Das Einpfropfen.

Freund Morpheus! ewig preis' ich dich!
du bist mir mehr, als alle Feen,
du ließest meine Iris mich
mit allen ihren Reizen sehen.
So schön war Aphrodite nie,
die Liebesgötter hatten Rosen
und Lilien gepflückt, um sie
zu schmücken und sie liebzukosen.
[165]
Ich sah sie zitternd mir sich nah'n,
ihr schönes Aug', wo Unschuld strahlte,
sah nur auf mich – indeß ein Wahn
von Schuld die Wangen höher malte.
Mit abgemess'nen Schritten kam
sie mit der ersten Morgenröthe
fast nackt zu mir und schüchtern – nahm
sie ihren Platz bei mir im Bette.
Du weißt es, Lindor, sagte sie,
daß Tugend mich und Unschuld leiten;
ich schütze deinen Geist und sieh' –
wärst du nicht artig und bescheiden,
du würdest mir sehr wehe thun. –
Sie hüllte sich in meine Tücher,
gleich wie in Wolken ein, und nun
glaubt' sie vor mir sich völlig sicher. –
[166]
Wie gerne hätt' ich das Talent,
hob sie dann an, mich auszudrücken,
wie du – etwas, das man nicht nennt,
läss'st du in deinen Reden blicken.
Selbst die geringste Kleinigkeit
wie groß in deinem Mund – man höret
sie gern und glaubt dir allezeit,
selbst dann, wenn uns dein Witz bethöret.
O lehre mich die Kunst auch nur. –
Gern, rief' ich, will ich dich erfreuen,
zwar ist's die Gabe der Natur,
doch kann ich sie dir auch verleihen.
Gib mir auf einen Augenblick
nur deine Zunge, daß die meine
sie pfropft – und das verlangte Glück
wirst du erhalten, liebe Kleine.
[167]
Denn wenn man Zung' auf Zunge legt,
wird diese Kunst inoculiret,
und Iris, die nichts Arges hegt,
ward so durch meine List verführet.
Sie glaubte mir – ich pfropfte sie
so gut, daß unbekannte Regung
sie schnell durchströmt – die Phantasie
setzt alle Nerven in Bewegung.
Sie sprach nicht, doch befahl sie mir
mit ihren seelenvollen Blicken
aus dem gebroch'nen Auge, ihr
das Propfreis tiefer einzudrücken.
Sie lag wollüstig ausgestreckt,
hielt fest und zitternd mich umschlungen –
von Freuden, die sie nie geschmeckt,
war itzt mein Mädchen ganz durchdrungen.
[168]
So kam's, daß, eh' wir selbst gedacht,
mich Amor mit der Myrthe krönte,
die Liebende nur glücklich macht. –
Dir, Königin von Paphos, tönte
vereinigt unser Lob – du schienst,
entzückt von unsem Dank, zu fodern,
daß solche Opfer deinem Dienst
auf deinem Altar immer lodern.
Ha! weißt du noch? Als ich im Streit
der Liebe just am stärksten kämpfte,
sprach sie mit holder Frömmigkeit,
die fast in mir das Feuer dämpfte:
»Halt' ein, es blitzt!« Ja, weißt du noch?
als sie – Ha! leider nur Chimäre
ist all' mein Glück – ach wenn ich doch
nur lieber nie erwachet wäre!
[169]
Ich öffnete die Augen kaum,
so war auch alles gleich verschwunden;
was hatt' ich nun gethan? Im Traum,
ach nur im Traum mein Glück gefunden.
Der Sieger Lindor war nicht mehr,
ein Träumer war's und ist die Klarheit
vom Dunkel wohl verschiedener,
als leere Träumerei von Wahrheit?

X – [170]

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2011). Anonym. Gedichte. Nuditäten oder Fantasien auf der Venusgeige. Das Einpfropfen. Das Einpfropfen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DECE-3