Rheingold

Diese merkwürdige Spannung beim »Rheingold«; man wartet fast ängstlich-sehnsüchtig auf den ersten Ton und das Rauschen des Rheins. Man ist andächtiger als sonst je! Wie wenn das Rauschen, Fließen, Schimmern des Wassers alles überspülte, was die Götterlein und die Menschlein erleiden, erleben und für wichtig halten! Es beginnt mit der Tragödie »Pànta rèi«, alles befindet sich in fließender, sich umgestaltender Bewegung in der Welt. Es beginnt mit dem Rauschen, Fließen, Schimmern des Rheines. Ich dachte: »Auf alle Fälle habe ich Hasenpastete mitgebracht, denn es gibt keine Pausen. Ich werde der edlen englischen Tänzerin, die mich in ihre Parterreloge eingeladen hat, im geeigneten Augenblick von meiner Hasenpastete anbieten«. Aber es kam lange nicht dazu. Maler Roller hat links ins Eck uralte Bergföhren hingestellt, mit abgebrochenen Seitenästen und kahl, die auch ruhig besonnen blicken auf die tragischen Verwicklungen! Wie kam mir als Knabe das Gymnasium vor mit seinen Tagestragödien, wenn ich im Sommer auf dem »Pürsthof«, einer Alm im Schneeberggebiet, nächtigte und um 5 Uhr morgens über triefendes Almgras in den Forst kam, wo uralte Bergföhren mit gebrochenen Ästen und grauem Haarmoos standen und der Klopfspecht hämmerte wie ein fleißiger Schmied der Natur selbst?!? So sah ich heute, dank dem Maler Roller, die ernste Natur wie ein weiser Chorus folgen den Schicksalen der Schicksalunterworfenen! Rheinestiefe, alte Bergföhren, dunstignebeliges [87] Rheintal umspannten die armseligen Schicksale, die Herz und Geldgier schufen. In der rechten Ecke meiner Parterreloge Nr. 7 sah ich aus Holz geschnitzt eine goldene Karyatide mit adeligsten goldenen Gliedern. Sie war so ruhig in ihrer Vollkommenheit, so sicher, so überlegen nackt. Man durfte sie anschauen, ohne daß sie irgendwie geniert wäre. Auch sie thronte über den Dingen. Ich dachte: »Welcher vergessene Künstler hat dich verfertigt, welchem tadellosen Modell verdankst du deine Gestalt, das vielleicht längst an dem und jenem zugrunde gegangen ist?!?« Um 9 Uhr dachte ich an meine Hasenpastete, die, doppelt in Pergamentpapier eingewickelt, gut aufbewahrt war in meinem Rocke. Nun kam Erda aus einem Erdspalte und warnte Wotan. So der Natur gleich ist ihr Singen, wie wenn der Rhein, die Bergföhren, die nebeligen Täler warnen würden vor Kleinlichkeiten! Der Mensch, der Zuschauer, der Zuhörer erschauert, wenn Erda warnt! Ewig warnt uns in gleicher eindringlicher mysteriöser Weise vor unseren eigenen Irrsinnen die ernst-gerechte Natur ... Aber wir erbauen dennoch Burgen und Luftschlösser! Walhalla lassen wir uns erbauen von betrogenen und betrügerischen Schlechtrassigen! Plötzlich sagte die edle englische Tänzerin, die mich in die Parterreloge eingeladen hatte: »Ich habe einen sehr großen Appetit, trotz allen diesen wunderbaren Dingen – –.« Da gab ich ihr im Hinterzimmerchen der Loge meine Hasenpastete. Möge kein fanatischer Wagnerianer sie begeistert essen gesehen haben, während die heiligen Takte gespielt wurden, möge kein fanatischer [88] Wagnerianer meinen gerührten Blick gesehen haben, daß ihr die »Hasenpastete« schmeckte, während »Rheingold« weiterging. – – – Aber zum Schluß waren wir dennoch ganz hingerissen; und wir begriffen es gar nicht, daß wir mitten drin hatten Hasenpastete essen können mit Befriedigung!

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TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Märchen des Lebens. Rheingold. Rheingold. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DC95-B