaubt, hofft, wünscht, erwartet, daß man ihm vor allem Gelegenheit dazu biete. Der, Den er besucht, ist sein geistig-seelisches Opfer jedenfalls in irgendeiner Art, zumal er der zu respektierende Gast ist. Es ist unmöglich, ihm es ins Gesicht zu sagen: »Ich halte nichts von K.!« Denn eben K. hat ihn gemalt. Sagt man, Egger-Lienz sei eine Kraftnatur, so muß man es eventuell erfahren, daß man dieses Urteil gerade einem so »zartbesaiteten« Künstler nicht zugemutet hätte!

Schwärmst Du exaltiert von Erna Morena und Klotilde von Derp, so erfährst Du es prompt, daß gerade die äußere Anmut dem Dichter in Dir einen Streich gespielt habe und daß äußere Vollkommenheit doch noch nicht Alles sei, wie man bei Kant und Schopenhauer bemerken könne! Du bist also stets das Opfer Deines Besuches, und schließlich erfährst [255] Du es: »Ich werde dieses Plauderstündchen lange nicht vergessen! Ich habe Sie bis jetzt als Dichter geschätzt, nun aber verehre ich Sie auch als Menschen!«

Wo sind die hundert exzeptionellen Zigaretten, wo sind die hundert Kronen, wo ist der aparte Federstiel?! »Also, mein Lieber, auf ein baldiges interessantes Buch, adieu!«

Verlegenheit

Eine schreckliche Nerven-zerstörende Verlegenheit herrscht bei sogenannten Besuchen Seinesgleichen. Niemand will zurückstehen in seiner sogenannten »Kultur« und »Bildung«, und die ewigen diesbezüglichen Konzessionen zerrütten den ohnedies verlegenen Organismus. Eine Frau, die Einem gefällt, ist verhältnismäßig bequemer, obzwar man da auch ununterbrochen ihr zuliebe sein wahres Wesen vernichtet, ja ermordet. Sie begreift nur ihre eigenen Bedürfnisse, nie eine Sekunde lang die Deinen, und schon eine ganz kleine Konzession an Dein doch immerhin kompliziertes Nervensystem macht sie Dir unwillkürlich zu Deinem unerbittlichen Feinde. Siekann keinerlei Konzessionen machen. Es entsteht eine erbitterte ewig wirkende Todfeindschaft. Sie ist dazu eben nicht geschaffen. Ihr Gehirn erträgt es nicht, sie wirft sich aufs Sofa und weint, jedenfalls ist sie unglücklich und lebensüberdrüssig. Du könntest sie mit idealen Purgiermitteln retten (Natrium sulfuricum, Magnesia usta), dreimal täglich einen Kaffeelöffel voll in Wasser. Oder noch besser: Kurella-Pulver!

[256] Aber nimmt sie es Dir denn?! Erbricht sie es nicht? Hat sie denn genug Geist, ihren Körper wiederherzustellen, sich, Dir zuliebe?!? Also ihr Geistig-Seelisches in ihr?!?

Künstlertum

Jeder Künstler versucht es unwillkürlich, seine Lebens-Energieen, seine geistig-seelischen Spannkräfte, ich möchte sagen, ununterbrochen ins Maßlose zu steigern, ohne die geringste anständige oder verständige Rücksicht, daß gerade diese seine zarte komplizierte Lebens-Maschinerie die größten Rücksichten in jeder Beziehung erfordert! »Krebs« besonders ist gerade die schreckliche Folge einer ununterbrochenen Überbürdung der Nerven. Man hat trotz aller seiner von Schicksals Gnaden gespendeten Talente seiner Natur gemäß still zu folgen, da sie sonst bald Geist und Seele und Talent in Dir zerstört! Vorzeitig zugrunde gehen, irgendwie, ist ein Verbrechen wider die Natur. Mit 30 Jahren sei Dir nichts mehr verziehen, in irgendeiner Sphäre. Bis dahin konntest Du, durftest Du vielleicht ein Sünder sein. Ein »Deine heiligen Kräfte« blöd Erschöpfer.

Das Gehirn später aber beherrsche allein den Menschen, wie Bismarck das Deutsche Reich! Niemand und Nichts bringe Dich von Deinem einzigen richtigen Wege ab! Ehrgeiz, Eitelkeit, soziale Position, Geldgier sind Deine an Dir ewig unbewußt fressenden, zehrenden, Dich aufzehrenden Gifte. Du kannst Deinem Dir vom Schicksale vorgezeichneten Wege unter keiner Bedingung Dich entziehen. Denn die Rache kommt in irgendeiner Form einer schleichenden [257] heimtückischen »Stoffwechsel-Erkrankung«, die zu besiegen Du dann nicht mehr die Fähigkeit hast!

Hie und da können die Mysterien von Karlsbad, Franzensbad, Pistyan, Herz-Heilbäder, Dir, Unglückseligem, noch ein wenig scheinbar hinüberhelfen! Aber mit welchen Kosten, mit welchem Aufwand von fast übermenschlichen Energien ist es verbunden! Und wie lange dauert es trotzdem?!? Lebe also, wenn auch nicht bequem, doch Deiner eigenen Natur gemäß, und gib Deine Pläne von Ehrgeiz, Eitelkeit, sozialer Position endgültig auf: ›Otium cum dignitate!‹ sei Dein altes ewiges Merkwort. Lasse die Anderen um Dich herum hasten und sich überanstrengen. Zehn Jahre später wirst Du sie alle besiegt und untergekriegt haben! Sie erschöpfen sich leider unbewußt, haben von dem armen Kapital ihrer Lebens-Energien keine Ahnung. Plötzlich bleiben sie auf der Strecke liegen, wie getötete Krieger! Sei also vorsichtig! Sei Sieger!

Rathauspark

Der Wiener Rathaus-Park (zwei Teile) genüge vollständig dem weisen Naturfreund und Hygieniker, der aus »ökonomischen Gründen« keinen Landaufenthalt nehmen kann! Niemand sage mir, daß er bei sonstiger idealer Lebensweise und z.B. dreiwöchentlicher Guber-Quelle-Kur (Arsen-Naturquell, Heinrich Mattoni, mit Prospekt und genauester Angabe) nicht von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends sich in dieser fast staubfreien und durch Gießen der Wiesen und Sträucher überfeuchten [258] Luft, sich nicht ebenso erholen könne, wie in jedem Seebade! Langeweile muß man in Kauf nehmen überall, wenn man kein Geld hat! Aber Energie zur eigenen Hygiene istwertvoller!

Guter billiger Rat

Man soll für seine guten Augen ja nichts ersparen wollen: eine Art Selbstmord im lebendigen Leben bereits selbst, Vorstufe Deines Todes. Was hast Du eigentlich von diesem belanglosen und beschwerlichen Dasein (essen, verdauen, sich rein halten müssen, Geldausgaben, unnötiges Rauchen,noch unnötigeres Lieben, Wäschewechseln, schlafen, erwachen), wenn Du nicht wenigstens stets rund um Dich herum klar blicken kannst die Dir erreichbaren Dinge, z.B. den Rathauspark im Vorfrühling, im Herbste usw. usw.?!? Ich werde 9./3. 1919 sechzig Jahre alt, trage seit meinem 19. Lebensjahre stets dieselbe Nummer des Zwickerglases, nach der alten Berechnung Nr. 18! Nun trage ich große ganz runde, konkav geschliffene Menisken-Gläser, die ich jedem Kurzsichtigen leidenschaftlich-menschenfreundlichst dringendst empfehle!

Seine Dankbarkeit ist bereits in mir vorhanden, während ich Dieses schreibe, und weiß, daß es in einigen Monaten (Dezember, Weihnachten 1918) gedruckt sein wird, in ungefähr 4000 Exemplaren! Jede Menschenfreundlichkeit belohnt sich irgendeinmal ganz von selbst durch das Bewußt sein, Anderen selbstlos geholfen zu haben, in den vielen Erlebnissen, die man selbst aus Unkenntnis im Laufe der [259] schrecklichen 60 Jahre erlitten hatte! Ich halte seit jeher »körperliche Regeneration« für tausendmal wichtiger für den modernen Menschen als geistig-seelische, die dann doch nur eine selbstverständliche naturgemäße Konsequenz ist!

Über Schlafmittel

Schlafmittel, wenn man sie schon nimmt, müssen unbedingt restlos ausgeschlafen werden, also eigentlich Unnatürliches, das sich durch denVorteil des Ausgeschlafenseins in Natürliches, ja, in Übernatürliches verwandelt, wenn man die ursprüngliche Schlaf-spendende Dosierung niemals steigert! Man hat seinen »heiligen, Kraft-spendenden Schlaf« in seinem Nachtkästchen, funktioniert also eigentlich schon den ganzen Tag lang frischer, prompter, weil man Das eben sicher genau weiß!

Ich bekam im »Sanatorium« Punkt acht Uhr abends, bereits beruhigt, von allen Melancholien befreit, ja märchenhaft fast erlöst, mein geliebtes Schlafmittel »Paraldehyd«, ein Likörglas voll, das mir unbedingt und nie nicht einen traumlosen tiefen Schlaf bis sieben Uhr morgens garantierte. Als ich später, in sogenannter Freiheit, alsoSelbst-Zerstörung, die Dosierung blödleichtsinnigerweise (Wer ist aber nicht so?!?) steigerte, begann dieses »heilige Schlafmittel« sofort als Vergiftung zu wirken! Nur der Warnung des Baron Professor Wagner von Jauregg verdanke ich meine Gehirn-Erret tung.

[260] Er sagte ganz gelassen: »Ich bin ein großer Verehrer Ihrer Werke, ja sogar Ihrer hygienisch-diätetischen! Aber in diesem Falle der Schlafmittel-Übertreibung stehen Sie, mein verehrter Dichter, dennoch knapp vor dem Delirium, der Gummizelle wegen Tobsuchtsanfällen, und sind infolgedessen für sich und die Anderen verloren! Da gibt es nur eine allmähliche Entziehungskur!«

Infolge dieser Schreckensnachricht von seiten eines allerersten Kompetenten war es mir von da an nicht mehr möglich, auch nur einen Tropfen dieses schauerlichen blöd mißbrauchten Giftes zu trinken, ja, der Geruch schon erfüllte mich mit mysteriösem Ekel wie Todes-Ahnungs-Düfte! Seitdem weiß ich überhaupt nicht mehr, daß »Schlafmittel« in der Welt existieren, und wenn ichnicht schlafe, bin ich morgens frischer, lebendiger als die gut Ausgeschlafenen! Man möge an den Außer-Gewöhnlichen Außergewöhnliches lernen!

Überirdisch

Ich weiß es naturgemäß nicht, ob alle diese »Berühmten« und »Anerkannten« wirklich außerhalb unseres gewöhnlichen Denkens und Empfindens stehen (Graphologen usw. usw.), und es ist vielleicht möglich, daß hie und da irgendeiner richtig aus den Linien unserer zarten uns unbekannten Hand unser Schicksal merkwürdig voraussagt! Noch richtiger aber ist es, daß alle diese überirdischen, [261] rätselvollen, undurchdringlichen, genialen Spielereien eines einzelnen besonders Begnadeten unsere an Tag und Stunde und das ewig unenträtselte Leben gebundene Gehirne und Seelen schwächen, ja in unnötige Melancholien und vergebliches Nachdenken über uns selbst und unsere armselige undurchdringliche Bestimmung, von Geist und Seele aus (mit dem Leib kann man sich noch eine Zeitlang wenigstens mit den richtigen Erkenntnissen derHygiene und Diätetik gegen die tägliche, stündliche Vergiftung unserer Lebens-Elastizitäten wehren) schwächen, stören, ja, zerstören! Selbst ganz anerkannte außergewöhnliche Dinge haben sich nutzbringend, nicht zerstörend-aufregend in den allgemeinen, wenn auch bisher kindisch-falschen Kreislauf des allgemeinen Lebens der Menschen nutzbringend-erwartungsvoll einzufügen und auf ihre heilige Erlösungsstunde im dummen Gehirne der Menschheit zu warten! Meidet das Unausdenkbare!

Der 60 Jährige

23 Sommer und Herbste lang weilte ich in Gmunden, mein Zimmer war ein gemauerter ehemaliger Klostergang, eine eichene starke Tür, der Klostergang, eine Glastür, das schmale Zimmer. Das Fenster ging auf zwei vom Wasserstaub bewegte Fichten und die schäumende aus dem mir heiligen Gmundner See sich ergießende »Traun«.

Nun, in meiner letzten Not, 60jähriger, bat ich die Gemeinde-Vorstehung um Übersiedlung nach meinem geliebten Gmunden. Heute, 17./6.1917, erhielt [262] ich die Antwort, ich möge mich an die Wiener Polizei-Direktion wenden, zum Zwecke einer endgültigen Übersiedlung nach meiner eigentlichen Heimat »Gmunden«.

Das Vorgrab

Mein Bruder sagte, unermeßlich besorgt um mich, ja, fast heilig-pathologisch: »Dein Zimmerchen, so schön es auch ist, so sehr es auch Deinem persönlichsten Geschmack entspricht, Peter, ist doch nur Dein Vorgrab! Solange Du in ihm weilst, länger als unbedingt nötig ist für Dich, ist es Dein Vorgrab! Abgeschlossen von allem Lebendigen auf Erden bist Du, gefesselt an Dein krankes Dir unentrinnbares Ich! Ein alter Junggeselle, der leider seelisch-geistig jung geblieben ist, ein Dichter, der sich dem allgemeinen Leben, seiner geistig-seelischen Dichter-Nährkraftbequem-krankhaft entzieht! Wehe, Bruder, Deinem Vorgrab ›Hotelzimmer‹«!

Zersplitterung

Die meisten Menschen geben ihre durch Essen, Verdauen, Atmen, Schlafen gewonnenen oder sogaraufgestapelten Kräfte (beim Genie findet Das unentrinnbar automatisch statt, und es kann sich dann nachträglich durch Nichts mehr eigentlich schwächen als durch den reellen physischen Tod oder reelle schauerliche dauernde [263] Geld-Sorgen, Geld-Krankheiten), die meisten Menschen also geben ihre überschüssigen Lebenskräfte in idiotisch-verbrecherischer, aber eigentlich nur selbstmörderischer Weise aus, und bedenken nicht einmal ihre Verpflichtungen gegen sich selbst und ihren leider unentrinnbaren Selbsterhaltungstrieb! Was siedabei und dadurch den Anderen entziehen, Das darf ich ja gar nicht einmal erwähnen. Denn sie haben ja tatsächlich eigentlich keinerlei Verpflichtung, Anderen aufklärend zu irgend etwas für Diese Wichtiges zu verhelfen! Seine »Lebens-Maschinerie« in allen ihren Funktionen aberweise-erkennend zu leiten, ist die Sache des reifen kultivierten Menschen! Wozu brauchte man sonst überhaupt Kultur?!? Für sich selbst?!?

Melancholie

Wer nicht daran leidet, Dem kann sie kein Arzt, kein Patient, kein Dichter erklären oder auch nur irgendwie plausibel machen. Es ist das ununterbrochene Zehren am Gehirne, wie etwas Lebenskräftewegfressendes, unterminierendes, vernichtendes: Wozu bin ich?! Wozu ist Alles um mich herum, Wachen, Schlafen, Sich-Reinhalten, Essen, Verdauen, Geld ausgeben undverdienen, die Anziehung schöner Frauen, die S . . . . . . . ., ja sogar das Wäschewechseln und das mit Fremden verhältnismäßige lächelnd liebenswürdig sein müssen?!?

Wozu ist das Alles?! Krankheit und Tod werden das Alles, ach, allzuspät, in schauerlich langen[264] Zeitläuften beenden?! Wozu also sich bemühen, da es keinerlei Entrinnen gibt?!? Melancholie ist die Unterminierung des gesunden, also blöd gesunden Selbsterhaltungstriebes durch krankhaftes Objektivieren seines unbedingt wertlosen Daseins!

Objektivität

Objektive Betrachtung sogar seiner selbst ist eine Art von Errettung vor inneren Melancholien und zerstörenden zerfressenden Verzweiflungen, ohne bis dahin wenigstens physiologische, unheilbare Zersetzung der Lebens-Kräfte! Ich ersehe meine »krankhaften Zustände« als krankhafte Zustände! Sie werden dadurch nicht behoben, aber die geistig-seelische Hoffnung ist noch vorhanden, sie auf »geistig-seelischem« Gebiete zu besiegen, wenn auch nicht in der »physiologischen Sphäre« direkt! Niemand allerdings kann mir hierin helfen wie ich selbst. Erstens nimmt er sich naturgemäß nicht die Mühe gerade mit mir, zweitens versteht er diese Komplikationen überhaupt nicht, naturgemäß! Hilf Dir selbst, ganz von oben herab!

Krankheit [2]

Krankheit

Du bist tief überzeugt, daß Du nie, nie, nie mehr gesunden wirst, und, siehe, über Nacht, gesundest Du dennoch plötzlich. Alle Deine früheren Bedenken sind wie märchenhaft-zauberhaft plötzlich [265] gelöscht, verschwunden in Dir, und Du kannst Dich nicht einmal mehr, selbst angestrengt nachdenkend, erinnern an die Zustände Deiner täglichen, stündlichen, nächtlichen trostlosen Hoffnungslosigkeiten! Es ist gelöscht! Während Deiner Krankheit beherrschte Dein Gehirn, gleichsam als Spiegelbild Deines Gesamt-Zustandes, apathische Hoffnungslosigkeit, in Die der Besuch der beruflich mitleidsvollen, aber sonst meistens (wieso auch, man darf es gar nichtüberhaupt verlangen?!?) verständnislosen Ärzte dennoch merkwürdigerweise einen Stillstand für Stunden der Lebens-Melancholie erzeugte! Jemand nimmt sich Deiner ungeschickt-beruflich-liebenswürdig-objektiv an!

Ein Irrtum

Nicht die Literatur hat modern zu sein (Cui bono?!), sondern das Leben selbst, aus erster Hand, für die modernen Lebendigen! »Wenn ich Dir etwas schenke, was mir lieb und teuer bisher war, so kann ich es nur unter der Bedingung, daß mein Schenken eine Art raffinierten Wuchergeschäftes mit meiner eigenen Seele, meiner eigenen inneren Selbst-Erhöhung ist! Es muß sich in mir selbst durch mein Gefühl der Selbstentäußerung wucherisch gleichsam oder reell sogar (Tonicum der Nerven) belohnen! Schenken, um zu schenken, ist unmenschlich, ja fast unmöglich. So wandle der moderne Mann neue seelisch-hygienische-diätetische Pfade! Die moderne Literatur, gut oder schlecht, gleichviel, ist ein unnötiges Ablenkungsmittel, [266] aber kein Lehrmittel der Seele oder des Geistes! Niemand wird besser, tiefer, ernster, menschlicher dabei, dadurch. Cui bono?! Wem also zugute?!?«

Erkrankung

Kaum bist Du krank, so stürzen sich alle angeblich Besorgten über Dich, und versuchen es, ohne die geringste Ahnung zu haben, auf welche Art man Dir helfen könnte, aus Deinen Abgründen Dich gewaltsam herauszuzerren, aus Deiner momentanen gefährlichen Situation, vielleicht dasblöd-brutalste Mittel, das es überhaupt für einen mysteriös Kranken gibt!

Die absolute ungeniale Fähigkeit, sich nicht ganz in den Anderen momentan hineinzuversetzen, erwacht plötzlich mit einer verbrecherischen Macht in Dir, gegen Deinen unglückseligen Nebenmenschen, Dem Du billig-bequem helfen möchtest, aus seit jeher in Dir, Idiot, schlummerndem Größenwahne und aus Heilandsmotiven der Selbstaufopferung (ja, aber es können?!?)!

Unerbittliche Betrachtungen

Solange Du lebst mit der Herde, so wie alle, alleAnderen, kannst Du unmöglich sehen, ahnen, spüren, wissen, in welchem schauerlichen Lügen-Meere Du eigentlich dahinlebst! Sobald Du Dich aber mit geistig-seelischem Flügelschlage darüber [267] erhebst, um zu betrachten, zu korrigieren, vor allem Anderen zu helfen, wendet sich momentan Alles wie ein schauerlich-beschränkter und gefährlicher Chorus gegen Dich, um sich vor Dir zu schützen und Deine Pläne unmöglich zu machen und zu durchkreuzen! Die bequemste Art, Das zu bewerkstelligen ist das Urteil: »Interessant, aber leider verrückt!« Vereinsamt stehst Du plötzlich mit Deiner romantischen Helfer-Natur und begreifst es nicht, weshalb die Anderen nicht einmal gern zuhören, sondern verlegen werden und vor allem gelangweilt!

Wenn Du Dich also mit geistig-seelischem Flügelschlage von der Herde zu erheben beabsichtigst, um die »Lüge des Lebens« kennen zu lernen, zu korrigieren, so gib es zugleich auf, daß es Dir je gelingen könne! Der »Nächste« ist da sogleich Dein »Entferntester«, hege ja keine trügerischen Hoffnungen! Begnüge Dich mit Deinem eigenen guten Willen! Er allein erhält Dir Deine geistig-seelische selbstloseSpannkraft, sonst nichts!

Rekonvaleszenz

Also gut, nach fünfmonatlichem Krankenlager wegen doppelten Handbruches kam ich wieder »ins Leben« zurück. Ich fühlte es sogleich: ›In Deinem einsamen Zimmerchen war es schrecklich, aber hier ist es noch viel schrecklicher!‹ Zu Hause war ich unter Leiden und Qualen ich selbst, von mir selbst gütig gerecht behandelt, soweit es überhaupt möglich ist.

[268] Kein Widerspruch gegen die geheimnisvollsten Dinge meines geistig-seelischen Wesens; Hoffnung, daß es sich bessern werde, aber keine allzu übertriebene. Noch immer, und desto tiefer die Überzeugung, daß die neue qualvolle Natur »Geist und richtigere Erkenntnis« die alte bequeme falsche Natur »Instinkt« besiegen werde. Seine »Lebens-Maschinerie« endlich mit Bewußtsein erkennen, ist allein Sache des modernen, echt kultivierten Menschen! Bisher beschränkte er sich mit seiner angeblichen Kultur auf Bildung, Wissenschaft, Literatur, allgemeine (?!?) Kultur. Aber auf sein eigenes Sein, sein Denken, sein Empfinden, seinwirkliches Wollen aufmerksam zu werden, das einzig wirklich Wichtige für ihn, dazu kann ihm seine angebliche Kultur in nichts bisher verhelfen! Im Gegenteil, er weicht ihr absichtlich überall aus, scheu und sich vor sich selbst eigentlich fürchtend. Das »Äußerliche« nimmt er an, das »Äußerliche«, ein Unglückseliger, aber sein Inneres bleibt unerbittlich starr, wie vom Schlag im voraus getroffen!

Ansichtskarten [1]

Ansichtskarten

Wer meine 10000 Ansichtskarten, seit 20 Jahren von mir gesammelt, mit und ohne Text, versteht, lieb hat, Der braucht eigentlich nicht mehr in die »berühmten« Gemäldesammlungen mühselig zu pilgern, er bekommt Alles »im Extrakte«, wenn er nämlich geistig-seelisch dazu befähigt ist, sonst muß er sich leider an die akkreditierten »Berühmtheiten« in den mir urfaden und wertlosen Galerien halten!

[269] Ich liebe fanatisch die Natur aus erster Hand (Gottes) oder die geniale, d.h. also nahezu ebenbürtige des einfachen Natur-nahen Künstlers. Aber das »stilisierte Wollen«, das die Natur mißbrauchende Drängen der Modernen, die geschäftsmäßig und größenwahnsinnig-unanständige Art, scheinbare Konjunkturen zu eigenen Eitelkeits- und Größenwahns-Zwecken jetzt auszunützen als »angebliche moderne Generation«, ist eine dumme Infamie allerdings nur Derjenigen, die darauf hineinfallen. Denn der sogenannte junge Künstler der heranwachsenden Generation wünscht nur, so rasch und so bequem als möglich sich seinem immanenten, »Selbsterhaltungstriebe« hinzugeben und Das eventuell bereits sogar vor der »Matura« zu erreichen, wozu die Anderen qualvoll ein wertvolles langes Dasein auf-, nein, verbrauchen müssen! Die »Natur« ist ihnen zu wenig, schade. Sie wollen selbst »Natur« spielen, schade. Aber sind sie es?! Nein!

Hilfe

Frl. E.K., die eine verhältnismäßig in den heutigen Zeiten angenehme Stellung (340 Kronen monatlich bei der Anker-Brot-Fabrik) momentan aufgegeben hat, um ihrem todesverzweifelten 59jährigen Dichter an Stelle einer unauffindbaren fremden verständnislosen Anti-Altenberg-Pflegerin die unentrinnbar wichtige und notwendige Pflegerin zu ersetzen! Sie wusch mir die Füße mit dem herrlichen Mittel »Fuß-Wohltat«, in lauem Wasser, da ich seit zwei Jahren mit nackten Füßen in Holz-Sandalen[270] gehe, und bis an mein Lebensende nicht mehr meinen unglückseligen unschuldigen Fuß in dieses Grab »Socken und Schuhe« einzuzwängen beabsichtige!

Als ich ganz niedergebrochen war, durch übertriebenes Einnehmen von Schlafmitteln (kein Arzt der Welt wird, will und kann es mir glauben: Paraldehyd, ein Jahr lang jede Nacht,statt eines Likörglases vierzig!), und ich durch Ausgleiten meiner Holzsandalen auf meiner eingeseiften Steinstiege knapp vor meinem Hotelzimmerchen einen doppelten Bruch meines linken Handgelenkes erlitt (sechs Monate verzweifeltsten Zimmer-nicht-Daseins), leisteten mir, dem absolut innerlich und äußerlich Vereinsamten in dieser ganz neuen Katastrophe meines katastrophalen, weil seit jeher Gott sei Dank ex-zentrischen Lebens, folgende Menschen unschätzbar wertvolle Dienste: Mein heißgeliebter vergötterter Bruder Georg, durch ewige Anteilnahme und Todesangst um mich. Der Professor Victor Hammerschlag: »Sie, Peter, sind Sie denn nicht ganz außer sich, daß Sie gerade jetzt, in derschwersten Krise Ihres ganzen Lebens, auf Ihr ›heiliges‹, nämlich für den physiologischen Organismus heiliges, d.h. wichtigstes, langjährig gehegtes und liebevoll-selbstlos propagiertes für die Anderen, darüber nur leider lächelnden, Abführmittel: Rhamnin (Cortex Rhamni Frangulae, eine österreichische Gartenpflanze), so plötzlich verzichten müssen?!?«

»Das ist Schicksal und Verhängnis!«

»Nun, ich verschreibe Ihnen hiermit ein einfaches Naturmittel, das noch viel besser wirkt: [271] Pulv. pad Rhei, Magnesia usta, ae 50, täglich einen Kaffeelöffel voll, trocken nehmen und Wasser nachtrinken! Oder: Kurella-Pulver!«

Das sind die drei Menschen, die mir in der schwersten, fünf Monate lang andauernden Krise meines Lebens reell geholfen haben. Die Anderen (das Ehepaar Fr. nehme ich aus, weil sie seelisch mitempfanden) begnügten sich mit für den Geschwächten beschwerlichen Besuchen und einer Anteilnahme, die für den »Durchschauer« keine ist! Ich habe viel, viel, sehr viel, trotz meiner 60 Jahre, noch zugelernt, in dieser schauerlichsten Krise meines aus hundert Gründen längst verlorenen Lebens, das ich mit odertrotz meiner weisen Erkenntnisse nur mehr wie ein »Invalide des Daseins«, aber nicht mehr als der Flug-bereite P.A., durchzuschleppen habe nunmehr! Desto mehr danke ich tief dankbarsten Herzens diesen drei Wenigen, die mir irgendwie mit irgend etwas geholfen haben, mich aus dem mehr oder weniger selbstgeschaffenen Grabe (Wer nicht?!?) noch wenigstens für einige Zeit mühselig feig herauszuschaufeln!

Naturalwirtschaft

Wir lesen in der »Reichenb. Tagespost«: »Tausche 30 Eier und ein halbes Kilo Butter gegen ein Mädchen!« Mit diesen Worten erschien der freiwillige Schütze Alois Niedermajer in einem Grazer Liebesersatzhaus (Bordell). Sofort erhob sich Fräulein Franziska Bucan und erklärte sich mit dem Tausche einverstanden. Da Niedermajer noch 30 Eier und ein [272] halbes Kilo Butter hatte, tauschte er diese Lebensmittel auch gegen ein weiteres Genußmittel namens Anna Dworschak um. Am anderen Tage erschien dann der Oberleutnant der freiwilligen Schützen mit einem Detektiv, um Erhebungen über einige Dutzend Eier und ein Kilogramm Butter, die den Beständen des Jungschützenbataillons möglicherweise widerrechtlich entzogen wurden, zu pflegen. Die beiden Mädchen gestanden sofort, daß sie diese Lebensmittel im Tauschwege empfangen haben. Sie wurden deshalb wegen Ankaufes bedenklicher Waren zu je 48 Stunden Arrest verurteilt. – Auch diese Geschichte zeigt, daß der Krieg die Sitten der Völker veredelt.

Ottegebe

Plötzlich, infolge eines komplizierten, doppelten Handbruches durch Sturz nach rückwärts von der Steinstiege meines Hotels, begann das schauerliche Schlafmittel-Gift, ein Heil und Segen derSchlaflosen, wenn man, bereits im Bette liegend, vorbereitet zum heiligen regenerierenden Nacht-Schlaf in der Dosierung einesLikör-Glases es nimmt (ich steigerte die Dosierung vom Jahre 1912 bis 1918 von fünf Gramm bis vierzig Gramm), plötzlich begann dieses lähmende Gift in dem durch den Handbruch wehrlos gemachten, geschwächten, unbeweglichen, ans Zimmer naturgemäß gefesselten, von der immerhin ein wenig ablenkenden Außenwelt unentrinnbar abgeschlossenen Körper seine verheerenden Wirkungen durch völligeLähmung der Lebens-Energien. [273] Kein Waschen mehr, kein An- und Ausziehen, kein Essen, das kommende unentrinnbare schauerliche Verkommen eines durch übertriebene Schlafmittelgifte, die, richtig genommen, Heil und Erlösung desunglückseligen Schlaflosen unbedingt bedeuten, und ihm sechs bis acht Stunden Rast, Ausgelöschtsein vom elenden Dasein bedeuten und garantieren, Zerstörten, nein, Verurteilten, nein, Gerichteten! Nein, nur gerecht Bestraften!

Der Professor, Baron W.v.J., ein Verehrer meiner Werke, sagte mir unentrinnbares »Delirium« und »Gestorbensein für mich und die Welt« voraus!

Da erbot sich in dieser bangsten, nein, in dieser gefahrvollsten Zeit meines Lebens, eine junge, bildhübsche, 18jährige Verehrerin meiner Werke, mir von morgens bis abends als Krankenpflegerin zu dienen, E.K.

Ihre Aufopferungs-Freudigkeit wargrenzenlos.

In den ersten acht Tagen bereits ist eine Besserung zu verzeichnen, die das Sanatorium erst in sechs Wochen erreicht oder vier Monaten! Oder gar nicht.

Heil meiner jungen, modernen, 18jährigen Ottegebe, Heil E.K. und Dank!

Rathauspark [1]

Rathauspark

Im Wiener doppelt-geteilten, mit zwei starken, niedrigen, edle Feuchtigkeit spendenden Springbrunnen[274] versehenen Rathausparke, ist fast jeder Baum, jeder Strauch ein besonderes Wunderwerk der Naturinmitten dieser unermeßlichen Un-Natur »Größstadt«! Ahorn, Trompetenbaum, außergewöhnlichetief-grüne und an den Spitzen erbsengrüne Fichten, Jasmin und wilde Rose, und Bäume, die man nie geahnt hat, vielleicht aus Japan oder China. Z.B. Einer mit gelb-rot-grünen Blüten, den Niemand jemals in Europa erblickt hat. Je größer, wunderbarer diese Wunderwerke der »schlicht-bescheiden-selbstverständlich-spendenden« Natur, desto schrecklicher das Wunder, daß es den Besuchern dieses Parkes weder auffällt noch sie rührt. Sie begnügen sich mit Eisensessel, Sonne, Schatten, Ruhe. Niemand ahnt, in welchem Paradiese er sich befindet. Er macht eventuell kostspielige Reisen, aber nicht umsonst hierher. Menschen, Eure Vorurteile wären nicht so schauderhaft, wenn Wir nicht diagnostizieren müßten, daß sie nur an Euch elend ausgehen müssen! Heil Landaufenthalt-Ersatz, vollkommener, Wiener Rathauspark!

Die Menschen

Der Schriftsteller Karl F. Kocmata hatte mich ziemlich schlecht behandelt. Ich hatte ihm den Titel zu seiner neugegründeten Zeitschrift vollkommen selbstlos gegeben: Ver, der Frühling. Ich hatte ihm das Format »Schulheft«, nach meinem persönlichen Geschmack diktiert, hatte eine kleine, nette Einleitung geschrieben, hatte ihm fünf Skizzen gratis zur Verfügung gestellt.

[275] Nun, nach einem Jahre, gibt er mir Alles zurück, indem er in dieser Zeitschrift eine direkt wunderbare Besprechung meines soeben, Juni 1918, erschienenen neuen Buches »Vita ipsa« bringt, voll milder, anständiger Gerechtigkeit. Man muß oft ein bißchen warten, um zu erfahren, wie Einer eigentlich ist!

Genesung

Du bist Deinem höchsteigenen Dasein wiedergegeben. Eine zufällige Gnade unverdienten Schicksals. Du kommst direkt aus Deinem eigenen Grabe heraus, wirst es leider bald wieder vergessen, wo Du Dich Monate lang befunden hast! Wenn wir es würdigen könnten dauernd, welchen schrecklichen Gefahren wir entgangen sind, wären wir stets Lebens-Millionäre. Z.B. nimm nur den »Zahnarzt« an. »So, jetzt ist Ihr Gebiß wieder wie mit siebzehn! Ich rate Ihnen zwar nicht, weil es völlig überflüssig ist für Ihr Lebensglück, Kirschkerne aufzuknacken, aber Sie könnten es jetzt unbeschädigt riskieren!« Wie lange dauert Dein Glück darüber an?! Eine Woche!

Kränkung

Eine Frau kann mich nur kränken, in jenen Dingen, in Denen sie mich kränken kann! In allen anderen Gott sei Dank eben nicht. Sie legt es aber eben darauf an, mich in jenen Dingen, in Denen ich von Schicksals Gnaden immun bin in bezug [276] auf sie, unkränkbar, mich zu kränken, um die Herrschaft über meine gekränkte, also geschwächte, also nicht mehr unbeeinflußbare immunisierte Seele, zu gewinnen! Weshalb?! Frage sie! Es liegt in ihr, mich zu unterwerfen. Sie fühlt dadurch ihre schreckliche Inferiorität mir gegenüber weniger peinlich, es erlöst sie von ihren Inferioritäten mir gegenüber. Sie hat keinenanderen Ausweg, mich, meinen Geist, meine Seele, meine Persönlichkeit zu besiegen!

Heil Ihr, wenn ich es mir brutal nicht gefallen lasse! Heil Ihr, in diesem Falle!

Dann muß sie einen klügeren, besseren, menschlicheren, geschickteren, gutmütigeren, für sie als Menschen vor allem wertvolleren Weg einschlagen!

Ich leide ja eigentlich nicht, zuzuschauen, wie sie mit ihren 10000 Unzulänglichkeiten und 500 Zulänglichkeiten mich Tag und Nacht zu überwinden sucht! August Strindberg, Schwächling, der Du gerade Das brauchtest, was Dich zugrunde richtete! Lasse sie doch an Dir sich abmühen!

Krankheit [3]

Krankheit

Wer »begründet« krank ist, ist gut daran. D.h. er kennt, er erinnert sich wenigstens der Sünden, die er eventuell seiner unschuldigen genialen, ewig fürsorglichen, ewig hilfsbereiten Lebens-Maschinerie durch Jahre zugefügt hat. Wenn es auch nur in ihm halb unbewußt nun dämmert, aber es dämmert!

Aber Der, der unbegründet scheinbar, plötzlich erkrankt und sich keinerlei Sündhaftigkeiten gegen [277] seine arme heilige Lebens-Maschinerie bewußt ist, und dennoch stockt es irgendwo, Der istunrettbar verloren!

Er kann in die Geheimnisse dieses körperlichen »Leckes« nicht mehr eindringen, kann die lecke Maschinerie seiner Selbst weder selbst wiederherstellen, noch schon gar nicht durch irgend Jemanden (Sanatorien, Heil-Bäder) wiederherstellen lassen!

Infolge seines noch gesunden Selbsterhaltungstriebes steht er daher verzweifelt vor seinem eigenen Abgrunde! Nur unenträtselbare Schicksals-Fügungen können ihn noch erretten, und die Hoffnung auf Diese allein kann ihm noch dieKraft spenden, die Geheimnisse seines Leidens durch einen merkwürdigen Zufall zu überwinden! Wer in bezug auf sich »ergeben« ist, ist ganz verloren, Wer falsch ankämpft, istebenso verloren, nur das Mysterium der Natur, das wir vorläufig noch nicht durchforscht haben, kann ihn da erretten. Irgendwo schlummern tiefste Geheimnisse über uns selbst!

Energie

Es gibt, unter Millionen, Menschen, die keine »Energie fürs Leben selbst« haben, direkt sich zu betätigen. Die flüchten dann, eigentlich entsetzt-ünfähig-verloren über sich selbst, falls sieEchte sind, in das »Reich der Kunst«. Zum Sehen, Hören, Empfinden, Leiden, Mit-fühlen, objektiv Beobachten, gehört nämlich keinerlei Energie, wenn man nur seine eigenen vom Schicksal gesetzten oder gezogenen [278] Grenzen nicht ununterbrochen »mit-Energie-Aufwand« zu überschreiten, zu überspringen sich bemüht! Der »echte« Künstler konzentriert seine sämtlichen »vitalen Energien« auf Denken, Fühlen, Sehen, Hören, und erschöpft auf diese etwas merkwürdige ex-zentrische Weise den Überschuß seiner »Lebensenergien«, die ja durch das Leben selbst (außer man ist wirklich organisch erkrankt; da verzehrt sich leider sogleich jeder Überschuß in sich selbst, um das erkrankte Organ noch hilfbereit zu erretten) stündlich, täglich, unbewußt bereitet werden! Es ist eine Art von Erlösung von unbewußten geistig-seelischen Potenzen, die den »echten« Künstler ununterbrochen zur Erlösung in »künstlerischen Betätigungen« antreibt, um die überschüssige »physiologische Spannkraft« seiner Nerven los zu werden, die er auf andere, bequemere Art eben nicht leider Gott sei Dank los wird!

Eine etwas abstruse, noch nie dagewesene oder vielmehr derart dezidiert ausgesprocheneErkenntnis, daß der »echte« Künstler von den mysteriösen Funktionen seiner »physiologischen« Lebens-Maschinerie allein abhänge, falls er von Schicksals Gnaden aus das sogenannte Talent noch dazu gegen seinen Willenmitbekommen habe! Von »äußerlicher usueller Lebens-Energie« aus läßt sich eben nichts wirklich echt richten, sondern nur von »überschüssigen, inneren, mysteriösen Lebens-Energien«!

Der »gewöhnliche Mensch« ist Das, was er leistet. Aber der echte Künstler ist Das, was ernicht leisten kann – – – als gewöhnlicher Mensch! Es steigt ihm ewig zu Kopf, zur Seele!

Gespräch, 9.-6. 1918, 10 Uhr abends

[279] Gespräch, 9./6. 1918, 10 Uhr abends

Ich lag bereits im Bett, von schauerlichen Lebens-Melancholien zerstört, nein, direkt angefressen. Das Gehirn wird durch trübe Gedanken (bei mir ausschließlich finanzieller Natur) angefressen. Man kann nicht mehr dagegen ankämpfen, denn die Waffe, das richtige hoffnungsvolle oder still ergebene Denken und Empfinden ist uns eben abhanden gekommen, mit Der wir uns sonst zuwehren haben! Wir sind verfallen, unserem eigenen Elend in uns selbst! Fast rettungslos. Nein, rettungslos.

Da trat das strohgelbe Stubenmädchen vom zweiten Stocke bei mir ein.

»Josephine, Sie, die seit Jahren von mir für irgendeine Dienstleistung kein Trinkgeld absichtlich annehmen, obzwar Sie nicht zu meinem vierten Stock gehören, wie geht es Ihnen?!?«

»Mein verehrter Herr Dichter, ich bin jetzt 40 Jahre alt, ledig, der Sommer strömt bereits durch die geöffneten Fenster der schmalen Hotelgänge herein, und ich habe ein wenig Aussicht doch noch zu heiraten!«

»Josephine, Sie wollten niemals von einem alten, armen, kranken Dichter Trinkgelder annehmen! Die Stunde ist endlich gekommen, die heilige Stunde, da ich als Mensch und Dichter Ihnen Gegendienst leisten kann. Ich warne Sie vor Dem, der ein armes 40jähriges, nicht mehr hübsches, vom Leben zertretenes Stubenmädchen angeblich heiraten will! Ihre Ersparnisse locken ihn, Ihre mühselig durch viele Jahre angesammelten armseligen Ersparnisse, und Sie gehen einem schauerlichen Schicksale entgegen! Bleiben Sie, Josephine, in Ihren, der trostlosen [280] Arbeit und Aussichtslosigkeit geweihten, düsteren, schmalen Hotelgängen, in Die die laue Sommerluft bereits hereinströmt, und Sie werden dennoch glücklicher leben als mit dieser für Sie unsagbar gefährlichen Hoffnung, die ganz nahe dem Selbstmorde oder sogar dem Morde sich befindet!«

»Mein verehrter Herr Dichter, mein Erretter, mein Erlöser! Ich habe Das immer dumpf geahnt, aber die ›innere Stimme‹ war viel zu schwach. Sie tönen mir wie eine Glocke, die mich machtvoll und bezwingend zu meinem bisherigen Leben zurückgebietet!«

Der Rathauspark

Sie sagte: »Am schönsten ist der Rathauspark bei Nacht, frische, herrliche Luft und keine Menschen!«

Er erwiderte: »Erfreuen Sie sich doch am herrlichen Rathauspark bei Tage, an den einzelnen Bäumen und wundervollen Sträuchern und den Details ihres Mysteriums!«

Sie erwiderte: »Dazu bin ich zu wenig realistisch veranlagt! Ich brauche nicht das Klare, Einzelne, ich brauche für meine Seele die düstere Romantik des dunklen rätselhaften Unklaren!«

»Mit einem Wort, Sie sind eine Gans!«

Portier und Personal des Hotels

Wir wissen es ja schon lange, daß er ganz verrückt ist. Aber einige Sachen, die wir von ihm irgendwo gelesen haben, haben uns recht gut gefallen, [281] sie sind »faßlich« und man profitiert dabei, keine Eisenbahn-Lektüre jedesfalls. Trotzdem ist er leider ganz verrückt, d.h. außerhalb der Ordnung des allgemeinen, uns leider vorgeschriebenen Lebens. Alles, was er tut, ist äußerst exzentrisch, und wir alle zusammen könnten nicht acht Tage lang, sei es in unserem Berufe, sei es sonstwie, existieren, wenn wir uns sein Leben erlauben dürften! Kann man denn nicht dichten und dabei seine gewöhnlichen Pflichten als Mensch erfüllen?! Muß man denn um Gottes willen die Welt auf den Kopf stellen und Alle beleidigen und blamieren?! Wenn man mit ihm so spricht, denkt man: »Gott, der Mensch hat doch recht, aber Niemandem von uns kann es nützen! Sondern eher nur schaden!«

Konsultation

Professor W.v.J. erklärte mir, daß es unter diesen ›meinen außergewöhnlichen Lebensführungen‹ nur die endgültige Wahl gebe: Delirium oderKrebs. Ich selbst fühle die vollständige Zerstörung meines Organismus seit dem vor 18 Wochen erfolgten doppelten Handbruche auf der Steinstiege meines Hotels.

Meine Lebens-Energien, die stets minimal, ja pathologisch waren, sind grauenhaft entschwunden und haben meine seit jeher versteckt zerstörenden Lebens-Melancholien (taedium vitae) plötzlich pathologisch mich beherrschen lassen, so daß ich ein Unterliegender meiner selbst geworden bin! Der Bruch meiner Hand macht mich unermeßlich [282] traurig, ja, zehrt an meiner Seele bei Tag und Nacht, wie die Strafe für ein in jeder Beziehung verfehltes Leben!

Meine Ideale, die mir bisher ewige Elastizität spendeten, sind entschwunden und ebenso dadurch die Leichtigkeit meines Denkens und Empfindens! Ich rangiere nun in die Klasse der gewöhnlichen Sterblichen, die nicht mehr zu bieten haben in geistig-seelischer Beziehung für die Fremden als alle Anderen, deren armseliges Dasein ihnen nicht allzu wichtig zu sein scheint! Infolgedessen stehe ich am Abgrunde meines ganzen, einst so beweglichen, spendenden Lebens, bin gealtert, weil ich nichts mehr spenden kann, sondern meinen armseligen, traurigen Gaul nun langsam Trott gehen lassen muß! Wo seid ihr Zeiten, da ich ewige Jugend trotz allem in mir spürte, und mein Geist, meine Seele gleichsam Tausende befruchtete! Armer Peter!

Erziehung

Es gab einst einzelne griechische Weise, die der Menschheit helfen wollten; aber Niemand hörte auf sie, sondern man verlachte sie, weil man sie nicht verstand. Sie nährten sich von Brot und Honig. Aber Das mundete ihnen nicht. Sie wollten ihre kurzen Jahre des Lebens genießen, aber als sie am Sterben waren, sahen sie, spürten sie, daß sie dennoch einen Irrtum begangen hatten! Sokrates, Diogenes waren vornehme Lehrer der Menschheit. Aber Niemand hörte auf sie, betrachtete sie als exzentrische Narren, die manches Richtige, meistens aber angeblich Falsches[283] verkündigten. Niemand weicht gern von seinem eigenen Wege ab und kreuzigt Den, der ihn daran verhindert! Amen.


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Jeder Mensch hat einen »Leck«, sei es einen sexuellen, einen seelischen, einen ökonomischen, einen physiologischen. Es zehrt unmerklich an ihm, er spürt es nicht, aber es untergräbt seine Lebenskräfte, und statt frisch achtzig zu werden, wird er tragisch verzweifelt nur sechzig. Niemand nimmt sich seiner an, denn Niemand versteht ihn oder bemüht sich, ihn zu verstehen. So wandelt er dahin, wie auf Lebens-Krücken, und Niemand will ihm gerecht werden! Wir müssen alle einmal sterben und auf zehn Jahre auf oder ab kommt es auch dem kultivierten Melancholiker doch wirklich nicht an. Wieviel Ungerechtigkeit, wieviel Schandtaten dadurch erspart! Und da willst Du Dein blankgeschliffenes Siegfriedschwert erheben, um die Erde zu reinigen!? Gib nach, teure, zarte Seele, versinke im Nichts, warte auf Das, was tragisch kommen wird und muß!

Lasse Eitelkeit und Ehrgeiz und gib nach den furchtbaren unüberwindlichen Kräften, die geheimnisvoll an Dir zehren und Dich aufzehren. Niemand hat Mitleid mit Dir, Niemand wird es versuchen, Dich zu erretten! Schaue dem Tode ruhig entgegen, er ist Dein einziger wirklicher Erretter!


*


Im Augenblicke, da Du ernstlich krank bist, bemühen sich Alle so ungeschickt als möglich, Dich aus Deinem offenen Abgrunde zu erretten. [284] Aber Niemand bedenkt es, vor allem die Dir exzeptionellen Geheimnisse Deiner Natur zu ergründen! Er denkt vor allem an sich selbst und was Ihm in diesem Falle heilsam wäre! Wie wenn man einem leidenschaftlichen Raucher das Rauchen plötzlich aus Gesundheits-Gründenuntersagen würde!?! Den »fremden Organismus« als einen ganz fremden Anderen erkennen, ist die tiefste edle ärztliche Kunst! Ihn als Rätsel betrachten, das er unbedingt ist!


*


Ich habe nie an einer Hochwild-Jagd, selbst bei einem Fürsten, teilgenommen. Ich halte es für eine feige Gemeinheit. Man erfreue sich an den Gemsen, an den Hirschen, aber sie zu töten, pfui! Ich habe es nie verstanden, Tiere hinterrücks heimtückisch zu ermorden. Die Menschen machen es sich bequem, schießen heimtückisch hinterrücks wunderbare Gemsen, Hirsche tot, und fühlen sich sogar als Sieger. Pfui! Die Jagd-Leidenschaft ist eine ebenso-blöd-nichtssagende Leidenschaft wie die meisten anderen. Wer auch nur eine Stunde nachdenkt, verliert für immer diesen verbrecherischen Irrsinn und die »Jagd-Leidenschaft« halte ich für einen feig-blöden Ersatz wertvoller wirklicher Leidenschaften! Gemse, Hirsch, wieblöd sind schon von selbst diese Worte, während Kinder-Schutz-Gesellschaft und andere Dinge des menschlichen Lebens tausendmal mehr nützten!?

Alle Leidenschaften, die den Anderen, den Fremden, nichts nützen, sind absolute Irrsin ne. Es ist ganz gleichgültig, ob man diesen verbrecherischen-idiotischen [285] Irrsinn am Stammtisch im Kaffee absolviert!

Die Menschen halten es für eine an sich wertvolle Emotion. Ich halte es nur für eine feige Gemeinheit. Einen allermiserabelst angebrachten Größenwahn! Auch Fürst J. schoß auf Gemsen und Hirsche. Spitze doch aber Deinen Bleistift korrekt! Esel! Es fällt Dir ja doch trotzdem nichts Rechtes ein!

Verehrte Freundin, Frau J.P.!

Gestern, 15. Juni, lernte ich Sie im »Grabenkiosk« (offenes Kaffee, mein Vormittags-Sommersitz mit trottoir roulant), kennen und siehe, heute sage ich bereits zu Ihnen: Verehrte Freundin! Das ist ein geistiges Reife-Zeugnis für Sie! Sie luden mich sofort nach der Lektüre meines soeben erschienenen »Vita ipsa« ein, den Sommer, drei Monate, in Ihrer Wald-Villa bei Aussee zu wohnen als Ihr illustrer Gast! Ich sagte selbstverständlich freudig zu. Jetzt sage ich selbstverständlich traurig ab. Wollen Sie denn das tragische Schauspiel erleben, erleiden, daß ein auf Ihre Gnade angewiesenerBettler-Dichter größere Ansprüche an eine vorsichtigste Lebensführung stellt als die Reichen, die ihn zu Gast laden!? Wo liegt z.B. das Kaffeehaus zur Allein-Rast und absoluter Sammlung von Allem und Jedem?! 20 Minuten von der Wald-Villa. Unmöglich, es muß 20 Schritte entfernt sein. Ich darf also allein in meinem Zimmerchen die Mahlzeiten einnehmen! Ich esse nie wie ein Gesunder, seit 40 Jahren, sondern [286] wie eine kranke Wöchnerin. Sonst wäre ich längst, nach meinen sieben Jahren gewollten und ungewollten Sanatorium- Lebens längst tot. Eine »lebendige Menschen-Mimose« im Kreise, in nächster, fast greifbarer Nähe, von reichen anspruchslosen Menschen, die den geliebten Dichter zu ihrem erstaunten Schreck als arg verwöhntes, ja hierin unzurechnungsfähiges Kindchen, notabene noch dazu ohne »Launen des Genies«, sondern gefestetster, unzerstörbarster Prodromos-Ansicht, nunmehr leider kennen lernen!

Ein »anständiger« Mensch, verehrte Freundin J.P., hat Ihnen Das, diese Enttäuschung, zu ersparen!

Brief an die Tänzerin

1. Juli


Liebe Frau Grete!


Sie werden mich selbstverständlich fürverrückt halten. Fünf Monate lang, seit Februar, lag ich mit doppelt gebrochener Hand, ohne zu essen, ohne mich zu waschen, in meinem Sarg-Kabinette (I. Grabenhotel). Infolge tiefsten Lebens-Ekels nahm ich in übertriebenstem Maße Schlafmittel (statt ein Liqueurglas 40!) Es zerstörte mich vollends. Professor Baron Wagner von Jauregg (ein Verehrer meiner Werke) hörte von diesem noch nie dagewesenen Falle und besuchte mich. Er erklärte, ich stünde unausweichlich vor den Toren des Delirium oder Krebs (Gewebezerfall durch Lähmung des Zentral-Nervensystemes!). Als er [287] draußen war, wußte ich sofort nicht mehr, daß dieses Schlafmittel überhaupt existiere. Ich habe mich, wie Professor Wagner in der Gesellschaft der Ärzte mitteilte, ein erster Fall, seitdem es Schlafmittel gibt, mysteriös-unerklärlich innerhalb einer Nacht errettet, wo man sonst Entziehungskuren von sechs Wochen bis sechs Monaten unbedingt nötig habe! Seit 26. Juni bin ich, in früherer Elastizität wie durch ein Mysterium, physiologisches Christentum, errettet!

Ich feiere am 9./3. 1919 meinen 60. Geburtstag. Ich habe die Absicht, infolgedessen und vor allem infolge meiner schrecklichen materiellen Verhältnisse als Ihr Tanz-Partner aufzutreten! Ich stelle es mir so vor: Kostüm: Seidene Lido-Haube, Lido-Trikot, Sandalen an nackten Füßen (so gehe ich ja in Wien bis zum Dezember), kurze Hose, nackte Unterbeine! Zwischen ihren einzelnen Nummern, die ich mit Gesten begleite, tanze ich Solo Aschantee-Tänze zu von mir angegebenen ganz primitiven, reizenden Rhythmen, von mir komponiert (jeder Kapellmeister setzt es in fünf Minuten für Orchester, Kinder-Musik). Zum Schluß aber tanze ichmit Ihnen einen künstlerischen Sechsschritt! Ich sitze von 9 Uhr morgens bis 12 Uhr mittags im »Grabenkiosk«. Suchen Sie mich dort auf!

Ihr

Peter Altenberg, I. Grabenhotel

Splitter [3]

[288] Splitter

Hugo Wolf für die »Entwicklung der modernen Seele« überaus wichtig, aber ebenso wichtig Johannes Brahms mit seiner seelereinigenden »Sapphischen Ode«! Wessen Seele aber reinigen sie denn?!? Jene, die von Schicksals Gnaden aus bereits seit jeher reinigungsfähig war! Eigentlich also jene Seelen, in denen beim Anblick des Waldes, der Alm, des Bergbaches, des Sees bereits alle jene Lieder vorhanden waren! Der Künstler bringt ja nur die »tönende Welt«, die im anderen längst verschwiegen der Erlösung harrte! Der Künstler gebiert die embryonale Seele, den embryonalen Geist der anderen!


*


Im »Gespräche« anzüglich werden ist ein Verbrechen, keine Ungezogenheit oder Taktlosigkeit! Distanz halten mit seinen Nebenmenschen stets und überall, ist nicht »gute Erziehung«, sondernKultur des Herzens, ewige Berücksichtigung fremder Nervensysteme! Ist es schwer?! Für den nur, für den es schwer ist! Mir zum Beispiel fällt es ganz leicht. Es gibt nur drei Dinge des Nähertretens: Ökonomische Dinge, Eifersucht, Bedürfnis zu belehren, zu helfen, aufzuklären! Sonst: fast pathologische Reserve! Kann man also mit den heutigen Menschen bereits verkehren?! Nein, man kann noch nicht!


*


Es gibt Menschen, die ihre beliebten Sorten von Zigarettenpapier übertrieben anpreisen und bis aufs [289] Messer den anderen Sorten gegenüber verteidigen. Die Unbeteiligten vermeinen dabei, in »Steinhof« sich zu befinden, im »gefährlichen Trakte«. Mit Unrecht. Ein jeder von ihnen hat auch einen solchen Wahnsinn!


*


Ich bin noch nicht in Österreich (Vaterland?) so anerkannt, wie ich es verdiene. Weil sie es noch nicht verdienen!


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Eine »Karlsbader Kur« im herrlichenBaum-Paradiese Rathauspark. Gleich daneben im Café die heißgemachten Sprudelflaschen. Ich garantiere Dir, daß es bequemer, billiger, also vorteilhafter ist für Deinen Organismus! Überhaupt, meine Uridee: Tages-Kultur ist, das Leben der Reichen so weit es überhaupt möglich ist, zu führen ohne ihr Geld! Das kann man schon mit einem monatlichen Einkommen von 600 Kronen. Freilich ein Schatz gehört dazu: Tages-Kultur!

Der Lehrer

Wer nicht imstande ist, Frauen, geliebte, verehrte Frauen, allmählich mit der liebevollsten Kraft seines männlichsten Erkennens zu »höherem Menschentume« (Gutmütigkeit, absolute Anspruchslosigkeit, Natur-Verehrung, schweigsame Vornehmheit, Lesen von sogenannten Lebens-Bibeln, fast pathologisch »auf sich selbst vergessen«, rund um im Leben des Tages und der Stunde herumblicken [290] erstaunt-betrübt-begeistert usw. usw. usw.) zu verhelfen, Der begnügt sich leider naturgemäß mit »ästhetischer« Begeisterung, die dann bald zu einer anderen hinüberleitet! Frauen, die Das empfindlich unangenehm verspüren, gehören zu den geistig-seelisch aristokratischen, reinen, entwicklungsfähigeren Organisationen, wenn es auch leider lebenlähmend wirkt und die Tore der Melancholie öffnet! Aber das Bewußtsein, daß es nun einmal unabänderlich tragisch so ist, erhebt sie im menschlichen Range über ihre zahlreichen Mitschwestern.

Im 60. Lebensjahre

Carpe horam, pflücke die dir irgendwie ergiebige Stunde! Frank Wedekind, ein höchst unklarer, »dummer gescheiter August-Zirkus-Revolutionärer« (irgendein Rad oder Rädchen in seinem Gehirne funktionierte dennoch falsch, wie bei den meisten Menschen, den Spielern, Wettern, Trinkern, angeblich unglücklich Liebenden, den Verschwendern, den Asketen, den allzu sparsamen, vorsichtigen Rechnern, den Eitlen, den Stolzen, den blöd Größenwahnsinnigen usw., usw., usw., den Unbescheidenen). Aber ein kerzengerades, aufrechtes, spiegelklares Hirn hatte gerade dieser nicht. Das aber gerade nannte man fälschlich seine Genialität. Wie soll man dann Emil Zola, Victor Hugo, Knut Hamsun, August Strindberg benamsen?! Ich bin ein momentaner kürzester Impressionist, das ist mein anständiger wohlverdienter Ehrentitel. Auf den habe ich seit 20 Jahren ein Recht. Trotzdem starb Frank Wedekind mit 54 Jahren, Gustav Klimt [291] mit 55, und ich hatte also vor allem vier lange Jahre vor ihnen voraus, des Erlebens, des Erleidens. Wie habe ich diese mir von Schicksals Gnaden oder Ungnaden gewährte Lebensfrist aber ausgenützt?! Ich verheiratete meine heilige, blonde Freundin mit idealsten Knabenbeinen an einen meiner tiefsten Verehrer und Versteher, den tief melancholischen Regimentsarzt Dr. D., der ein Jahr lang in Sibirien in Einzelhaft verbracht hatte. Ich war, dank einem böhmischen Rittergutsbesitzer, der mir die beiden Manuskripte zu »Fechsung« und »Nachfechsung« um je 500 Kronen abkaufte, drei Monate lang im herrlichen »Gesäuse«, Juli, August, September, 1916. Ich lernte, ein Weltreisender en miniature, und tausendmal ergiebiger, bequemer, billiger, man versäumt keinen Zug, wird morgens nicht durch irgend etwas aus dem heiligen Morgenschlaf in das blöde, beschwerliche, unnötige, angeblich reizvolle Tagesleben herausgezerrt, unempfänglichst, da man den regenerierenden Tod »Schlaf« noch im gelähmten Gehirn hat, ich lernte also 1916 den Gaflenzbach genauestens kennen, die Enns, den Leopoldsteiner See und Eisenerz, wo ein Eisenberg langsam-geschickt abgetragen wird, um Millionen Menschen damit zu Krüppeln zu schießen, die Toten sind tot. Als ich nach Wien zurückkehrte, hatte ich eine meiner verhängnisvollsten Nervenkrisen, blieb acht Wochen lang in meinem Zimmerchen. Lebendig begraben, also ärger als Frank Wedekind und Gustav Klimt. Denn ich hatte noch leider die Erinnerung an das »Gesäuse«. Im Jahre 1918 glitt ich von der schlecht von Seife abgeschwabten Steinstiege vor meiner Hoteltüre mit meinen glatten Holzsandalen, nachts 1/212 Uhr, nach rückwärts aus, [292] brach die beiden Handwurzel- Knochen. Infolgedessen nahm ich aus Verzweiflung zu meinem geliebten heiligen Schlafmittel Zuflucht (absolut restaurierend und zehnstündigen tiefen Schlaf garantierend ohne jegliche Angewöhnung, wenn man nämlich, abends bereits im Bette liegend, sich für den Schlaf parat hält, rasch ein Likörglas hinunterstürzt und bereits die Augen danach schließt). Ich aber nahm zwanzig. Was kann dieses erlösende regenerierende Schlafmittel für meinen melancholischen Irrsinn?!? Ich empfehle es euch dringendst, Schlaflose, ein Likörglas! Nach fünf Monaten Zimmerkerker schrecklichster Art, im April Erlösung, vollständige, nein, mehr als vollständige Regeneration, eine neue Jugend-Elastizität, so daß ich Tanzpartner der Grete Wiesenthal werden will im Oktober bei »Ronacher«. Ich werde am 9. März 1919 60 Jahre alt. Aber wenn ich die sogenannten modernen Tanzpartner der modernen Tänzerinnen sehe, habe ich nur ein verantwortetes Hohnlachen! Vor allem keinerlei Anmut, männlich-frauenhaft eben zugleich muß man sich biegen können!

Frank Wedekind starb vorzeitig mit 54, Gustav Klimt mit 55, ich lebe noch mit 59.

Meine These deshalb von nun an: Carpe horam; pflücke die Stunde, die dir noch unbegreiflicherweise von Schicksals Gnaden gewährt ist!

Die Menschen [1]

Die Menschen

Einer sprach mich auf der Gasse an, ein Fremder:

»Also gut, mein lieber exzentrischer Peter, daß Sie ohne Hut gehen, mein Gott, vielleicht ist es [293] wirklich gesünder wegen der Ausdünstung, obzwar ein Jeder schaut und lächelt! Aber gut, den Hut verstehe ich noch, kann mich wenigstens hineinversetzen in Ihre Lage, zu Ihrer Entschuldigung. Das mit dem Sandalentragen, na, vielleicht haben Sie wirklich kein Geld für Schuhe, obzwar man in Ihrem Alter, 59, Das denn doch schon haben müßte eigentlich. Na, mich geht Das nichts an. Aber der Gürtel, der Gürtel, der lederne Gürtel, welchen Zweck hat Der?!?«

»Der entspricht meinem persönlichen Geschmack!«

»Ah, an ›persönlichen Geschmack‹ haben Sie, pardon, Das hab' ich ja nicht gewußt, und Den führen Sie so öffentlich auf die Gasse spazieren?!? Ich empfehle mich!«

Quartett

Im Kaffee Landtmann.

An einem Tischchen der berühmte moderne Architekt Adolf Loos und seine wunderschöne, unbeschreiblich milde und ergebene ›pathologisch‹, bleiche, goldhaarige Ottegebe, Frau –. Dann Frl. H. und ich. Plötzlich fährt A.L. das arme Frl. H. an zischend wie eine sich aufrecht stellende Kreuzotter in sonniger Bergwiese: »Sie, Fräulein, Das geht eben nicht an unserem Tische, so ein falsches, fast irritierendes Wiener Werkstätten-Band, schwarz-weiße Kricksel-Kracksel auf Seide, als Krawatte zu tragen!«

»Du, Loos, höre auf, eine Unverschämtheit, sie ist weder Deine Freundin noch Deine Geliebte, noch [294] interessierst Du Dich für sie. Mit welchem Rechte also diese bübische Schulmeisterei?! Schreibe es öffentlich in Bücher, aber sprich es nicht privat!«

Sie: »Und besonders, da ich doch garnichts dafür kann, daß mir gerade dieses Band so sehr gefällt, ja, bitte, es ist von allen meinen Bändern als Krawatte zu tragen sogar mein Lieblingsband!«

»Pardon, Das dürfen Sie jetzt nicht sagen, sonst hat A.L. wirklich recht. In unserer Gesellschaft hätten Sie es eben längst lernen sollen, schon durch meine gestrickten seidenen einfarbigen Krawatten, daß bei uns bereits ein höherer, einfacherer, also menschlich-freierer Geschmack herrsche! Weshalb schließen Sie sich dann so innig an uns an, wenn Sie nicht die Absicht oder die Lust haben oder die Fähigkeit, davon irgendwie zu profitieren?!?«

Kriegsmarxismus
(leider nicht von mir, aus einem endlosen Essay extrahiert)

Das Schwert Hindenburgs ist das Schwert derWeltrevolution und, ohne es zu ahnen, verkörpert Exzellenz, v. Hertling, Reichskanzler, in seiner Person die Dreieinigkeit Robespierre, Danton, Marat! Dieser erhabene Standpunkt (Vogelperspektive in die nebelvolle Ebene künftiger Geschehnisse) wird Alles mit Hohn übergießen, was so nach altfränkischer Auffassung Sozialisten am meisten am Herzen liegen sollte. Der Verständigungsfriede ist eine feig-hohle düpierende, nicht düpierende Phrase, die Wendung gegen Annexionen ein nichtiges [295] Schlagwort ohne reelle Inhalts-Möglichkeiten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker eine kleinbürgerliche Ideologie!

Splitter [4]

Splitter

Wenn man ledig ist, muß man radikal ledig sein, nichts bereuen und vor allem die Anderen mißachten!

*


Eine seinerzeitige Kritik über Schubert: »Was diese 24 Lieder ›Winterreise‹ betrifft, so wäre es besser gewesen, Schubert hätte aus diesen 24 schwächlichen Variationen ein konzentriertes einziges Lied komponiert! So zersplitterte er sich, ohne sich und uns zu nützen!«


*


Die zwei größten Antipoden der Lebensführung: Cárpe dièm, pflücke den Tag, man könnte sogar sagen: Cárpe hóram, pflücke die Stunde (meine Lebens-Devise) und »Die Vogel-Strauß-Politik«, stecke den Kopf in den Sand, um nicht zu hören, wie eswirklich ist, eine feig-blöd-frech unanständige Lebens-Devise! Aber Alle haben sie! Niemand geht eben seinen Weg!

Weltkrieg 1918

4. Juli


Im Alter von 18 Jahren hat nach sechs Monaten Dienstleistung im Felde der Schlachtentod den Einjährig-Freiwilligen Unfreiwilligen Otto Müller [296] dahingemäht! Sein beinahe kindliches Interesse gehörte zeitlebens der »Waldvogelbewegung, dem Waldvogelschutze an«. Er gehörte diesem Vereine mit seinem kargen Taschengelde an.

Wenn unser Alexander Girardi auch noch dazu Knut Hamsun, Strindberg, Altenberg gelesen, verstanden und in sich aufgenommen hätte?! Ja, dann! Aber hat er es, hat er es?! Er war ein genialer, »tragischer, urwüchsiger Kasperl«, gerade Das, wofür der Wiener noch Begeisterung aufbringt! Die Oberfläche, nein, die erste der Oberflächen!


*


Persönliche (also mystische-unfaßbare-unbegreifliche) Sympathien demolieren, zumal bei Frauen, sofort alle besseren, gerechteren, anständigeren, wahrheitsvolleren, ja poetisch-objektiveren Erkenntnisse über Uns! Das Gehirn, die ser adelige Herr über unser armes Sklavenleben; wird da momentan ausgeschaltet, und es tritt dermystisch-unerklärlich funktionierende Nervus sympathicus als lächerlicher unbezwinglicher Herrscher auf!

Solange die Lebensmaschinerie nicht mehrprompt funktioniert, aus irgendeinem Grunde, verweigert sie auch naturgemäß jegliches Heilmittel, da sie eben die Reaktionsfähigkeit, die Wiederherstellungs-Möglichkeit verloren hat! Da ist eben möglichste Ausschaltung der Lebensfunktionennaturgemäß verordnet! Bettruhe, Hungerkur, endeloser Schlaf bei weit geöffneten Fenstern. Ausschaltung, so weit es eben überhaupt möglich ist, [297] aller Funktionen. Deshalb auch ununterbrochene Abführmittel (Darm-Entgiftungs-Mittel):Rheum et Magnesia usta, 50%, ein Eierlöffel voll des Abends! Oder: Kurella-Pulver.

Ich sehe um mich herum und selbstverständlich deshalb auch in weiten scheinbar unbekannten Fernen, lauter Menschen, zumal junge Frauen und angeblich hysterische Mädchen, die sich auf ihrem, einst vom Schicksale doch so einfach bequem vorgeschriebenen Wege, vollkommen ins »Ungewisse« verirrt haben, und sich nun, zu ihrem Verderben, aufs Suchen nach für sie Unerlangbarem in diesem Labyrinthe »Leben« verlegen! Die ewig spendende melancholisch-heitere Natur selbst sollte Dir vor Allem Alles bereits spenden, ehe Du suchst: Gmunden, der Attersee, der Wolfgangsee, besonders in Frühlingszeiten und in Herbstzeiten! Der Kur-Sommeraufenthalt ist bereits fad-angestrengt-gewollt, amüsant, konventionell-unbesonders.

Lausche bei Tag und Nacht Deinen Dir vom Schicksal zufällig gnädig mitgespendeten, geistigen, seelischen, körperlichen Kräften nach undüberheize Deine mysteriöse Lebens-Maschinerie nicht infolge der Gifte »Ehrgeiz«, »Geldgier«. Werde ein »selbstverständlicher Diogenes Deiner selbst«! Alles ist nichtig außer Das, was das Schicksal schon bei Deiner Geburt in Dich von Urgroßväters Gnaden oder Ungnaden hineingelegt hatte, auf daß Du es zu Deinen eigenen Idealen langsam-bedächtig entwickelst! Zu dieser Erkenntnis-Kraft mußt Du allmählich gelangen, auf daß es Dir gut ergehe auf dieserschlimmen Erden!

Splitter [5]

[298] Splitter

Romain Rolland: »Nicht weil Moses oder Christusverboten hat, dem Nächsten und sich selbst Leid zuzufügen in irgendeiner Art (geistig, seelisch, körperlich, sexuell, ökonomisch), soll derscheinbar gläubige Mensch sich enthalten mit Willenskraft aus dem Born seines bisher unausgeschöpften Idealismus, sondern weil es gegen die Natur des Menschen selbst ist zu jeglicher Stunde, sich und dem Nächsten Böses zuzufügen! Es ist gegen seine ganze organische Organisation! Und Das zu erkennen, ist erst Kultur! Niemand braucht es ihm daher erst in der Religion vorzuschreiben, dadiese Religion bereits seit jeher in ihm physiologisch vorhanden ist!«


*


Rodin an die jungen Bildhauer:

»Die Meister unter Euch aber werden Diejenigen werden, die, was alle Welt bereits ewig gesehen hat, mit ihren eigenen Augen nunmehr erschauen, und so die Schönheit in jenen Dingen erfassen werden, die zu gewöhnlich und all täglich-nahe sind, um den Anderen aufzufallen!«

Brigittenau
Ausläufer der Großstadt, dort wo das Häusermeer abfließt

Not und Krankheit sind die einzigen Feinde der Menschen, alles Andere sind »freche Vorurteile«.

[299] Der Hauptmieter der kleinen, düsteren Wohnung ist ein Schneider. In seiner Werkstätte, zugleich Wohnraum, schlafen vier Personen und ein Bettmädel: in der Küche noch zwei Bettgeher, ohne Bett.

Ich fühlte: »Wenn sie wenigstens bei weit geöffneten Fenstern schliefen! Dann käme es auf die Zahl acht nicht an.«

Ideale der Lebensführung

Ideale der Lebensführung,

nur von meinem 56jährigen Bruder, Hauptkassierer einer Bank, durchgeführt seit zehn Jahren.

Was also kann man doch noch an aristokratischer Lebens-Freiheit gewinnen, wenn die »Pflicht des Tages« es verhindert?!?

Punkt zehn Uhr zu Bett, unter allen Umständen, zwingend, drohend, unausweichlich durch eigene geniale Einsicht, sein besseres, beschützendes Selbst durch Jeden, Dem man nur kein Gehör schenkt. Punkt 10 Uhr zu Bett. Weit geöffnete Fenster. Um sechs Uhr erwachst Du zu Deiner heiligen Freiheit, die Dir der spätere belastende Tag verwehrt naturgemäß. Von sechs bis acht Uhr darfst Du Du selbst sein! Wie merkwürdig; täglich von sechs bis acht Uhr! Zwei lange, stille, friedevollste, ganz freie, aristokratische Stunden hast Du nun vor Dir, Sklave deines sonst gewöhnlichen Lebens! Wie nützest Du sie aus?! Vor allem durch das wunderbare Bewußtsein, daß Du zwei ganz freie Stunden vor Dir hast! Schauer eigenen Friedens, eigener Freiheit, sind in Dir. Ein zager Blick auf die Wanduhr, ja, es sind noch ganze lange, endelose, heilige zwei Stunden. Wie ist es möglich, daß Dir Das beschieden ist hienieden, [300] womit hast Du es verdient, und vor allem, weshalb genießen nicht Alle in deiner oder ähnlicher Position dasselbe überirdische Glück?!? Du rasierst Dich. Du machst eine Pause, denn Du hast endelose Zeit. Du denkst: Ich bin bereits rasiert, bon. Wer ist denn in meiner Position bereits heute rasiert?! Wenige, vielleicht Niemand, ich bin tief überzeugt, Niemand, Niemand! Du nimmst Deine dicke wollene, grau-rot karierte Bauernjoppe, die Dir den Schlafrock ersetzt, nein, ein idealisierter Schlafrock bereits selbst ist. Eine Menge ganz moderner Zeitschriften (Frieden usw., usw., Fackel) hast Du Dir spendiert. Man muß in diesen zwei Stunden »hinaufklettern«, zu Denen, die nichts zu tun haben als zu denken und dieses Denken uns liebereich mitteilen. Sie denken für uns, bon, wir haben Gott sei Dank Zeit, ihr besonderes Denken in uns aufzunehmen. Ah, was finde ich da für einen wunderbaren Essay, einen leichtverständlichen, gerechten und dennoch tief schürfenden!? Meine Lebens-Betrachtung wird um vieles bereichert, ich danke Dir, mir unbekannter Schriftsteller! Blick auf die Wanduhr. Es ist sieben. Noch eine lange, endelose, freie Stunde. Du kochst Dir Dein Frühstück, dabei kannst Du bequem weiterlesen. Manches Wertvolle für Dein Erkennen findest Du noch. Du bist aus dem Tages-Düster »hinauf-geklettert« in helle geistige Regionen. Wie können »Menschen im Joche« sich solche zwei Stunden selbst zerstören, versagen. Blick auf die Wanduhr, acht! Ein anderer Mensch, ein gereinigter, ein erhöhter, schreitet gelassen der Pflicht des Tages entgegen. Pflicht?! Deine Pflicht gegen Dich liegt bereits hinter Dir!

[301] Spenden

Wenn ich Jemanden schonen will, in irgendeiner Angelegenheit dieses schwierigen verknoteten Lebens, so tue ich Das nur für mich, für mich, nie für ihn! Daß ich es tun will, tun kann, tue, ist meine einzige Befriedigung, eine andere gibt es leider Gott sei Dank nicht. Wehe der Seele, die Opfer bringen möchte, die sich nicht mit »idealen Wucherzinsen« von selbst in Dir belohnen. Wie viele Leute, die es doch gar nicht nötig hätten, sondern im Gegenteil, gehen gedrückt, scheu, fast blamiert, am öffentlichen Pranger gleichsam ihrer selbst ausgestellt herum, weil sie nicht mit Unrecht vermuten, daß man sie pekuniär nur mißbraucht habe!?! Gib erst dann, wenn Dein Geben sich Dir von selbst innerlich mit Wucherzinsen reichlich belohnt!

Der Ungeschickte

Mein fast heiliger, genial bedürfnisloser, Besitz tödlich verachtender Bruder möchte die Frau dem Manne nachsichtslos unterjochen, um die Welt dadurch von dieser Seite aus wenigstens zu erlösen. Amen. Ja, aber welchem Manne, welchem?! Das weiß er nicht, darum kümmert sich dieser heilige Zelot nicht. Selbstverständlich nur Dem, der dieser Unterwerfung würdig ist! Wer aber istwürdig?! Fast Niemand. Wehrlosen Mädchen hält mein Bruder mit ganz rotem Kopfe und ein bißchen bereits hervorquellenden Augen schreckliche Strafpredigten wegen nichts und wieder nichts.

[302] Eine sagte einmal: »Regen Sie sich nicht so auf, es könnt' Ihnen schaden! Wem sollen wir uns religiös unterwerfen, Wem?!?«

Raffinement unserer modernen Kultur

Nach der landläufigen Vorstellung hängt der Italiener nur mehr am Rande der seine Ebene schützenden Gebirgskette, und der Laie glaubt, daß es sich bloß noch darum handle, ihn von diesem Rande herunterzuwerfen. In Wirklichkeit ist das vor unseren Stellungen in den Sieben Gemeinden gelagerte und vom Feinde besetzte Gelände kettenförmig aufsteigendes Hochgebirgsland. Der Angreifer muß bei Asiago aus einer großen unbewaldeten Mulde gegen ein von tiefen Wäldern geschütztes, zahlreichen gedeckten Senken und Tälern durchrissenes Terrain aufsteigen, wider einen Verteidiger, der sich hier in zweijähriger Arbeit mit allen Mitteln moderner Kriegstechnik verschanzt hat. Diese Wälder sind von Stellung zu Stellung mit Eisengespinsten durchzogen, die aus einem ganz ungewöhnlichen, fingerdicken Draht hergestellt sind, gegen den die Schere der Stürmer zu versagen pflegt. Tausende Maschinengewehre sind auf Bäumen, unter Felsen, Baumwurzeln, untergebracht, betonierte Gräben mit tadellos ausgestatteten Kavernen gewähren dem Verteidiger Schutz und erlauben ihm durch kasemattenartige Gänge seine Geschütze zu verschieben.

[303] Nur wenige Blößen sind in diesem ausgebreiteten Waldgelände sichtbar, aber so weit das Auge reicht, bis hinauf zu den Höhen des Kaberlaba, des Eckher usw. sieht man Armierungsstraßen, Laufgräben, Stellung an Stellung; man kann annehmen, daß sechs bis acht Rückhaltlinien etagenförmig ansteigend, sich übereinandertürmen, die von dem aus der Tiefe ansteigenden Gegner zu überwinden sind. In diesem unübersichtlichen Gelände, das jede Bewegung des Feindes deckt, ist die Aufklärung für den Angriff überaus schwer.

Impression

25./6. 1918, 11 Uhr abends. Über dem »Graben« in Wien steht der goldene Vollmond. Meine nackten Füße frieren ein wenig in Holz-Sandalen. Ich bin ganz nahe an sechzig. Tiefster Lebens-Überdruß erfüllt mein jedenfalls krankes (nicht so, wie Ihr es meint, Hunde!) Gehirn. Wozu das Alles, das Alles, diese Bürde des ewig gleichen und eigentlich unentrinnbaren Seins, dieser »Käfig Deiner freien Persönlichkeit«!? Es wird so gehn, bis die Todeskrankheit irgendwie sich einmal schüchtern-grausam meldet. Über dem »Graben« steht der goldene Vollmond. Ich friere ein wenig mit meinen nackten Füßen in Holz-Sandalen. Weshalb tragt Ihr Alle noch keine Holz-Sandalen?! Weshalb sargt Ihr den Fuß, diesen angestrengtesten Teil unseres Körpers, in Strümpfe und Schuhe ein, benehmt ihm die freie Ausdünstung, sein Atmen?! Darauf antworten Alle mit verlegenem Schweigen. Es ist halt einmal so.

[304] Telepathie

Telepathische Séance des von der Front kommenden Hauptmannes Groß vor einer aristokratischen Gesellschaft im Hotel Bristol (Platz 100 Kronen zugunsten der Kriegsblinden).

Weshalb sich also dann noch überhaupt über irgend etwas wundern?!?

»Hinsichtlich der Medien möchte ich auch einem Irrtum entgegentreten. Die Mehrzahl der Menschen sind gute Medien, ich glaube sogar, von hundert fünfundneunzig. Bei meiner letzten Séance im Hotel Bristol habe ich bei fünfzig Versuchen mich ebensovieler Medien bedient und keine Aufgabe ungelöst gelassen und kein Medium ablehnen müssen. Ich habe die Gewohnheit, meinen Medien voranzugehen. Ich schaue nicht zurück, blicke nicht nach rechts, nicht nach links, sondern gehe vorwärts und lasse mich durch kein Flüstern oder Raunen ablenken und bemühe mich, so rasch als es nur geht, die mir gestellte Aufgabe durchzuführen. Je verwickelter, je unlogischer die Aufgabe ist, desto angenehmer ist sie für mich. So hat im Hotel Bristol, um ein Beispiel zu erwähnen, ein Herr mir telepathisch aufgetragen, einem Zuschauer aus der Zigarettentasche eine Zigarette zu entnehmen und diese einem andern Herrn in den Mund zu stecken, dann ein Zündhölzchen von einem dritten Herrn zu entlehnen, es sofort anzuzünden und es brennend bis zu dem Herrn, der die Zigarette im Munde hielt, zu tragen, dann aber das Hölzchen auszulöschen, ohne die Zigarette in Brand zu bringen. Logisch wäre gewesen, die [305] Zigarette anzuzünden und dann auszulöschen, aber der Herr, der mir die unlogische Folgerung auferlegte, hat jedenfalls mehr an ein schwieriges Experiment gedacht als an die gewöhnlichen, so ziemlich abgebrauchten Vorführungen.

Welche Vorgänge sich in meinem Innern während dieser Experimente abspielen, kann ich leider nicht beantworten. Ich bin mir selbst nicht bewußt, welchem Gefühle ich folge. Ich weiß nur, daß ich bei einer Séance vollständig alle Gedanken ausschalte, daß alle Vorgänge um mich herum mirdurchaus unklar sind, daß ich aber sicher empfinde, ob ich eine Aufgabe gelöst habe oder nicht. Soll ich einen Zündhölzchenständer ergreifen, und ich erfasse die nebenan stehende elektrische Lampe, so gleiten meine Finger an dem falschen Gegenstande ab, um gleich darauf mit sicherer Hand das gewünschte Objekt aufzuheben. Ein halb geflüstertes ›Bitte, weiter‹, das ich zu dem Medium spreche, das hinter mir steht und das ich überhaupt nicht beobachte, dessen Konturen ich kaum erkenne, genügt, um das Experiment weiter durchzuführen und zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen. So habe ich einmal im Feld ein mir vollständig unbekanntes Kartenspiel auf telepathischem Wege gespielt. Der eigentliche Spieler saß hinter mir und legte seine Hand an mein Hinterhaupt. Ich teilte aus, spielte nach den Regeln aus, zog die Stiche ein oder gab sie den Gegenspielern und spielteohne Kenntnis des Spieles, einfach nur als das ausübende Organ der Gedanken des eigentlichen Spielers. Hätte dieser sich durch eine [306] Renonce geirrt, so hätte ich unbedingt diesen Fehler seines Denkens sofort in die Tat umgesetzt. Ich möchte nur nebenbei erwähnen, daß ich das Spiel auch heute noch nicht einmal dem Namen nach kenne. Es war natürlich keines jener Spiele, bei denen durch ›Ansagen‹ eine Partie entschieden werden kann.«

Stadtpark

13. Juli, 2 bis 5 Uhr nachmittags. Märchen-Bäume, Märchen-Sträucher, Märchen-Wege, steinerne Mauern mit hellblauen riesigen Vasen in Nischen und überhängende dichteste dunkelgrüne Kletterpflanzen. Der düstere Teich dicht bedeckt mit herabgefallenen verwesenden Blättern. Die Zauber-Bäume mit ihren mystischen Blüten: Katalpa und Paulovnia imperialis. Weshalb kein eleganter Handspritzwagen, hellbraunes Holz lackiert, der mit fadendünnem langem Wasserstrahle die staubigen Wege, ohne Lachen zu bilden, zart-tauartig besprengt?!? Wie ist es möglich, gerade das zu unterlassen?! Ein nett uniformierter ganz billiger Knabe müßte da den ganzen Tag den Staub ermorden, diesen Lungen-Mörder!

Manche Mädchen suchen die schattigsten, frischesten, düstersten Sitzplätze auf, andere wieder geben sich der braunröstenden Sonne hoffnungsreich hin, erwarten da eine Besserung, ohne je krank gewesen zu sein! Wer vermöchte es zu bestimmen, wem Schatten frommt und wem röstende Sonne?!? Der Glaube wirkt hier aufs Geratewohl, mich selber lähmt die Sonne, Stoffwechsel-verlangsamend, während [307] Kälte mich befördert! Welche edle Ruhe in dieser Großstadt-Oase »Stadtpark«! Das, »Getriebe« ist endlich gestorben und der Gartenfriede feiert, seine Auferstehung! Ärzte, weshalb sendet ihr noch immer nach alter Schablone selbst Patienten, die es schwerst oder gar nicht bezahlen können, nach Karlsbad, Franzensbad, Teplitz etc. etc?! Im Wiener Stadtpark könnt ihr von 7 Uhr morgens an jede Trinkkur besser, billiger, bequemer (ihr habt trotzdem euer Bett, euren Kopfpolster, eure Bedienung, eure Wäscherin, euer Kaffeehaus, eure sogenannten Freunde) absolvieren als direkt an der Quelle, schreckliches Vorurteil! »Ja, mein Lieber, das ist alles sehr schön und richtig, was Sie uns da predigen, aber wir müssen ausspannen, einmal gründlich ausspannen von allen unseren üblen Gewohnheiten mindestens vier bis sechs Wochen lang, ein anderes fremdes Milieu, mein Lieber!« Erstens wußte ich bisher gar nicht, daß ihr »üble Gewohnheiten« habt, und zweitens kann man sie eben auch im »Wiener Stadtpark« mit gutem Willen ablegen. Könnt ihr das nicht, dann pfui!

Die Amsel

Es gibt Leute, die an der Amsel im Gartengebüsche achtlos vorübergehen. Dann gibt es Leute, die sich an der Amsel und ihrem ewigen Regenwurmmord erfreuen. Dann gibt es Leute, die ganz ohne weitere böse Absicht das Leben und Treiben der Amsel ernst-sachlich genau beobachten, sie lernen zu, vergrößern den Kreis ihrer Erfahrungen. Dann gibt [308] es Leute, die die Amsel beobachten, um darüber zu schreiben, meistens ein kleines Gedicht. Dann gibt es Leute, die sich an dem Gehaben der Amsel erfreuen, sie interessiert beobachten, ja fast gerührt, und dennoch nicht darüber schreiben. Aber diese Leute sind heutzutage selten, gleich ich gehöre, wie Sie sehen, nicht dazu.

Melancholie [1]

Melancholie

Mein Bruder sagt: »Melancholie ist Desorganisation. Deine Lebensmaschinerie (diesen Ausdruck hat er von mir, macht nichts, wenn er nur treffend ist, und das ist er, weiß Gott) zeigt dir ängstlich-besorgt an, daß irgend etwas irgendwo aus irgendwelcher unbekannten Ursache nicht ganz in Ordnung ist!«

Es kann doch aber Verzweiflung über irgend etwas ganz Positives sein, nicht!? Das ist ja eben schon eine Hinderung der Funktionen der Lebensmaschine, eine Anbahnung zum Beispiel künftiger Zuckerkrankheit oder anderer Stoffwechsellähmungen. Es gibt aber trotzdem dennoch auch grundlose Melancholien, physiologische Nirwanagefühle, »wozu bin ich eigentlich in dieser unvollkommenen vorläufig tragischen Welt«?! Diese Melancholien sind die historischen in deinem raschen Tagesleben, sie kommen von der Eltern oder Großeltern Ungnade her, sind dir mitgegeben scheinbar also grundlos'! Das meiste Unrechte, Blödsinnige, Viertel- oder Halbirrsinnige aber, das man gegen seine Lebensmaschinerie unternimmt, hat den Grund, latente [309] unbekannte Melancholien zu betäuben, zu bannen, auszuschalten, die meisten hoffen leider blödsinnig, sie dadurch zu heilen! Eine ewige Sehnsucht nach Vollkommenheiten ist latent in uns, und der Schmerz, sie nie zu erreichen, läßt uns die schauerlichsten kindischesten Blödsinne begehen, statt die Sehnsucht als Menschentum-Förderndes gelassen-ergeben tragisch auswirken zu lassen!

Der Schlaf

Unausgeschlafen.

Unausgeschlafen, aus irgendeinem mysteriösen Grunde, die anderen Gründe kann man mit seiner Weisheit vermeiden, aber die mysteriösen?! Da ist man das unschuldige physiologische Opfer! Weshalb, Hund, bist du also dennoch, trotz allem nicht ganz ausgeschlafen?! Schleppst noch ein Stück von deinem »Tot-sein-wollen – und vor allem müssen« in das beschwerliche, anspruchsvolle, lächerliche, belastende, niederdrückende, Lebens-Energien kolossal aufzehrende, stupide, unnötige Leben des schweren bleiernen Tages hinein?!? Mit allen Mitteln restlos ausgeschlafen sein! Das ist die einzige Energie-Erhaltung dieser Maschinerie »Mensch«. Ihr Zeit, Gelegenheit geben zur Regeneration aller ihrer irgendwie verlorenen Tageskräfte im regenerierenden Todesschlafe der Nacht! Die Nacht sagt zum Schläfer, wie Brünhilde zu Siegfried, den sie im Banne der Unbeweglichkeiten leider eine Zeitlang hielt: »Zu neuen Taten, teurer Helde, wie liebt' ich dich,ließ ich dich nicht?!?« So entläßt die heilige, Leben bannende, eigentlich dadurch [310] aber eben erst Leben spendende Nacht den Menschen, nein, den Künstler-Menschen, zu neuen, frischen, lebendigen Taten!

Niemand ahnt den Wert des restlos von selbst endenden Schlafes, bei weit geöffneten Fenstern, für die Energie-Leistungen des nächsten Tages! Krankheit, Todeskrankheit ist nichts anderes, kann nichts anderes sein wie die von der Natur gemachteschließliche Abrechnung für alle Milliarden Unnatürlichkeiten, genannt Sünden, die wir an ihr jahrzehntelang bewußt-unbewußt begangen haben.

Schlaf, du, den alle sich ersehnen, du bist mir leider nichts, ich habe nicht durch dich, Schlaf, das Gefühl unermeßlicher Erlösung vom Drucke des unertragbaren Lebens! Ich bin nicht mehr, ohne es zu spüren; mein Nicht-mehr-da-sein kann mich nicht beglücken, da ich eben auch lebendig nicht mehr vorhanden bin! Eine tote Masse. Aber diese Stunden, die zum vorübergehenden Nacht-Tode, dieser Tages-Erlösung, langsam unmerklich hingeleiten, die kann man genießen als werdendes Hinaus-Entschwinden aus seiner schrecklich belastenden, tief verlogenen Lebens-Welt! Der Augenblick ist heilig, heilig, da ich mich von dem Joch, der Sklaverei, der Folter der Lebens-Konvention allmählich sanft unmerklich befreit fühle, freilich erst für »momentanen, allzu kurz währenden Tod«! Diese Augenblicke oder oft Stunden des Hinübergleitens in ein Land völliger mysteriöser Gleichgültigkeit den Wünschen des Lebens gegenüber, diese edle, momentane Befreiung von Eitelkeit und Ehrgeiz, von Liebe und Eifersucht (die Lebensmaschinerie ist eben Gott sei Dank erschöpft, versagt [311] die Produktion von Lebens-Qualen, ersehnt sich den momentanen, wenn auch leider hoffentlich vorübergehenden Schlaf-Tod). Es allmählich heranschleichen merken, die kommende Tagesnot-Erlösung vorausempfinden können, das allein ist der heilige Genuß der Schläfrigkeit! Der Schlaf ist eine Notwendigkeit, die dich dir völlig unbewußt zur notwendigen Morgen-Kraft geleitet! Aber die Schläfrigkeit spürst du ganz wundersam unentrinnbar als Einleitung zum notwendigen, wenn auch nicht mehr leider kontrollierbaren Schlafe! Dieses wundersame Ausspannen aller deiner berechtigten oder meistens unberechtigten und überflüssigen Lebens-Energien mitzuempfinden, dieses »organische Nirwana« deiner Lebens-Bemühungen ist deine liebliche holde Schläfrigkeit!

September

Die zinnoberrot frisch angestrichene Dachrinne schimmert im Mondlichte, die frisch angestrichenen schneeweißen alten Dachfenster leuchten. In den dunklen Fenstern sieht man Lichter huschen ohne Menschen. Auf der Straße trappen ohne Unterlaß und eigentlich ohne Grund ununterbrochen Pferde. Vielleicht sticht sie irgend etwas, oder vielleicht gerade überhaupt gar nichts, der Übermut des Übermutes, irgend wohin muß es doch hinaus, wenn auch nur durch Scharren und Stampfen!?! Lichter entzünden sich plötzlich mysteriös in weiten dunklen Zimmern, gehen und kommen fast lautlos, wie krankhaft schlaflose Menschen. Eine Dame träumt ihren [312] September-Erinnerungen nach. »Es war wie es war, jünger wird man jedesfalls nicht in meinem Alter!« Aber älter eigentlich auch leider nicht. Man bleibt so fad-blöd gerade in der Mitte stecken, eine Menge merkwürdiger Erkenntnisse, die Einem doch trotz allem gar nichts nützen, obzwar man es bestimmt glaubt. Die Weisheit entwischt dir, obzwar du weiser geworden bist! Die Winter-Saison bringt wieder die Winter-Saison, sehr viel Neid also, Eitelkeit und Enttäuschungen. »Dieser Lila-Sammet-Hut der Gräfin, mit der hellgrünen Papageien-Feder! Gott, mit solchen Exzentrizitäten heute noch wirken zu wollen, das ist ja fast schon ein halber Peter Altenberg, obzwar der echt verrückt zu sein scheint, von Geburts Ungnaden her! Also ohne seine Schuld!«

Die zinnoberfarben frisch angestrichene alte Dachrinne schimmert mysteriös im Septembermondlicht, und die frisch weißgestrichenen alten Dachfenster leuchten fast gespenstisch. In den dunklen Zimmern sind hie und da helle, rasch verschwindende Lichtlein, wie kränkliche Menschen, die nicht Schlaf finden können. Sie durchqueren ihre Wohnungen. Was nützt es ihnen?!? Nichts, gar nichts nützt es ihnen!

Werther

Daß der zarte Werther an der edel-bezaubernden Lotte zugrunde gegangen ist, das wißt ihr alle. Aber ein ganz kleines Detail kennt ihr wahrscheinlich nicht: Eine junge Frau, die von ihrem Manne zu wenig Geld für den Haushalt erhielt, half sich, ihm das Leben bequemer zu gestalten, indem sie hie und da [313] in seine Tasche unbemerkt griff. Als nun ihre Todesstunde nahte, beichtete sie ihrem Manne diese Sache, nicht etwa aus Gewissensbissen, sondern: »Verehrter Mann, du wirst aller Wahrscheinlichkeit nach bald eine Andere für deinen Haushalt nehmen, und da möchte ich nicht, daß du über sie dächtest, sie führe deinen Haushalt unaufmerksamer, kostspieliger als ich!«

Zündhölzchen

Ich lausche gespannt bei Tag und bei Nacht, ob Jemand ernstlich Zündhölzchen bedürfe in diesen schweren Zeiten. Ich habe deshalb immer ein Päckchen bei mir, um »Kaiser Josef«, um »Harun Alraschid« zu spielen, kurz, eine Erscheinung darzustellen einer Geberlaune, auf die man wirklich jetzt nicht gefaßt war! Aber nie kam dieser Mensch mit diesem tiefen, ja fast unentrinnbaren Bedürfnisse an mich heran. Und da ich selbst mir in den vier schweren Kriegsjahren das Rauchen vollkommen abgewöhnt habe, trage ich diese volle unglückselige Zündholzschachtel bei mir wertlos herum. Niemandem zum Nutzen, nur so noch in der stillen Hoffnung!

Lebensenergien

Du bist also, in Deinem 60. Lebensjahre, 9. März 1978,

am Ende angelangt Deiner gesamten Lebens-Energien. Schade.

[314] Du hättest so viel Wichtiges für die Anderen mitzuteilen,

denn Dein eigenes Leben ist ja doch entsetzlich wertlos.

Das ist keine Phrase, keine Pose,

ich könnte es erweisen, doch wozu?!?

Ich hatte stets das Gefühl, helfen zu können, Fremden, Anderen, Entfernten,

und habe es sogar oft glückselig erlebt. Es ist mein geheimnisvollster Seelen-Schatz. Ich bin dadurch ein Reicher!

Nun aber beginnt zu meiner tiefsten Traurigkeit, ja zu meiner Verzweiflung,

das Spenden zu versagen. Und ich bin ich.

Wie Alle gehe ich nun allmählich meinen

armseligen langsamen Trott der allgemeinen Herde.

Eine unermeßliche Verzweiflung ist in mir, Niemandem mehr wirklich, ernstlich, aufrichtig, liebevoll helfen zu können!

Wie ein Alltag-Mensch wanke ich dahin, der Dichter, der Idealist; der träumerische Helfer, Helfenwoller ist erstorben, sei es aus diesem, sei es aus jenem Grunde, das Alter schnürt mir meine Seele zu, erwürgt sie!

Peter, gib rechtzeitig Deines Glückes echte Kraft auf, Andere aufzuklären!

Steige hernieder in die Grüfte, die trostlos düstern des hilfelosen Greisenalters für die Anderen!

und bescheide Dich endlich, Deinen eigenen Lebensweg zu wandeln,

wie es Alle tun, die Genies ausgenommen, die für Andere leiden können!

[315] Das Alter kommt heimtückisch

unmerklich an Dich herangekrochen,

raubt Dir plötzlich Deine edle Fähigkeit,

Anderen zu helfen, zu dienen.

Gehe in Dich, Peter, und gib dem

Greisenalter nach, das endlich Dich naturgemäß besiegt.

Niemand wird Deine Qualen ahnen, die den »Greisenhaften« momentan ent-idealisiert haben, ja, entmannt haben. Trage Dein Geschick!

Andere haben mehr zu leiden als Du, viel, viel, viel mehr, und tragen es! Und sind Schicksal-ergeben.

Gehe den Weg, den doch Alle gehen müssen, immer kann man doch nicht jünglinghaft-kämpfend bleiben, es kommt der Tag, da Deine Kräfte schwinden. Gib nach! Es ist das Vernünftigste, das Du zu tun vermagst! Gib nach dem unerbittlichen Schicksal! Du hast gelebt teilweise das Leben eines Weisen,

und die Natur hat Dir einen großen Teil ihrer Pracht gespendet!

Worüber beklagst Du Dich also an Deinem naturgemäßen Ende, das Alle bitterer trifft?

Da Andere bedrückt, zerpatscht, enttäuscht, besiegt,

zurückblicken auf ein verfehltes Dasein? Und nicht wissen, wozu sie existierten?!

Solang Du wirken konntest,

wirktest Du, freudig wirkungsvoll!

Die Hilfe

Sie weinte und bat ihn flehentlich um Hilfe. Sie war gerade 20 Jahre alt geworden. Dennoch [316] kannte sie sich noch nicht aus in diesem nur für gewöhnliche Menschen bequem erträglichen Leben.

Er sagte hart: Pardon, ich bin Dichter. Mich interessieren, mich rühren, mich impressionierenAlle! Ich glühe für die Errettung Aller aus ihren selbstgeschaffenen oder ihren unverdienten Nöten!Dazu bin ich da. Ich, der Dichter!

Pardon, ich bin Dichter, die Einzelne interessiert mich Gott sei Dank nicht mit ihremEinzel-Grame!

Der Gram der ganzen Welt ächzt in meinerweiten unbeschränkten Seele!

Soll ich, darf ich um Deines Einzel-Leidens willen Alle mir Unbekannten aufgeben,

ihrem dunklen, ungeklärten Schicksal sie überlassend,

weil Du, eine Bekannte, Name Schicksal, Wohnort, Straßennummer sogar bekannt,

mich anflehst, gerade Dich zu erretten?!

Wahrscheinlich vor Dir selbst und Deiner

Unkenntnis des Lebens, wie es nun

einmal ist; Dich zu erretten vor Deinen eigenenStupiditäten?!?

Habe ich, der Dichter, das Recht,

der Einzelnen zu helfen, meine Dichter-Zeit zu vergeuden,

während die Menge allgemeine Aufklärung erfleht vom Dichter?!

Habe ich das Recht, eine Anna zu erretten vor irgend etwas Bösem in dieser Welt,

während Bertha und die anderen Namen verzweifelt

[317] und empört beim Dichter taube Ohren

finden für ihre Ihnen ebenso wichtigen

Seelen-Leiden!?! Nein, ich habe es nicht!

Nur der »Philister« versucht es ununterbrochen, und Gott sei Dank vergebens,

einer Einzelnen liebevoll helfend beizustehen,

in ihren der Gesamtheit gleichgültigen Lebens-Nöten!

Er erhofft sich von dieser Einzelnen irgend etwas für seine selbstlose (ha ha ha ha)

Bemühung. Pfui, Seelen-Wucherer!

Die »Gesamtheit« schreckt ihn, denn

dort ist die Anerkennung vielleicht erst

nach seinem Tode.

Solche Geschäfte machen die »selbstlosen« Herren nicht gern!

Nach dem Tode?! Wieviel trägt es bei Lebzeiten?!

Einer Einzigen helfen, ist bequemer allerdings.

Splitter [6]

Splitter
Gespräch

»Sie, schönes Fräulein, Alles was Sie denken, istfalsch, Alles was Sie fühlen, ist falsch, Alles was Sie sind, ist falsch!«

»Ganz richtig, leider, Herr! Dennoch habe ich es erlebt, daß man damit eine Menge sehr netter Menschen riesig amüsieren kann.«

Wenn ein Mädchen zu mir sagt: »Ohne mein Klavier könnte ich nicht glücklich sein!« so mußt Du es momentan ganz genau spüren, ob sie wirklich [318] ohne ihr Klavier nicht ganz glücklich sein könnte! Denn wenn Du Das nicht ganz genau spürst, wirst Du Dich überhaupt in nichts genau je bei ihr auskennen können!

Mißtrauen ist dort nicht am Platze, wo es nicht am Platz ist! Zu wissen, zu fühlen, wo es nicht am Platz ist, ist allerdings bereits fast eine Genialität!

»Ich will nur ›gut behandelt‹ werden!«

Nur gut?! Das ist doch das Schwierigste!

Schiller wurde bereits durch den Duft von Äpfelschalen angeregt.

Das vergessen die Frauen. Es gibt Mysterien. Wieso?!

Sind Sie Äpfelschalen?!

»Ach so!« sagen die Frauen und verstehen erst recht nicht. Sie sollten wirken wie Äpfelschalen!

Dann sagen sie: »Aber sind alle Männer auch Schillers?!«

Nein, Das sind sie allerdings nicht!

Genies

Nehmen wir nur diesen für mich »Biographien ersetzenden« einzigen Satz aus dem Briefe Goethes an Zelter, 2. 9. 1812: »Beethoven habe ich in Teplitz kennengelernt. Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt. (Talent?! Weshalb nicht Genie?! Dieseweise Mäßigung und Vorsicht des Welten beherrschenden Geistes, prachtvoll!!) Allein er ist leider (weshalb ›leider‹?!) eine ganzungebändigte Persönlichkeit, die zwar garnicht unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel [319] findet, aber sie freilich dadurch weder für sich noch für Andere genußreicher macht!« Welche klare, heilige, kühle, gerechte Durchschauung des ganzen Lebens hienieden bei Goethe in diesem einen Satze, und welchekürzestgefaßte Biographie, Leidens-Photographie Beethovens zugleich in diesem einen Satze! Der durch sich selbst ewig »Beruhigte«, und der durch sich selbst ewig »Aufgewühlte«, prachtvoll!

Künstlerbrief

Geliebte, gestattest Du es mir von ganzem Herzen, so, gerade so zu leben, zu jeglicher Stunde, wie ich ohne Dich bisher gelebt habe?!?

Ohne Opfer, die ich meiner neuen tiefen »Zuneigung« zu Dir zu bringen hätte!?

Gibst Du mich willig frei, indem Du mich durch Deine unbeschreibliche neue Persönlichkeit

eigentlich bindest, von allem Anderen abhältst?!

Kann Dein tiefster Triumph wirklich meine grenzenlose Freiheit sein?! Schwerlich.

Indem ich stets von Wanderzügen zu Dir zurückkehrte?!? Bedenke, wie Du da erst über mich siegtest!

Kannst Du, Geliebteste, solange warten, ob ich zurückkehre von allem Anderen im Leben, das ich vielleicht ebenso brauche für mein

Leben wie Dein getreues Warten?! Kannst Du mir Alles gönnen, was ich wirklich brauche, und mir nichts ängstlich mißgönnen?!?

[320] Kann Dir meine Entwicklung hinein in die Welt wichtiger werden

als Dein sogenanntes bequemes Dasein?!

Kannst Du in Dir, still leidend oder nicht leidend, mein stetiges Werden erleben als Deineigenes höchstes Sein!?

Kannst Du noch mitgehen, liebevoll bereichert,

wo Du eigentlich nicht mehr mit gehen kannst?!? Vielleicht sogar nicht sollst?!?

Kannst Du mir jene Neue gönnen, die meinem

Leben momentan Das wird, was für die Forelle das schäumende Gebirgswasser?!

Kann Dir mein ganzes, mein unverfälschtes Sein wichtiger sein als Dein Dir bequemes privates eintöniges Glück?!?

Sage mir aufrichtig: Ja! Und ich werde es versuchen, so zu leben,

daß Du bei dieser Prüfung nicht allzu schimpflichdurchfällst!

Wege

Sobald Dir, oh Mitleidens-voller Mann,
Jemand ganz bestimmter leid tut,
verlierst Du momentan die Kraft,
das Leid der Welt und aller fremden-verwandten Lebendigen
liebevoll-zärtlich in Dein Herz, in Dein nächsthöheres Herz, Gehirn,
ihren Besserungen nachspürend,
aufzunehmen!
Jemand ist leider drin, okkupiert den Platz,
[321] wo vorher Raum genug war für das Leid der ganzen Welt!
Ein Name macht nunmehr Dein Auge trocken,
das kurz vorher für Alle zärtlich-feucht geschimmert, hatte!
Sei's eine Frau, ein Kind, ein Hund,
ja nur eine kleine Villa mit Gärtchen,
ja nur eine kleine Sammler-Leidenschaft für Marken, Münzen oder sonst etwas,
ja Alles raubt Dir Dein wunderbares freies
Mit-leiden mit Allen, Du wirst beschränkt,
es raubt Dir die Sehnsucht und die Kraft,
der Welt-Regenerierung tätig beizuwohnen!
Deshalb kannst Du auch nie den »Göttlichen Frieden« finden,
trotz allem Deinem Klein-Glück,
sondern nur so halbwegs einenTeil-Frieden,
einen Dreiviertel-Frieden, im Kampf des eigenen Empfindens!
Irgend etwas kann deshalb immer wieder plötzlich schief gehn
in Deinem scheinbar wohlgefügten Glücks-Gebäude!
Ich rate Dir, gib kleines Glück in handlichem Format,
wo Du ihm auch bequem begegnest, beizeiten auf!
Die Seele will, falls es überhaupt eine ist,
den Menschen helfen, nicht dem Einzelnen, der Einzelnen!
»Ich bin ein besserer Mensch! Siehe, wenn
mein Hund müde ist oder durstig oder hungrig
oder kränklich oder auch nur schlecht aufgelegt,
[322] ich weiß es gleich, ich spüre es, was er benötigt!«
Hund Du selber,
daß Du einem Hunde soviel Rücksicht,
soviel Sorgfalt weihest,
für Schubert, Beethoven, Mozart, Hugo Wolf, hatte Niemand solche zarte Nerven!

Ballade

Man nahm ihr ihr Klavier weg,
das sie seit vier Monaten ausgeliehen hatte.
Was ist dabei, wenn sie die Leihgebühr nicht
mehr bezahlt, 15 Kronen pro mense?!
Soll man es umsonst borgen, daß sie es
mit ihren Lieblingsklimpereien beschädige?!
Drei Totengräber kamen, pardon, drei Arbeiter, trugen es weg.
Abends sagte ich im Café: »Weshalb hat
Herr soundso, der sie doch zu verehren
scheint und Dem sie leid tut, nicht
die Leihgebühr geschenkt?!«
Man erwiderte mir, er sorge gern für ernsthafte Bedürfnisse.
Was sind ernsthafte Bedürfnisse?! Das ist spaßig.

Die Abrechnung

Ob ich Dich liebe?! Siehe, mein Bekenntnis:

Ich liebe an Dir Alles, was an

Dir liebenswert ist. Nichts entgeht meinem Blicke.

[323] Was an Dir nicht liebenswert, bewundernswert ist,

Das kann ich nicht lieben!

In gleichem Maße liebe ich an allen, allen Anderen, was an Ihnen besonders und bemerkenswert ist. Bin ich denn blind und taub?!

Wie kann ich mich verschließen dem Besonderen?!

Wie kann ich liebevoll sein, wo es nichts

Besonderes gibt?! Die Welt ist reich und armzugleich.

Wie macht Ihr es, Glückselige, daß Ihr ein Auge zudrückt, dort, wo es Euch gerade paßt?!

Während mir gerade dort die Augen doppeltscharfsichtig werden und mein unerbittlicher

Sperberblick durchschaut?!

Auf meines sogenannten Glücks Gefahr sogar!?

Ihr Anderen seid genügsam, eingedenk nämlich

Eurer eigenen Unzulänglichkeiten!

Ich aber bin im Bewundern und Verachten, im Anerkennen

und im Mißbilligen vor allem zulänglich.

Ich scheue mich nicht, die Geliebte wegen meiner

gesprochener grausamer Wahrheiten zu

verlieren! Verlieren?! Kann man überhaupt verlieren, was wertlos ist?!

Es ist ein Prüfstein, ob sie standhält

den Wahrhaftigkeiten! Das ist ihrWert!

Wer nachgibt, gibt nur scheinbar nach hienieden.

Er glaubt, geschickt sich durchzuschlängeln.

Die verlogene Stunde eilt Ihm jedoch nach die Ihn

[324] bestraft für alle seine feigen Nachgiebigkeiten!

Sei besonders, Fraue! Auf daß ich besonders Dich bewundern könne! Amen.

Der Letzte

Ja, als A.K. in den Ballsaal damals eintrat, vor 40 Jahren, da empfand ich es ganz genau, daß ich nie, nie, nie wieder in meinem Leben, seitdem sind eben 40 Jahre verflossen, so eine »gerührte Stimmung« je haben werde! Sie wurde sogleich für mich zu einer Religion. Nun, in diesen Jahren ist es nichts Seltenes bei impressionablen Organisationen, aber daß es blieb, blieb, bis auf heute?! Niemals lernte ich sie persönlich kennen, jedoch genau trotzdem ihre süße liebliche Persönlichkeit. Sie hatte eher einen bräunlichen Teint, lange schmale bräunliche Hände, war so wie eine süße Vermengung von Indierin, Japanerin, Nubierin, kurz ganz exotisch. Welches Kleid sie anhatte?! Zitronengelben Tüll mit hellblauen kleinen Samt-Maschen, Niemand trug so etwas außer ihr damals, ganz exotisch. Ich hätte ihr gern gesagt, vor 40 Jahren: »Sie dürfen Das tragen, nur Sie!« Aber ich versäumte es. Am nächsten Tage langweilte ich meine gesamte Familie mit meiner Schwärmerei »A.K.«. »Hättest Du lieber einige Walzer mit ihr getanzt oder sogar eine Quadrille, oder Kotillon oder sie zum Souper geführt. Aber schwärmen, nachträglich, wenn der Ball zu Ende ist?! Was hat sie, was hast vor allem Du, Esel, davon?! Mache wenigstens ein Gedicht darüber und sende es an eine Zeitschrift!« Nein, ich bedauere, ich bereue [325] nichts, A.K.! Dieser holde Name hat mich begleitet und geleitet, in Wiesen, in Wälder, zu Bächen und Seen, zu wertvollen und wertlosen Frauen, zu Krankheit und zu Genesung, zu Irrtum und Wahrheit, zu Melancholie und zu Ergebenheit. Wie eine ruhige klangvolle Glocke, die mahnt und auffordert, seinen eigentlichen Idealen ewig treu zu bleiben! A.K., Gattin eines steinreichen Direktors, ich war der Erste und bin derLetzte, in Dem Deine Frühlings-Lieblichkeit hoheitsvollst weiterblüht! Sei gesegnet und bedankt. Ich bin jung geblieben; nein, noch viel jünger als ich je gewesen! Viel, viel jünger als Du! Du bist 57 und nun ich 60! Es hat sich nichts verändert.

26.-10. 1918

26./10. 1918

Es regnet. Welche mächtige unerklärliche Wirkung dieser milden Feuchtigkeit?!?

Es regnete die ganze Nacht hindurch.

Und es regnet weiter. Von Staub natürlich keine Spur also. Man wird direkt gereinigt, aber nicht so verblödet äußerlich mit Schwamm und Seife, sondern vom Innersten heraus, durch Staublosigkeit der Lunge. Das verstehen die Menschen aber noch nicht, ein reiner Stehkragen, der nur den Hals zuschnürt, ist ihnen leider noch immer viel wichtiger als Reinigungsmittel. Von »innerster Reinlichkeit«, der einzig wertvollen, die es gibt, verstehen sie noch gar nichts. Regen, Feuchtigkeit, Kälte, hat für sie noch immer keinerlei Lebensbedeutung. Infolgedessen auch selbstverständlich [326] ihr vollkommen falsches Denken und Empfinden in jeglicher Beziehung. Zugluft stört sie. Sie leben »kohlensäuremäßig, also ununterbrochen vergiftet, statt sauerstoffmäßig, also stets lebendig«! Regen, Feuchtigkeit, Kälte stört sie, sie brauchen Wärme und schlechte Luft, pfui! Sie begreifen noch nicht den tiefen Abscheu vor den Lebensgiften, die alle Elastizität rauben. Der Arzt soll schließlich helfen, aber kann er, nein! Hilf dir selbst, Unmensch, in deinen zahlreichen stupiden Unmenschlichkeiten, wie kann der Arzt alle deine Lebens-Blödsinne erkennen?!? Wenn er dir raten würde für die 20 Kronen: »Gehen Sie im Regen ohne Kopfbedeckung, tragen Sie Sandalen ohne Socken, leben Sie Natur-gemäß, da würde er schön bei dir ankommen!« Daß Bismarck stets ein wenn auch ungestärktes weißes dickes Halstuch trug, störte mir stets empfindlich seine Genialität. Der weise Mensch hat sich nicht einzuzwängen, in keiner Weise. Vielleicht war er deshalb Schuld an – – – was weiß ich darüber?! Aber einzuzwängen hat man sich eben nicht, in keinerlei Art! Sonst ist man kein Genie, sondern ein Eingezwängter!

Der Kranke

Er ließ absichtlich beide Türen weit offen, die grüngepolsterte und die weiße, im Falle daß doch Jemand Neugieriger hereinschaue. Aber es kam natürlich Niemand. Auf der Straße hörte man unangenehme und völlig unnötige Geräusche, aber im Zimmer des Kranken blieb es mäuschenstill. [327] Selbst die weit geöffneten Fenster waren wie an die blaue Tapete angenagelt. Hie und da kam das ganz junge Stubenmädchen geschäftig und scheinbar sorglos vorüber. Solche merkwürdige Menschen denken nicht nach, niemals, über die nächsten bangen, langweiligen, nichtssagenden Stunden, oder gar über das Letzte. Wie es sich ereignet, ereignet es sich, ein idiotischer Heroismus. Aber der Kranke spürt Alles doppelt und dreifach, ja tausendfach. Er begreift überhaupt nicht, wie man unter gewissen ungewissen Umständen dahinleben könne. Er empfindet die lächerliche, schreckliche und unnütze Last des Daseins, des Existierens an und für sich wie ein allzuschwer bepacktes Tragtier, dem jeder Schritt eine besondere Qual ist. Wozu Ehrgeiz, Eifersucht, Liebe?! Während er so dachte, und welcher einsame Kranke grübelte nicht sich gleichsam bereits selbst in sein Grab hinein, aus Mangel an Lebens-Energien, kam das ganz junge vollkommen gedankenlose Stubenmädchen vorbei, mit ihren tausend Pflichten bepackt, die sie scheinbar wenigstens gar nicht spürte, eine schwer arbeitende junge Lerche, unbewußt ihres Geschickes! Sie trällerte leichtfüßigst vorbei, unbewußt des Weltkrieges und aller anderen grauenhaften Belastungen dieses düsteren Daseins. Der Kranke lag da, tausend Kilometer entfernt von der düsteren Sorge des unnötigen und beschwerlichen Daseins, begriff nicht, wieso es Menschen gebe, die so Schicksal-ergeben leichtfüßigst trällern, wie wenn es keine schweren Komplikationen gäbe in diesem komplizierten Leben! Der Kranke lag da, tausend Kilometer entfernt von den Sorgen aller Anderen – – –.

[328] Der Gesunde

Und wenn er Abends sein armes reiches Geld verspielt, es kümmert ihn nicht, er spürt es nicht. Er ist mysteriös immun gegen die Alltag-Tragödien dieses gefährlichen Alltag-Lebens. Nichts zerstört ihn sogleich wie Uns. Er besitzt eine schauerliche krankhafte Lebens-Zähigkeit. Zertritt ihm den Schädel, den er eigentlich nicht hat, und er spürt es gar nicht. Seine Gesundheit ist ein Verbrechen an seinem Menschentume. Alles gleitet an ihm direkt unmenschlich ab. Er lebt eigentlich ein lebloses steinernes Dasein.

Über alle Dinge gleitet er hinweg, an denen alle Anderen naturgemäß zugrunde gehen oder wenigstens Tag und Nacht lang leiden und sich direkt langsam unmerklich innerlichst aufzehren. Der »Gesunde« spürt das Alles leider nicht, er gleitet über Alles hinweg, was die zarteren unbedingt langsam vernichtet. Er ist dem Leben in jeder Beziehung gewachsen, pfui! Er kämpft mit den schamlosen Gemeinheiten der Alltäglichkeit und besiegt sie spielend glatt! Es gibt für diesen »Hund des Daseins« keine Schwierigkeit, seine Brutalität besiegt alle Gemeinheiten, und sein eigenes, »Zugrundegehen« spürt er Gott sei Dank viel zu spät! Also gar nicht. Der Gesunde ahnt es nicht, was der »nicht Gesunde« Alles erleidet! Er hat eine »harte Haut«, an der er unbedingt schließlich irgendwie zugrunde geht, es muß sich rächen! Leider vorläufig nur an den Anderen.

Der Gesunde lebt sein blödes nichtssagendes kräftiges, Allem widerstrebendes Leben, statt zartmenschlich schwächlich irgendwie einmal nachzugeben!

[329] Der Gesunde ist krank, weil er den unerbittlichen Gesetzen der Natur in Allem und Jedem entgegenzukämpfen wünscht, obzwar er es genau fühlt, daß es unmöglich ist! Also ist er ein gesunder Kranker! Aus brutaler, fast boshafter Kraft. Oder aus Beschränktheit, auch eine schreckliche Krankheit des Gesunden.

Kultur [1]

Kultur

Nie, nie, nie hörte man sie lachen, von Kichern oder verhaltener Heiterkeit schon gar nie die Rede natürlich. War es angenehm und richtig, was man ihr sagte oder schrieb – – – gut! War es unangenehm und unrichtig – – – schlecht! Aber zum Lachen, zum Lächeln, zum Kichern niemals der allergeringste Grund. Viele hielten es für eine Pose, ja, es war die Pose der wohlerzogenen Menschenwürde, die fast Allen eben mangelt. Deshalb verstanden sie so Wenige oder wollten wenigstens nichts mit ihr zu schaffen haben, man langweilte sich und fühlte sich blamiert, diese natürlichen Korrektheiten vertrug man noch nicht 1918. Das blieb einer späteren Zeit vorbehalten, die ohne Grimassieren dahinleben würde können. Aber jetzt hieß es noch leider schlecht oder falsch Komödie spielen mit seinen Nebenmenschen, um ihnen dadurch die Verlegenheit ihrer Minderwertigkeiten zu ersparen! Hübsch, häßlich nämlich, im Rang bleiben, den der Andere in jeder Beziehung einnimmt, damit er sein Zerrbild nicht erblicken könne! Ihr adeliger Ernst beleidigte die Kichernden, die irgend Etwas bewußt oder unbewußt zu verbergen hatten! Niemand gestattete ihr, ununterbrochen sie, ganz sie selbst zu – – –. Obzwar es das Allernatürlichste[330] von der Welt gewesen wäre. Und Bequemste. Man verlangte eine ununterbrochene Komödie des Nicht-man-selbst-sein-dürfens! Weshalb?! Fraget die Menge! Fraget ihre liebevollen Folterknechte!

Der Krieg

Ein Krieg ist keine unentrinnbare organische, naturgemäße Sache, sondern die Irreleitung von seiten absichtlich Irregeleiteter, die »im Trüben zu fischen hoffen«. Nie kann Waffengewalt entscheiden, erzwingen, sondern nur der allgemeine Geist der Gemeinschaft, und nur wenigen Genies ist es unter besonders günstig-ungünstigen Umständen gelungen, den natürlichen Weg der Menschheit zu verlegen scheinbar. Dieser Krieg hat genial bewiesen, daß es überhaupt keine sogenannten Waffentat-Genialitäten gebe, sondern nur merkwürdige Zufälle, und daß die arme Menschheit ihre Wege unter jeder Bedingung schließlich wandeln müsse zu ihrem Frieden! Unterseeboot-Spielereien, Zeppeline, Größenwahn, momentane Teil-Erfolge sind Kinderstuben-Ereignisse einer vollkommen unreifen Menschheit, die ihre eigenen organischen Bedürfnisse noch nicht annähernd erfaßt hat! Alles Das muß sich einst blutig rächen, wenn nicht ein junger Gütiger die komplizierte Weltlage der darbenden Mensch heit rechtzeitig erfaßt! Die Menschen wollen natur gemäß Frieden und friedevoll leben, und die »Macht« ist ein Irrsinn, dem sich leider die armseligen Völker stets unterwerfen, eine Art von absolutem Größenwahn. Jeder will leben so gut es geht, aber die »Macht« hat damit gar nichts zu schaffen! Das [331] sind Irrsinne absichtlich Irregeleiteter, denen Millionen unglückseliger Schafherden nachblöken! Infolgedessen muß das Débacle, der Zusammenbruch kommen, unaufhaltsam. Größenwahn ist die schauerliche Krankheit der menschlichen Gehirne, von der nur der einfache Bergarbeiter befreit, erlöst ist! Lasset doch die arme Menschheit ihre friedevollen naturgemäßen Wege schreiten und verhindert die größenwahnsinnigen zufälligen Machthaber, als Zerstörer aufzutreten! Niemandem hat es noch je genützt, nur der ruhige Geist der Gesamt-Menschheit will seinen endgültigen Frieden! Wer sich dem naturgemäßen Laufe der Ereignisse gewaltsam entgegenstemmt, begeht ein Verbrechen an der ganzen Menschheit. Wehe, wenn Ihr Irregeleiteten Das nicht vorzeitig einseht! Alle wollen in Frieden leben. Das allein ist unser Sieg! Die Macht des philosophischen Geistes zersplittert die giftigen Chemikalien und die arme Menschheit will zu ihrem Frieden kommen, bisher irregeleitet vom Größenwahnsinnigen und Toren. Friede sei auf Erden, und die Genialitäten von Unterseebooten, Zeppelinen, Menschheits-Unterdrückungen sind Größenwahne irregeführter Nicht-Gehirne! Die kurze, knappe Zeit, die zu leben gegönnt ist, will man verhältnismäßig friedevoll leben, und »Macht« ist ein Irrsinn, dem sich die unglückselige Herde ewig unterwirft! Worin bestünde der Friede, wenn nicht im Frieden?! Jeder wandle geruhig seine Wege, die das Schicksal ihm zugewiesen hat! In Tyrannos! Der Hirte bläst die Flöte und die Herde grast, was abzugrasen ist! Unterseeboote zerstören nicht den Gang der Dinge! Dichter träumen falsch und billig, aber die Welt [332] wacht, leidet und will erlöst werden aus geistiger Kraft. Amen. Nur aus dieser! Waffengeklirre der Gehirne, aber keine Stinkbomben in unglückseligen Arsenalen!

Der Nebenmensch [1]

Der Nebenmensch

Die Nebenmenschen tun für den Anderen nur gerade Das, was anscheinend in ihrer Lage unbedingt notwendig, ja fast sogar unentrinnbar ist. Es gibt sogar Schurken, die sich dieser notwendigen Verpflichtung Jago-mäßig entziehen und sich erfreuen an dem Unglück der Anderen! Aber welches schlechte Geschäft machen sie dabei! Die »zertretene Seele«rächt sich, sogar im Magen- und Darm- Apparate, die Funktionen lassen unmerklich nach, weil man unmenschlich war. Es ist ein sehr schlechtes Geschäft, an Andere nicht zu denken, was hat man denn von seinem krankhaften bösartigen Eigensinne?!? Jeder wendet sich ja doch unwillkürlich ab, erblickt den Teufel im Menschen! Während der Gutmütige sich selbst hundertfach belohnt fühlt, ja sogar körperlich elastischer, Lebensfreudiger wird und seine Un-Elastizitäten wenigstens teilweise verliert! Die Menschen sind grausamblöd-brutal, aber es geht Gott sei Dank Alles schließlich an ihnen selbst aus. Jeder wird unbedingt bestraft für sein eigenes Vergehen, und Niemand entgeht dem Schicksal, das er sich selbst eigentlich bereitet hat seit Jahren. Niemand entgeht sich eigentlich selbst und seinen Seelenlosigkeiten, Unmenschlichkeiten, und je mehr er daran [333] glaubt, desto schwerer wird er dafür unmerklich bestraft! Die Zigarette, die Du Jemandem schenkst, schenkst Du eigentlich doch nur Dir! Was man sich selbst nämlich spendet, entzieht man sich direkt. Wer keine Freude hat am Spenden, ist ein Bettler! Er weiß nicht, was ihm fehlt, aber sein eigenes Leben fehlt ihm! Einmengungen in mysteriöse Lebensbedürfnisse (Spieler-Leidenschaft, das allerstupideste von der Welt ausgenommen) fremder, den Ärzten sowie den sogenannten Allernächsten vollkommen unbekannter Bedürfnisse sind direkte Verbrechen, die noch dazu mit dem heimtückischen Deckmantel besten Wohlmeinens frech zugedeckt werden!

Welche Edel-Weisheit, Selbstlosigkeit, ja geistige Anmut gehören denn dazu, Jemandem in seinem labyrinthisch komplizierten Schicksale wirklich helfen zu können!? Die Meisten begnügen sich mitfrech-dummen Ratschlägen, die scheinbar nur ihrer eigenen Geistigkeit zugute kommen. Dem Anderen helfen wollen, d.h. können, ist eine geistig-seelische tiefste Wissenschaft, die mit sogenannter falscher Gutmütigkeit oder bequemer Wohlmeinung nicht das Geringste zu tun hat, sondern eher im Gegenteile. Es ist die höchste Lebenskunst, den Mysterien eines Anderen, also Fremden, folgen zu können, und ihm auf seinen schwierigen Lebenswegen irgendwie helfen zu können! Diese Jour-Gespräche über Lebens-Schicksale sind direkte Verbrechen! Dieseverbrecherisch-naive-falsche Art, Anderen helfen zu wollen!!! Pfui Teufel. Dieser absolute Mangel an echtem Verantwortungsgefühl, statt gesprächsweisem Hin und Her wie von den »verständnislosen« Ärzten! Niemand nimmt den Anderen bitter ernst, begnügt [334] sich mit Gesprächen bei Himbeer-Marmelade. »Gemütlichkeit« ist das Verbrechen des menschlichen Verkehres, Alles sollüberkleistert werden! Also Betrug, echteste Herzlosigkeit!

Die Heiligen Versteher

Jemanden wirklich verstehen, heißt, ihn so zu verstehen, wie er sich selbst verstehen möchte, wenn es ihm gelänge! Aber da sind so viele Hindernisse, Mißverständnisse, Komplikationen jeglicher Art, daß man stets blöderweise auf irgend Einen, irgend Eine hofft, die Einen aus den Labyrinthen des eigenen Seins herausgeleite! Also auf ein Genie, dasnicht existiert. Gibt es denn Solche überhaupt aber?! Jeder, Jede ist mit den eigenen Komplikationen direkt emsigst pathologisch beschäftigt, erträumt sich sein eigenes unfaßbares Glück hienieden! Infolgedessen gibt es auch keine reelle Freundschaft, sondern nur gefährliche Gespräche über dieselbe! Niemand versetzt sich reell-anständig-gutmütig in die verzweifelte Lage des Anderen, da er mit seiner eigenen verblödeten ununterbrochen pathologisch zugleich beschäftigt ist. Freundschaft ist edle, weise, gutmütige Selbstlosigkeit. Aber wo ist sie?! Ihr Narren?!? Es müßte fast schon ein Beruf sein, eine Pflicht, eine Freude! Eine heilige Mission, helfen können, ja, diese natürliche Genialität des Herzens! Jeder sucht hingegen sein armseliges wichtig-unwichtiges Persönchen dem Anderen, der Anderen, pfui, meistens sogar frech aufzudrängen ohne die geringste Wissenschaft des vollkommen [335] anders gearteten Nebenmenschen! Jeder bedenkt nur sich selbst. Deshalb sind Gespräche so schwächend, weil der Deckmantel der elenden Heuchelei so schleißig, so fadenscheinig ist. Alle Tragödien bestehen aus lächerlich-schauerlichen Mißverständnissen, die gerade Jene nicht einmal aufzuklären versuchen, die direkt dazu berufen wären! Jeder, Jede wehrt sich seiner, ihrer Haut, wenn auch auf die meist ungeschickteste Weise! Lasset doch um Gotteswillen wenigstens ein bißchen dem Schicksal seinen unentrinnbaren Lauf! Lasset die Menschen ihre Wege gehen! Ihre tragischesten! Ist »Freundschaft« eine bequeme »Einmengung«?! Freundschaft ist eine allertiefste, allerweiseste Erkenntnis! Wer hat sie?!?Niemand! Das Wort »Freundschaft« ist eine Art von Verbrechen, und Der es vernimmt, möchte am liebsten sofort in bittere Tränen ausbrechen. Was, was, was geht in ihm wirklich vor, und welchen Blödsinn denkt der Andere darüber, und legt ihm noch begütigend die Hand auf die Schulter!?! O Freund, oVerräter! Wie wenig Respekt vor der fremden Welt, und welche Frechheit angeblicher Freundschaft?! Frauen glauben wenigstens eine Zeitlang edle Spenderinnen zu sein. Aber Männer?!? »Freundschaft« ist ein entsetzliches Wort, es müßte heißen: »Weisheit«! Aber Wer hat sie, Wer will sie, Wer kann sie haben?!? Wer hilft dem Anderen ernstlich aus Freude, zu Hilfe zu kommen irgend Jemandem?!? Freundschaft ist das blöd verlogenste Wort, während »Weisheit« oder »weise Voraussicht« oder »edles Bedenken« direkte Heilmittel werden können! Niemand ist irgend Jemands echter Freund, er ist nur, [336] ein Wissender oder einUnwissender in bezug auf ihn, meistens leider jedoch das letztere. Wie schauerlich billig findet sich Jeder mit dem Anderen ab, ja, fast verbrecherisch billig. Habt Ihr auch nur die geringste Ahnung davon, Jemandem ernstlich-würdig-gutmütig gerecht werden zu wollen in seinem ach von dem Eurigen so verschiedenen Dasein?! Lebt Ihr ihm gegenüber nicht ausschließlich von frechen Überhebungen und tyrannisch apodiktisch falschen Urteilen, die Eurer frechen Bequemlichkeit des Geistes und der Seele, die Ihr dochnicht besitzet, entspringen?! Freundschaft!? Welche Fülle edelster Weisheit liegt in diesemtief mißbrauchten Worte Eurer bequemen Herzlosigkeiten!?! Niemand ist irgend JemandsFreund, und Hamlet mordete Ophelia, weil er sie nicht verstand, nicht ahnte. Wer Dir Dienste, leistet, ist fast schon ein Genie! Aber Werkann, Wer will es?! Das schreckliche Wort »Freundschaft«, diese verbrecherischeste Verlogenheit sollte ganz ausgerottet werden, an deren Stelle edle Weisheit gesetzt werden! Geistigkeit. Das Bedürfnis wirklich zu helfen, mein Gott, Wer hat es?!? Lasset sie ihre für Euch mysteriösen Wege ruhig wandeln, wenn Ihr schon mit den Euren allzusehr beschäftigt seid! Menget Euch doch um Gotteswillen nicht in Welten, die Euch vollkommen fremd, sind, und wo Eure angebliche gutmütige Hilfe nur heimtückischen Schaden stiftet! Freunde sitzen scheinbar gemütlich beisammen und zerstören sich absichtlich-effektiv fast mit jeder Bemerkung! »Ich bin Dein Freund!«

[337] »O, wärest Du es nicht!«

Der Geist herrsche und sonst nichts! Frauen spekulieren direkt auf unsere Geistlosigkeiten! Helfen heißt: helfen! Gespräche zerstören und vernichten das Tiefste, Beste am innersten Menschen! Was bleibt übrig?! Gespräche! Frauen spekulieren wenigstens auf ihre »äußere Wirkung«, die tatsächlich leider eine Zeitlang anhält! Aber das Wort »Freundschaft« ist verbrecherisch! Lebet miteinander in Weisheit, aber ohne Gefühle! Betrüget Euch nicht selbst um Euch selbst! Die, die sich verstehen, ha, ha, ha, verstehen sie sich?! Keine Spur! Sie schreiten ihre inneren tragischen Wege und nach außen hin lächeln sie frech-blöd. Als Freunde!

Die Bedienerin

Eine, die mich sofort zum Jüngling machte, nein, wieder zu P.A.!!! Sie bediente dort, aber schon ihre Art, Fremde zu bedienen, war das rührendste!!! Vor meinem hoffentlich baldigen Tode will ich ihr dienen, mit meiner zärtlichen Seele!!! Sie ist so entzückend, daß ich durch sie sofort wieder P.A. wurde! Nach Jahren Heil ihr, der Unbekannten! Sie machte mich durch ihren Anblick allein sofort zu Dem, Der ich bin, und Der ich seit Jahren nicht mehr war! Ichbete sie an. Peter Altenberg, 7./11.1918. Heil ihr!!!

Wer war man?! Nicht begeistert, sondernentgeistert! Ein Mensch wie jeder Andere, alsokein Mensch! Nun erblickte ich sie angestellt in der Delikatessen-Handlung. Niemand kümmerte [338] sich um sie, sie arbeitete von Morgens bis Abends. Aber meine kranke Seele kümmerte sich innerlichst sogleich um sie. Heute ist der 8./11., 11 Uhr Nachts. Ich bin ewig gleich begeistert von ihr, und spüre denmysteriösen Unterschied mit allen, allenAnderen! Sie rührt, sie begeistert, man wäre opferbereit! Eine Heilige, die Wurst aufschneidet! Und wie zart-menschlich sie dabei ist, wie gutmütig! Ich denke immer, immer an sie, seit dem 7./11. 1918. Ich bin durch sie wieder »Peter Altenberg« geworden! Wie war Das noch möglich? Ich war bis dahin ein ganz Anderer, ein Begeisterungs-loser, EtwasFurchtbares! So wie alle Anderen! Niemand versteht Das. Empfindungen sind »Mysterien der Seele«. Da gibt es nichts auszuklügeln! »Ich hebe ihr liebevoll-zärtlich-gern« ihren Handschuh auf, oder es ist mir vollkommen gleichgültig, daß er auf dem Boden liege! Um Das eigentlich dreht sich Alles! Außer man ist einSchwindler! Leben ist nicht leben! Es gibt nur ein »begeistert leben«. Woher aber nimmst Du es, wenn Du es in Deiner eigenen Seele nicht findest?! Glaubst Du, Esel, Eselin, daß irgendein Anderer Dir es verschaffen kann?!? Durch irgend Etwas? Das sind ja nur »Schwindeleien« und »frechster Selbstbetrug«. Viele leben davon jahrelang, d.h. sie schwindeln sich Jahre lang hindurch. Die »Menge« ist auf ihrer Seite, leider Gottes, auf der Seite der Schwindler, zu Denen sie ebenAlle auch gehören! Der »anständige« Menscherkennt sein Schicksal und ergibt sich! Wenn er nicht durch irgend Etwas reell begeistert dahinleben kann, so ergibt er sich dem dumpfen, unentrinnbaren Schicksale! Man kann [339] nicht betrübt sein wollen, man ist es oder man ist es nicht! Mädchen aus dem Delikatessen-Geschäfte, Niemand wird Dich jemals so verehren, wie ichDich! Meine schwere Nerven-Erkrankung seit 11 Monaten (seit Oktober 1918, jetzt ist – – –) verhindert mich, meine Seele tönen zu lassen, zu Deinem Preise und zu Deiner Ehre! Denn ich ehre Dich, Unbekannte! Komme oder komme nicht, aber wenn Du kommst, so komme wieder! Peter Altenberg, 9./11. 1918, 6 Uhr morgens.

9./11., 11 Uhr vormittags. Mein Herz ist in Tränen. Ich kann nichts für sie tun, ohne »meine zärtliche Hysterie«, zu zerstören, und sie nichts für mich. Es wird eine tragische Geschichte werden meinerseits. Und sie wird sich hie und da in ihrem schweren Leben daran erinnern, daß ein Unbekannter ihre Seele liebte, sofort. In verlassenen Stunden wird sie sich an die Erinnerung klammern, stützen. Und ich, und ich?! Ich werde ihren Namen nennen, liebevollst, nennen,solche Beziehungen werden durch nichts zerstört. Es gibt immer Stunden, da sie an Dich denken wird, und ganze lange, bange Nächte, da Du an sie denkst! Die Gifte »Gewohnheit« und »Enttäuschung« können nicht vergiften. In milder Ergebenheit lebt Ihr dahin – – –. Des Alterns, des unmerklichen, haßerfüllten Gifte fehlen, und stille Wehmut siegt in Euren also unbesiegten fernen Seelen!

Skeptizismus

»Weshalb lächeln Sie darüber, Fräulein?!? Skeptizismus ist stets eine Art von Un-Weisheit, von[340] Un-Abgeklärtheit.« Es ist ein miserabler, würdeloser Versuch, die eigene Welt, die man zufällig mitbekommen hat, dem anderen, vollkommen fremden Organismus aufzudrängen. Der »Gentleman« wird gerade nur Interesse zeigen für Vorgänge, die ihm selbst vollkommen fremd sind und ferne liegen. Er wird sich zwar selbstverständlich nicht »hineinversetzen« können, aber er wird vor den merkwürdigen Komplikationen des Daseins eine Art von natürlichem Respekte empfinden, und vor allem keine Dinge ironisch lächelnd oder brutal abweisend negieren, die seinem eigenen Lebenzufällig fremd und unfaßbar sind! »Gerecht sein wollen« wird sein ewiger geistig-seelischerDrang sein, der die Vorurteile seines eigenenzufälligen Daseins mit merkwürdigem Wohlwollen zu besiegen suchen wird, selbst wenn es scheinbar für ihn unmöglich zu sein scheint. Darin besteht eigentlich die Kultur, in der »milden Gerechtigkeit« anderen Lebens-Führungen gegenüber, die ihren Grund in uns völlig unbekannten »inneren Ereignissen« haben. Beraten ist eine Art von »heiliger Sache«. Da muß man wirklich fast schon selbst ein Heiliger sein. So über allen Dingen thronend, und sein eigenes Sein vergessend!

November-Abend

Niemand geht gern auf die Straße, wenn er nicht aus irgendeinem Grunde muß. Die Kleider leiden, die Hüte schrumpfen ein, das Schuhwerk ächzt, kurz Alles befindet sich in einer gewissen Desorganisation. [341] Die Straßen sind finster, feucht, unappetitlich. Man geht und schleicht, Lebens-müde. Hoffnung ist dahin. Man klammert sich an März, April, Mai, aber wo sind sie?! Unser ganzes Hotel-Personal hat nie solche Gedanken. Eine merkwürdige Pflicht hält sie aufrecht. Der Tag, die Stunde regiert sie. Nun gut, das Schuhwerk ist feucht, schlapp, nachgiebig, fast zerrissen, aber Niemand hindert es. Man trägt die Unbilden der Natur, die sie Einem auferlegt. Nie eine Klage, eine Melancholie, sondern adeligste Ergebenheit in des Daseins unverständliches Schicksal! Womit man sie erfreuen kann?! Mit einem Uhrenständer, einem praktischen Tintenfaß, einer besonderen Vase. Sie gehen schlafen wie schlafbedürftige Tiere, rollen sich ein und schlafen bereits. Es ist nicht Resignation, es ist »gute Erziehung« von innen heraus. Ein Loch im Strumpfe ist keine Lebens-Angelegenheit, man näht es zu – oder man läßt es offen. Um 6 Uhr steht man auf, um Mitternacht rollt man sich unter die Bettdecke. »Hoffnungen« existieren nicht in diesen gesunden Gehirnen. An freien Tagen geht man ins Kino. Weshalb?! Niemand weiß es, man zieht »Knöpfelstiefer« an.

»Wie war es denn im Kino, Marie?!«

»No, so so, junger Herr, die Musik war gar nicht so schlecht.«

Niemand hat eine Idee von dieser pathologischen Genügsamkeit. Das Einrollen in die schwere Bettdecke, wenn der Schlaf kommt, ist der Höhepunkt diesesNicht-lebens! Still trägt Jede ihre unabwendbare Lebensbürde. Eine Wunderbare kam zu mir: »Schenken's mir Ihre Sandalen, meine Sohlen [342] sind durchgewetzt!« Ich schenke ihr meine Sandalen. »Die Leute werben mich auslachen, aber ich werde sagen, bitte, ich bin eine Schülerin vom Meister Altenberg!«

Der Tod meines Vaters

Mein Vater, Du größter reinster, ja fast pathologischer Idealist, Du bist mit 84 Jahren in Deinem geliebten roten Samt-Lehnstuhl entschlummert, die geliebte unentbehrliche »Trabukko« zwischen Deinen zitternden Fingern! Alles was nachher kam in der Verwüstung der irrsinnigen Welt, hast Du weder geahnt noch erlebt. Wie eh und je hast Du die »Revue des deux mondes« gelesen und »Taine« war Dein Lieblingsschriftsteller und »Fouillé«. Keiner Deiner Besucher belästigte Dich je mit Einzelheiten dergrausam-dummen Weltgeschichte. Dein Lehnstuhl war in Ordnung, basta! Man hielt Dich im allgemeinen für herzlos, aber Du hattest viele Jahre lang Dein Herz den duftenden Bergalmen des Vor-Schneeberges und den Tänzen der Birkhühner vor Morgengrauen geschenkt. Was kümmerte Dich je das wüste Treiben der Menschheit, da Du vor Sonnenaufgang das mächtige Rauschen des Auerhahnes liebevollst vernahmst?! Dein Tod hat Dir Vieles erspart, wir aber, weniger geschickt und rechtzeitig abtretend, müssen auf Zeiten warten, die nicht kommen werden! Eine »verfahrene Welt« zu regenerieren, dazu gehören Welten-Kräfte, nein, Welt-Gehirne! Aufgezwirbelte, schöne Schnurrbärte geben ein »martialisches Aussehen«, Stirnlocken in fahlem Antlitz sind auch nicht schlecht, [343] und schwarzgefärbte Spitzbärte könnten fast eine friedliche Welt aus den Angeln heben! Aber es genügt nicht, es genügt nicht – – –. Nein, es genügt nicht!

Plauderei [1]

Plauderei

Magenkatarrh, Darmkatarrh sind Verfalls-Erscheinungen einer sich allmählich zu höherer Entwicklung bringenden Organisation. Es gibt überhaupt viele Krankheiten, die »Verfalls-Erscheinungen« des Organismus sind, Lebens-Energien lähmend, ja allmählich untergrabend. Es sind keine direkten effektiven Krankheiten, es sind Lähmungen der Lebens-Energien. Die Maschinerie hat ihre bisherige Schwungkraft dadurch verloren. Man könnte es noch irgendwie reparieren, aber der Arzt nie, denn er hat keinerlei Interesse für fremde Lebensmaschinerien. »Werde sechzig, es ist auch genug, bist Du Methusalem?!?« Der Arzt sagt: »Luft-Veränderung.« Ganz richtig, aber es ist einer der vielen mysteriösen Gründe der Gesundung, es ist ein kleiner Teil des Gesundwerdens, das Ganze ist es bestimmt nicht. Der Patient klammert sich an »Luft-Veränderung«, notabene, wenn er das Geld dazu hat. Luft-Veränderung hat noch Niemandem geholfen, der in hundert unscheinbaren Kleinigkeiten ein sündiges Leben lebt! Das »reine Leben« ist nicht durch solche »billige-teure Stichworte« zu erkaufen! Da gehörteigene Kraft, eigene Erkenntnis dazu! Ein guter Arzt ist ein Arzt, der nicht gerade schä digt, während ein schlechter Arzt Dich direktverpfuscht! Er hat einfach keine Zeit, sich Dir[344] minutiös zu widmen, er kommt, er geht. Du bist für ihn nicht interessant genug. Vielleicht dem Leibarzt. Aber Wer hat Einen?! Und Der hält das Meiste für Einbildungen eines Reichen! »Sie sollten von früh bis abends Holz hacken, eine nützliche Beschäftigung!« Er meint, die stockende Lebens-Maschine in Bewegung zu erhalten. Um Das allein handelt es sich eben. Aber durch Holzhacken?! Geist und Seele müssen ja ebenso beteiligt sein. »Der Mechanismus allein« hilft Dir in gar nichts. Nun gut, Dein Hunger wird größer, aber welcher Vorteil für Deine arme Lebensmaschine?!? Keiner! Stille den Hunger Deiner ewig begeisterungsfähigen Augen, Deiner süße Töne einschleichenden Ohren, Deiner bewegten Seele, Deines den Idealen vergeblich nachstrebenden Geistes! Aber der Hunger Deines Verdauungsapparates, wie armselig ist er. Eine Portion fetten Kartoffelschmarrn kann ihn stillen. Das sind keine Lebens-Probleme für den wirklich Kultivierten! Die Menschen sammeln, um die Zeit hinzubringen, Muscheln, Briefmarken, Münzen, alte Soldatenröcke usw. usw. Aber ihre Freude daran ist nur, daß die Anderen zerspringen vor Neid.Selbst sind sie eiskalt bei allen ihren faden, unnötigen Sammlungen. Der Besucher ist begeistert, denn er ist eben der Besucher, dazu ist der Trottel da! Eine fette Gansleber mit Aspik wäre ihm hundertmal lieber, aber, etsch, Die bekommt er nicht! »Kann ich Ihnen vielleicht mit Etwas aufwarten?!« »Ja, mit wertvollen Briefmarken!« Lüge des Lebens, Du »Schwächerin, Du Entwerterin«!

[345] Ehrgeiz

Es gibt doch nur eine wirkliche Gehirnkrankheit: Ehrgeiz. Du bist da, wie lange, und dann bist Du nicht mehr da, ewig. Und währenddessen bist Du ehrgeizig?! Beschäftige Dich mit der Restlosigkeit Deines Schlafens, mit Deinen unentrinnbaren Verdauungskräften, mit Wiesen, Wäldern, Seen, Bächen. Aber lasse jeglichen Ehrgeiz. Der, der dich beneidet, ist Deine Bemühung nicht wert. Und Wer beneidet Dich?! Jeder sucht Dir zu beweisen, daß Du Dich auf einem falschen Wege befindest. Niemand würde mit Dir tauschen. Ehrgeiz ist ein Irrsinn, eine schwere Gehirnkrankheit: Du bist da, wie lange, wie kurz, und Du bist nicht mehr da, ewig. Und währenddessen soll Dich Herr – um irgend Etwas beneiden?! Ave Diogenes!

Männer

Männer?!

Diejenigen Männer, Denen in bezug auf anziehende Frauen ihre innere und äußere Vornehmheit, Gutmütigkeit, Seelen-Adel, körperlicheAnmut (Gehen, Stehen, Sitzen, Tanzen, Turnen) vollkommen Nebensache ist, sind feig-bequeme Verbrecher an diesen angeblich geliebten Frauen. Sie belassen sie also in ihrerschamlosen Eitelkeit, ohne Menschlichkeiten, nur durch ihr wertloses Sein allein beglücken zu können, pfui! Nicht pfui über diese armseligen, vom Schicksal blöd anziehend ausgestatteten Würmchen »anziehende Frauen«, sondern pfui, pfui, pfui über jene Männer, [346] Denen diese Anziehungskraft bereits genügt! Ihre zahlreichen, unermeßlichen, ewigen Ungezogenheiten reizend, entzückend zu finden (Das gerade gehört zu Ihr!), ist ein ärgeres Verbrechen des stupidkurzsichtigen Mannes (wie wird es aber später werden?!?) als ein heimtückischester Raubmord! Denn für Diesen gibt es noch irgendwie eine Erklärung, aber fürfeig-blöde Verwöhnung angeblich verehrter wertloser Frauen gibt es keine! O ja, geistigseelischeinfame Bequemlichkeit. Weshalb es sich mit ihr verderben?!? Man will sie ja doch »erobern«! Also verwöhnen, d.h. unbrauchbar machen für ewige Zeiten für echtes Lebensglück! Ihr Hunde, Ihr Hunde!

Schicksal, du bewahrst mich

Habe ich wirklich eine Mission mitbekommen von irgendwoher (es gibt Weltenrätsel), die Menschen aufzuklären, kraft meines engbegrenzten Schreib-Talentes, über ihre Lebens-Lügen, die ihnen Milliarden Lebens-Spannkräfte rauben, sie vorzeitigem Verwelken entgegen-verurteilen?!? Ich will von dem Irrsinnigen in Gmunden nicht sprechen, der mir schließlich den Tod durch Pistolenschüsse ankündigte, von dem Irrsinnigen in Graz, August J., der mich nachts 1 Uhr mit einem Küchenmesser überfiel, nicht von den sieben Sanatorium-Gefangenschaften usw. usw. usw. Aber in der gestrigen Nacht, 19. Juli 1918, stand ich unter Schicksals gnädigstem Schutze, unbedingt! Ich erwachte sanft um 4 Uhr morgens. Ich sah auf meinem herrlichen braun-karierten, mit zartesten Eiderdaunen gefüllten, [347] riesigem Plumeau (Bauern-Duchent!) einem großen, leeren, weißen Fleck mit rotglühendem Rande. MeineZigarette! Ich schlich vorsichtig unter der Decke hinaus ins Zimmer, begoß vorsichtig genau den ganzen rotglühenden Rand mit Wasser, legte mich sofort nieder und schlief herrlich tief bis 8 Uhr. Seitdem aber weiß ich es, daß ich, aus irgendeinem Grunde, vom Schicksale bestimmt bin, noch nicht zu sterben! Unzählige Male errettete mich das Schicksal, aber diesmal ließ es außergewöhnlich eindringlich sein Mahnwort ertönen, an mich Sünder!

Der Abend [1]

Der Abend

Der Abend bricht gleichsam über Deinem sowieso durch hundert unnennbare oder sogar fast nennbare Dinge verstümmelten arg mißratenen Tage stets jäh zusammen. Deine Hoffnungen waren ebenso lächerlich und unbegründet wie Deine fast an Irrsinn grenzenden Verzweiflungen. In dem Meere frechster dümmster Verlogenheiten versuchtest Du es tagsüber, geschickter oder meist ungeschickter, mitzuschwimmen mit den anderen Idioten, die nur noch mit ausgesuchter äußerlicher Frechheit für dieses »Nicht-leben« ausgestattet worden sind von einem nicht beneidens-werten, tragisch-lächerlichen Schicksale. Die Wenigen, denen es gelingt, denen gelingt gar nichts, mitgezerrt wurden sie nämlich von der idiotisch hastenden Herde, um zu vergessen, daß sie doch vielleicht hörende, schauende, erschauende, spürende, denkende Objekte sind oder hätten vielleicht sein können [348] irgendwie. Der schwächlich stille Abend findet Dich stets bei Deinem eigenen Sedan oder Waterloo, Deinen eigenen nichtigen Lebensplänen. Das Bett erwartet Dich noch liebevoll scheinbar, also der halbe Tod oder der viertel. So Vielen gelingt es, aber was, nichts! Das eigene Innere erbaut sich Niemand auf, im Gegenteile, er zerrüttet es sich direkt absichtlich. Zu solchem Aufbau gehört nicht Hoffnung, nicht Mut, sondern genialste Stahl-Kraft des eigenen Inneren! Wer sich selbst aufzubauen die Kraft hat, baut alle Anderen um sich herum vorerst ganz ab, die ihn daran irgendwie hindern! Es ist nicht wahr, daß Dein schwarzer Gehrock nur Dein schwarzer Gehrock ist oder Dein Hut, Dein Schirm; es sind die natürlichen Requisiten Deiner künftigen elenden Grabes-Toilette! Sei, der Du bist, und ja nie der, den die anderen von Dir meuchlings je verlangen! Sie verlangen nämlich von Dir nur die schamlose Toilette ihrer eigenen Nichtigkeiten, nur um sich vor Dir nicht blamiert zu fühlen! Du sollst Dich ihnen unterwerfen, Hugo Wolf dem Franz Lehàr! Tuet es ja nicht, gehet in Euren schäbigen Gewändern in Eure Grüfte! Und lachet ihres Lachens! Der Abend entkleidet Dich aller Deiner sogenannten Tages- und Lebens-Würden. Wehe dem, der sich von der schändlich-blöden Nichtigkeit seines eigenen, Lebens selbst frech täuschen läßt, in ihm bohrt ununterbrochen der Wurm seines eigenen an ihm zehrenden Nichts. Wen will er täuschen?!? Frau, Kind, Geliebte, Eltern?!? Unglückselige! Schon sein falsches Lachen verrät ihn der schamlos genial unerbittlichen Menschheit. Und seine Fröhlichkeit ist teuflisch, denn vielleicht lauert bereits heimtückisch [349] der tragische Zungenkrebs! Der Abend ist Dein »Sedan«, Dein »Waterloo«, wenn Du auch noch so elegant rasiert bist! Was Du nicht warst, nicht bist, nie werden wirst, bringen Dir schauerlich Deine Abendstunden!

Die Nacht

Die Nacht vergeht nicht. Dabei gedenkst Du natürlich aller Deiner tausend unnötigen Sünden. Trotzdem oder deshalb eben vergeht die Nacht nicht. Wie dumm hast Du gelebt, oder vielmehr nicht gelebt, bist eigentlich nur so gleitend hingestorben, hast kein Bismarck-Gehirn gehabt, hast Dich nicht selbst dirigiert, diese einzige richtige Aufgabe des Mannes! Tausend Dinge haben Dich von Dir selbst weggetrieben, haben Dir Deine Dir innewohnende besondere Lebenskraft geraubt, haben Dich weggetrieben von Deinem besten Selbst!

Deshalb vergeht Dir die Nacht nicht.

Weil die Zahl Deiner dummen und unnötigen Sünden viel zu groß ist.

Mußtest Du damals?! Nein, Du mußtest eben gar nicht, gerade nicht in dieser Dir allzu gefährlichen Beziehung! Weshalb also tatest Du es dennoch?! Damit die endelose Nacht Dir die menschliche Gelegenheit gebe, Dein steinernes Sündenleben ewig gleichsam in Erinnerung zu bringen, und Dich züchtige für Dein allzu wenig Mensch gewesen sein diese lange wertvoll-bange Zeit Deines Lebens hindurch!

Deshalb vergeht Dir Deine Nacht nicht!

[350] Mein ideales Stubenmädchen

Sie las die schwerverständlichsten Bücher, arbeitete von 6 Uhr morgens rastlos bis 11 Uhr nachts, nährte sich hauptsächlich von Tee und eingebrocktem Schwarzbrot, klagte nie, war stets gut aufgelegt, betrachtete das Leben als eine unentrinnbare schwere Verpflichtung, gegen die anzukämpfen einfach eine Unmöglichkeit sei! Sie verstand es gar nicht, wie man so dumm-frech sein könne, aufzubegehren, da tausend Mächte sich gegen unser Lebensglück stündlich verschwören, uns ins Verderben hinabzuziehen!?! Trotz ihrer jugendlichen beweglichen Schönheit gab sie stets ununterbrochen nach, singend, wie wenn Alles glatt ginge auf Erden, und nahezu sogar fröhlich. Nie ein tragischer Laut verlassener Hilflosigkeiten! Die Pflicht beherrschte sie, wie ein idealer Kapellmeister sein ideales Orchester, sie verstand es nicht, aufzubegehren mit dem Schicksale, sie empfand Alles als unentrinnbare Notwendigkeiten dieses Lebens. Infolgedessen, ja infolgedessen allein, sang sie, und jede Krone, die man ihr schenkte, war für sie ein besonderes freudiges unerwartetes Ereignis in ihrem süßen unbeachteten Dasein!

Die Regeneration

Die Möglichkeit einer Regenerierung hängt von der Kraft des Brustkastens ab! Ich kann es Ihnen nicht plausibel machen, weil ich dazu zu krank bin. Atem-Übungen allein sind eben dennoch [351] mysteriöse Heilmittel des Gesamt-Organismus. Man kann sich aus seinen eigenen Abgründen sogar dadurch heraus erretten. Wohlgebaute Menschen mit einem gewölbten hohen Thorax besitzen Regenerations-Kräfte ganz von selbst in sich. Hunderttausend Fälle hätten gerettet werden können, aber diese Haupt-Rettungs-Aktion wird von den Ärzten nur belächelt. Der Thorax muß edel-gewölbt sein oder werden!

Nach meinem Tode wird man sich in vagen Vermutungen ergehen; Jeder wird sich hierin für ein »Genie der Erkenntniskraft« halten. Aber es werden alle Vermutungen falsch, weil zu wenig einfach, sein. Er stürzte irgendeinmal in seinen eigenen Lebens-Abgrund, und besaß nicht die ökonomischen Mittel, sich wieder herauszuarbeiten wie zehntausend Andere. Er kämpfte und kämpfte, und dieses Ringen um sich selbst in dieser für ihn absolut verständnislosen Welt, trotz scheinbarer, edler Gutmütigkeit, zehrte seine allzuwenigen Kräfte auf, die Andere eben ganz spielend bewältigen. Ohne Konzessionen leben, ist ein Fluch, und der Segen kommt erst lang nach dem Tode. Oder gar nicht. Oder für Andere! Für Andere! Für dieviel später Nachkommenden!

Der 13. Dezember 1918, 5 Uhr morgens

Der 13. Dezember 1918,
5 Uhr morgens

Du stehst, Peter, also endlich, nach langen irrsinnigen Kämpfen, mit Dir selbst, und mit dem ganzen Leben überhaupt, soweit es sich auf Deine, armselige und dennoch ach so komplizierte Persönlichkeit [352] bezieht, vor Deinen eigenen unüberbrückbaren Abgründen! Jeder hat solche, aber er erkennt sie nicht, überläßt sich daher klaglos dem scheinbar unentrinnbaren Schicksale seines eigenen desolaten und verworrenen Lebens. Viele nehmen die Browning zur Hand, aber Viele auch nicht! In einer solchen Krise meines unglückseligen Daseins schreibe ich noch rasch diese Zeilen nieder, für die Anderen, für die Anderen, die ähnlich empfinden und rettungsbedürftig sind gleich mir ohne es leider aussprechen zu können gleich mir! Ich kann es wenigstens noch aussprechenvorderhand, wer weiß, wie lange noch?!? So lange hält man mich noch für einen Dichter! Einer, der Das aussprechen kann, was alle, alle Anderen empfinden und wissen, aber stumm, stumm, in tragischester Stummheit! Der Dichter aber kann schreien, flehen, fluchen, laut weinen, schamlos, rücksichtslos, unange nehm verzweifelt über die unabänderlichen gewöhnlichen und dennoch schrecklichen Dinge dieses allerhärtesten Daseins! Das ist ein Dichter, sonst gibt es keinen, Einen, der die stumme Lebens-Last aller Anderen laut tönend auf sich nimmt, um zu retten! zu helfen! Das allein ist ein Dichter! Alle Anderen sind unnütz und vergeblich. Aus verbrecherischer Gutmütigkeit erkennt man sie an, obzwar man es genau weiß, daß man sie für sein karges Lebensglück in keinerlei Weise brauche!

Ein Dichter hat heutzutage, in diesen schweren Bedrängnissen von allen Seiten her, der privaten Seele zu helfen, viel mehr als ein Arzt (?!?) und ein Freund (?!?). Er hat, von oben herab, [353] das Schicksal eines Jeden, einer Jeden, zu überschauen, und in die Wirrnisse eines JedenKlarheit zu bringen, weil Das allein seinBeruf ist auf Erden! Andere haben andere Verpflichtungen, aber der Dichter hat nur Diese. Sonst ist er keiner! Man nütze ihn demgemäß aus,dazu ist er allein da!

Sich in das Leben eines anderen Organismuseinzumengen, um ihm herauszuhelfen, ist eine Verbindung von Idiotismus, Größenwahn und unberechtigter Herrschsucht! Niemand kennt den Anderen oder jedesfalls nicht genügend. Freundschaftlicher Dilettantismus ist die tiefste Gefahr. Lasset sie lieber ihre geheimnisvollen Wege respektvoll wandeln und habet infolgedessen nicht Schuld an den Irrpfaden, in die Ihr sie aus falscher Gutmütigkeit hinweglockt! Habt Ihr keinen Respekt vor Euch ganz fremden, nur leider scheinbar gleichen, Welten?!? Könnt Ihr Eure Ratschläge verantworten?! Kennt Ihr Euch in diesem Labyrinthe »der Anderen« wirklich aus?!? Wie leicht macht Ihr es Euch meistens, Euch zurechtzufinden!

Wie dankbar, ja direkt erlöst wäre der Andere, wenn er in Eurer milden Intelligenz, in Eurer vorurteilslosen Seele, die Photographie seiner eigenen Persönlichkeit zu erblicken vermöchte?! Aber nein, Ihr zwängt ihn in jenes durchaus falsche willkürliche Bildnis, das Ihr noch von ihm begreift und das ihr direkt von ihm haben wollt! Er darf nicht Der sein, der er ist, sondern Der, wie Ihr ihn noch am besten brauchen oder genießen könnt! Verzweifelt möchte sich der Andere gegen dieses ihm aufgezwungene Schicksal der Beurteilung erwehren, aber der »Andere« arbeitet mit den geschicktesten, [354] ja perfidesten Mitteln, seine Auffassung immer unentrinnbarer bei sich selbst durchzusetzen gegen den wehrlos gemachten Gegner. So leben die Meisten mit einander, nein, gegen einander!

14.-12. 1918

14./12. 1918

Wie ist denn diese Nacht?!? Scheinbar Deine letzte. Unbedingt scheinbar.

Soviel Energieen so rasch einbüßen?!? Schrecklich.

Ein Hund beißt ihn, ein verlaufener, kleiner Hund. Ist er krank, ist er gesund, Niemand weiß es, Niemand kann es erkennen. Er erwartet sein Schicksal, Niemand kann ihm irgendwie helfen. Der Hund hat ihn gebissen. Das Schicksal droht über Deinem unglückseligen Haupte. Wirst Du schrecklich untergehen oder nicht?!? Beides ist möglich. Das frißt an Dir bei Tag und bei Nacht. Nie hört es auf, es zerrüttet Dich, gegen Deinen Willen. Ein Hündchen hat Dich gebissen, bei Nacht. Niemand weiß es, ob er gesund oder krank war. Du lebst seitdem unter einem schauerlichen Schicksale, Niemand vor allem kann Dich irgendwie erretten. Ein kleiner fremder Hund hat Dich nachts unvermutet gebissen. Er entfloh in die Dunkelheit, ließ einen Verzweifelten zurück. Du bist also dem Schicksale ausgeliefert, dem gnädigen, dem ungnädigen, gleichviel, Du kannst nichts daran irgendwie ändern, es ist Schicksals Gnade oder Ungnade. Nur der wirklich in bezug auf Dich Wissende kann Dir helfen, sonst Niemand! Lasse Dich um Gottes willen von scheinbarer [355] oder sogar echter sanfter Gutmütigkeit, also angeblich hilfsbereiter Opferfreudigkeit ja nicht verblenden und irreführen. Du selbst kannst Dich erretten, nur Du, sonst Niemand auf Erden trotz allem. Du bist sechzig, er ist fünfzig, daher triumphiert er um zehn Jahre über Dich, ist aber tückischerweise um dreißig Jahre verständnisloser, einsichtsloser, egoistischer! Höre nicht auf ihn! Kümmere Dich ja nicht darum, Nachgrübeln kann Dir unter keiner Bedingung helfen! Wie wenn Jemand über seine Zuckerkrankheit nachgrübelte! Es schwächt ihn, lähmt ihn, nützen kann es ihm in keinem Falle! Trage Dein Schicksal, Das ist Deine einzige Medizin. Habe die Kraft, alle sogenannten scheinbaren guten Ratschläge momentan brutal-schamlos zurückzuweisen! Jeder Andere ist Dein Todfeind, unter der Maske gutmütiger Selbstlosigkeit. Paraldehyd ist ein lähmendes, infolgedessen leider Schlaf bringendes Gift. Niemand kann es Dir verbieten wie Du selbst. Die Folgen mußt Du ewig im Auge behalten, nein, im Gehirne, und noch so gütiges Zureden ist Spreu im Sturmwind. Du selbst allein mußt, kannst, wirst Dich erretten aus Deinen eigenen sogar bereits selbstgegrabenen Abgründen! Sonst Niemand, kein angeblich verständnisvoller Arzt, kein gutmütiger Freund! Nur Du, Du, Du allein, Du selbst! Von Deinen Lebens-Energi en allein hängt Dein Lebens-Schicksal ab, aber weder von den, naturgemäß in bezug auf Dich, völlig verständnislosen und größenwahnsinnigen Ärzten oder von ebenso naturgemäß verständnislosen wohlmeinenden Freunden, die Dich in allerbester Absicht in Deine eigenen [356] Abgründe hinabstürzen! Folge Deinem eigenen besten Ich in Dir, nur Das kann Dich vor Dir selbst und Deinen Krankheiten der Seele, des Geistes, des Leibes eines Tages erretten! Horche ja nicht auf wohlmeinende Stimmen von außen, horche auf unerbittlich strenge Stimmen aus Deinem eigenen Inneren! Nur hier ist für Dich das Heil, die Errettung, der eventuelle Segen! Verlasse Dich nicht auf die noch soscheinbar liebevolle, aber rücksichtslose Außenwelt, sie hat, sie kann von Deinen Lebens-Mysterien keine Ahnung haben. Verlasse Dichauf Dich selbst! Und solltest Du dennochdabei, dadurch, in Deinen Lebens-Abgrund stürzen, so sei es! Dein Verhängnis, Dein Schicksal, basta! Deine Krücken sind nur Dein Geist und Deine Seele, sonst nichts.

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TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Autobiographisches. Mein Lebensabend. Mein Lebensabend. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-D9B3-0